John Ortberg
ICH einzigartich ›› Wie ich so werde,
wie Gott wollte, dass ich bin
Aus dem Englischen übersetzt von Jokim Schnöbbe
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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Munken Print für dieses Buch liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.
Die Originalausgabe erschien im Verlag Zondervan, Grand Rapids, Michigan, USA, unter dem Titel „The Me I want to be“. © 2010 by John Ortberg © 2010 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Wenn nicht anders angegeben, wurden die Bibelzitate der „Neues Leben Bibel“ entnommen. © 2002 und 2006 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. Sonstige verwendete Übersetzungen: Gute Nachricht Bibel. © 1997 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN) Hoffnung für alle. © 1986, 1996, 2002 International Bible Society Übersetzung, Herausgeber und Verlag: Brunnen Verlag, Basel und Gießen (Hfa) 1. Auflage 2010 Bestell-Nr. 816 863 ISBN 978-3-86591-863-5 Umschlaggestaltung: Immanuel Grapentin, Lindsay Lang Sherbondy Lektorat und Satz: Nicole Schol Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
›› inhalt Teil 1 ›› Meine Identität finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1 Wozu Gott Sie geschaffen hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2 Was ich lieber nicht werden will . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Teil 2 ›› Mit dem Geist fließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3 Entdecken Sie den Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Finden Sie heraus, wie Sie sich geistlich weiterentwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Unterwerfung – immer eine hilfreiche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Seien Sie nicht so verkrampft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 59 78 94
Teil 3 ›› Mein Denken erneuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7 Lassen Sie sich von Ihren Sehnsüchten zu Gott führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 8 Verfolgen Sie gute Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9 Geben Sie Ihren Gedanken gute Nahrung . . . . . . . . . 135 10 Bleiben Sie mit Ihren Sorgen nicht allein . . . . . . . . . . 155
Teil 4 ›› Meine Zeit nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 11 12 13 14
Lassen Sie Ihr Reden und Beten ineinanderfließen . 176 Versuchungen: Lassen Sie sich nicht einfangen . . . . . 184 Was blockiert den Strom bei Ihnen? . . . . . . . . . . . . . . 194 Springen Sie wieder in den Strom . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Teil 5 ›› Meine Beziehungen vertiefen . . . . . . . . . . . . . . . . 233 15 16 17 18
Stürzen Sie sich mit Gott in die Fluten . . . . . . . . . . . . 234 Pflegen Sie Beziehungen, die Ihnen Kraft schenken . 247 Wagen Sie, „auch nur ein Mensch“ zu sein . . . . . . . . . 263 Entwickeln Sie sich durch schwierige Zeitgenossen weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
Teil 6 ›› Mein Erleben verwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 19 Arbeiten Sie im Beruf mit Gott zusammen . . . . . . . . 294 20 Arbeiten Sie so, als würden Sie direkt für Gott arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 21 Über einen Umweg in den Himmel . . . . . . . . . . . . . . . 315
Teil 7 ›› In die Welt hinausfließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 22 Bitten Sie um einen Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Quellenverweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
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›› wagen sie, „auch nur ein
mensch“ zu sein
