Aus dem Amerikanischen von Sylvia Lutz
Einen echten Freund musst du mit beiden H채nden festhalten. Nigerianisches Sprichwort
Kapitel 1
A
m späten Dienstagnachmittag marschierte eine ältere Frau zielsicher und selbstbewusst in Corins Antiquitätengeschäft und verkündete: „Die nächsten zwei Monate deines Lebens werden entweder der Himmel oder die Hölle.“ Ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Es war fast ein Lächeln. „Wie bitte?“ Corin Roscoe schaute sie über den Berg von Rechnungen, der vor ihm lag, etwas entgeistert an und hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Sie hatte weiße Haare. Tiefe Lachfalten hatten sich um ihre Augen gegraben. Sie musste mindestens Mitte 70 sein. Vielleicht 80. Aber sie bewegte sich wie eine Vierzigjährige. Sie trug einen dunkelbraunen Mantel, der um ihre Waden flatterte, als sie forschen Schrittes auf Corin zuschritt und ihn mit lachenden blauen Augen anschaute. Sie sah keineswegs aus, als hätte sie den Verstand verloren. „Ich habe dir den Stuhl gebracht.“ Sie schaute ihn an, als würde dieser Satz alles erklären. Corin strich sich seine dunklen Haare aus der Stirn und rutschte von seinem Hocker hinter der Verkaufstheke. „Was für einen Stuhl?“ 7
Die Frau schaute sich in seinem Laden um wie eine Lehrerin, die eine neue Schulklasse auf sich wirken lässt. Ihr Blick blieb an dem Stoß ordentlich gestapelter Bücher aus dem 18. Jahrhundert hängen. „Ich liebe Bücher.“ Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. „Kenne ich Sie?“ Er ging einen Schritt auf die Frau zu. „Nein.“ Ihr Lachen klang melodisch. „Das glaube ich kaum.“ „Sind Sie sicher?“ „Ja.“ „Sie sind eine Wahrsagerin, nicht wahr? Und Sie glauben, dass mich ein wenig Himmel und ein wenig Hölle erwarten. Kann ich nicht einfach Ihren Newsletter abonnieren?“ Sie zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. Ihr kirschroter Nagellack glänzte im Schein der Halogenstrahler. „Wahrscheinlich greifen die zwei Bereiche ineinander über. Ich glaube, dass du die Hoffnung auf einen Neubeginn finden wirst. Wie es am Ende ausgeht, ist natürlich deine eigene Entscheidung.“ Corin lächelte. „Wissen Sie, manche Leute halten mich für ein wenig verrückt, aber im Vergleich zu Ihnen bin ich völlig normal.“ Sie zeigte keine Reaktion; sie schaute ihn nur voll unerschütterlichen Selbstvertrauens an. Diese Frau strahlte etwas Gebildetes aus, das im krassen Gegensatz zu ihrer sonderbaren Ankündigung stand. In den sieben Jahren, seit er mit Ende 20 sein Geschäft eröffnet hatte, hatte Corin schon einige sonderbare Kunden gehabt, aber diese Frau hier war mehr als nur ungewöhnlich. Ihr Auftreten und ihr faszinierendes Aussehen machten ihre Worte beinahe glaubwürdig. „Du brauchst ihn.“ „Ich denke, jetzt ist der Moment, in dem Sie mir sagen, wer Sie sind, oder in dem ich Sie höflich bitte zu gehen.“ 8
Die Frau schaute aus dem Schaufenster zu dem Skigeschäft auf der anderen Straßenseite hinüber. „Leider kann ich das noch nicht sagen, aber ich versichere dir, dass ich es nachholen werde.“ Wieder zog der Anflug eines Lächelns über ihre Lippen. „Jetzt muss ich gehen. Wenn du mir also helfen könntest, den Stuhl hereinzutragen, wäre ich dir sehr dankbar.“ Sie deutete zur Ladentür. „Er ist nicht sehr schwer, aber wir müssen vorsichtig sein. Er ist unbezahlbar.