MARY BETH CHAPMAN & ELLEN VAUGHN
Wenn das Leben andere Blüten trägt Eine Mutter, ein tragischer Unfall und eine Hoffnung, die wächst
Übersetzt von Antje Balters
Winter Es war der Tag, an dem die Welt aus dem Ruder lief. aus „Beauty Will Rise“ Text und Musik von Steven Curtis Chapman
Im trostlosen, frostigen Winterwind klagend, lag die Erde hart wie Eisen, Wasser wie ein Stein. Christina Rossetti
Der Himmel war an diesem Tag strahlend frühlingsblau. Wir waren mit der Planung einer Hochzeit und einer Schulabschlussfeier beschäftigt. Wir waren glücklich. Es war der 21. Mai 2008 und es sah so gar nicht nach Winter aus – noch nicht. Wir waren Eltern von sechs wundervollen Kindern, über all unser Wünschen und Hoffen hinaus gesegnet und beschenkt. Unsere dreiundzwanzig Jahre alte Tochter Emily hatte sich vier Tage zuvor verlobt, und am Abend zuvor hatten wir gerade ihr Brautkleid ausgesucht. Ich hatte es mit nach Hause genommen, um es Emilys drei kleinen chinesischen Adoptivschwestern zu zeigen. Shaoey war acht, Stevey Joy fünf, und Maria war gerade in der Woche zuvor ebenfalls fünf geworden. Sie quietschten und kreischten vor Begeisterung, als sie den weißen Traum aus Tüll und Spitze erblickten, und redeten alle drei durcheinander, dass sie bei der Hochzeit unbedingt Blumenmädchen sein wollten. An diesem Mittwochnachmittag war Emily bei der Arbeit und Steven und ich hatten den Esstisch im Wohnzimmer zu einer Hochzeitsplanungszentrale umfunktioniert. Handys, Laptops, Kalender und Schreibblöcke bedeckten den Esstisch. Unser achtzehnjähriger Sohn Caleb, der in ein paar Tagen seinen 21
Schulabschluss feiern sollte, klimperte in unserem Musikzimmer auf seiner Gitarre herum und der damals siebzehn Jahre alte Will war zu einer Probe für eine Aufführung in seine Schule gefahren. Die drei kleinen Mädchen rannten ständig ins Haus und wieder raus und spielten miteinander wie an Hunderten anderer Nachmittage auch. Irgendwann kam Maria ganz außer Atem zu mir gerannt und sagte: „Mami, ich kann meiner Cinderella-Barbie die Handschuhe nicht anziehen! Kannst du mir helfen?“ „Ja klar“, sagte ich. Maria krabbelte auf meinen Schoß, süß und verschmust wie immer, und blieb auch einen Moment lang sitzen, um zuzuschauen, wie ich versuchte, der Cinderella-Barbie die ellenbogenlangen weißen Satinhandschuhe über die winzigen Plastikhände zu schieben, was richtig knifflig war. Kein Wunder, dass Maria es nicht allein geschafft hatte. Aber dann wurde Maria ungeduldig, denn da draußen wartete schließlich jede Menge Spaß. Also rutschte sie wieder von meinem Schoß herunter und flitzte kichernd davon. Während Steven und ich weiter über die Hochzeit redeten, gelang es mir schließlich, den winzigen Handschuh über die Hand und den Barbiearm hinaufzuschieben. „Hey, Maria“, rief ich. „Deine Cinderella hat jetzt ihre Handschuhe an!“ Weil ich keine Antwort bekam, ging ich davon aus, dass die Mädchen schon wieder draußen im Garten auf ihrem Spielplatz waren. Sie liebten es, auf dem Klettergerüst herumzuturnen oder zu schaukeln, oder sie spielten, sie wären die „Chapman Sisters“, eine berühmte Popgruppe. Steven nahm einen Anruf auf seinem Handy entgegen und ging auf unsere Veranda vor dem Haus, weil da der Empfang besser war. Von dort aus sah er, wie Will in seinem alten Land Cruiser von seiner Probe zurückkam und in unsere Auffahrt bog, die am Haus vorbei zur Garage in der Nähe des Spielplatzes führt. Ich saß immer noch am Esstisch und schrieb eine Liste. Und dann wurde alles anders – ein für alle Mal. 22