Wir Christen haben ein Sündenproblem. Das Problem ist nicht nur, dass wir sündigen – dieses Problem hat jeder. Unser Problem ist, dass wir nicht darüber reden können. Unser Problem ist, dass wir so tun, als hätten wir kein Problem. Wir hören gerne Geschichten über Menschen, die früher einmal Probleme mit einem bestimmten Fehlverhalten hatten. Personen werden häufig eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen, sofern diese einen glücklichen Ausgang hat, quasi wie in den amerikanischen Fernsehkomödien der 1950er: Früher hatte ich ein Problem, dann bin ich Gott begegnet, und jetzt ist alles im Lot. Stellen Sie sich vor, man geht zu einem Seelsorger und sagt: „Ich möchte nur über Probleme reden, mit denen ich früher zu kämpfen hatte. Bitte fordern Sie mich nicht auf, irgendwelche anhaltenden Probleme zuzugeben. Das wäre mir zu peinlich. Ich habe Angst, dass Sie mich dann ablehnen.“ Warum würde man zu einem Seelsorger gehen wollen, um diesen davon zu überzeugen, dass man keinen Seelsorger benötigt? Warum würde man in eine Gemeinde gehen wollen, um die Leute dort davon zu überzeugen, dass man eigentlich keine Gemeinde benötigt? Vor vielen Jahren gehörte ich in Südkalifornien zu einer Kleingruppe, die aus relativ jungen Ehemännern bestand. 263
Wir sprachen über die Umstellung auf das Eheleben, über unsere Sexualität, unsere Jobs, unseren Glauben und unsere Finanzen. Wir gingen zusammen ins Kino, zu Baseballspielen und verbrachten manchmal das Wochenende zusammen. Doch dann kam einer der Männer irgendwann plötzlich nicht mehr, und wir fanden heraus, dass er schon jahrelang unter Spielsucht litt, was an seinem Arbeitsplatz zu Unehrlichkeit in finanziellen Dingen geführt hatte. Schließlich wurde er gefeuert und ließ sich scheiden. Jahr für Jahr hatte er mit Angst, zwanghaftem Verhalten und Selbsthass gelebt – und keiner von uns wusste davon. Vielleicht hatte er nicht den Mut, uns davon zu erzählen. Vielleicht sandten wir ihm unterschwellige Signale, dass wir es nicht begrüßen würden, über so tiefgreifende Probleme zu reden. Hinterher fragte ich mich: Wäre sein Leben anders verlaufen, wenn wir darüber hätten reden können? Wie sehr hat mein eigenes Bedürfnis, mich besser darstellen zu wollen, als ich wirklich bin, zu einer Kultur der Oberflächlichkeit beigetragen? Ich weiß nur eines: Die Gruppe, die ein Ort der Heilung und Geborgenheit sein sollte, hatte diesen Zweck verfehlt. Menschen erzählen ihrem Arzt ohne Weiteres, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt, oder ihrem Mechaniker, dass mit ihrem Auto etwas nicht stimmt. Wäre es da nicht auch in Ordnung, dass Sünder anderen Sündern von ihrem Problem mit der Sünde erzählen? Wenn ich mir wünsche, dass Gott (ganz zu schweigen von anderen Menschen) mein echtes Ich liebt, muss ich daran arbeiten, echt zu werden. David war der größte König, den Israel je hatte – aber er war auch ein Polygamist. Er war ein schrecklicher Vater. Er begehrte die Frau eines anderen, beging Ehebruch mit ihr, versuchte, ihrem Mann etwas vorzutäuschen, ließ den Mann schlussendlich ermorden und vertuschte das Verbrechen ein Jahr lang. Er war ein Lügner, ein Ehebrecher, ein gieriger Spanner und Mörder. Wie ein Freund von mir angemerkt 264
hat, trug damals mit Sicherheit niemand ein „Was würde David tun“-Armband. Trotzdem wurde er später als ein „Mann nach [Gottes] Herzen“ bezeichnet (1. Samuel 13,14). Ist es möglich, derart tief in Sünde verstrickt zu sein und gleichzeitig Gott aufrichtig zu lieben? Ich hörte einmal einen christlichen Leiter über die zwei großen Sünden sprechen, die ihm zu schaffen machten. Die eine war, dass er manchmal im Flugzeug dem Sitznachbarn nicht so kühn von seinem Glauben erzählte, wie Jesus es tun würde. Sein anderes Sündenbekenntnis lautete, dass seine Gedanken beim Beten ab und zu abschweiften. Er beteuerte, welch schreckliche Sorgen er sich wegen dieser Sünden mache. Welche Hoffnung haben dann diejenigen unter uns, die – so Anne Lamott – Sachen tun, die Jesus so zusetzen, dass er am liebsten Gin aus einer Katzenschüssel trinken würde?1 Selbst während ich dies schreibe, sehe ich mich einem eigenartigen Problem gegenüber. Wenn ein Pastor ein schweres Sündenbekenntnis ablegt, meinen die Leute, er solle sein Amt lieber