Sammel-Leseprobe A5 Frühjahr 2013

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Elisabeth B端chle

Himmel 端ber fremdem Land Die Meindorff-Saga, Band 1


Für Hanne und Gerhard

Verlagsgruppe Random House FSC -DEU -0100 Das für dieses Buch verwendete FSC ®-zertifizierte Papier Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB , Schweden.

© 2013 Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816750 ISBN 978-3-86591-750-8 Umschlaggestaltung: Hanni Plato Umschlagfotos: Blumen: GettyImages, Kim Hojnacki; Stadt: Mauritius, BAO Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany


Personenregister Familie van Campen, Holland: Erik, Vater Tilla, älteste Tochter aus erster Ehe (mit einer Meindorff) Anki, zweite Tochter aus erster Ehe (mit einer Meindorff) Demy, erste Tochter aus zweiter Ehe Erik Feddo, Sohn aus zweiter Ehe Rika, zweite Tochter aus zweiter Ehe Familie Meindorff, Berlin Joseph, Familienpatriarch, Inhaber von Meindorff-Elektrik Joseph, erster Sohn (Ehemann von Tilla) Hans (Hannes), zweiter Sohn Albert, dritter Sohn Philippe, Pflegesohn der Meindorffs, Sohn einer Familien­ angehörigen des französischen Meindorff-Zweigs Großbürgertum, Berlin Adele Boehmer, Lesezirkel Klaudia Groß, Lesezirkel Lina Barna, Freundin von Demy Margarete Pfister, Freundin von Demy Professor Barna, ihr Vater Familie Ehnstein: Brigitte, Cousine 2. Grades und Verlobte von Martin Willmann Ehrenfried, Vater von Brigitte, Elektrobranche-Kartell Familie Ahlesperg: Adalbert, Sohn von Anton Anton, Elektrobranche-Kartell Familie Willmann: Martin Willmann, erfolgreicher Jungunternehmer, Verlobter von Brigitte Ehnstein, Elektrobranche-Kartell

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Familie Scheffler, Scheunenviertel, Berlin: Vater Erich Scheffler Lisa, Mutter Lieselotte, älteste Tochter, Freundin von Demy, Frauenrechtlerin Peter und Willi, Zwillinge Helene, jüngste Tochter Deutsch-Südwestafrika/Walvis Bay Bernhard Walther, Missionar bei Windhuk Heinz Stichmann, Buchhalter der Diacamp John Howell, britischer Freund von Philippe Jennifer Howell, Johns Schwester Mary Stott, Johns Verlobte Udako, Philippes große Liebe vom Stamm der Nama St. Petersburg, Russland Familie Chabenski: Ilja Michajlowitsch, Arbeitgeber von Anki Oksana Andrejewna, Arbeitgeberin von Anki Nina Iljichna, älteste Tochter Jelena Iljichna, zweite Tochter Katja Iljichna, jüngste Tochter Grigori Jefimowitsch Rasputin, umstrittener »Heiler« und Geist­licher, beliebt in Adelskreisen Weitere Familien: Jevgenia Ivanowna Bobow, Bekannte von Ljudmila Ljudmila Sergejewna Zoraw, Freundin Ankis Raisa Wladimirowna Osminken, ältere Freundin von Nina, wohnhaft in Moskau

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Prolog 1908 Graue Regenwolken schoben sich vor den unvollkommenen Mond am nächt­lichen Himmel. Die Luft war kalt. Nebel hing zwischen den Bäumen, Sträuchern und Gebäuden wie eine undurchdring­ liche, dickflüssige Masse und ließ die Konturen der Umgebung verschwimmen. Eine dunkle Gestalt, nicht mehr als ein Schatten, verharrte auf der Brücke jenseits der schützenden Brüstung und blickte in das schwarze, leise gurgelnde Wasser hinunter. Sie wagte einen winzigen Schritt nach vorn, sodass ihre Schuhspitzen gefährlich weit über den Brückenstein hinausragten. Ein Windstoß blähte den weiten Mantel der Person auf, brachte sie aus dem Gleichgewicht, und nur mit einem kräftigen Rudern der Arme konnte sie einen Sturz in das kalte Nass verhindern. Minutenlang krallte sie sich mit einer Hand an den vom Nebel feuchten Mauerpfosten fest, bis sich ihr erhöhter Herzschlag wieder beruhigte. Ihr Blick wurde von der dunklen Wasseroberfläche angezogen, die sich in der Undurchdringlichkeit des Nebels verlor. Es würde endgültig sein. Für immer vorbei! Aber war es wirklich so einfach, wie ihr Gehirn es ihr auszumalen versuchte? Warum wehrte sich ihr Herz gegen den so sorgfältig erdachten Plan? Schwere, gemäch­liche Schritte näherten sich der Brücke, auf der sie noch immer gefangen in ihrer Unschlüssigkeit verharrte. Es war an der Zeit, dass sie eine Entscheidung traf.

