Sehnsucht nach der fernen Heimat - 9783865917980

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Elisabeth B端chle

Sehnsucht nach der fernen Heimat Roman


Classic 95

Verlagsgruppe Random House FSC -DEU -N001967 Das für dieses Buch verwendete FSC ®-zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

© 2008 Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, den folgenden Bibelübersetzungen entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung (L). Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.TM . Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Brunnen Verlags. Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten (Hfa). 1. Taschenbuchauflage 2013 Bestell-Nr. 816798 ISBN 978-3-86591-798-0 Umschlaggestaltung: Hanni Plato Umschlagbild (»Faraway Thoughts«): Fine Art Photographic Library/CORBIS , Carl Pippich Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany


F端r Natalie


Vielen Dank … meinen Schwiegereltern Fritz und Berta Büchle für die niedergeschriebenen Erinnerungen über die Flucht von „Opa“ Otto Büchle mit seiner Familie und für die vielen Auskünfte zwischendurch – ich werde jetzt nicht mehr dreimal täglich anrufen! … Mirjam Kocherscheidt, die sich wieder mit viel ­Energie, Geduld und Aufmerksamkeit durch das ­Manuskript gearbeitet hat. … dem Team von Gerth Medien für seinen ­vielfältigen Einsatz. … meinem Ehemann Christoph, der die Idee hatte, ­einmal einen Roman über die Geschichte seines Vaters zu schreiben – natürlich mit fiktiven Personen und viel Fantasie meinerseits. … meinen Kindern Niklas, Marika, Natalie, Michal und Silas, die mir immer wieder Freiraum zum Schreiben gewähren und mich mit ihrem Interesse und inzwischen auch mit ihrem Wissen unterstützen.


Hintergrundinformation Bessarabien Der Landstrich zwischen den Karpaten, dem Dnjestr und dem Schwarzen Meer wurde vom 14. bis zum 16. Jahrhundert von einem Fürstengeschlecht namens Basarab beherrscht. Daher stammt der Name Bessarabien. Heute gehört das Gebiet zwischen Pruth und Dnjestr teilweise zur Ukraine, teilweise zu Moldawien. Das fruchtbare Steppenland mit seinem schwarzen Boden wurde mal von den Türken, mal von den Rumänen und schließlich von den Russen für sich beansprucht. 1812 lud das russische Zarenreich unter Zar Alexander I ., einem Neffen des württembergischen Königspaares, mittels Werbern Ausländer ein, das Land zu bebauen. Etwa 9000 Deutsche – meist Württemberger – gründeten 24 Mutterkolonien. Aus ihnen entstanden nach und nach 150 Dörfer. Die Häuser standen entlang einer bis zu 50 Meter breiten Straße, sodass sich die Dörfer über mehrere Kilometer Länge erstreckten. Den Mittelpunkt bildete das Zentrum mit Rathaus und ­Polizeistation, Pfarramt, Kirche und Schulhaus. Die zu Anfang vom russischen Zaren zugestandenen Privilegien (Landschenkung, zinsloser Kredit, Steuerfreiheit auf zehn Jahre, Selbstverwaltung, Religionsfreiheit und Freiheit vom Militärdienst) wurden ab etwa 1870 7


unter Aufhebung des Kolonistenstatus zurückgenommen. Die Folge war, dass viele Bürger nach Nord- und Südamerika, vor allem Nord- und Süddakota, Kanada, Argentinien und Brasilien auswanderten. 1918 fiel Bessarabien an Rumänien, wurde 1940 jedoch nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjet­ union (wieder) annektiert. Zwar zeigte Hitler an dem Landstrich kein Interesse, wohl aber an den dort lebenden Deutschen, zumal diese sich viele ihrer Traditionen und sogar ihren schwäbischen Dialekt erhalten hatten. So wurden in einer groß angelegten Umsiedlungsaktion knapp 95 000 Personen in das besetzte Polen gebracht. Im Winter 1944/1945 mussten diese Menschen dann vor der Roten Armee fliehen. Historische Personen Hans Bernd von Haeften (18. Dezember 1905 – 15. August 1944): Hans Bernd von Haeften trat 1933 in den Auswärtigen Dienst ein (hauptsächlich kulturpolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes und Kulturattaché in Kopenhagen, Wien und Bukarest). 1940 war er Leiter dieser Abteilung, weigerte sich aber weiterhin, der NSDAP beizutreten. Seit 1933 war er auch Mitglied der Bekennenden Kirche. Das Attentat auf Hitler lehnte er aus religiösen Gründen ab, war aber für den Versuch eines Umsturzes. Er wurde nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 am 23. Juli verhaftet und am 15. August ermordet (durch Erhängen). Sein jüngerer Bruder war Werner von Haeften, der Adjutant Claus Schenk Graf von Stauffenbergs. Carl Hans Graf von Hardenberg (23. Oktober 1891 – ​ 24. Oktober 1958): Auf Schloss Hardenberg, rund 70   km 8


vor Berlin, fanden einige der vorbereitenden Ge­­spräche für das Attentat auf Hitler statt. Carl Hans Graf von Hardenberg war einer der führenden Köpfe des Widerstands, seine Tochter Reinhild die Verlobte von Werner von Haeften. Vier Tage nach dem Attentat wollten SS -Leute Graf von Hardenberg verhaften. Er versuchte sich selbst zu erschießen, um unter der Folter durch die SS seine Kameraden nicht zu verraten. Er kam schwer verletzt und verhandlungsunfähig ins KZ Sachsenhausen, das er überlebte.

