Thomas Franke
Das
Tagebuch ROMAN
Inhalt Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Menetekel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Zwei Glas Wein und ein Blitzschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Das vierte Gebot und ein Kissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Louis-Antoine de Soissons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Drei Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Der Hohlraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Bestie vom Gévaudan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Die Fälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Der Götze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Im Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Fährtensucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Die Hebamme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der verrückte Graf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Der Pilger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Die Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Verdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Place de Gréve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Die Tabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Heimkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Finsternis und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Das Genie und der Coach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Mordkomplott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Bertrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
Der Entschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 24. Dezember 1793 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Die Wasser der Loire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Der Stall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Hasenragout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Der Kommandant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Die Schlacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Licht nach der Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Prolog Sie kommen! Ich kann ihre Schritte hören, ihre groben Scherze und das Lachen … Gefesselt wie einen gefährlichen Verbrecher werden sie mich vor das Tribunal führen. Dann wird der Schlächter vortreten und sein Urteil sprechen. Es steht jetzt schon fest. Vielleicht wird man mich erschießen, wahrscheinlich aber werden sie mich auf eine dieser schrecklichen Barken führen und ersäufen. Die trüben Wasser der Loire werden sich über mir schließen, ein letzter vergeblicher Kampf um Luft und Leben wird einsetzen und dann? Ich habe Angst – schreckliche Angst! Ihre Schritte sind nun ganz nah. Ich höre die Riegel, wie sie mit dumpfem Knallen zurückgeschoben werden. Der Tod ist bereits hier. Er sitzt in meiner Zelle und sieht mich an mit Augen voller Schwärze. Ich spüre seine lauernde Kälte und das klebrige Gespinst seiner gestaltlosen Finger. Und wenn ich herumfahre, um zu schauen, wer nach mir greift, dann ist da nichts, nur dieses schreckliche grinsende Fragezeichen. Oh Sacré-Cœur – heiligstes Herz Jesu –, hast du aufgehört zu schlagen? Bist du verstummt, als man dich auf Uniformen bannte? Ich kann dich nicht spüren. Dein Platz in mir ist finster und leer. Ist denn mein Glaube erstickt im schrecklichen Würgegriff der Furcht? Sie holen alle! Ich höre das leise Flehen und das verzweifelte Schreien. Doch ich darf nicht in Furcht erstarren und nur an mich denken – sie dürfen diese Zeilen nicht finden …
7
Menetekel »Einen Augenblick, ich verbinde.« Die Stimme der Frau klang kühl. Leon schluckte. Die Warteschleifenmusik setzte ein und ihn traf ein dicker Regentropfen. Er trat einen Schritt zurück unter die schützenden Planen, die sie über die Grabungsstätte gespannt hatten, und im gleichen Augenblick begann es in der Leitung zu knistern. Seufzend setzte er sich wieder dem herannahenden Unwetter aus. Obwohl sie sich unweit der Stadt Nantes befanden, war der Handyempfang hier im Château de Chamilot eine problematische Angelegenheit. Sein Assistent Pawel, der die Logistik übernommen hatte und für die Computer zuständig war, fluchte ständig über die unzuverlässige Internetverbindung. Leon sah zu, wie der Himmel sich verdüsterte. Der nahe Atlantik konnte innerhalb weniger Minuten ein ausgewachsenes Unwetter bescheren. »Dr. Weber?«, vernahm er den tiefen Bass Prof. Degenhardts. Leon zuckte innerlich zusammen. »Ja, am Apparat. Sie hatten um Rückruf gebeten?« »Es ist verdammt schwer, Sie zu erreichen, wissen Sie das?« »Ja, das haben wir auch schon festgestellt«, rief Leon gegen das Trommeln des stetig zunehmenden Regens an. »Wir haben des Öfteren kein Netz. Das Château de Chamilot befindet sich offenbar in einer Art Funkloch.« »Reden Sie deutlicher, Mann, ich verstehe kein Wort.« »Wir haben Netzprobleme!«, brüllte Leon in den Hörer. Ein Dickhornschaf, das sich, träge wiederkäuend, auf dem grasbewachsenen Hügel direkt neben der Ruine niedergelassen hatte, schaute verdutzt zu ihm herüber. 8