Ich registrierte seltsame Geräusche von draußen – kein fröhliches Geschrei spielender Kinder mehr, sondern laute, fast panische Schreie und Tumult. Ich stürzte in die Küche, um von dort nach draußen zu schauen, als im selben Augenblick Shaoey die Hintertreppe hochgerannt kam. „Mama!“, schrie sie. „Will hat Maria mit dem Auto angefahren!“ Ich stürzte nach draußen. Will befand sich in der Nähe der Garage und hielt seine kleine Schwester im Arm. Überall war Blut, und zwar auf beiden. „Maria“, weinte Will. „Maria! Wach doch auf!“
23
Nicht nach Plan Die Liebe zu Gott ist dann lauter, wenn Freude und Leiden ein gleiches Maß an Dankbarkeit wecken. Simone Weil
Es liegt auf der Hand, dass ich nicht vorgehabt oder geplant habe, dieses Buch zu schreiben. Keine Mutter kann den Schmerz über den Verlust eines Kindes, der einen förmlich zerreißt, in Worte fassen . . . und ebenso wenig können Worte dem rätselhaften Handeln Gottes inmitten einer solchen Tragödie gerecht werden. Wenn Leute uns fragen, wie es uns geht, dann sage ich immer als Erstes: „Ich möchte Maria wiederhaben. Ich möchte nicht, dass all das ein Kapitel in der Lebensgeschichte meines Sohnes Will Franklin sein muss. Ich möchte, dass meine Kinder gesund sind und meine Familie behütet ist. Eigentlich ist mir egal, wessen Leben durch unseren Verlust berührt oder verändert worden ist!“ Da spricht das Herz einer Mutter, die eine Tochter verloren hat und entschlossen ist, nicht noch ein Kind zu verlieren. Ich glaube, dass Gott mit meinem inneren Zustand, meinen Fragen und mit meiner Wut schon fertig wird. Es ist völlig in Ordnung, dass ich Maria zurückhaben möchte. Es ist okay, wütend zu sein. Die Frage ist nur, was ich mit alldem anfange. Was mache ich mit Gott? Glaube ich auch in diesem Kummer, von dem ich das Gefühl habe, er zerreißt mich, dass alle Dinge denen zum Besten dienen, die Gott lieben? Die Antwort auf diese Frage habe ich bekommen – zu einem hohen Preis. Es tut nämlich sehr weh, die Entscheidung zu 24
treffen, hinzuschauen und durch die Tränen über den Verlust meiner Tochter hindurch Gott handeln und wirken zu sehen. Aber ich erlebe auch die Freundlichkeit und Treue Gottes und sein erlösendes Wesen. Ich glaube, dass keine einzige meiner Tränen umsonst vergossen worden ist. Hier bin ich nun also, schreibe das hier Wort für Wort nieder, weil Gott mich im Laufe der vielen langen Tage, seit Maria im Himmel ist, immer wieder überrascht hat. Ich habe von Angesicht zu Angesicht das Böse gesehen und gemerkt, welche Rolle es in unserem Leben spielt, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Mir wird aber auch klar, dass Gott eben Gott ist und dass er mit großer Entschlossenheit das zunichtemacht, wodurch das Böse Schaden anrichten will. Er überrascht mich auf positive Weise weit über das hinaus, was auf dieser Erde zu ermessen ist! Ich erlebe das, was ich einmal in 1. Mose 50,20–21 gelesen habe, als Josef zu seinen Brüdern sagt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen . . .“ (Lu). Selbst im freien Fall des Schmerzes bin ich auf festem Grund gelandet und mein Glaube hat gehalten . . . meistens jedenfalls. Ich habe erfahren, dass Gott gut ist . . . immer. Hoffnung ist real. Ich habe herausgefunden – selbst in dem furchtbaren Schmerz von Tränen und Trauer, die so intensiv sind, dass man glaubt, sie bringen einen um –, dass meine Familie und ich viel aushalten können. Wir werden über den Verlust nie hinwegkommen, aber wir schaffen es hindurch. Und deshalb bete ich, dass unser Weg durch das finstere Tal des Verlustes denen eine Hilfe sein möge, die ähnlichen Schmerz erlebt haben . . . dass wir als Verwalter und Erzähler dieser Geschichte vielen ein Trost sind. Eines möchte ich gleich vorab klarstellen: In diesem Buch geht es nicht nur um den Frühlingstag, an dem Steven und ich unsere kostbare Maria Sue durch einen schrecklichen Unfall verloren haben. Es geht darin um eine Geschichte . . . eine Geschichte, die Gott schreibt. Auf dem gesamten Weg hat er meine Geschichte 25
auf Arten umgeschrieben, die mir nicht gefallen haben. Es sind ganze Kapitel hinzugefügt und gestrichen worden, und es gibt seltsame Wendungen darin, mit denen ich absolut nicht gerechnet hatte. Tatsache ist nämlich, dass ich schon mit einem Plan im Kopf geboren wurde. Ich wollte, dass mein Leben sicher, berechenbar und vorhersehbar ist. Mein Plan sah vor, jemanden mit geregelten Arbeitszeiten (9–17 Uhr) zu heiraten und ein ordentliches, gut durchorganisiertes Leben zu führen – sozusagen alles unter Kontrolle zu haben. Aber nichts von alledem ist eingetreten. Und wäre das der Fall gewesen – hätte ich das Leben geführt, von dem ich geglaubt habe, dass ich es mir wünschte –, dann hätte ich nie die Gnade und die Wunder Gottes erlebt, wie es jetzt der Fall ist, da bin ich mir absolut sicher. Ich habe erfahren, dass genau an den unwahrscheinlichsten Stellen, dort wo Schmerz und Chaos herrschen, Gott uns ein tiefes Gefühl seiner Gegenwart und des wahren Lichtes und seiner Hoffnung in der tiefsten Finsternis gibt. In diesem Buch geht es also gar nicht so sehr um mich und Steven in all unserer Trauer und inneren Zerbrochenheit, sondern es handelt von Gott . . . und davon, wie er uns auf unserem Weg trösten, tragen und verändern kann, so schwer dieser Weg auch sein mag. Mein Mann wird immer für den kreativen Part in unserer Ehe gehalten, für den, der in der Öffentlichkeit steht und dem das auch gefällt. Jeder liebt ihn, und die Menschen gehen irgendwie immer automatisch davon aus, dass ich genauso bin wie er. Aber das stimmt nicht. Steven ist extrovertiert und bezieht seine Energie aus dem Kontakt und Umgang mit Menschen. Er redet gerne – und redet – und redet – vor vielen Menschen. Ich bin introvertiert und hocke gerne zu Hause im Nest bei meinen Kindern. Wenn ich eingeladen werde, vor einer größeren Gruppe zu sprechen, dann werde ich so nervös, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. 26