aufgeben. Wenn er jedoch nur milde, unskandalöse Sünden bekennt, halten die Leute ihn für unecht und heuchlerisch. Deswegen merke ich in diesem Moment, dass ich am liebsten Fehlverhalten aufschreiben möchte, durch das ich verletzlich und ehrlich wirke, das allerdings nicht so skandalös ist, dass es mich meinen Job kostet. Sie sehen: Ich kann nicht einmal Sünden bekennen, ohne dabei zu sündigen. Sie müssen keinen Erfolg vorweisen können, um den Anonymen Alkoholikern beitreten zu können. Sie müssen nur ein Bedürfnis haben. Es gibt keine „gesunden Süchtigen“, nur Menschen, die sich im Prozess der Genesung befinden. Denn wenn Nüchternheit zu Selbstgerechtigkeit führt, ist es nur eine Frage der Zeit, ehe das Unglück wieder zuschlägt. Beziehungen werden dagegen vertieft, wenn Menschen echt sind, was heißen soll: wenn sie ehrlich sind in Bezug auf die Sünde, die einfach nur menschlich ist. 265
Kommen Sie so, wie Sie sind Ich habe ein Leiden, das immer mal wieder auftritt und behandelt werden muss. Es ist mir etwas peinlich, aber vor Kurzem wurde das Problem so akut, dass ich zum Sonntagsdienst musste. Andrew, ein Medizinstudent, der gerade Dienst hatte, fragte mich, wo denn das Problem liege, doch ich wollte es ihm nicht sagen. Möchten Sie wissen, was es war? Nein? Ich erzähle es Ihnen trotzdem. In meinen Ohren hatte sich mit der Zeit immer mehr Ohrenschmalz angesammelt. Als ich dann schwimmen ging, wurde Wasser dahinter eingeschlossen, folglich konnte ich kaum noch etwas hören. Nach dem Gottesdienst wollten Menschen mit mir sprechen, aber ich konnte nicht hören, ob sie einfach nur Hallo sagen wollten oder ein tiefes Sündenbekenntnis ablegten. Also ging ich zum Arzt, doch ich wollte mein Problem immer noch nicht beim Namen nennen. Als ich es dann Andrew schlussendlich doch sagte, wurde meine Unsicherheit sofort von seinem Lächeln weggewischt. „Super!“, sagte er. „Wir holen es sofort heraus. Ich mach das liebend gerne. Es ist eines der Dinge, die ich am besten kann. Alle möglichen Leute leiden an diesem Problem.“ Andrew nahm einen Hochdruckstrahler und einen Eispickel zur Hand und holte einen Klumpen Ohrenschmalz von der Größen einer kleinen Pampelmuse aus meinem Ohr. Ich fühlte mich besser und ihm hatte die Arbeit Spaß gemacht. Wenn man sich öffnet und aufhört, anderen etwas vorzumachen, merkt man, dass man lebendig wird. Als die Urgemeinde entstand, trafen sich die Gläubigen in ihren Häusern zu Mahlzeiten „bei denen es fröhlich zuging und großzügig geteilt wurde“ (Apostelgeschichte 2,46), weil sie jetzt ein Beziehungsnetz hatten, wo jeder kommen konnte, wie er war. 266
Wo Menschen aufrichtig sind, herrscht auch Freude. Der Apostel Paulus schrieb dieser frühen Gemeinschaft von Christen: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, denn dadurch wird Gott geehrt“ (Römer 15,7). Annahme bedeutet mehr, als nur von jemandem gemocht zu werden. Jesus hat nicht zu mir gesagt: „John, wenn du dich ein bisschen zusammenreißt, wenn du dich ein bisschen besser kleidest und häufiger in der Bibel liest, dann nehme ich dich in meine Familie auf.“ Natürlich möchte er das Beste aus mir herausholen, aber ich muss nicht vorgeben, besser zu sein, als ich wirklich bin, um bei ihm sein zu dürfen. Wie hat Jesus Sie angenommen? So wie Sie sind. Wenn jemand anderer die peinliche, demütigende Wahrheit über mich kennt und mich dennoch annimmt, lebe ich wirklich auf. Einmal im Jahr verbringe ich ein langes Wochenende mit einigen Freunden, die ich noch vom College kenne. Dadurch erleben wir, wie es ist, wenn man sich schon lange sehr gut kennt. Wenn ich mit ihnen zusammen war, versuchte ich die meiste Zeit, meine eigenen Worte so zu hören, als würde ich einem anderen zuhören. Dabei fiel mir auf, dass die meisten Sachen, die ich sagte, dafür sorgen sollten, dass ich schlau und clever und witzig erschien, oft auf Kosten eines anderen Menschen. Ich merkte, dass meine Erfolge eindrucksvoller klangen, als sie es in Wirklichkeit waren. Hinterher war ich mir unsicher, ob ich mich überhaupt mögen würde, wenn ich nicht zufällig ich selbst wäre. Ich las neulich, ein Kennzeichen des Narzissmus sei, dass der Wunsch nach Anerkennung stärker sei als der Wunsch, gemocht zu werden. Es war schmerzhaft, das zu lesen, weil es meine eigene Schwachstelle nur allzu treffend beschrieb. Als ich mit meinen Freunden zusammen war, ergriff mich mit einem Mal der Gedanke, wie glücklich ich mich schätzen konnte, Freunde zu haben, die mich lieben, obwohl ich 267