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Prolog 

1815 Die erste Generation hat den Tod, die zweite die Not und die dritte erst das Brot. Kolonisten-Sprichwort



Elisa Steiger ließ das Führseil des dunklen Pferdes los und beschattete mit beiden Händen ihre Augen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel herab. Das mannshohe Steppengras duckte sich unter dem warmen Wind, der von Süden her über die grünen Hügel strich. Ein strahlend blauer Himmel spannte sich wie ein Zelt über die von Menschen unberührte Gegend und nur vereinzelt zeigte sich eine kleine, weiße Wolke. Das war also Bessarabien, das kleinste der russischen Gouvernements im Zarenreich. Dies war das Land, das die russischen Anwerber ihrem Mann so sehr angepriesen hatten, dass dieser beschlossen hatte, der Einladung des Zaren zu folgen und ein Stück davon in Anspruch zu nehmen. Die Russen hatten auf dem Land zwischen den beiden Flüssen Pruth und Dnjestr die Tataren vertrieben. Der Zar wollte das Gebiet, das nun brachlag, neu besiedeln, und so wurden Menschen aus dem Ausland angeworben, denen die Aussicht auf eigenes, fruchtbares Land sehr willkommen war. Elisa seufzte leise. Sie erinnerte sich gut an den Tag vor etwas mehr als einem halben Jahr, als Josef mit hochrotem Kopf und glänzenden Augen in ihre Küche gerannt gekommen war, nachdem er von dieser großen Gelegenheit gehört hatte. Begeistert hatte er von diesem Bessarabien erzählt. In einem für Josef ungewöhn­lichen Redeschwall hatte er ihr die Vorzüge für einen Umzug in das weit 13


e­ntfernte russische Zarenreich schmackhaft zu machen versucht. Schließlich würden ihnen dort 65 Hektar Land ge­­hören. Dabei mussten sie zehn Jahre lang keine Steuern zahlen, bekamen einen zinslosen Kredit, die Männer wurden vom Militärdienst befreit und sie durften sich selbst verwalten. Außerdem würden sie in Religionsfreiheit leben können – anders als in Deutschland, wo die Gängelung der liberal gewordenen Staatskirche für viele Gläubige schwer zu ertragen war. Josef war nicht mehr davon abzubringen gewesen, ihr württembergisches Zuhause zu verlassen, um dort sein Glück zu finden. Hinter Elisa wurde es unruhig. Ein paar Familien zogen an ihr vorbei, um sich weiter auf den Weg in das lang ge­­ zogene Tal zu machen, das ihnen von der Ansiedlungsbehörde zugeteilt worden war. Dort würden sie ihre eigene kleine Stadt aufbauen. Allerdings war von den versprochenen Kronhäuschen*, die für sie zum Einzug bereitstehen sollten, nichts zu sehen. Elisa zog die Stirn kraus. Ob es mit den anderen Zu­­ sagen, mit denen sie und weitere Familien hierher in die Fremde gelockt worden waren, ebenso aussah? „Mama, gehen wir auch weiter?“, hörte sie ihren älteren Sohn vom Pferd herab fragen. „Sicher. Ja“, sagte sie und setzte die Stute wieder in Bewegung. Langsam stiegen sie den kleinen Hügel hinab und folgten den Spuren der Vorangegangenen durch das niedergetretene Gras. Neugierig betrachtete die junge Frau die von den Hufen der Tiere aufgeworfene Erde. Sie war * Kommt von „Kronsland“, von der russischen Krone/dem Zaren zur Verfügung gestellte Ländereien, i. d. Fall: vom russischen Staat errichtete Häuser. Diese waren jedoch nur teilweise vorzufinden.