Steven ist Optimist; ich habe eher einen Hang zur Melancholie. Für ihn ist das Glas immer halb voll, für mich ist dasselbe Glas halb leer. Er hat große Erwartungen, rechnet mit dem Besten, ist sich sicher, dass schon alles klappt; ich dagegen bin sicher, dass, wenn auch nur die Chance besteht, dass irgendetwas schiefgeht, genau das höchstwahrscheinlich auch passiert. Steven würde nie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, jemandem einen Streich zu spielen; das findet er nicht nett. Ich lache schon, wenn ich nur daran denke, Freunden einen Streich zu spielen. Für mich ist das eine Sprache der Liebe! Neulich Abend habe ich mir Shaoey und Stevey Joy geschnappt und wir sind zum Haus meiner Schwiegertochter gefahren. Mein Sohn Caleb war beruflich unterwegs, er sollte bei einer Veranstaltung Musik machen, und ich wusste, dass Julia Besuch von einer Freundin hatte, die auch bei ihr übernachten wollte. Wir parkten unser Auto ein wenig abseits, schlichen uns auf die Rückseite des Hauses und kratzten dann an den Fensterscheiben und Fliegengittern und klopften an die Wände. Ich konnte hören, wie Julia und ihre Freundin erst panisch umherliefen, und dann wurde es ganz still. Ich beschloss, dass es jetzt Zeit war, nach vorn zu gehen und an die Haustür zu klopfen und uns zu erkennen zu geben. Als meine liebe Julia an die Tür kam, standen ihr Tränen in den Augen und sie hatte den Telefonhörer in der Hand. Ich hörte, wie sie dem Mann beim Notruf unter Tränen sagte: „Ach, entschuldigen Sie bitte . . . es ist nur meine Schwiegermutter!“ Ich versprach ihr, so etwas nie wieder zu tun, und ich glaube, sie hat mich immer noch lieb! Jedenfalls ist wohl offensichtlich, dass Steven und ich sehr verschieden sind, vielleicht ein bisschen so wie Tarzan und Jane, aber dazu kommen wir später noch. Solange ich denken kann und auch während meiner fünfundzwanzigjährigen Ehe mit Steven habe ich an bestimmten Erwartungen festgehalten. Aber Jesus liebt mich genug, um mir immer wieder zu zeigen, dass, selbst wenn ich meine Ideen und Erwartungen durchzusetzen versuche, er da ist, um mich wieder auf 27
grüne Auen zurückzuführen. Er hütet mich im bergigen Gelände meiner Sturheit, meiner Beschämung, meiner Depression und meiner Unzulänglichkeit und bringt mich immer wieder zurück auf die grüne Aue seiner Liebe. Er liebt uns so sehr, dass er uns nie loslässt . . . auch wenn es sich so anfühlt. Es war ja gar nicht so, dass ich mir ein moralisch fragwürdiges oder unvernünftiges Leben gewünscht hätte. In meinen Plänen spielten der christliche Glaube und das Dienen immer eine Rolle und Jesus stand immer klar im Mittelpunkt. Ich wollte eine unkomplizierte Ehe und ein friedliches und geordnetes Zuhause. Ich wollte konstruktive Entwicklung statt geplatzter Träume. Ich wollte Schutz statt Feuer . . . all das Gute eben. Und dennoch hat Gott mein Leben, meine Erwartungen und selbst einige meiner Träume völlig auf den Kopf gestellt. Ich hoffe, dass Sie auf diesen Seiten einen Freund oder eine Freundin auf ihrem eigenen Weg finden . . . egal, ob Sie gerade Schönes und Gutes erleben oder ob das, was Sie im Moment durchmachen, schwer und traurig ist und Sie wütend, verzweifelt und hoffnungslos macht. In alldem ist Gott wirklich bei uns und auf unserer Seite. Ich habe herausgefunden, dass selbst in den Zeiten, in denen der Weg am dunkelsten ist, er kleine Hinweise auf dem Weg zurücklässt –, Brotkrumen der Gnade sozusagen – die mich mit dem ausrüsten, was ich brauche, um den nächsten Schritt zu tun. Aber ich kann sie nur finden, wenn ich mich entscheide, genau hinzusehen.
