CHRIS FABRY
Sinfonie des Himmels Roman
Deutsch von Eva Weyandt
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier: Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland.
Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Tyndale House Publishers, Inc., Carol Stream, Illinois, unter dem Titel „Almost Heaven“. © 2010 by Chris Fabry © der deutschen Ausgabe 2013 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LÜ 84)
1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816748 ISBN 978-3-86591-748-5 Umschlaggestaltung: Hanni Plato Umschlagfoto: Feder: iStockimages Landschaft: gettyimages, Bruno Morandi / Mandoline: dreamstime Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze Druck und Verarbeitung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
Zur Erinnerung an James William „Billy“ Allman und Barbara Kessel. Ihr fehlt uns.
In West Virginia wiederholt sich die Geschichte häufig selbst. Unsere Geschichte ist schmerzlich. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass sie so schlecht verstanden wird. John Alexander Williams
Die Engel sind doch alle nur Geister, die Gott geschaffen hat zum Dienst an den Seinen. Er schickt sie denen zu Hilfe, die Anteil an der endgültigen Rettung haben sollen. Hebräer 1,14 (Gute Nachricht)
Prolog Dogwood, West Virginia 2006 Becky Putnam trat auf Billy Allmans Veranda. Die Kamera hing über ihrer Schulter, und in der Hand hielt sie, typisch Reporterin, einen Notizblock. An der Marshall-Universität hatte sie Journalismus im Haupt- und englische Literatur im Nebenfach studiert, und sie war überglücklich, endlich einen Job in ihrem Gebiet bekommen zu haben. Doch ihr Ziel war, sich beim neuen Target zu bewerben. Wie sie gehört hatte, wurden dort Mitarbeiter eingestellt. Von einem Freund des Chefredakteurs hatte sie von Billy Allman und seinem neuen Unternehmen in der Stadt erfahren. Eine anrührende Geschichte, in der der menschliche Aspekt im Vordergrund stand, die allerdings nicht in aller Ausführlichkeit erzählt werden musste. Sie hoffte, einige brauchbare Schnappschüsse schießen und dann an den Nachrufen weiterarbeiten zu können. Ein Hund im Haus begann zu bellen, als sie anklopfte. Durch das kleine Fenster neben der Tür sah sie sein braunweißes Fell. Das Tier legte seine Pfoten auf das Fenstersims und schaute sie an, dann kratzte es an der Tür. Sie drehte sich um und ließ den Blick über die Silhouette der Bergkuppen gleiten, sie hörte die Autobahn in der Ferne, das Geräusch der Autoreifen auf der nassen Straße. Ein typischer Regentag in West Virginia. Es gab nichts Schöneres als den Regen in West Virginia. Der Duft der nassen Erde war unver
gleichlich. Aber irgendwie hätte sie lieber in Cincinnati oder Lexington gearbeitet. Irgendwo, wo sie über einen Doppelmord oder einen Bandenkrieg berichten konnte. Doch stattdessen hing sie hier fest und sollte eine Story über einen Typen schreiben, der in seinem Haus einen Radiosender betrieb. Was sollte das schon bringen? Die Tür ging auf, und Billy Allman stand vor ihr. Sie hatte einen Exzentriker erwartet, einen Mann mit dicken Brillengläsern, der an Albert Einstein erinnerte. Abstehende Haare. Oder im Rollstuhl wie Stephen Hawking. Aber Billy wirkte erstaunlich normal. Er