so kaputt bin. In oberflächlichen Beziehungen brauche ich nicht darüber nachzudenken, wie kaputt ich bin. Doch wenn ich mit Menschen zusammen bin, die mich gut kennen und mich ganz annehmen, wird meine innere Zerbrochenheit von ihrer Annahme so berührt, wie ein Arzt die Verletzung eines Patienten berührt. Durch die Berührung kommt Heilung und durch das Mysterium der „annehmenden Gemeinschaft“ fließt der Geist Gottes.
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Henri Nouwen hat geschrieben: „Wenn wir uns ehrlich fragen, welche Menschen uns am meisten bedeuten, sind es nicht diejenigen, die uns Ratschläge, Lösungen und Heilmittel verschreiben, sondern diejenigen, die unseren Schmerz mit uns teilen und unsere Wunden mit warmer, sanfter Hand berühren. Ein Freund, der in einem Moment der Verzweiflung oder Verwirrung still bei uns sein kann, der in einer Stunde der Trauer oder des Verlusts an unserer Seite ist, der es aushält, nicht zu wissen, nicht zu heilen, nicht zu kurieren, der die Realität unserer Machtlosigkeit zusammen mit uns erträgt, das ist ein Freund, der sich wirklich um uns sorgt.“2
Machen Sie das Geschenk der Beichte Einer der wichtigsten Momente in meinem geistlichen Leben war, als ich mich mit einem guten Freund zusammensetzte und sagte: „Ich möchte keine Geheimnisse mehr vor dir haben.“ Ich erzählte ihm, wofür ich mich am meisten schäme. Ich erzählte ihm von meiner Eifersucht, von meiner Feigheit und davon, wie ich meine Frau durch mein aufbrausen268
des Wesen verletzt habe. Ich erzählte ihm von meiner Vergangenheit in Bezug auf Geld und meiner Vergangenheit in Sachen Sex. Ich erzählte ihm von Betrügereien und meiner Reue, die mich um den Schlaf bringen. Ich kam mir ungeschützt vor, weil ich Angst hatte, dadurch würde meine Verbindung zu ihm abbrechen. Zu meinem Erstaunen wandte er noch nicht einmal den Blick ab. Und ich werde seine Worte nie vergessen. „John“, meinte er, „ich habe dich noch nie so sehr geschätzt, wie ich dich in diesem Moment schätze.“ Die Wahrheit über mich, von der ich befürchtete, dass sie meinen Freund vertreiben würde, war ein Band, das uns enger zusammenzog. Er sprach daraufhin über Geheimnisse, die auch er mit sich herumtrug. Man kann mich nur so weit lieben, wie man mich kennt. Verberge ich einen Teil meines Lebens vor Ihnen, können Sie mir zwar sagen, dass Sie mich schätzen, doch in meinem Inneren nagt der Gedanke an mir, dass Sie mich nicht würden leiden können, wenn Sie die Wahrheit über mich wüssten. Ich kann von Ihnen nur so weit Liebe empfangen, wie Sie mich kennen. Ich kann nicht allumfassend geliebt werden, wenn ich nicht allumfassend offen bin. Allumfassend offen zu sein und allumfassend geliebt zu werden ist das heilende Geschenk, das ein Mensch einem anderen machen kann. Jakobus schrieb: „Bekennt einander eure Schuld und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet“ (Jakobus 5,16). Wir alle sind Sünder, denen vergeben wurde und die sich in einem Heilungsprozess befinden. Niemand kann sich in einer Beziehung geborgen fühlen, wenn er nur geliebt wird, weil er schlau, gutaussehend, stark oder erfolgreich ist. Sünde isoliert uns, und Sünde und Isolation machen unsere Seele und sogar unseren Körper krank. Wenn wir unsere Sünde stattdessen bekennen, beten, mit anderen 269
Menschen und mit Gott verbunden sind, setzt das den Strom des Heiligen Geistes frei und bringt Heilung.