28
Nicht über den Rand malen Man kann nicht seine eigene Geschichte von seiner Bestimmung abtrennen . . . Meine Vergangenheit ist etwas, das Jesus ergreift und zu einer Bestimmung macht. Das bezeichnet man dann als Erlösung. Beth Moore
Dort, wo ich aufgewachsen bin, blieb immer alles gleich. Nichts änderte sich. Mein Vater Jim Chapman (ja, ich war schon eine Chapman, bevor ich Steven kennenlernte) arbeitete beim Landmaschinenhersteller International Harvester. Meine Mutter Phyllis war Hausfrau, und das nahm sie so wörtlich, dass sie erst nach mir ihren Führerschein machte. Mamas Spitzname war, zumindest bei uns Kindern, „Supervac“ (Superstaubsauger), denn nicht ein einziges Staubkörnchen hätte es gewagt, sich auf den Sockelleisten unseres perfekt aufgeräumten und ordentlichen Zuhauses niederzulassen. Mein Vater sagte immer, wir sollten möglichst in Bewegung bleiben, damit uns unsere Mutter nicht irgendwann einmal zusammen mit dem Müll entsorgt. Die meisten Kinder, die ich aus dem Kindergarten und der Grundschule kannte, machten auch mit mir zusammen den Abschluss an der Highschool. Alle Menschen in meinem Umfeld waren weiß, ich hatte noch nie von jemandem gehört, der geschieden war, und ich ging einfach davon aus, dass es bei allen anderen genauso war wie bei uns zu Hause: Unsere Eltern stritten sich kaum und sprachen in unserer Gegenwart nie über irgendwelche unangenehmen Dinge, obwohl ich ganz sicher bin, dass sie so manche unangenehmen Gespräche miteinander hatten. Vieles, was großartiger Anlass zur Diskussion gewesen wäre, 29
wurde bei uns unter den Teppich gekehrt, wo ja reichlich Platz war, weil dort nie auch nur ein Körnchen Staub lag. Als Kind und auch später wollte ich immer alles richtig machen. Irgendwie wollte ich perfekt sein . . . als ob das ginge. Ich war das jüngste von drei Kindern. Ich hatte eine Schwester, die sieben Jahre älter war als ich, und einen neun Jahre älteren Bruder. Im Sommer sprang ich jeden Morgen auf mein lila Kinderrädchen, in dessen Lenkerkorb aus Plastik leuchtend bunte Blumen steckten, und radelte mit meinen Freunden los. Wir waren in der gesamten näheren Umgebung unterwegs, auch auf einem Weg, der durch den Wald führte und bei der Grundschule endete. Wir spielten mit Barbies, fuhren zum Sportplatz mit den verschiedenen Ballspielfeldern, wir kauften Lakritzschlangen und veranstalteten gigantische Wasserschlachten – bis um zwölf Uhr mittags die Sirene heulte. Auf dieses Signal hin sausten wir Kinder nach Hause, um dort belegte Brote mit Fleischwurst und Senf zu essen und uns danach sofort wieder auf unsere Fahrräder zu schwingen und bis zum Einbruch der Dunkelheit weiterzuspielen. Wir hatten keine Angst, dass uns etwas Schlimmes zustoßen könnte, und von Entführungen hatten wir noch nie etwas gehört. Unser Leben war sicher und machte Spaß. Mein Vater war ein Handwerker, der so gut wie alles reparieren konnte. Alle fünftausend Kilometer führte er pünktlich wie ein Uhrwerk bei unserem Auto den Ölwechsel durch. Wir Chapmans wussten, dass alles seinen Platz hat und dass dort auch immer alles zu sein hatte. Seitdem ich klein war, wusste ich, wie man schwer arbeitet und Ordnung hält, also verlangte ich von mir selbst immer Höchstleistung und strengte mich an, damit meine hart arbeitenden Eltern stolz auf mich waren. Wir gingen sonntagmorgens in die Kirche, außerdem sonntagund mittwochabends. Ich erinnere mich bis heute an die Wandbilder in der Sonntagsschule – alle Tiere, wie sie paarweise aufgereiht auf der Rampe zur Arche Noah stehen, oder Josef und Maria und das Jesuskind in der Krippe oder Mose, wie er das Rote Meer teilt. Ich nahm jeden Sommer am Jugendlager teil, ging 30