lächelte sie schief an, und seine Haare bedeckten kaum eine Stirnglatze. Er war weder klein noch groß, einfach durchschnittlich, mit einer durchschnittlichen Statur und behaarten Armen, die aus einem T-Shirt mit Schweißflecken unter den Achseln ragten. Seine Jeans starrte vor Dreck. Seine Haut war blass, und unwillkürlich musste sie an das Gedicht von Edgar Allan Poe denken, in dem es hieß: Die Engel erheben sich abgespannt und erklären der bangen Welt, dass die Tragödie „Mensch“ benannt und Eroberer „Wurm“ ihr Held. Sie wusste nicht, warum ihr ausgerechnet dieser Vers in den Sinn kam, außer dass Billy tatsächlich irgendwie abgespannt wirkte. Ein wenig gespenstisch. Vermutlich kam das daher, dass er kaum aus dem Haus kam. „Sie müssen Becky sein“, begrüßte er sie. „Kommen Sie doch herein. Achten Sie nicht auf den Hund; seine Begeisterung kennt keine Grenzen.“ Er reichte ihr die Hand und ließ sie eintreten. In aller Eile schob er einige Zeitungen auf dem alten Couchtisch zusammen. An der Wand aufgereiht stand eine Sammlung alter
Radios. Sie fragte ihn, was es damit auf sich habe, und Billy erklärte ihr in allen Einzelheiten, wann die Geräte gebaut worden waren und wie lange er gebraucht hatte, um sie wieder instand zu setzen. Eines schaltete er ein, um ihr die Klangqualität vorzuführen. Mehr um Konversation zu machen denn aus echtem Interesse fragte sie: „Darf ich Sie vor den Geräten fotografieren?“ Seine Augen leuchteten auf. Er hob den Finger, um ihr zu bedeuten, sie solle einen Moment warten. Schnell verschwand er in einem Zimmer und kehrte mit etwas zurück, das aussah wie ein Regalbrett mit mehreren aufmontierten Schläuchen und Knöpfen. „Das ist mein Atwater Kent aus dem Jahr 1924. Mein ganzer Stolz.“ „Großartig“, erwiderte Becky ohne große Begeisterung. Er ging vor den anderen Radios auf ein Knie und legte das Regalbrett auf sein Bein, während sie ein Foto machte. Anschließend führte Billy sie in sein Studio, und sie knipste noch mehrere Fotos von ihm am Mikrofon und mit aufgesetzten Kopfhörern. Als sie fertig war, setzten sie sich ins Wohnzimmer. Sie stellte ihm einige Fragen und machte sich Notizen. Er bot ihr ein Glas Wasser an, doch nach dem Aussehen des Geschirrs in seinem Spülbecken zu urteilen wollte sie lieber kein Risiko eingehen. Das Zimmer war vollgestopft und eng, es roch nach verschwitzten Kleidern, abgestandenem Atem und altem Holz. Ihre Augen begannen zu brennen. „Gibt es eigentlich eine Mrs Allman?“, fragte sie. „Nein, meine Mutter ist verstorben … ach so, Sie meinen, eine Ehefrau?“ Billy errötete. „Nein. Ich bin nicht verheiratet.“ „Sie sind bestimmt sehr stolz auf das, was Sie erreicht haben“, wechselte Becky das Thema. „Nicht jeder kann sich einen eigenen Radiosender aufbauen.“