Heben Sie niemanden in den Himmel Es ist bemerkenswert, dass die Verfasser der Bibel nie dem verfallen, was viele christliche Gemeinden tun: Menschen in den Himmel zu heben. Um zu veranschaulichen, wie erschreckend ehrlich die Verfasser der biblischen Bücher über unsere menschliche Natur berichten, beantworten Sie bitte diese Frage: Welche Person in der Bibel führte Ihrer Meinung nach die beste Ehe? Adam und Eva verbrachten ihre Flitterwochen im Paradies, doch danach ging es bergab. Abraham bediente sich – zweimal! – einer Lüge und sagte, Sara sei seine Schwester, und er schwängerte ihre Magd Hagar. Isaak und Rebekka waren ihr ganzes Eheleben lang zerstritten, weil er Esau bevorzugte und sie Jakob am liebsten hatte. Jakobs Kinder stammten von zwei Ehefrauen und deren Mägden. Von Moses Frau Zippora wissen wir so gut wie nichts, nur dass sie mit Mose eine Auseinandersetzung wegen der Beschneidung ihres Sohnes hatte und Mose als „Blutbräutigam“ (2. Mose 4,26) beschimpfte. David war als Ehemann eine Katastrophe; Salomo war noch schlimmer. Als Hiobs Leben zu schwierig wurde, sagte Frau Hiob zu ihm: „Sag dich von Gott los und stirb!“ (Hiob 2,9). In Märchen ist das Leben schwierig, bis man heiratet – und dann lebt man glücklich bis ans Ende seiner Tage. In der Bibel gibt es dagegen nirgends ein Paar, das heiratet und dann bis ans Ende seiner Tage glücklich miteinander lebt. Die Ehe rettet niemanden. Nur Jesus tut das. Die Bibel geht erstaunlich offen damit um, wie belastet und kaputt die Ehen der Glaubenshelden waren. Wie oft sitzen 270
dagegen Ehepaare in der Gemeinde und erdulden still ihre Qualen? Sie wollen das Image geistlichen Erfolges vermitteln, doch kratzt man an der Oberfläche, stellt man fest, dass sie schon monatelang nicht mehr miteinander geschlafen haben. Oder die Ehe ist von verbaler oder körperlicher Misshandlung gezeichnet. Oder sie haben eine Tochter, die schwanger ist, und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Oder einer von beiden ist insgeheim ein Alkoholiker. Oder sie stehen vor dem finanziellen Ruin.
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Menschen, die am meisten Hilfe brauchen, bekommen sie häufig am wenigsten, weil man sie dann aus dem Himmel zerren müsste, in den man sie gehoben hat. Was wäre, wenn wir genauso ehrlich sein könnten, wie die Bibel mit dem Thema „Ehe“ umgeht? In einer Gemeinschaft von Gläubigen, in der sich alle um das Kreuz versammeln, sollte jeder auf dem Boden der Realität bleiben. In der Bibel ist die Ehe nicht die Erfüllung unserer Träume, sondern ein Platz, an dem wir lernen können.
