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ch möchte Ihnen von einer Person erzählen, die ich einmal sehr gut kannte. Sie war ein sehr braves Mädchen: gehorsam, höflich, von allen anerkannt. Einige Menschen waren vielleicht der Ansicht, dass es ein bisschen zu zurückhaltend, aber trotzdem sehr angenehm war. Ein wirklich braves Mädchen eben. Ja, natürlich schien ihr Blick manchmal leer zu sein, und ihre Aussagen klangen manchmal, nun, nicht falsch, aber vielleicht ein bisschen oberflächlich. 9


Nun gut, ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie einfach so vor sich hinlebte, aber das machte sie richtig nett. Jeder mochte sie. Sie besaß die unheimliche Fähigkeit, fast alle Menschen immer glücklich zu machen. Auch wenn sie dabei nicht unbedingt selbst glücklich zu sein schien. Aber ich könnte mich da natürlich auch irren, denn sie lächelte immer. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jemals lachen hörte – und niemand würde darauf kommen zu sagen, dass sie das Leben ganz augenscheinlich liebte –, aber sie hatte ein so nettes Lächeln. Sie war ein sehr fürsorglicher Mensch, wenn auch auf eher passive Weise. Sie war einfach nicht der Typ, der die Welt auf den Kopf stellte. Aber trotzdem war sie ein sehr braves Mädchen. Was ich damit sagen möchte und wie Sie vielleicht schon vermutet haben: Ich war ein sehr braves Mädchen. 10



Ein braves Mädchen. Es ist eigentlich nichts Schlimmes, ein braves Mädchen zu sein, vor allem wenn Sie über die Alternativen nachdenken: Ein ungezogenes Mädchen. Ein gemeines Mädchen. Ein schlechtes Mädchen. Wer möchte so sein? Ich nicht. Nein, das wollte ich wirklich nicht. Ich wollte ein gottesfürchtiges Mädchen sein. Seit ich im Alter von sieben Jahren zum Glauben gekommen war, wollte ich Gott gefallen, und ich nahm diesen Wunsch sehr ernst.

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Ein braves Mädchen Ich wuchs in den 1950er und 60er Jahren in einer kleinen Stadt in Michigan auf. Dort besuchte ich eine Gemeinde, die in vielerlei Hinsicht eine gute Gemeinde war. Aber in den Jahren, in denen ich am meisten zu beeinflussen und zu beeindrucken war, ging es in den Predigten in erster Linie um Höllenfeuer und Verdammnis. Ich hörte viel von Sünde und Strafe, von Schuld und Schande.



Ich war ein sehr sensibles Mädchen. Auf der Grundlage dessen, was ich über Gott gehört hatte, gelangte ich zu dem Schluss, dass ich die Gunst dieser hartherzigen, fordernden Gottheit nur erlangen konnte, wenn ich sehr hart arbeitete, wenn ich sehr gut war und wenn ich auf dem geraden und schmalen Weg blieb. Und das tat ich auch. Als ich zehn Jahre alt war, tauschte ich meine Ballettschuhe gegen eine Flöte ein, weil man mir beigebracht hatte, dass Tanzen Sünde sei – Musik zu machen war jedoch eine akzeptable Form, Gott zu loben. Seit dieser Zeit bemühte ich mich sehr, Entscheidungen für mein Leben zu treffen, die, wie ich glaubte, Gott Freude machten. Wenn es Regeln gab, denen man folgen konnte, so folgte ich ihnen. Wenn es Vergnügungen waren, die man aufgeben sollte, so gab ich sie auf. Wenn es Arbeit zu erledigen gab, dann tat ich diese Arbeit. Ich war fest entschlossen, mir Gottes Liebe zu verdienen. 15


Außerdem war ich davon überzeugt, dass ich mir auch die Liebe aller anderen Menschen verdienen musste, wenn ich nach Gottes Liebe strebte – also bemühte ich mich darum, allen zu gefallen, alle glücklich zu machen und immer nett zu sein. Jeden Tag stand ich früh auf und betete: „Lieber Gott, was soll ich heute tun? Sag es mir einfach und ich werde es tun. Egal, was es ist.“ Ich bekam selten eine klare Antwort, was ich sehr frustrierend fand, weil ich wusste, wie wichtig es war, alles richtig 16


zu machen. Wie konnte ich mir Gottes Gunst erhalten, wenn ich nicht alles richtig machte? Also versuchte ich es unermüdlich. Jahrelang sah das folgendermaßen aus: Ich betete, las in der Bibel und strengte mich immer mehr an – in der Hoffnung, eines Tages das zu erleben, worum es bei diesem ganzen christlichen Zeug ging. Ich hoffte, eines Tages Gottes Liebe zu spüren, sie tief in mir zu erfahren und in ihr bleiben zu können. Aber Sie können noch so lange hart arbeiten und nach Liebe suchen, irgendwann wird Ihnen einfach die Kraft ausgehen. Und das war auch bei mir der Fall. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit 17 Jahren die Ehefrau eines Pastors. Mit 22 Jahren war ich überglücklich, einen Mann zu heiraten, der sich für den vollzeitlichen Dienst berufen fühlte – denn auch ich fühlte mich berufen. Ich empfand es nie als Verpflichtung, eine Gemeinde zu gründen, 17


nur weil ich eben mit diesem Mann verheiratet war; ich wollte es einfach tun. Aber nach 17 Jahren war ich so erschöpft, dass ich morgens nicht einmal mehr aufstehen wollte. Um es offen zu sagen: Ich wollte nicht mehr weiterleben. Später erkannte ich, dass ich nicht einfach nur erschöpft war, sondern an einer schweren Depression litt. Die meisten Menschen wussten nicht, in welchem Zustand ich mich befand. Ich war immer noch ziemlich gut darin, mich wie ein braves Mädchen zu verhalten, aber tief in mir sah es definitiv ganz anders aus. Ich kämpfte gegen das leider stark verbreitete Vorurteil an, dass nur nachweislich verrückte Menschen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, und beschloss, einen christlichen Therapeuten aufzusuchen. In der Therapie hörte ich zum ersten Mal davon, dass es eine Alternative zum „braven Mädchen“ gab und dass diese Alternative nichts damit zu tun hatte, ungezogen, gemein oder schlecht zu sein. 18


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