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Kapitel 1 Bei Koudekerke, Halbinsel Walcheren, niederländische Provinz Zeeland, März 1908 Unter beständig an- und abschwellendem Donnern schlugen die schaumgekrönten Wellen auf dem weißen, leicht ansteigenden Sandstrand auf. Demy vernahm trotz des gewaltigen Brausens des Windes das zischende Geräusch, mit dem sich das Wasser über den Sand, die winzigen farbigen Steinchen und die kleinen Muscheln hinweg in das aufgewühlte stahlgraue Meer zurückzog. Das Mädchen schlang die Arme um den schlanken Körper, als wolle sie sich vor dem peitschenden, böigen Wind schützen, doch ihre hoch aufgerichtete Gestalt und das erhobene Haupt zeigten deutlich, wie sehr sie die Gewalt des Sturms genoss. Weiße Gischt, vom Wind über den Strand getragen, durchnässte ihr hellblaues Kleid und das lange dunkle Haar, und beides klebte beinahe wie eine zweite Haut an ihr. Demy ballte die Hände zu Fäusten, während sie mit dem nackten Fuß gegen ein schwarzes Stück Schwemmholz trat, sodass es aufflog und vom Sturm seitlich in Richtung der Dünen davongetrieben wurde. »Ich will hier nicht weg!«, schrie sie gegen den peitschenden Wind an, wobei sie den Schmerz ignorierte, den sie sich durch den derben Tritt gegen das mit Feuchtigkeit vollgesogene Holzstück zugezogen hatte. »Wie konnte Tilla das nur tun?« Auch diesen entrüsteten und zugleich verzweifelten Ruf trug der Wind mit sich fort. Sie wandte sich dem schäumenden Meer zu und watete in die ausrollenden Wellen, bis das kalte Wasser bei jeder Woge gegen ihre Knie schwappte und die Gischt ihren Körper einhüllte. Tilla, Demys sechs Jahre ältere Halbschwester, hatte sich in diesen Tagen mit Joseph Meindorff aus Berlin verlobt, so wie es ihr Vater gewünscht und vereinbart hatte. 8


Die Familie Meindorff besaß in der aufstrebenden Hauptstadt Preußens ein gut gehendes Unternehmen in der Elektrobranche und ein standesgemäß herrschaft­liches Stadthaus. Allerdings hatte man Demy für zu jung befunden, um ihr zu erklären, welche Vorteile ihr Vater sich von dieser arrangierten Vermählung seiner ältesten Tochter ins Deutsche Reich erhoffte. Doch ließ die Vehemenz, mit der er das anvisierte Ziel verfolgt hatte, sie zumindest erahnen, dass diese Vorteile nicht unbeträchtlich waren. In den Augen ihrer Schwester war Demy allerdings alt genug, ihr in Berlin als Gesellschafterin zu dienen – was auch immer sie als solche tun sollte. Demy wurde durch eine Stimme, die ihren Namen rief, in ihren aufgebrachten Gedanken und düsteren Überlegungen unterbrochen. Da sie es bei solch unwirt­lichem Wetter eigentlich gewohnt war, den Strand für sich allein zu haben, drehte sie sich überrascht und neugierig in Richtung Dünen um, wobei sich ihr Rock schwer und nass um ihre Beine wickelte. Zu ihrer Verwunderung erkannte sie Tilla, und bei ihrem Anblick brodelte erneut unbändige Wut in ihr auf. Ihre Schwester winkte auffordernd mit einer Hand und signalisierte Demy, dass sie aus dem Wasser und zu ihr hinüberkommen solle. Im Gegensatz zu der nachlässigen Bekleidung des jüngeren Mädchens trug Tilla Schuhe, hatte sich einen Wettermantel umgelegt und schützte ihre Frisur mit einem um den Kopf geschlungenen Schal. Die beiden älteren van Campen-Mädchen, Tilla und Anki, waren noch in den Genuss einer vollständigen, gehobenen Ausbildung durch ihre deutsche Mutter und nach deren Tod der ebenfalls deutschen Stiefmutter sowie einer Erzieherin gekommen. Kurz nach dem Tod von Erik van Campens zweiter Frau bei der Geburt ihres jüngsten Kindes, Erik Feddo, hatte die Erzieherin aus unbekannten Gründen die Familie verlassen. Jedenfalls waren die exquisite Ausbildung und der Hausunterricht von Tilla und Anki zwar vollendet, für Demy und Rika jedoch beides frühzeitig abgebrochen worden. Dementsprechend frei und ungebunden waren Demy und ihre beiden jüngeren Geschwister aufgewachsen, und da sie anstelle des 9