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dunkel, beinahe schwarz und duftete herrlich. Josef hätte daran sicher seine Freude gehabt. Tränen schossen Elisa in die Augen. Erneut überfiel sie die in ihr schlummernde Verzweiflung. Wie sollte sie hier allein mit ihren beiden kleinen Jungen leben und überleben können? Wie sollte sie allein ein Haus bauen und die ihr zustehenden Ländereien bebauen und bewirtschaften? Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, wanderten ihre Gedanken in die gar nicht so ferne Vergangenheit zurück. Sie hatte sich nicht lange gegen Josefs Wunsch zur Wehr gesetzt, der drückenden Enge auf dem elter­lichen Hof zu entfliehen. Die Pässe der deutschen Behörden wa­­ ren schnell ausgestellt worden, und so hatten sie sich in einer größeren Gruppe Schwaben wiedergefunden, die den etwa 2.000 Kilometer langen Weg gemeinsam bewältigen wollten. Voller Hoffnung hatten sie sich mit ihren wenigen Habseligkeiten zunächst auf den Weg nach Ulm gemacht. Dort waren sie auf Einweg-Booten, die spöttisch und liebevoll zugleich „Ulmer Schachteln“ genannt wurden, die Donau entlanggeschippert. Sie hatten Wien, Budapest und Belgrad hinter sich gebracht, ehe sie im Donaudelta das Schiff wieder verlassen hatten. Auf der Schifffahrt hatten verschiedene Krankheiten unzählige Todesopfer gefordert. Die Steigers waren eine der wenigen Auswandererfamilien gewesen, die im Donaudelta angekommen waren, ohne einen Todesfall beklagen zu müssen. Dort waren sie jedoch auf einer Flussinsel vor der Stadt Ismail* unter Quarantäne gestellt worden. Wochenlang hatten sie auf der sumpfigen Insel unter freiem Himmel ausharren müssen, umspült vom brodelnden Wasser * heute Ismajil, Ukraine

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der schnell fließenden Donau. Es hatte weitere Tote gegeben – unter ihnen auch Josef Steiger. Elisa stieß mit dem linken Fuß gegen einen kleinen Erdhügel, den sie in dem hohen Steppengras nicht ge­sehen hatte. Sie stolperte und fiel auf die Knie. Die Stute schnaubte auf, da ihr Kopf durch das Führseil, das Elisa in der Hand hielt, nach unten gezerrt wurde. Sie tänzelte auf der Stelle, und die beiden Jungen auf ihrem Rücken hatten Mühe, sich oben zu halten. Elisa blieb einen Moment lang erschöpft sitzen und hielt ihren Blick auf den Boden gerichtet. Dann griff sie in die schwarze Erde, nahm einen Klumpen in die Hand und zerrieb ihn zwischen ihren Fingern. Ob es irgendwo fruchtbarere Erde gab als diese? Josef hatte recht gehabt: Hier in Bessarabien bestand Hoffnung auf ein gutes Leben. Doch galt das auch für eine Witwe mit zwei halbwüchsigen Söhnen? Wie sollte sie sich hier durchschlagen? „Elisa!“, rief eine aufgeregte Stimme hinter ihr. Langsam stand sie auf und drehte sich um. Emma Bader kam mit fliegenden Zöpfen den Hügel heruntergerannt. Keuchend blieb sie vor ihr stehen. Elisas Herz begann schneller zu schlagen. Emma war ihr auf der langen Reise eine gute Freundin geworden. Ihre Anteilnahme und Hilfe nach Josefs plötz­lichem Tod hatten gutgetan. Doch nun war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Emma und ihre Familie würden weiterziehen, um das Land weiter im Norden in Anspruch zu nehmen, das ihnen zugeteilt worden war. „Elisa, ich muss mich jetzt von dir und den Jungen verabschieden.“ Emma nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Elisa erwiderte die Umarmung. Eine Welle der Enttäuschung überrollte sie. Sie hätte Emma 16


als Freundin und ihre Eltern als Unterstützung so gut gebrauchen können. „Gottes Segen dir und den beiden Kindern, Elisa. Ich werde jeden Abend, bevor ich mich schlafen lege, für euch beten. Du wirst es schaffen!“ Elisa nickte tapfer und flüsterte: „Auch ich werde jeden Abend für dich und deine Familie beten, Emma.“ „Das ist schön. Lass uns an diesem Versprechen festhalten. So können wir trotz der Entfernung immer miteinander verbunden bleiben.“ Noch ehe Elisa reagieren konnte, stürmte die 18-Jährige wieder den Hügel hinauf. Sie hatte keine Zeit, ihr lange nachzusehen. Die nachfolgenden Familien drängten an ihr vorbei, und so trieb auch sie das Pferd an, um endlich die Ebene zwischen den weit auseinanderliegenden, baum­ losen Hügeln zu erreichen. Eine Stunde später stand sie an der Stelle, an der der Marktplatz des Straßendorfs angelegt werden sollte. Ein Deutsch sprechender Russe, der sie hierhergeführt hatte, empfahl ihnen, erst einmal Erdhütten zu graben. Josef und Adam drückten sich gegen sie, während Elisa das Papier in der Hand hielt, auf dem das für sie vorgesehene Landstück eingezeichnet war. Dann wurde auch der Familie Steiger das Grundstück für ihr zukünftiges Wohnhaus zugewiesen. Hilflos und verloren stand sie mit ihren beiden Kindern an der Hand, der Stute im Rücken und dem bisschen Gepäck, das sie ihr Eigen nannte, da. Das war ihr Grund und Boden. Um sie herum gab es nichts als das hohe, raschelnde Steppengras und das Zirpen der Grillen.

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