“ Direkt vor der Tür bedeckte ein braunes Tuch einen Gegenstand. Das musste dieser Stuhl sein, von dem die Frau gesprochen hatte. Sie schaute Corin abwartend an, als befänden sie sich in einem Wettbewerb, wer als Erster den Blick abwenden würde. „Ich habe keinen Stuhl bestellt. Tut mir leid. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich habe in diesem Monat schon zu viele Stühle auf Lager.“ Er lächelte. „Trotzdem danke.“ „Hör mir bitte gut zu.“ Sie schlang die Finger ineinander, legte die Daumen unter ihr Kinn und deutete mit den Zeigefingern auf ihn. „Okay“, schmunzelte Corin. „Das hier ist ein ganz besonderer Stuhl.“ „Das glaube ich gern.“ Corin legte den Kopf schief und zwinkerte. „Mach dich nicht über mich lustig!“ Sie schaute ihn durchdringend an. Corin wich einen halben Schritt zurück. Wenn ihre Augen Laserstrahler gewesen wären, würde jetzt bereits Rauch von seinem leblosen Körper aufsteigen. „Entschuldigung. Ich bin sicher, dass Ihr Stuhl etwas Besonderes ist, aber mein Lagerhaus ist voll mit antiken Stühlen, auf denen sich seit über einem halben Jahr der Staub ansammelt. Zurzeit herrscht leider keine große Nachfrage nach Stühlen.“ 9
Corin betrachtete die Frau. Die Falten, die sich in ihre helle Haut gegraben hatten, verrieten ein Leben voller Freude und Schmerz. Ihre Augen, in denen eben noch ein unerbittliches Feuer gelodert hatte, waren weicher geworden und strahlten Mitgefühl und eine tiefe Sehnsucht aus. Es würde ihm nicht schaden, ihr ein wenig zu helfen. „Falls Sie Schreibtische haben, kann ich sie mir gern anschauen. Ich könnte zwei oder drei gebrauchen, vielleicht sogar mehr; je nachdem, in welchem Zustand sie sind. Und ich kann den Stuhl in Kommission nehmen, wenn Sie möchten. Ich stelle ihn kostenlos für Sie aus.“ Sie schaute Corin an, als wäre er ein verirrtes Kind. „Du hast mich falsch verstanden. Ich bitte dich nicht, den Stuhl zu kaufen. Ich gebe ihn dir.“ „Warum sollten Sie das tun?“ „Du sollst ihn haben.“ Sie deutete wieder zur Tür. „Aha?“ Corin steckte die Hände in seine Jeanstaschen und ging langsam auf die Frau zu. „Wer sagt das?“ Sie schaute ihn direkt an und lächelte schwach, gab ihm aber keine Antwort. „Und wenn ich dieses Geschenk nicht will?“ „Du willst es.“ Sie schloss die Augen und senkte den Kopf. Was machte sie da? Beten? „Du wirst es wollen.“ „Sie scheinen fest davon überzeugt zu sein.“ „Unbedingt. Es ist ein faszinierendes Stück.“ Sie schaute nach unten, legte einen Finger auf die Kante des französischen Walnussbeistelltisches aus dem 19. Jahrhundert, der neben ihr stand, und fuhr mit dem Finger langsam über das Holz. „Der Stuhl wurde von dem begabtesten Handwerker hergestellt, den die Welt je gesehen hat.“ „Und wer soll das gewesen sein?“ „Das wirst du bald herausfinden, Corin.“ Sie schaute ihn an 10
und das wissende Lächeln lag wieder auf ihrem Gesicht. „Ich glaube an dich.“ Er hatte im Moment wirklich andere Sorgen; irgendwie musste er verhindern, dass die Bank bald sagte: „Vielen Dank. Die paar Sachen aus früheren Jahrhunderten, die Sie noch in Ihrem Laden haben, gehören jetzt uns.“ Die Frau schaute ihn weiterhin durchdringend an. Es war unübersehbar, dass sie erst gehen würde, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Na, was konnte es schon schaden? Kostenlos … gegen diesen Preis war nichts einzuwenden. Wenn der Stuhl nichts taugte, konnte er ihn immer noch im Garten verheizen. Oder ihn in zwei Monaten einer wohltätigen Organisation als Weihnachtsgeschenk geben. „Okay, Sie haben gewonnen.