Der Professor am anderen Ende der Leitung hielt offenbar die Hand vor den Hörer und gab barsch irgendeine Anweisung an jemanden in seinem Büro. Der Regen trommelte immer heftiger auf die Planen, und in der Ferne donnerte es. Das Wasser rann Leon kalt in den Nacken, doch als er sich erneut einen halben Meter unter die schützende Plane zurückwagte, wurde die Verbindung abrupt schlechter. Hastig trat er wieder vor. »… es bei Ihnen läuft?« Er bekam nur noch den zweiten Halbsatz des Professors mit. »Nun, äh … die Grabungen kommen nur schleppend voran«, setzte Leon an. »Wir haben einige logistische Probleme und – « »Kommen Sie mir nicht mit Ausflüchten«, fuhr ihn der Professor an. »Haben Sie nicht zugehört? Das DAI bombardiert mich mit Fragen, und mir fallen bald keine Ausreden mehr ein. Und unser privater Finanzier ist auf dem Absprung.« Leon seufzte innerlich. Das Deutsche Archäologische Institut trug nur knapp ein Viertel der Kosten. Den überwiegenden Teil zahlte ein reicher Amerikaner, der sein Vermögen in verschiedene wissenschaftliche Projekte zur König-Artus-Forschung steckte. Wenn er absprang, war das Projekt gestorben. »Ich kann Ihnen versichern – « »›Für Sie habe ich ein sehr vielversprechendes Projekt in Wales auf Eis gelegt‹, sagte er mir gestern erst«, unterbrach ihn der Professor erregt. »Sie haben uns nicht mehr und nicht weniger als eine Sensation versprochen, Dr. Weber!« »Ich weiß, aber – « »Man hat Ihnen vertraut, weil Sie einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Ruf genießen. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Das Eis unter Ihren Füßen wird immer dünner. Sie haben es nur meinem Einfluss zu verdanken, dass Ihrem Projekt bislang nicht der Geldhahn zugedreht wurde.« »Und dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar – « »Sie haben Zeit bis Donnerstag, um irgendeinen brauchbaren Hinweis zu liefern, dass Ihre Theorie mehr ist als das Hirngespinst eines fantasiebegabten Mannes.« 9
Ein Blitz zuckte über den Himmel und spiegelte sich in den erschrockenen Augen des Dickhornschafs, das seine lustlosen Kaubewegungen unterbrach. Gleich darauf krachte der Donner, und das Tier sprang erschrocken auf und stürmte über die hügelige Weide davon. Unter der düsteren Wolkendecke war es kaum mehr als ein bleicher Schemen. »Bis Donnerstag«, wiederholte Leon fassungslos. »Aber das ist nicht mal mehr eine Woche!« »Mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie wissen, wie das läuft. Sie haben Ihre ganze wissenschaftliche Reputation in die Waagschale geworfen, um dieses Projekt durchzusetzen. Wenn ich mich nicht irre, sagten Sie: ›Die archäologische Überprüfung des Château de Chamilot wird alles, was ich bisher über den bretonischen Artus geschrieben habe, auf ein gänzlich neues wissenschaftliches Fundament stellen.‹ Sehen Sie zu, dass es für Sie nicht zum Menetekel wird.« Leon hatte das Gefühl, als würde alle Kraft aus ihm schwinden. Bis Donnerstag! Damit hatte der Professor seinem Projekt im Grunde den Todesstoß versetzt. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Dr. Weber. Auf Wiederhören.« »Wiederhören«, murmelte Leon und steckte das Handy in seine Jackentasche. Er senkte den Blick. Minutenlang starrte er in den Regen, der die verfluchte Erde der Vendée allmählich in Schlamm verwandelte. Der Professor hatte keine Ahnung, was seine Worte wirklich bedeuteten. Hier ging es nicht nur um seine wissenschaftliche Karriere. Leon hob den Kopf und ließ den kalten Atlantikregen auf sein Gesicht prasseln. Dieses Projekt war alles, was er noch hatte. Nach einem letzten Blick auf die düsteren Weiden ging Leon zu seinem Camper. Er zog sich trockene Sachen an und warf sich dann ein Regencape über. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Wenn die Studenten erfuhren, dass das Projekt so gut wie gestorben war, würde die Stimmung kippen. Niemand würde sich mehr Mühe geben, und er konnte im Grunde genommen gleich 10
alles zusammenpacken lassen. Aber solange alle motiviert weiterarbeiteten, bestand eine kleine Chance, dass sie doch noch Erfolg hatten. Er stapfte zurück zur Grabungsstelle und ging zu den Stelltischen, auf denen seine Studenten die magere Ausbeute der letzten Stunden zusammengetragen hatten. Leon holte tief Luft, nahm eine Keramikscherbe zur Hand, reinigte sie mit dem Pinsel von Erdresten und betrachtete sie unter dem Licht des Scheinwerfers. Schon eine halbe Minute später ließ er sie frustriert fallen. Das Fragment war neuzeit lichen Ursprungs,wahrscheinlich Anfang des 18. Jahrhunderts. Nun griff er nach einem rostigen Eisenteil, das vermutlich zum Zaumzeug eines Pferdes gehört hatte. Die ganze Zeit über versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, aber anscheinend war er kein allzu guter Schauspieler. Emma, seine französische Kollegin von der Universität Nan tes, stützte sich auf ihren Spaten und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Sie war groß gewachsen und hatte einen athletischen Körperbau. Ihr Trizeps zeichnete sich sehr deutlich an ihren muskulösen Armen ab. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich. Leon brummte eine unverbindliche Antwort. Emma rammte ihren Spaten in den Boden und schlenderte zu ihm herüber. Sie trug Jeans und ein ausgebleichtes T-Shirt und interessierte sich ganz im Gegensatz zu allen Vorurteilen über Französinnen in etwa so viel für Mode wie eine Kellerassel für die Aktienkurse an der Pariser Börse. Allerdings war sie eine hervorragende Triathletin und eine der angesehensten Expertinnen für spätantike und frühmittelalterliche Geschichte Mittel- und Westeuropas. »Was bedrückt dich?« Leon stützte die Hände auf den Tisch und starrte an ihr vorbei auf eine kleine Silbermünze, einen Denier aus dem 16. Jahrhundert. »Die Frage ist doch eher: Warum bist du nicht bedrückt?«, gab Leon zurück. 11