Jesus, der Geheimdienst, mein Vater und ich - 9783865917188

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Aus dem Amerikanischen von Barbara Schuler


Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC ®-zertifizierte Papier Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland. Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Thomas Nelson, Nashville, Tennessee, unter dem Titel „Jesus, my Father, the CIA, and me“ © 2011 by Ian Morgan Cron © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816718 ISBN 978-3-86591-718-8 Umschlaggestaltung: Christopher Tobias & Immanuel Grapentin Umschlagfoto: Privat Übersetzung: Barbara Schuler Lektorat: Ines Maynard Satz: Marcellini Media GmbH, Wetzlar Druck und Verarbeitung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany


F端r meine Mutter


Wenn es sinnvoll erscheint, einen Schritt zur端ckzugehen, geht man voran. Wendell Berry


Inhalt 1 Der Junge im Rettungsboot . . . . . . . . . . . . . .

9

2 Mein Vater und der Geheimdienst . . . . . . . . . .

14

3 Fünfzig fremde Männer . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Das mysteriöse Seil . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

5 Nanny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

6 Waldgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Das Radio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Die Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 Mein Vater, der Spion . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

10 Irrfahrt in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . .

143

11 Der wahre Freund . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

12 Zerrissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

13 Das Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186

14 Der Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

15 Drachenfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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16 Vom Springen und Fallen . . . . . . . . . . . . . .

223

17 Der Faden des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1

Der Junge im Rettungsboot Manchmal begeben wir uns auf die Suche nach etwas, ohne zu wissen, was wir eigentlich suchen, bis wir wieder bei unseren Anfängen ankommen. Robert Lax

Ich kramte nach einem Stift in der Wohnung meiner Mutter. Dabei entdeckte ich eine körnige Schwarz-Weiß-Fotografie, die ganz hinten in der Ritze einer Schublade klemmte. Auf dem Foto blickte mich ein kleiner Junge in einem Rettungsboot an. Das war ja ich! Plötzlich überwältigte mich der Eindruck, dass dieser Junge nicht dem Fotografen zuwinkte, sondern mir, und mich dabei anlachte. Er wollte den Mann in mir wachrütteln, der ich heute war, und bat mich, mit ihm auf eine Reise der Erinnerungen zu gehen: durch grausige, dunkle Wasser. „Wenn wir die Fahrt überleben“, so schien sein Kalkül, „dann finden wir hinter den Schluchten die Weiten des Ozeans, wo die Vergangenheit zum Rückenwind wird, statt wie Stromschnellen unser Boot zu kentern.“ So lud er mich ein, ins Boot zu steigen. Nun schaute ich mir das Bild näher an. Auf den weißen, dekorativ gewellten Rand war das Jahr 1962 gedruckt. In jenem Jahr brachen Unruhen aus, als der afroamerikanische Student Phillip Meredith versuchte, sich an der Universität 9


von Mississippi einzuschreiben. Die Sowjetunion und die USA hätten sich um ein Haar gegenseitig eingeäschert, als die Amerikaner entdeckten, dass die Sowjets nukleare Mittelstreckenraketen hundertvierzig Kilometer vor der Küste Floridas auf Kuba stationiert hatten. Es war auch das Jahr, in dem ein argloser Bär namens Yogi von der Luftwaffe für einen Rettungskapseltest rekrutiert wurde. Er wurde aus einem Überschallflugzeug geschleudert, das mit 1400 km/h in 10 500 Meter Höhe unterwegs war, und landete sieben Minuten und neunundvierzig Sekunden später wohlbehalten auf der Erde. Kurzum: Es war für alle ein stressiges Jahr. Das Foto von mir am Strand legt nahe, dass kleine Kinder mehr von dem wahrnehmen, was um sie herum geschieht, als Entwicklungspsychologen uns glauben lassen. Denn scheinbar wusste ich, dass die Menschheit am Rande des Abgrunds taumelte. Und ich war bereit: Ich saß in einem Rettungsboot. Das Bild entstand mit dem Fotoapparat meiner Mutter, einer Kodak Brownie Hawkeye. Es war ein schwarzer Plastikwürfel mit einer grauen Kurbel, mit der man den Film vorspulte. Um ein Foto zu knipsen, musste man sich über die Kamera beugen und durch einen kleinen quadratischen Sucher sein Motiv anschauen. Im Handbuch hieß es, das Objektiv könne scharfe Bilder „aus 1,50 Meter Entfernung bis ins Unendliche“ machen. Das ist schon recht ordentlich für eine Kamera, die damals für fünf Dollar fünfzig zu haben war. Später, als meine Mutter sich einen neuen Fotoapparat kaufte, landete die Brownie in meiner Spielzeugtruhe. Die Kurbel knirschte ganz fürchterlich, wenn ich sie drehte, wegen der Steinchen und dem Sand in den Zahnrädern der Filmspule. Ein Jahr lang trug ich sie überall mit mir herum. 10