“ Corin grinste. „Soll ich einen Blick darauf werfen und Ihnen sagen, was ich davon halte?“ „Natürlich.“ Sie trat hinaus, um den Stuhl zu holen, und ein kalter Windstoß wehte durch die offene Tür in den Laden. In Colorado Springs hatten sie im Herbst normalerweise um die 15 Grad, aber heute fühlte es sich deutlich kühler an. Corin folgte ihr nach draußen. „Ich nehme ihn schon.“ Eine dünne Schnur verlief über das Tuch, das den Stuhl bedeckte. Er beugte sich darüber, packte die Armlehnen und spürte einen leichten elektrischen Schlag, als wäre er mit Gummisohlen über einen Teppich gelaufen und hätte danach etwas Metallenes berührt. „Autsch!“ Corin taumelte einen Schritt zurück und rieb sich die Finger. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, alles bestens. Ich habe nur einen kleinen, äh, elektrischen Schlag bekommen.“ Er hob den Stuhl hoch. „Verstehe.“ Sie zog ihre rechte Augenbraue in die Höhe, 11
dann hielt sie Corin die Ladentür auf, während er den Stuhl hineintrug. Sie trat neben sein Schaufenster und deutete auf den Boden. „Hier. Hier sollte er stehen.“ Corin stellte den Stuhl ab und trat zurück. Mit einem kleinen Taschenmesser durchschnitt die Frau die Schnur und ließ sie zu Boden fallen. Dann ergriff sie das Laken. „Bist du bereit?“ „Klar.“ Corin verkniff sich ein Lächeln. Fast erwartete er, dass ein klassisches Musikstück spielen würde, bevor sie das Laken zurückzog. Die Frau schaute ihn an, dann deckte sie den Stuhl so ehrfürchtig ab, als enthülle sie ein mundgeblasenes venezianisches Einhorn aus dem 17. Jahrhundert. Corin war nicht sicher, was er erwartet hatte, aber das hier bestimmt nicht. Der begabteste Handwerker, den die Welt je gesehen hatte? Nun ja. Dieses Stück als schlicht zu beschreiben wäre schon großzügig gewesen. Das einzig Faszinierende an dem Stuhl war sein Alter. Er sah älter aus als alle Antiquitäten, die er bisher in seinem Leben gesehen hatte. Er war höchstwahrscheinlich aus Olivenholz. Corin trat näher und umkreiste den Stuhl. Seine erste Einschätzung war falsch gewesen. Als er ihn länger betrachtete, wurde ihm bewusst, dass sein Minimalismus eine komplexe Schönheit enthielt. Interessant. Und die Oberfläche war … hmmm. So etwas hatte er noch nie gesehen. Fast ein durchscheinender Goldton. Er rieb mit dem Finger über die Rückenlehne. Wieder lief ein Kribbeln durch seine Finger. Dieses Mal war es leichter. Als hätte er seinen Finger in eine Steckdose gesteckt, durch die nur ganz schwacher Strom floss. Aber das Gefühl war nicht schmerzhaft. Es war fast warm und energiegeladen. Er fühlte sich seltsam erfrischt, als hätte er gerade ein belebendes Nickerchen gehalten. 12
Er zog die Hand zurück und rieb den Daumen und die anderen Finger aneinander. „Komisch.“ Er wandte sich an die Frau. „Hast du etwas gefühlt, als du den Stuhl berührt hast?“, wollte Sie mit einem Lächeln wissen. „Es war fast wie ein Stromschlag. Und eine irgendwie fließende Energie.“ Sie nickte, als hätte sie mit dieser Antwort gerechnet. „Es ist ein ganz besonderer Stuhl.“ „Inwiefern ist er besonders? Warum hat er mir einen Stromschlag versetzt?“ „Ich hoffe, du findest das bald heraus, aber auch das ist natürlich deine eigene Entscheidung.“ Sie ging zu dem Stuhl hinüber, legte beide Hände auf seine Rückenlehne und ließ sie langsam über die Seiten gleiten, während sie wieder den Kopf neigte. „Woher kommt er? Wer hat ihn gemacht?