Billy nickte. „Das ist einer der glücklichsten Tage meines Lebens.“ Sie fragte sich, wie wohl der Tiefpunkt seines Lebens ausgesehen haben mochte, wenn das hier der Höhepunkt war. Sie stellte ihm noch einige Fragen und nahm eine seiner Visitenkarten mit dem Slogan des Senders auf der Vorderseite entgegen. „Möchten Sie noch etwas ergänzen, was noch nicht zur Sprache kam?“ Diese Frage gehörte zu jedem Interview. Das hatte sie während ihres Studiums gelernt. „Ich denke, wir haben über alles, was relevant ist, gesprochen.“ Er begleitete sie nach draußen, und als sie auf der Veranda stand, lehnte er sich an die Tür. Der Hund saß pflichtschuldig zu seinen Füßen. „Ich weiß, das ist keine große Sache. Ich meine, die Leute werden dem Artikel über meinen Sender vermutlich wenig Beachtung schenken. Aber trotzdem vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, herzukommen. Ich weiß Ihr Interesse zu schätzen.“ Seine Ernsthaftigkeit verblüffte sie. Lächelnd reichte sie ihm noch einmal die Hand. „Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr Allman. Ich hoffe, der Artikel wird Ihnen gefallen.“ „Davon bin ich überzeugt.“
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Teil 1
Alle meine Erinnerungen
Kapitel 1 Das Leben eines Menschen lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Lesen Sie nur mal ein paar Nachrufe. Und so wird auch der Artikel dieser Reporterin aussehen. „Billy Allman … aus Dogwood … träumte sein Leben lang von einem eigenen Radiosender …“ Ganz bestimmt wird sie ihre Sache gut machen, daran zweifle ich nicht. Sie wirkte sehr freundlich und scheint zu den Reportern zu gehören, die sich an die Fakten halten, doch ich weiß, vieles aus meinem Leben wird unter den Tisch fallen. Meine Überzeugung ist, dass es in jedem Leben verborgene Lieder gibt, die an den Zwillingsfäden von Musik und Erinnerung hängen. Ich glaube an die Melodien, die ein Mensch nur für sich selbst spielt. Sie schlängeln sich vorbei an den Felsen und rauschen durch das Bachbett unseres Lebens. Dies sind die Lieder, die nur der Musiker allein hören kann. Manchmal versiegen sie, manchmal treten sie über die Ufer, und wir stellen plötzlich fest, dass wir durch sie hindurchwaten. Mein Leben fließt über von Trauergesängen und Chorälen. Gern würde ich fröhliche Melodien von Zuckerwatte und Eiscreme singen, wenn ich könnte, aber die Lieder, die mir geschenkt wurden, sind eher in a-Moll gesetzt, mit vielen Pausen und Aussetzern, denen die klare Linie fehlt. Ich sehne mich nach einem Dur-Akkord, einer Modulation, die musikalische Befriedigung hervorbringt. Doch ob ich das finden werde, weiß ich nicht. Mein Leben gehört Gott. Schon früh versprach ich ihm, 13
überall hinzugehen und alles zu tun, was er von mir erwartete. Ich wollte nichts zurückhalten. Aber die Zeit verging und das Gespräch wurde immer einseitiger, und die Ereignisse erschienen mir bestenfalls zufällig. Gott schien wenig Interesse an meiner Hingabe zu haben, falls er meine Versprechen überhaupt hörte. Aber ich denke, ich sollte diese Geschichte von Anfang an erzählen, um selbst das Schweigen zu verstehen und die Leerstellen auszufüllen. Vielleicht kann ich ja auch die Leute, die mich als Einsiedler betrachten, davon überzeugen, dass der Schmerz einen Grund hatte. Unser Leben wird auf der Grundlage von einigen wenigen Schnappschüssen beurteilt, die in bestimmten Augenblicken aufgenommen wurden. Darum habe ich beschlossen, niederzuschreiben, woran ich mich aus der Vergangenheit noch erinnere. Der ungläubige Blick dieser Reporterin, als ich ihr Einblick in mein Leben gewährte, veranlasste mich, selbst zum Stift zu greifen. Aber diese Geschichte ist nicht für Außenstehende gedacht, sondern nur für mich.