Meine Mutter sagte einmal zu mir, wenn ich das Gehäuse der Kamera hinten öffnete und sie kräftig genug schüttelte, würden vielleicht die zahllosen Erinnerungen herausfallen, die darin versteckt waren. Ich bemühte mich nach Kräften, aber nicht einmal eine fiel heraus. Heute würde ich sehr viel mehr als fünf Dollar fünfzig auf den Tisch legen, um diese Brownie nur noch einmal in meiner Hand zu halten. Da bin ich also auf dem Foto: ein flachsköpfiger Zweijähriger, der in einem orange-fleckigen Rettungsboot sitzt und dem Fotografen lachend zuwinkt. Bis heute ist mir die Identität des Fotografen ein Rätsel. v Unser Zuhause ist ein Ort, den wir als junger Mensch verlassen und als älterer Mensch wiederfinden möchten. Das habe ich mal gehört. Doch was, wenn die Kindheit ein Zugunglück war? Was, wenn die Erinnerungen an unser Zuhause eher einem Horrorfilm gleichen als fröhlichen Familiensendungen? Das spielt keine Rolle. Denn unser Zuhause – unsere Heimat – ist nicht nur ein Ort. Es ist ein Wissen in der Seele. Eine vage Vorstellung eines weit entfernten Landes, von dem wir sicher sind, dass es existiert, obwohl wir es noch nicht gesehen haben. Unser Zuhause ist der Ort der Anfänge, und ob es uns gefällt oder nicht, unser Leben ist ein Wettlauf mit der Zeit, uns mit dem auszusöhnen, was es war oder nicht war. Ursprünglich wollte ich eine klassische Autobiografie schreiben, doch nach einigen Wochen des Schreibens entdeckte ich ein ärgerliches Paradox: Egal, wie sehr ich mich bemühte, ich konnte nicht die ganze Wahrheit über meine Kindheit erzählen, indem ich mich strikt an die Fakten hielt. 11


John Irving beschreibt dieses Problem in seinen Memoiren Rettungsversuch für Piggy Sneed. „Dies sind Memoiren“, schreibt er, „aber bitte haben Sie Verständnis dafür, dass (für jeden Schriftsteller mit viel Fantasie) alle Memoiren falsch sind (. . .) Wir können immer ein besseres Detail ersinnen als jenes, an das wir uns erinnern. Das korrekte Detail ist selten ganz genau das, was geschehen ist oder was hätte geschehen sollen.“ 1 Aus diesem Grund tanzt meine Biographie auf dem Bindestrich zwischen Memoiren und autobiographischer Fiktion. Viele der Geschichten in diesem Buch sind über vierzig Jahre alt. Sie sind erzählt „wie durch einen Spiegel, ein dunkles Bild“ 2. Sie enthalten die ungefähre Wiedergabe von Gesprächen, die tatsächlich stattgefunden haben, oder solchen, von denen ich denke, dass sie durchaus so stattgefunden haben könnten, wie ich die Leute und die damaligen Umstände kenne. Stellenweise habe ich Geschichten verschmolzen und zeitliche Abläufe verdichtet. Außerdem musste ich die Namen von Leuten ändern, die in meinem Buch nicht erwähnt werden wollten. So hieß beispielsweise der Hund meiner Kindheit in Wirklichkeit „Tigger“, aber ich erwähne ihn nur unter dem Decknamen „Waldo“. Er war immer sehr auf seine Privatsphäre bedacht. Manche Erzählungen basieren auf Geschichten, die ich von Familienmitgliedern gehört habe, obwohl wir uns in den Details nicht ganz einig sind. Diese Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dessen, was wem passiert ist, führen jedes Jahr fast zu Blutvergießen, wenn beim Weihnachtsessen Familiengeschichten erzählt werden. Memoirenschreiber arbeiten mit „Knochen“. Wie Paläontologen graben wir genug davon aus, um einen begründeten 12