Lernen Sie die J-Kurve kennen Experten für menschliches Lernverhalten sprechen manchmal über die sogenannte „J-Kurve“, eine grafische Darstellung, J-Kurve die beschreibt, dass sich die Leistung eines Menschen zunächst verschlechtert, bevor sie besser wird. Die Entwicklungsstufen ergeben in der Darstellung den 271
Buchstaben „J“, das heißt, zunächst entwickelt sich die Kurve nach unten, bevor sie zu steigen beginnt. Wenn Sie beim Tennis bis jetzt mit der Rückhand immer falsch geschlagen haben und Ihnen jemand beibringt, wie man den Schläger richtig hält, welche Haltung man einnehmen sollte und wo man seine Füße platziert, dann werden Sie den Ball zunächst schlechter schlagen als vorher, als Sie es falsch gemacht hatten! Bleiben Sie jedoch bei der korrekten Methode, wird Ihre Rückhand schließlich viel besser sein als zuvor. Doch Sie müssen den Umstand in Kauf nehmen, dass sie sich erst einmal verschlechtern wird. Als der Jünger Petrus genügend Glauben aufbrachte, um aus dem Boot zu steigen, begann er schon bald zu sinken und schien nun schlechter dran zu sein als die anderen Jünger. Als er Jesus verteidigen wollte, schnitt er das Ohr eines anderen Mannes ab. Als er schwor, dass er an Jesus festhalten würde, fiel er mit seinem Glauben kräftig auf die Nase. Als er Jesus einen Ratschlag geben wollte, wurde er zum Advocatus Diaboli.3 Doch schließlich wurde Petrus dank seines Glaubens und seiner Kühnheit, seiner Loyalität und Weisheit doch Leiter der Gemeinde. Aber bevor sich die Situation für ihn besserte, verschlechterte sie sich erst einmal. Beachten Sie, dass Jesus über diesen Umstand nicht überrascht oder entmutigt war. Genauer gesagt war Jesus so geduldig mit seinen Jüngern, dass wir die „J-Kurve“ auch als die „Jesus-Kurve“ bezeichnen könnten. Er hält seine Unterstützung nie zurück, wenn ein Jünger den aufrichtigen Wunsch hat, sich zu verändern. Jesus bringt uns immer Wachstum, und Wachstum bringt immer ein gewisses Risiko mit sich, und Risiko bringt immer Versagen mit sich. Somit bringt uns Jesus immer Versagen. Doch er lässt einen Schüler nie durchfallen, nur weil dieser versagt hat. Wenn Sie bis jetzt immer äußerst konfrontationsscheu gewesen sind und anfangen, Menschen entgegenzutreten, wo 272
es nötig ist, werden Sie sich zunächst nicht sehr geschickt anstellen. Wenn Sie Menschen bislang selten ermutigt haben, werden Ihre ersten Ermutigungsversuche möglicherweise unbeholfen klingen. Wenn Sie noch nie jemandem von Ihrem Glauben erzählt haben, wird sich beim ersten Mal wahrscheinlich Ihre Zunge verknoten. Aber das ist nicht so schlimm. Stammeln Sie ruhig. Versager sind nicht Menschen, die hinfallen; Versager sind Menschen, die keine Schritte wagen wollen. Wir leben auf der J-Kurve.