Hausunterrichts eine reguläre Schule besuchten, hatten sie viele Schulkameraden »Was willst du?«, rief Demy ihrer Schwester über das Brausen des Windes und das Donnern der Brandung zu, blieb aber in den schäumenden Wellen stehen. Entweder musste Tilla ebenfalls ins Wasser waten oder sich gegen den Wind brüllend mit ihr unterhalten. Und beides, das wusste Demy, würde Tilla missfallen, da es ihrer guten Erziehung zuwiderlief. Erneut winkte Tilla, was Demy veranlasste, trotzig ihre Hände in die noch schmalen Hüften zu stemmen, den Kopf leicht schief zu legen und ihre Schwester herausfordernd anzugrinsen. »Demy, es hat doch keinen Sinn, sich gegen bereits getroffene Abmachungen aufzulehnen. Diese Anstellung bei den Meindorffs ist das Beste, was dir passieren kann. Weshalb nur willst du das nicht einsehen?«, rief Tilla schließlich über das Tosen der Wellen hinweg. »Was soll ich in dieser großen Stadt in einem fremden Land? Nur weil du dort hinziehen und diesen komischen Mann heiraten willst, kannst du nicht von mir verlangen, dass ich mitkomme!«, brüllte Demy zurück, während der Wind kräftig an ihren nassen Kleidern zerrte. »Ich wünsche es aber, und es ist angebracht! Außerdem wurde deine Anstellung im Hause Meindorff bereits vertraglich geregelt.« Tilla sah sie streng an. »Papa ist auch nicht mit deinen Plänen einverstanden!« »Er hat unterschrieben. Das allein zählt!« »Wie ist es dir bloß gelungen, ihn dazu zu überreden? Er hatte mir versprochen, dass ich nicht fortmuss!« Demys Stimme überschlug sich. Ärger und Enttäuschung brodelten in ihr so wild wie die gischtgekrönten Wellen um sie herum. Demy sah, wie Tilla tief durchatmete. Das Gesicht ihrer Schwester hatte eine für sie ungewöhnlich rote Farbe angenommen, und das lag nicht nur am scharfen Wind. »Komm jetzt bitte aus dem Wasser! Ich möchte mich nicht länger brüllend mit dir unterhalten müssen.« Das Mädchen zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Dann komm du doch zu mir!« 10




Inhalt Vorwort von Dan Peter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die unheimliche Begegnung mit Herrn P. . . . . . .

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2. Signieren statt resignieren! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Ein feste Burg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Den Vorboten verboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Auf der Flucht vor der Diagnose . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Vom Ende der Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 7. Sich der Wahrheit stellen – das ist Freiheit . . . . . . 59 8. Wenn die Seele nicht mehr lacht . . . . . . . . . . . . . . 63 9. Musik als Heilmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 10. Lächerliches und Deprimierendes . . . . . . . . . . . . . 77 11. Vom Risiko der Nebenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 87 12. Parki-Genossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 13. Geschüttelt und gerührt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 14. Disziplin? Ab morgen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

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15. Zweifelhaftes und Glaubhaftes . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 16. Ich kann nicht klagen!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 17. Eine ziemlich unanständige Wette. . . . . . . . . . . . . . 129 18. Wo war Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 19. Wo war ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 20. Schatz in zerbrechlichen Gefäßen . . . . . . . . . . . . . 157 21. Einsichten und Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Literaturempfehlungen des Verfassers . . . . . . . . . . . . . 179 Danke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Gastbeitrag von Dr. med. Jürgen Rieke . . . . . . . . . . . . 183

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Gesund ist, wer noch nicht gründlich untersucht wurde.* Manfred Lütz

* Lebenslust – wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, Pattloch, München, 2002


Gesund ist, wer versöhnt lebt und mit seinen seelischen und körperlichen Einschränkungen zuversichtlich leben kann. Jürgen Mette