zum Abschluss jedes Mal nach vorn, wenn der Aufruf kam, sein Leben Jesus anzuvertrauen, und wurde jedes Mal – wieder – gerettet. Aber irgendwie verwirrte mich das auch. Wurde man denn noch einmal gerettet, wenn man das Gefühl hatte, von Gott abgedriftet zu sein . . . oder war es eine Bestätigung der bereits einmal getroffenen Entscheidung, . . . oder was? Ich weiß nicht so genau, ob es an der Gemeinde lag, an meiner Arbeitsethik oder ein bisschen an beidem. Am Ende glaubte ich jedenfalls, dass das Einzige, was sich in meiner unveränderlichen Welt verändern konnte, meine ewige Bestimmung war. In unserer Gemeinde wurde gelehrt, dass man seine Erlösung auch wieder verlieren kann . . . und deshalb wusste man nie so ganz genau, wie man gerade bei Gott angeschrieben und ob man noch im „grünen“ Bereich war. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas vom Grundgedanken der Gnade gehört zu haben. Bei der Beziehung zu Gott ging es darum, sich anzustrengen, hart zu arbeiten und so gut zu sein wie nur irgend möglich. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, saß ich oft in meinem leuchtend rosa gestrichenen Zimmer mit einem Flickenteppich in verschiedenen Pinktönen und passenden Gardinen und Tagesdecke, und malte. Ich liebte mein Zimmer. Mein Bett war immer perfekt gemacht, was eine Herausforderung war, denn ich hatte ungefähr hundert Stofftiere, die in einer bestimmten Anordnung auf der Tagesdecke sitzen mussten. Ich kämmte auch meinen Flauschteppich, in einer Ecke beginnend und dann den ganzen Weg bis zur Tür, sodass alle Fasern ganz genau gerade standen und es so aussah, als wäre niemand über den Teppich gegangen. Eines Tages malte ich also wieder einmal in meinem Zimmer in einem Malbuch ein riesiges Bild aus, und ich gab mir große Mühe, innerhalb der vorgezeichneten Linien zu bleiben, damit es besonders schön wurde. Es war mir auch gut gelungen, und es fehlte nur noch ein ganz kleines Stück. Es sah perfekt aus . . . bis ich einen kleinen Fehler machte. Je mehr ich versuchte, die übergemalte Stelle zu verbessern, desto schlimmer sah es aus. Ich war verzweifelt. Es war nicht 31
mehr perfekt. Ich fing an zu weinen und merkte, wie Wut in mir aufstieg. Bevor ich richtig wusste, was geschah, zerriss ich das Bild in kleine Fetzen. Dann rannte ich zu meinem Fahrrad und trat, so schnell und so heftig ich konnte, in die Pedale. Ich wusste nicht einmal, wohin ich fuhr. Es war so frustrierend, nicht perfekt zu sein. Ich konnte meinen eigenen Erwartungen an mich nicht gerecht werden . . . und ich wusste, dass auch Gott von mir enttäuscht sein musste. Auch mein Großvater war nicht perfekt, aber in meinen Kinderaugen kam er dem doch schon ziemlich nah. Er gehörte zu den Leitern unserer Gemeinde, und ich staunte immer darüber, wie viel er von der Bibel auswendig konnte. In der Kirche saß ich immer neben ihm, leckte an dem Kirschlutscher, den ich jedes Mal von meiner Großmutter zugesteckt bekam, und schaute zu, wie mein Großvater sich während der Predigt Notizen machte. Einmal wurde ihm bei der Predigt langweilig, aber weil er niemand war, der Zeit vergeudete oder unproduktiv war, holte er ein Blatt Papier hervor und fing an zu schreiben. Als er fertig war, gab er mir das Blatt und flüsterte: „Hier, kontrollier das, und schau mal, ob alles richtig ist.“ Es war ein ganzes Kapitel aus dem Buch Jesaja. Weil mein Großvater ein Liebhaber der Übersetzung der King-James-Bibel war, dauerte es eine ganze Weile, bis ich mich durch die altmodische Sprache gearbeitet hatte, aber am Ende fand ich keinen einzigen Fehler. Es war perfekt, und zwar jedes Wort. Als ich älter wurde, saß ich oft mit meinem Großvater zusammen. Wir tranken Cola aus der Flasche, aßen Kräcker mit Käse und unterhielten uns dabei über theologische Themen. Ich hatte jede Menge Fragen und war mittlerweile auch mutig genug, meinen Großvater in Bezug auf einige Standpunkte der Gemeinde zu bestimmten Themen zu hinterfragen, mit denen ich entweder nicht einverstanden war oder die ich nicht verstand. „Großvater“, sagte ich zum Beispiel, „wie ist das? Nehmen wir einmal an, da ist ein Junge, der Christ ist, und es geht ihm ganz toll, und als er eines Tages allein die Straße entlanggeht, sieht er 32