Das Geschenk ehrlicher Worte Menschsein bedeutet, unsere Wünsche ehrlich beim Namen zu nennen. Allzu oft „tapezieren“ wir unsere menschlichen Probleme mit einer Schicht frommer Sprache. Es gibt eine Geschichte über einen Jungen, der nach Hause kommt und nicht merkt, dass der Pastor gerade zu Besuch ist. Er hält eine Ratte in der Hand. „Mama, rate mal, was passiert ist. Hinter der Garage lief eine Ratte herum. Als ich sie sah, hab ich einen Stein nach ihr geworfen. Ich hab sie schließlich mit meiner Schleuder getroffen und dann lag sie ganz still da. Also bin ich zu ihr hingegangen und bin auf ihr rumgetrampelt. Dann hab ich sie aufgehoben und gegen die Wand geschmissen, so doll ich konnte. Und dann habe ich sie aufgehoben und noch mal gegen die Wand geschmissen.“ Da bemerkt der Junge, dass der Pastor zu Besuch ist, und wenn Blicke töten könnten, wäre er mausetot. Er hält die Ratte hoch und fügt in einem frommen Tonfall hinzu: „Und dann hat der liebe Gott sie heimgerufen.“ Wenn wir uns in einem besonders guten geistlichen Licht darstellen wollen, machen wir uns in Wirklichkeit nur 273
weniger menschlich. Wer eine Maske aufsetzt, unterbricht den Strom des Heiligen Geistes. Der Autor Scott Peck berichtet von einem Ehepaar, das ständig in eine fromme Sprache verfiel, um seine Grausamkeiten und seine Herrschsucht zu verbergen.4 In den Zehn Geboten heißt es, dass wir den Namen des Herrn nicht missbrauchen sollen. Oft verstehen wir darunter, dass wir Gottes Namen nicht als Füllwort oder Kraftausdruck benutzen sollen. Dabei kommt es viel häufiger vor, dass wir den Namen Gottes missbrauchen, indem wir uns hinter fromm klingender Sprache verstecken. Vor vielen Jahren befand ich mich einmal in einer kleinen Gruppe von Personen, die sehr unterschiedlich waren. Einer war ein Prediger, der umherzog und Erweckungsgottesdienste abhielt, die er „Explosion des Heiligen Geistes“ nannte. Eine andere Person hatte so wenig mit dem Christentum zu tun, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob „Jesus“ und „Jesus Christus“ dieselbe Person ist. Die Nichtchristin erwähnte ihre äußerst gestörte Beziehung zu ihrem Exfreund, der sie oft gedemütigt und verraten und missbraucht hatte. „Jetzt hat er Krebs“, meinte sie, „und ich hoffe, er stirbt.“ „So etwas dürfen Sie nicht sagen!“, entgegnete der Prediger. „Sie müssen für ihn beten. Sie müssen beten, dass er geheilt wird. Der Heilige Geist kann ihn heilen, jetzt in diesem Augenblick. Lassen Sie mich am besten gleich für ihn beten. Sie müssen ihn einfach lieben!“ „Aber ich liebe ihn nicht. Ich hasse ihn. Und ich hoffe, er stirbt.“ Woher kommt es, dass wir so viel Zorn in den Psalmen finden, dass sie so viel rohe, ungefilterte Feindseligkeit und Rachgier und Rage und Forderung nach geschwinder göttlicher Gerechtigkeit enthalten, während die Gebete in der Gemeinde so … na ja, eben so „entkoffeiniert“ sind? Kann Gott mit unserem Zorn etwa nicht umgehen? 274
Es gibt ein altes Kirchenlied, das mit den Worten beginnt: „So wie ich bin, ohn’ alle Zier.“5 In dem Lied geht es darum, dass man zu Gott kommen kann, ohne etwas verbergen zu müssen, weil man weiß, dass man geliebt wird. Es gibt ein paar Menschen in meinem Leben, bei denen ich so sein kann, „wie ich bin“, und ich klammere mich an sie wie ein Ertrinkender sich an ein rettendes Floß klammert. Sollte es je eine echte „So wie ich bin“-Gemeinde geben, sollte es je eine Gemeinschaft geben, in der jeder seine Lasten und seine Zerbrochenheit mitbringen kann, ohne schon ein nett verpacktes Happy End erreicht zu haben, sollte es je eine Gruppe geben, in der jeder geliebt wird und keiner etwas vortäuschen muss – dann wäre in dem Gebäude nicht Platz genug für all die Menschen, die kommen würden.
Im Strom des Geistes ›› Zu welchem Ihrer Freunde sind Sie am offensten? ›› Was bedauern Sie insgeheim am meisten? Was sind
Ihre größten Versuchungen? Gibt es jemanden, mit dem Sie darüber reden können? ›› Nehmen Sie sich Zeit, um einen Blick auf das zu werfen, was Sie bedauern und was Sie am meisten auf die Probe stellt. Verabreden Sie sich mit jemandem, zu dem Sie tiefes Vertrauen haben. Seien Sie ganz ungestört zusammen und reden über den Zustand Ihrer Seele und Ihres Herzens – auf einer Ebene, die dem Vertrauen zwischen Ihnen angemessen ist. ›› Lachen Sie heute mindestens einmal über sich selbst.
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