Vorwort Extrovertiert und stilsicher, ganz im Hier und Jetzt, gleichzeitig fest verwurzelt in seinem Glauben – so kennen viele Jürgen Mette. So wird er Ihnen auch in diesem Buch begegnen. Man hört ihm gerne zu, er kann begeistern. Energie, Humor und Witz zeichnen ihn aus, ebenso seine Liebe zur Musik – von Bach bis Grönemeyer. Er hat Maßstäbe und mutige Zeichen gesetzt, nicht zuletzt als geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien. Was macht nun aber eine Krankheit wie Parkinson aus diesem engagierten Christen? Wie viel Stress bereitet ihm wohl die Einsicht, dass er selbst nicht mehr berechenbar ist, angefangen bei alltäglichen, normalen Abläufen, die plötzlich viel länger dauern als gewohnt? Wie geht er mit zunehmender Schwäche und Nervosität um? Wie lernt er, sein Leben neu zu gestalten und manches vielleicht auch in Gottes Namen loszulassen? Eine Krankheit bleibt nicht auf Äußerlichkeiten begrenzt, so die Botschaft dieses Buches. Sein Leben lang konnte sich der gelernte Zimmermann und studierte Theologe auf sein gutes Empfinden und sein Bauchgefühl verlassen. Was aber, wenn dieses nun durch die Krankheit irritiert, vielleicht auch aus dem Lot gebracht wird? Kann man sich selbst noch trauen, und wie viel darf man sich 9


überhaupt noch zutrauen, um nicht schwierig für andere zu werden? Warum soll man ein Buch lesen, in dem Krankheit einen großen Raum einnimmt? Mehr als durch Erziehung und Bildungsveranstaltungen lernt man durch den tagtäglichen »Anschauungsunterricht«, den uns das Leben und andere Menschen gewähren. Bewusste und unbewusste Nachahmung prägen uns Menschen weit mehr als kognitives Lernen – nicht nur in den ersten Lebensjahren. Jeder von uns profitiert vom gelingenden, aber auch vom misslingenden Leben anderer, in Vorbild und Abgrenzung, in Widerstand und Annahme. Und genau darum geht es in diesem Buch. Es hat die klare Botschaft: Schaut her, so geht es mir! Ich muss selber lernen, mit meiner Krankheit angemessen umzugehen, mit ihr zu leben. Das gelingt einmal besser und ein anderes Mal nicht so gut, aber ich gebe im Gottvertrauen nicht auf und ich nehme auch diese schwierige Lebensführung aus Gottes guten Händen. Ich will mich nicht zurückziehen, sondern mitten unter euch sein. Vielleicht hilft euch die Anschauung meines Lebens, eure Widrigkeiten ebenso anzunehmen und anzugehen. Sich die Krankheit sozusagen von der Seele zu schreiben, mit ihr umzugehen, sie auch für andere aufzubereiten, sodass eigenes Empfinden und eigene Einsichten nachvollziehbar, ja sogar übertragbar werden, so verstehe ich das tiefere Anliegen seines Autors. So verstehe ich meinen Freund und Vorstandskollegen Jürgen Mette, als einen, der andere teilhaben lässt, sie mitnimmt, bis hinein in die 10


eigene Gefühls- und Gedankenwelt – so erlebe ich ihn auch außerhalb der Buchrealität. Wie die Krankheit das ganze Leben betrifft, so wird das ganze Leben von Jürgen Mette in seine Krankheitsgeschichte einbezogen. Das erfordert viel Mut, aber auch eine große Sensibilität. Denn als Geschäftsführer einer bekannten Medienstiftung macht man sich durchsichtig und angreifbar, wenn man seine Schwäche und die verletzlichen Seiten zeigt, einen offenen und ehrlichen Einblick in das eigene Leben und Empfinden gewährt und auch die depressiven Phasen nicht ausspart. Jürgen Mette gelingt es aber, in dem vorliegenden Buch weder einen billigen Krankheitsvoyeurismus zu bedienen, noch zu sehr ins Predigen zu verfallen. Es gelingt ihm, die eigene Erfahrung nicht zu überhöhen oder gar das eigene Leben um höherer Anliegen willen zu glätten oder zu beschönigen, sondern auf Augenhöhe zu bleiben. Respekt! Dieses Buch erlaubt mit einem Schritt Abstand, die eigene Situation zu bedenken. Vielleicht kann ich es ebenso machen, vielleicht muss ich aber auch ganz anders handeln, kann sogar aus den dargestellten Fehlern und Einsichten lernen, bewusst oder unbewusst. Krankheit ist der Ernstfall des Lebens, aber ebenso der Ernstfall des Glaubens. Denn plötzlich stellt sich die Frage, was das Leben ist und was es wertvoll und lebenswert macht. Ist die Krankheit nur Behinderung oder auch Chance? Ruft sie neue Einsichten, neue Sensibilität hervor oder provoziert sie eher neue Stress- und Konfliktfelder? 11