ein hübsches Mädchen mit einer tollen Figur auf dem Fahrrad vorbeifahren. Er kann gar nichts dafür, dass ihm da plötzlich dieser lüsterne Gedanke kommt . . . und dann – peng – wird er von einem Bus überfahren. Glaubst du wirklich, dass er in die Hölle kommt, weil er mit einer Sünde im Herzen stirbt, die er vor Gott nicht mehr bekennen konnte?“ Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, was mein Großvater damals geantwortet hat, aber worauf ich hinauswill, ist die Tatsache, dass ich schon als Teenager ziemlich empört war über die Vorstellung, dass man seine Erlösung wieder verlieren kann. Eine falsche Bewegung, so dachte ich, und es konnte sein, dass ich auf der falschen Seite des Himmelstores landete, von draußen hineinschaute und mich fragte, was da wohl falsch gelaufen war. Sie verstehen, was ich meine: Ich bin sehr werkorientiert aufgewachsen, mit der Vorstellung, dass Christen nicht sündigen, sondern höchstens „fehlerhaft“ sind. Ich wusste nicht so genau, wo die Linie verlief zwischen den Menschen, die sündigten, und denen, die einfach nur fehlerhaft waren. Und als jemand, der gern weiß, woran er ist, war ich verwirrt. Ich wusste, dass ich eine Beziehung zu Gott hatte, aber an welchem Punkt war der große Gott, der so weit weg war, so wütend oder enttäuscht von mir, dass er meine Fehler sah und sie als Sünde betrachtete? Und wenn es wirklich Sünden waren, war ich dann überhaupt wirklich gerettet? Mit meiner perfektionistischen Persönlichkeit, mit der ich immer alles gab, um gut genug zu sein, musste ich deshalb immer auf gewaltige Enttäuschungen gefasst sein. Wenn schlimme Dinge passierten, war Gott dann so enttäuscht von mir, dass er mich fallen ließ? Ich hatte ständig solche Fragen im Kopf, und weil von Gnade nie die Rede war, konnte ich mich nicht einfach in die Arme Jesu werfen, der angeblich in meinem Herzen wohnte. Rückblickend bin ich gar nicht mehr so sicher, ob diese Orientierung an den Werken wirklich in meiner Gemeinde gelehrt wurde oder ob ich das nur so wahrgenommen habe. Ich wünschte mir jedenfalls eine Beziehung zu Jesus. Jedes Jahr, wenn ich im Jugendlager war, wurde meine Beziehung zu Jesus wieder neu 33
entfacht. Ich wurde immer wieder erlöst oder gab Gott mein Leben immer wieder neu hin. Ich wollte einfach nur alles richtig machen. Dann las ich in der Bibel und betete und hielt stille Zeit und schrieb in einem Tagebuch auf, was mir dabei für Erkenntnisse kamen. Aber wenn dann nach den Sommerferien die Schule wieder anfing, schwand die Begeisterung schon bald, und ich fiel wieder zurück in die Sünde oder Fehlerhaftigkeit oder wie auch immer der richtige Begriff dafür war. Und dann fing der ganze Kreislauf wieder von vorne an. Ich konnte einfach nicht so sein, wie ich glaubte, dass ein Christ sein muss. Ich liebte meine Freunde in der Gemeinde, aber ich hatte auch Freunde in der Schule, die nicht zur Gemeinde gehörten. Ich wollte, dass jeder mich mochte, und wenn ich das erreichen konnte, indem ich mich dem Gruppendruck der Gleichaltrigen beugte, dann ließ ich mich hin und wieder auch ganz gern mal vom geraden Weg ablenken. Ich war also ein braves Mädchen mit guten Noten, aber auch ein unternehmungslustiges Mädchen, das gern Spaß hatte und hin und wieder mit den wilden Leuten abhing. Als Kind war ich dank des Apfelkuchens meiner Großmutter und des selbst gebackenen