“ Sie stand auf. „Das habe ich doch schon gesagt. Ein Handwerker.“ „Wie hieß er?“ Sie sprach weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. „… der vor langer Zeit lebte.“ „Wie hieß er?“ Sie blickte auf. „Das ist im Moment nicht wichtig. Mit der Zeit wird es wichtiger werden. Lass dir Zeit.“ Sie lächelte so breit wie Julia Roberts, dann drehte sie sich um und ging zur Ladentür. „Sie gehen schon?“ „Es tut mir leid, Corin. Ich muss weiter.“ „Ich würde Ihnen gern noch ein paar Fragen zu diesem Stuhl stellen.“ „Fragen zu stellen ist immer gut.“ 13
„Okay.“ Corin zog sein Handy heraus und öffnete seinen Kalender. „Wann können wir einen Termin vereinbaren?“ „Es tut mir leid; ich muss jetzt gehen.“ Die Frau legte die Hand auf den Türgriff. Corin ging auf sie zu. „Haben Sie eine Karte?“ „Nein.“ „Und wenn ich Sie erreichen möchte?“ „Mach dir keine Sorgen, mein lieber Corin. Ich melde mich. Ich bin sehr neugierig, wie diese ganze Geschichte weitergeht.“ „Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen?“ „Du bist klug.“ Sie lachte. „Dir entgeht nicht viel.“ „Sie wollen es mir nicht verraten?“ „Nein, im Moment nicht.“ Sie öffnete die Tür und trat hinaus. Dann drehte sie sich noch einmal um. „Ach, und Corin?“ „Ja?“ „Du musst dich nicht in den Stuhl setzen, solange du nicht bereit bist.“ Damit spazierte sie davon und verschwand in der Spätnachmittagssonne. Corin schloss seine Ladentür und starrte sie kopfschüttelnd an, bis die Glocke über der Tür verstummte. Dieses Erlebnis verdiente eine Seite in dem Manuskript seines geplanten Buches Seltsame Antiquitäten, noch seltsamere Kunden. Vielleicht sogar ein ganzes Kapitel. Er schüttelte seufzend den Kopf. Er hoffte, dass er nicht so exzentrisch auftreten würde, wenn er so alt war wie diese Frau. Corin drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zu dem Stuhl zurück. Hatte er wirklich etwas gefühlt? Zweifellos. Und seine Schuhe konnten sich nicht auf einem Teppich elektrisch aufgeladen haben, da er Parkettboden hatte. Er streckte die Hand aus, so behutsam, als wollte er einen 14
Schmetterling fangen, und hielt inne, bevor sein Zeigefinger den Stuhl berührte. Nachdem er tief eingeatmet und die Luft zehn Sekunden angehalten hatte, stieß er sie langsam wieder aus. Dann beugte er sich leicht vor und berührte den Stuhl. Nichts. Er fuhr mit den Fingern über die Lehne und die Kanten. Doch auch dabei spürte er nichts. Hatte er sich das eben nur eingebildet? Vor einem Moment war er doch noch ganz sicher gewesen. Corin ging an seiner Verkaufstheke vorbei, die schon viel zu lange unbenutzt war, und kehrte in sein vier Quadratmeter kleines Büro zurück, wo er sich auf einen der schwarzen Hitchcock-Stühle setzte, die er vor vier Monaten restauriert hatte. Vor zwei Jahren hätte dieser Stuhl an einem schlechten Tag 1.500 Dollar gebracht. Jetzt schien er nicht mehr als ein Aufhänger zu einem Gespräch für neugierige Leute zu sein, die einen Schaufensterbummel machten und von der guten alten Zeit träumen wollten, als die Welt noch in Ordnung war. Diese Leute würden aber kein Geld ausgeben, um diesen Stuhl als Bereicherung für ihre Wohnung zu kaufen. Die gute alte Zeit. Beruflich eine Erinnerung an bessere Tage. Persönlich eine Erinnerung an längst vergangene Tage aus grauer Vorzeit. Corin öffnete seine Schreibtischschublade und starrte das gerahmte Bild an, das oben auf einem dicken Fotostapel lag. Zwei Männer Mitte 20 rasten in identischen schwarz-roten Lederjacken nur wenige Zentimeter über der Straße sitzend auf flachen Straßenrodeln mit 100 Sachen um die Ecke. Sie hielten jeder einen Daumen in die Höhe und grinsten unter ihren Helmen. Wenigstens glaubte er, dass Sebastian gelächelt hatte. Corin hatte auf jeden Fall breit gegrinst. 15