Krankheit ist sehr häufig auch ein Ernstfall des Glaubens. Viele Fragen drängen sich auf, ob man will oder nicht: Warum bin ich jetzt schwach, obwohl die Aufgabe alle Kraft erfordert? Was will Gott mir dadurch sagen? Warum lässt Gott das zu? Ist Krankheit vielleicht doch eine Strafe? Jürgen Mette lässt keine dieser Fragen aus, aber er zeigt auch, wie er sie sich beantwortet hat oder wie er mit ihnen lebt. Mitten in seinem Alltag und in den dunklen Stunden trifft er auf sie. Für manche Fragen hat er sein ganz eigenes Rezept entwickelt. Deshalb bleibt es in diesem Band weder dunkel noch traurig. Ganz im Gegenteil: Das Buch verbreitet Hoffnung und Licht, gewürzt mit Musik und Humor und nicht zuletzt durch Glauben und Lebensfreude. Daher kann ich es Ihnen nur ans Herz legen. Ihr Dan Peter Kirchenrat Dan Peter leitet das Referat Publizistik und Gemeinde im Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche Württemberg und ist stellvertretender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien.

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DALE BLACK

ABSTURZ IN DEN HIMMEL MEIN HIMMLISCHES ERLEBNIS ZWISCHEN LEBEN UND TOD Deutsch von Kirsten Winkelmann


Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland. Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Bethany House Publishers, Grand Rapids, Michigan, unter dem Titel „Flight To Heaven“. © 2010 by Dale Black © der deutschen Ausgabe 2013 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, den folgenden Bibelübersetzungen entnommen: – Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN) – Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LÜ 84) 1. Auflage 2013

Bestell-Nr. 816 755 ISBN 978-3-86591-755-3 Umschlaggestaltung: Daniel Eschner Umschlagfoto: Shutterstock Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany


Dieses Buch ist meiner Frau Paula gewidmet. Ich liebe und bewundere sie. Ohne ihren sanften und liebevollen Ansporn gäbe es diesen Bericht Ăźber meine Reise in den Himmel nicht. In liebevollem Andenken an meinen GroĂ&#x;vater Russell L. Price, ein Mann, der gelernt hatte, im Glauben zu leben und nicht im Schauen.



Prolog Mein Leben veränderte sich komplett, nachdem ich mit dem Flugzeug abgestürzt war. Ich war der einzige Überlebende. Einige Tage verbrachte ich auf einer Intensivstation. Zuvor jedoch hatte ich eine Reise angetreten, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist … eine Reise in den Himmel. Was ich dort erlebte, ist mit Worten eigentlich nicht zu beschreiben. Die meisten Begriffe verblassen vor dem, was unbeschreiblich ist. Im Anschluss an den Absturz erinnerte ich mich aufgrund einer schweren Amnesie monatelang an gar nichts – weder an das Unglück selbst noch an die ersten drei Tage im Krankenhaus oder meinen Besuch im Himmel. Zumindest erinnerte sich mein Verstand nicht. Mein Herz? Nun, das ist eine andere Geschichte. Ich war in Behandlung bei Dr. Homer Graham, besser bekannt als „Evel Knievels Chirurg“. Meine Verletzungen waren schwer, aber als ich auf der Intensivstation langsam zu mir kam, war auf einer anderen als der körperlichen Ebene alles anders geworden. Allerdings wusste ich nicht, warum. Mir kam es vor, als habe man mir neue Augen gegeben. Das geschah vor 40 Jahren. In diesem Buch möchte ich schildern, wie mein Leben durch einen Flugzeugabsturz auf den Kopf gestellt wurde und warum jede wichtige Entscheidung, die ich seitdem getroffen habe, von


meiner Reise in den Himmel beeinflusst war. Menschen, die mich kennen, verstehen jetzt vielleicht, warum ich manchmal ein bisschen … anders wirkte und warum mein Leben oft unkonventionellen Pfaden gefolgt ist. Ich werde versuchen zu erklären, warum ich mich regelrecht gedrängt fühle, die Liebe Gottes mit anderen zu teilen. Warum ich mich freiwillig für beinahe 1.000 Flüge in mehr als 50 Ländern gemeldet habe. Und warum ich – im Wesentlichen auf eigene Kosten – geistliche Leiter und medizinisches Personal ausgebildet habe, um notleidenden Menschen ganzheitlich zu helfen. Seit jenem schicksalhaften Tag habe ich die Geschichte von meinem Flugzeugabsturz und den Folgen viele Male erzählt. Und doch habe ich die Öffentlichkeit nie an meiner Begegnung mit dem Himmel teilhaben lassen. Bis jetzt. Wie konnte ich diese lebensverändernde Begebenheit für mich behalten? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Direkt nach dem Absturz litt ich wie gesagt an einer Amnesie. Meine Erinnerungen waren wie ein Puzzle mit nur wenigen erkennbaren Teilen. Es dauerte acht Monate, bis meine Erinnerung zurückzukehren begann, und noch länger, bis mein in Mitleidenschaft gezogener Verstand und mein verwandeltes Herz wieder zusammengefunden hatten. Als mein Gedächtnis zurückgekehrt war, erzählte ich meinem Großvater alles, was passiert war, aber er warnte mich davor, das Erlebte an andere weiterzugeben. „Dale“, sagte er, „du kannst über deine Erfahrung sprechen, oder du kannst sie als etwas Heiliges ansehen und dein Leben durch dieses Erlebnis verändern lassen. Wenn du wirklich die andere Seite gesehen hast, dann lebe das, was auch immer du dort gesehen und begriffen zu haben glaubst. Deine Handlungen werden lauter sprechen als alle Worte.“ So gab ich mir und Gott das feierliche Versprechen, meine ­Erfahrung erst dann mit anderen zu teilen, wenn Gott mir ein Signal dazu geben würde.