Einer unserer Nachbarn beschrieb den Morgen des 26. Fe bruar 1972 als „kalte Stille“. Ich erwachte beim ersten verhangenen Morgengrauen. Es war mein 10. Geburtstag, und auf keinen Fall wollte ich auch nur eine einzige Sekunde dieses Tages verpassen, der mir nur Gutes bringen würde. Ich hatte drei Jungen aus meiner Klasse zu der ersten und letzten Geburtstagsparty eingeladen, die meine Eltern je für mich ausrichten würden. Nach diesem Tag wollte Mama nicht mehr feiern. Am Abend vor meinem Geburtstag hatte sie einen Kuchen gebacken, und ich hätte zu gern ein Stück davon gekostet. Wenn ich die Augen schließe und ganz fest 14
daran denke, habe ich noch immer den Duft dieses Kuchens in der Nase. Ich schaltete das Fernsehgerät mit dem einzigen Sender ein, den wir in unserer Talsohle empfangen konnten. Noch zu früh für meine Lieblingssendung. Irgendein Prediger prophezeite eine plötzliche Katastrophe, die wie ein Dieb in der Nacht über uns hereinbrechen würde, wie die Wehen einer Frau. Wir sollten darauf vorbereitet sein. Wir sollten zu Gott rufen, bevor die Zerstörung kam. Mit 10 Jahren hatte ich noch nicht viele Todsünden begangen, sodass ich keinen Grund hatte anzunehmen, dass diese Botschaft mir galt. Aber später fragte ich mich, ob das, was passiert war, vielleicht nur deshalb geschehen war, weil ich zu stolz gewesen war oder mir zu viele Geschenke gewünscht hatte. Kinder neigen zu so etwas – sie bringen alles mit ihrer Person in Zusammenhang, als ob eine Entscheidung, die sie treffen, den Lauf der Geschichte verändern würde. Wenn ich bei dieser oder jener Gelegenheit richtig, mehr, anders gebetet hätte, wäre es dann anders gekommen? Wenn ich Gott um Erbarmen angefleht hätte, hätte er den Buffalo Creek umgeleitet? Ich schaltete das Fernsehgerät aus und stellte mich ans Wohnzimmerfenster. Regen strömte in Bindfäden an den Fensterscheiben herunter in das aufgeweichte Holz des Rahmens, der das Fenster zusammenhielt. Im Winter pfiff der Wind durch die Scheiben – auf der Innenseite bildete sich eine Eisschicht, die so dick war, dass man seinen Namen hineinritzen konnte. Jetzt sickerte das Wasser durch das Fenster nach innen, und ganze Bäche flossen über die Einfahrt zur Straße und spülten die Erde mit. Der Anblick dieses verhangenen Morgens ließ mich innerlich frösteln. Es war, als hätten die Blätter eine Vorahnung gehabt. Sie waren geflohen und hatten die Bäume nackt zurückgelassen, die wie Stäbe aus den öden Hügeln in die Höhe ragten. 15
Papa hatte am Abend das Haus verlassen, um nach dem Fluss zu sehen, der Hochwasser führte. Als er zurückkam, berichtete er uns, einige Leute hätten bereits Zuflucht in der Schule gesucht, weil sie befürchteten, der Damm könnte brechen. Der Mann von der Dammbaufirma hatte uns beruhigt und versichert, dass alles in Ordnung wäre. Wir sollten in unseren Häusern bleiben und den Regen abwarten. „Wollen wir nicht auch hinüber zur Schule gehen?“, hatte Mama gefragt. Papa rieb sich das Kinn. „Ich denke, wir sollten abwarten.“ Papa vertraute der Dammbaufirma, aber noch mehr vertraute er Gott. Ich bemerkte Schlammspuren auf der vorderen Veranda, die am Abend zuvor nicht da gewesen waren. Papa war also zurückgekommen, aber jetzt war er vermutlich wieder weg, um noch einmal nach dem Damm zu sehen. Auf der Straße herrschte kaum Betrieb. Und dann entdeckte ich ihn. Er ging schneller als sonst. Mein Vater hatte den Gang eines Gentleman. Nie schien er in Eile zu sein. Ich stellte mir vor, dass Jesus vermutlich so über die staubigen Straßen Israels gewandert war. Er hatte immer Zeit, sich zu bücken und einen Hund zu streicheln oder mich mit seinen großen Händen an sich zu drücken. Ein Mensch, der immer in Eile ist, verpasst viel. Aber an jenem Morgen kam mein Papa sehr zielstrebig ins Haus, ohne seine Stiefel auszuziehen. Er hinterließ überall Schlammspuren. Fassungslos starrte ich auf seine Füße und fragte mich, was wohl passiert war, denn Mama würde ihn zweifellos umbringen, wenn sie das sah. „Wo ist deine Mutter?“, fragte er. „Schläft noch“, erwiderte ich. „Was ist los?“ „Arlene!“, rief er. Ich hörte die Bettfedern quietschen. Er drehte sich zu mir um, bevor er durch den Flur ging. „Zieh dich schnell an.“ 16