Sein Bruder hatte das Foto unterschrieben, so wie sie alle ihre Fotos unterschrieben hatten, die ihre zahlreichen Abenteuer belegten. Sie hatten als Bildunterschrift dazugekritzelt: „Bis zum Wahnsinn und noch viel weiter!“ Das war ihr Motto gewesen, inspiriert von dem Film Toy Story, den sie als Jugendliche gern gesehen hatten. Die Hauptfigur Buzz hatte alle Grenzen überschritten; in ihrem Hunger nach dem nächsten Kick waren sie noch weiter gegangen. Zu weit. Corin warf das Foto in die Schublade zurück und knallte sie zu. Nie wieder. Nie wieder würden sie sich mit ihren Gleitschirmen von der Thermik in eine Höhe von 6.000 Metern tragen lassen. Nie wieder würden sie auf ihren Motocross-Rädern meterweit durch die Luft fliegen. Nie wieder würden sie sich in Höhlen abseilen, aus denen sie vielleicht nie wieder herausklettern konnten. Dank Corin Carter Roscoe war das alles vorbei. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus diesen düsteren Gedanken. Gut. Es war höchste Zeit, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. „Hallo?“ „Corin? Hier ist Romy.“ „Hallo, wie geht’s?“ Corin schüttelte den Kopf. Wenn man vom Teufel spricht, hat man wenige Sekunden später Sebastians Frau am Telefon. „Gut. Und dir?“ „Auch gut.“ „Kann ich dich um einen Gefallen bitten, Corin?“ „Was kann ich für dich tun?“ „Ich habe Käufer, die sich meine Sachen angeschaut haben und jetzt so weit sind, dass sie unterschreiben wollen. Und ich brauche jemanden, der …“ 16
„Meinen Lieblingsneffen abholt.“ „Ja.“ „Das heißt, ich müsste ihn bei euch zu Hause absetzen?“ Corin öffnete die Schublade und schaute das Foto wieder an. „Ja“, seufzte Romy. „Und das heißt, dass ich wahrscheinlich ins Haus gehen muss, um sicherzugehen, dass …“ „Geh nicht hinein. Er arbeitet an einem umfangreichen Fall und hat nächste Woche seinen Gerichtstermin.“ „Ich weiß. Du brauchst das nicht zu erklären.“ Corin schob die Schublade mit dem kleinen Finger zu, die mit einem leisen Klicken einrastete. „Ich fahre sofort los.“ „Danke.“ Sie atmete tief ein. „Und … Cor?“ „Ja?“ „Verlier die Hoffnung nicht. Dieses Leben ist noch nicht vorbei. Vielleicht ändert Sebastian irgendwann seine Meinung.“ Corin legte auf, warf einen Blick auf seinen Kalender, dann auf seine Armbanduhr und fluchte. Toris Kurs würde in 20 Minuten beginnen. Es war unmöglich, Sam von seinem Fußballtraining abzuholen, ihn am Haus seines Bruders abzusetzen und pünktlich zu Toris Kurs zu kommen. Es wäre das dritte Mal in diesem Monat, dass er zu spät kam. Tori beschwerte sich selten über seine Unpünktlichkeit, auch wenn er in ihren Augen oft eine leichte Frustration sehen konnte. Sie sagte immer, dass sie ja auch ihre Fehler habe, aber er machte sich trotzdem Gedanken. Nachdem er Sam abgeholt und gewartet hatte, bis er im Haus seines Bruders verschwunden war, warf Corin einen Blick auf seine Armbanduhr und drückte kräftig aufs Gaspedal. Kein Problem. Wenn er mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 150 Stundenkilometern durch die Stadt fuhr, käme er gerade noch rechtzeitig. 17