Kurz nach dem Absturz nahm ich an einem Gottesdienst teil, in dem ein Mann behauptete, er sei gestorben, in den Himmel gekommen und danach ins Leben zurückgekehrt. Auf mich wirkte das Ganze eher eigennützig als heilig. Das Wesen des Himmels ist Gott, und doch waren die Leute mehr an der Sensation interessiert als an dem Einen, der alles geschaffen hat und um den es im Himmel geht. Das Erlebnis machte mich traurig und festigte die Entscheidung, mit niemandem über meine Reise zu sprechen. Es war auch deshalb nicht so schwer, das Geheimnis für mich zu behalten, weil es Zeiten in meinem Leben gab, in denen ich sehr enttäuscht von mir selbst war. Wenn ich doch einen Einblick in den Himmel bekommen hatte und von dieser Erfahrung so grundlegend verändert worden war, warum schaffte ich es dann nicht, der Mann zu sein, der ich wirklich sein wollte? Warum gelang es mir nicht, das zu leben, was ich gesehen und gehört und gelernt hatte? Ich vermute, der Blick in den Himmel änderte nichts an der Tatsache, dass ich nun einmal menschlich bin. Und sehr fehlerhaft. Warum teile ich meine Erfahrung jetzt? Mich persönlich hätte es nicht gestört, das Stillschweigen weiter aufrechtzuerhalten. Aber Gott initiierte eine Reihe von Ereignissen, die mich davon überzeugten, dass es jetzt an der Zeit war, meine Erfahrungen im Himmel weiterzugeben. In gewisser Hinsicht dreht sich diese Geschichte um mich. Aber letzten Endes handelt sie nicht von mir, sondern von Gott. Und sie handelt von Ihnen. Von Ihnen und von Gott, die in eine Geschichte verflochten sind, die für mich immer noch atemberaubend heilig ist. Meine Hoffnung ist, dass Sie nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit einem offenen Herzen lesen werden. Wenn Sie das tun, bekommen Sie vielleicht mehr als das, womit Sie gerechnet haben. Meine Geschichte beginnt, als ich im Rahmen eines Missionsflugs mitten in der Nacht einen Jet über den afrikanischen Staat


Sambia fliege, in einer Hรถhe von 12.500 Metern. Also legen Sie den Gurt an, bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position und halten Sie sich fest. Das wird ein ganz schรถn wilder Ritt! Dale Black

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1. Flug in den Himmel Dienstag, 22. Mai – 1:16 Uhr – 12.500 km Irgendwo über Sambia, Afrika

Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder der Maschine werden in 27 Minuten tot sein, es sei denn, es geschieht etwas Einschneidendes. Und ich werde dafür verantwortlich sein. Mit dem bisschen Treibstoff, der sich noch in unseren Tanks befindet, habe ich keine Möglichkeiten und keine Zeit mehr. Und es gibt allerhand Dinge, die einfach keinen Sinn ergeben. Die Hand meines Kopiloten zittert, als er das Mikrofon an sein aschfahles Gesicht zieht. „Lusaka Anflug, Lusaka Tower, Sambia Zentrum. Irgendjemand? Learjet Vier-Alpha-Echo. Mayday, Mayday, Mayday.“ Immer noch keine Antwort. Der 38-jährige, erfahrene Kopilot Steve Holmes späht vom rechten Sitz aus durch die Windschutzscheibe des Jets und kann es nicht fassen. „Wo ist die Stadt? Was geht hier vor sich?“ Er schüttelt langsam und ungläubig den Kopf, denn auch er hat unsere Möglichkeiten abgewogen und sie schwinden schnell dahin. Unser Luxusjet ist mit der neuesten und modernsten Bordelektronik ausgestattet, einschließlich dualer Navigationssysteme, aber beide wurden vor mehr als einer Stunde INOP („inoperative“, das heißt funktionsuntüchtig). Wir haben keine Ahnung 11