Sauerteigbrotes meiner Mutter, das vor Butter triefte, immer ein wenig pummelig. Ich hasste es, wenn ich neue Kleider brauchte und wir shoppen gingen. Damals wurde man als „kräftig“ bezeichnet, wenn man als Junge ein bisschen mehr auf den Rippen hatte, und als „pummelig“, wenn das bei einem Mädchen der Fall war! Meine Großmutter nannte mich ihre kleine „Butterkugel“, und die Kinder in der Schule nannten mich „Pummel Chapman“. Ich war eine Gerechtigkeitsfanatikerin – wenn jemand etwas tat, das ich ungerecht fand, dann hatte ich keine Hemmungen, meine Meinung zu sagen. Ich hasste es, wie die beliebten Kinder auf Leuten wie mir herumhackten. Ich war immer auf der Seite der Underdogs und setzte mich für sie ein. Dann im Sommer zwischen der zehnten und elften Klasse, ich war damals fünfzehn, wuchs ich fast zehn Zentimeter und nahm über zehn Kilo ab. Alles an meinem Körper verschob sich auf geheimnisvolle Weise. Plötzlich wollten die Leute, die mich 34
vor Kurzem noch ständig gehänselt hatten, meine Freunde sein. Jungen, die mich noch im Jahr zuvor „Miss Pummel“ genannt hatten, wollten plötzlich mit mir ausgehen, und ich genoss es unglaublich, sie abblitzen zu lassen. Den größten Teil des Sommers verbrachte ich in meiner Kindheit und Jugend in einem privaten Schwimm- und Sportklub. Mein Bruder war dort Trainer meines Schwimmteams, und sobald ich alt genug war, (das war ungefähr zu der Zeit meiner körperlichen Metamorphose), legte ich meine Rettungsschwimmerprüfung ab. Da war ich nun also, braun gebrannt, mit sonnengebleichtem, blondem Haar, mit einem Grübchen in der einen Wange und geraden weißen Zähnen dank des Umstandes, dass meine Eltern Geld für eine Zahnspange verschwendet hatten. Ich liebte die Geruchsmischung aus Chlor und Sonnenöl. Ich liebte es, auf meinem erhöhten Rettungsschwimmerstuhl zu sitzen, meine Rettungsschwimmerpfeife an dem Band um meinem Zeigefinger kreiseln zu lassen, zuständig zu sein und einfach zu leben! Jeden Sommer gab es in unserer Stadt Evangelisationen mit jeweils einer großen Veranstaltung an jedem Abend einer solchen Missionswoche. Besondere Chöre und Gesangsgruppen traten dort auf und es gab auch spezielle Jugendveranstaltungen. Eines Abends ging ich zu einem dieser Gottesdienste, um anschließend noch an der Jugendveranstaltung teilzunehmen, aber ein Mann am Eingang hielt mich auf. Er sah aus, als ob er über hundert wäre, und sagte: „Entschuldige mal, junge Dame, aber in dem Aufzug bist du hier nicht willkommen!“ „Wie bitte?“, fragte ich nach. „Du bist hier nicht willkommen!“, wiederholte er und packte mich am Oberarm. „Nicht in diesem Aufzug!“ Ich schaute an mir herunter auf mein rot-weiß gestreiftes Hosenkleid, das meine Sonnenbräune besonders schön hervorhob, das aber auf gar keinen Fall unangemessen war! Es war weder zu kurz noch zu tief ausgeschnitten . . . definitiv nicht unanständig, aufreizend oder unpassend. 35
Der Spitzname „Pummel Chapman“ hat mich sehr verletzt. Erst Jahre später wurde mir klar, dass er sich auf mein ganzes Leben ausgewirkt hat.
Farrah-Fawcett-Föhnfrisur – so sahen wir alle in den 80er-Jahren auf unseren Schulabschlussfotos aus.
Anderson University: nach einer durchdiskutierten Nacht bei einem Footballspiel.
Von Luft und Liebe leben! 19 und 21 Jahre alt.
Frühjahrsferien 2007. Keines der Mädchen gleicht dem andern! Gott sprach durch Emily in mein Leben hinein.
Marias Lieblingsschmusedecke. Sie musste immer mit. In den Tagen nach dem Unfall trug Will sie ständig bei sich.
Marias dritter Geburtstag. Sie liebte die Elfe Tinker Bell und alles, was mit Feen zu tun hat. Shaoey sagt, dass Maria endlich eine Fee ist, weil sie jetzt Flügel hat.
Urlaub. „Ich liebe es, wenn meine ganze Familie zusammen ist“, war einer von Marias Lieblingssätzen.