Verdacht äußern zu können, wie ein Lebewesen ausgesehen haben mag. Doch hier und da fehlen ein Oberschenkelknochen oder eine Rippe, und so füllen wir diese Lücken aus mit Vorstellungskraft – mit Details, die unserer Meinung nach mit dem Wesen und der Art unserer Erziehung vereinbar sind. Aber was ist denn nun wirklich wahr in meinem Lebensbericht, fragen Sie? Wenn Sie beim Lesen unsicher werden, wo die Grenze zwischen Tatsache und Fiktion in meiner Geschichte verläuft, dann heiße ich Sie in meiner Kindheit willkommen. Ich empfand genau diese Unsicherheit als Kind, und selbst heute noch, während ich versuche, sie Ihnen zu erzählen. Wenn Sie mit Uneindeutigkeiten nicht gut umgehen können und meine ernsthaften Bemühungen um Transparenz Zweifel aufkommen lassen, ob Sie mir vertrauen können, dann dürfen Sie wissen: Dieses Buch ist wahr. Entweder tatsächlich oder im Wesentlichen – und größtenteils sogar beides. Dies ist ein Bericht über mein Leben, so wie ich mich daran erinnere – aber wichtiger noch, so wie ich es empfand.

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Kapitel 2

Mein Vater und der Geheimdienst Es spielt keine Rolle, wer mein Vater war; wichtig ist nur, wie ich ihn in Erinnerung habe. Anne Sexton

„Ein Freund von Wild Bill Donovans warb mich an, um nach dem Krieg für die Firma zu arbeiten“, flüsterte mein Vater. Ich zog meinen Stuhl näher an das mächtige Himmelbett heran, in dem mein Vater lag. Als Junge hatte ich mich beim Versteckspielen hunderte Male unter der imposanten Mahagoni-Antiquität versteckt. Sechs Wochen intensive Bestrahlung von Gesicht und Hals hatten die Stimmbänder meines Vaters versengt. Die Stimme, die mich als Kind vor Angst zusammenfahren lassen konnte, war jetzt dünn und schilfig. Weißer, teigiger Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln, und Vater zuckte zusammen, wenn er schlucken musste. Eine Tasse mit Eiswürfeln stand auf seinem Nachtschrank, umgeben von einem Wald an bernsteinfarbenen Arzneimittelfläschchen verschiedener Größe. Meine Verlobte Anne saß unbeweglich in einem Ohrensessel am Fußende des Bettes, hörte zu und ließ ihren Blick zwischen mir und meinem Vater hin und her wandern. Sie wusste, dass er nie mit seinen Kindern – und auch nicht mit 14


seiner Frau, wenn wir schon bei dem Thema sind – über seine Arbeit für den Geheimdienst gesprochen hatte. Ich hatte erst als Teenager erfahren, dass er mit Unterbrechungen immer wieder für die CIA gearbeitet hatte. Aber uns war verboten worden, darüber zu reden. Die Crons lebten schon nach der „Frag nichts – sag nichts“-Regel, lange bevor die Regierung diesen Slogan einführte. Unsere Version war einfach: Frag Vater nichts über seine Arbeit früher oder heute, und egal, was du tust, erzähl bloß keinem, dass er trinkt. „Mein Job bei einer Filmproduktionsgesellschaft verschaffte deiner Mutter und mir Zugang zu allen großen gesellschaftlichen Events in London“, fuhr mein Vater fort. „Wir wurden zu Partys in Botschaften eingeladen, wo wir mit ausländischen Führungspersönlichkeiten, hoch dekorierten Militärs und Botschaftern verkehrten. Wir waren auch eng mit Leuten befreundet, die der königlichen Familie nahestanden. Ich hörte bei Gesprächen zu und berichtete dann alles dem Londoner Stützpunkt.“ „Wusste Mama davon?“, fragte ich. „Erst sehr viel später.“ „Wie ist das möglich?“ „In den Fünfzigern stellten Ehefrauen keine Fragen“, sagte er mit einem schwachen Lächeln. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter im Wohnzimmer unseres Hauses in London saß und Einladungen für eine Gartenparty schrieb, während mein Vater im Arbeitszimmer irgendwelche Coups plante. „Dann hast du lediglich die Gespräche wichtiger Persönlichkeiten belauscht und das dann berichtet?“, fragte ich. Mein Vater zog eine Augenbraue hoch und sah mich prüfend an, als ob er das Motiv hinter meiner Frage röntgen wollte. Dieser Gesichtsausdruck war sein Markenzeichen. 15


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