warum. Auch antwortet niemand auf unsere Funksprüche und in meinen 16 Jahren als Berufspilot hat mich niemand auf das vorbereitet, was jetzt geschieht. Das wäre auch nicht möglich gewesen. Ich fühle, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht, während ich hinter mich greife und die Tür des Cockpits schließe. Wir funken auf 121,5 MHz, der Notruffrequenz, die auf allen Kontrollgeräten angezeigt wird, und versuchen es erneut. „Mayday, Mayday, Mayday, Mayday. Learjet November-VierZwei-Vier-Alpha-Echo. Kann mich irgendjemand empfangen? Over.“ Wieder nichts. Nur das Rauschen atmosphärischer Störungen. Während ich versuche, ruhiger zu atmen und meine Gedanken zu ordnen, lehne ich mich nach vorn und sehe durch die aus mehreren Lagen Plexiglas bestehende Windschutzscheibe des Jets. „Ich habe schon Lagerfeuer aus dieser Höhe gesehen, Steve. Ich möchte unseren Sinkflug nicht beginnen, bevor wir die Lichter der Stadt erkennen können. Irgendetwas sollte doch zu sehen sein! Such weiter.“ Mein Herz schlägt wie wild. Schuldgefühle nagen an mir. Wie konnte ich zulassen, dass es so weit kommt? Wie können so viele Dinge gleichzeitig schief gehen? Als vorübergehend beurlaubter Pilot der Trans World Airlines (TWA) hatte ich in Südkalifornien ein Unternehmen gegründet. Ich stellte unentgeltlich Flugzeuge, Piloten und Wartungspersonal zur Verfügung, um gut ausgebildete Menschen an Orte zu bringen, wo sie Bedürftige mit Nahrung und Medizin versorg­ ten – und sie mit Gott in Verbindung brachten. Der Flug, auf dem wir uns gerade befinden, ist einer von Hunderten, die ich in den letzten Jahren durchgeführt habe, weil ich in einer leidenden Welt Gottes überwältigende Liebe mit anderen teilen wollte. In diesem Monat verschlug es uns nach Europa, den Mittleren Osten und Afrika. 12


Bis jetzt hat Gott immer für die nötigen Mittel und für Bewahrung bei der Erfüllung unserer Mission gesorgt, aber auf diesem Flug beginnt alles auseinanderzubrechen. Die Ereignisse geraten außer Kontrolle. Steve und ich haben wie immer diesen Flug sorgfältig vorbereitet. Drei Vollzeitbeschäftigte haben drei volle Tage lang intensive Flugplanung betrieben. Wir griffen auf internationale Flugdatenquellen zurück und trafen Vorkehrungen für alle möglichen Eventualitäten. Wir waren bis aufs i-Tüpfelchen vorbereitet – dachten wir zumindest. Die neueste Wettervorhersage versprach uneingeschränkte Sicht im Umkreis von Hunderten von Kilometern um die Hauptstadt von Sambia herum, wo wir unsere Tanks auffüllen wollten. Dieser Flug sollte reine Routine sein, auch wenn wir auf Verlangen der Flugsicherheitskontrolle im Sudan zuvor eine längere Verzögerung beim Zwischenstopp hinnehmen mussten. Ich bete leise. Steve reißt sich frustriert sein Headset herunter und schleudert es auf das Armaturenbrett. Während ich versuche, mich zusammenzureißen, spreche ich langsam, aber mit fester Stimme. „Steve, wir müssen jetzt funktionieren. Lass uns einfach daran glauben, dass Gott uns helfen wird, dieses Flugzeug bei unserem ersten und einzigen Versuch sicher zu landen. Bist du bei mir?“ Steve wirft mir einen ärgerlichen Blick zu. „Klar.“ Dann rammt er die dicke Checkliste in das Seitenfach des Learjets. „Checkliste für den Anflug abgeschlossen.“ Als selbsternannter Agnostiker kann Steve mit meinem Gottvertrauen nicht viel anfangen. Zumindest noch nicht. „Ich werde auf der erstbesten Landemöglichkeit aufsetzen, die ich sehe, Steve. Wir könnten uns innerhalb dünner Wolken befinden oder über einer Schicht Hochnebel. Die Lichter der gesamten Stadt könnten aus irgendeinem Grund ausgegangen sein. Das habe ich zwar noch nie gesehen und ich muss zugeben, dass 13


es nicht sehr logisch klingt und nicht erklärt, warum wir keine Lichter von einem Auto oder irgendetwas anderem sehen. Aber, Steve, ich werde dieses Flugzeug in wenigen Minuten landen, das versichere ich dir.“ Er nickt nur grimmig. „Landeklappen zehn Grad“, ordne ich an. Ich höre das vertraute Geräusch der Klappenmotoren. Beide NAV -Nadeln bewegen sich stetig auf das Zentrum des HSI zu und bestätigen auf diese Weise, dass wir auf Kurs sind. Aber wohin? Lusaka, nicht wahr? Ja, Lusaka, unser geplantes Flugziel. Es muss Lusaka sein, rede ich mir ein. „Gleitpfad aktiv“, fahre ich fort. „Fahr das Fahrwerk aus, Landeklappen zwanzig, und gib mir die Checkliste für den Landeanflug.“ „Roger, Fahrwerk fährt aus, Landeklappen zwanzig, und die Checkliste für den Landeanflug.“ Sekunden später. „Landeklappen vierzig, bitte.“ Ich höre das Zittern in Steves Stimme. „Landeklappen vierzig ausgewählt, vierzig angezeigt, die Checkliste für den Landeanflug ist abgeschlossen.“ Der schnittige Jet ist für die Landung vorbereitet. Kein Schalter muss mehr bewegt werden, bevor wir auf dem Boden sind – wenn wir eine Landebahn finden. Mit Hilfe geringfügiger Korrekturen an den Schubhebeln und am Steuerhorn halte ich die Geschwindigkeit auf exakt 235 Stundenkilometern, während ich Steuerkurs und Flugweg anpasse, um auf Kurs und Gleitpfad zu bleiben. Ich fliege ausschließlich nach Instrumenten, während Steve in die Dunkelheit hinausstarrt, verzweifelt nach irgendeinem Anzeichen für einen Flughafen Ausschau hält und jede meiner Bewegungen überwacht. NAV ist die Navigationsanzeige zur lateralen Positionsbestimmung HSI (horizon situation indicator) ist die Navigationsanzeige zur horizontalen Positionsbestimmung

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Die Muskeln in Steves Gesicht spannen sich sichtbar an, als er spricht. „Dreihundert Meter über Minimum.“ Minimum bedeutet 60 Meter über der Landebahn und ist die geringste Höhe, die wir gefahrlos mit Hilfe der Instrumente fliegen können. Wenn wir keine Landebahn erkennen können, gibt es keine Möglichkeit, unter das Minimum zu sinken … und damit Punkt. Mit einer federleichten Berührung der Schubhebel verringere ich ein bisschen die Geschwindigkeit und ziehe ein Grad nach rechts, um auf Kurs, in der Geschwindigkeit und im Gleitpfad zu bleiben. Wir werden diese Landebahn finden, und das beim ersten Anflug, versichere ich mir selbst. „Hundertfünfzig Meter über Minimum.“ „Hast du Sichtkontakt?“ Ich spüre, wie sich mein Magen verkrampft. Steve schüttelt langsam den Kopf. „Negativ. Kein Sichtkontakt. Dreißig Meter über Minimum.“ „Sieh weiter nach draußen, Steve, aber sag mir beim Minimum Bescheid.“ Ein paar Sekunden vergehen, dann fährt Steve zusammen und ruft: „Minimum! Minimum, kein Kontakt.“ Für den Bruchteil einer Sekunde reiße ich meinen Blick von den Instrumenten des Cockpits los und sehe über die lange, schlanke Nase des Flugzeugs hinweg nach draußen. Direkt vor uns sollte die Landebahn zu sehen sein – aber nur tiefste Dunkelheit starrt zu uns zurück. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Äußerlich wirke ich ruhig und gefasst, aber das ist nur Fassade. Ich zwinge meinen Verstand, die Kontrolle zu behalten, schiebe die Gashebel nach vorn, um wieder durchzustarten und ziehe die Nase auf 15 Grad über den Horizont. Mein Magen fährt Achterbahn, denn mir ist klar, dass die beiden Triebwerke des Jets in diesem Moment unsere begrenzten Treibstoffreserven nur so wegschlucken. In dieser Höhe, bei diesem hohen Luftwiderstand, verbrennen wir den Rest Treibstoff viermal schneller als bei nor15


maler Reisegeschwindigkeit. Der Lebenssaft unseres Flugzeuges wird rasant schnell aufgebraucht. Während ich verzweifelt darum kämpfe, Herr meiner Gedanken zu bleiben, gehen Steve und ich die Lage nüchtern durch. Es gibt keine Wolken, keinen Nebel oder andere Sichtbehinderungen. Das Licht der Mondsichel bestätigt dies. Es spiegelt sich an den glänzenden Tragflächen unseres Jets – und erreicht uns auch noch auf einer Höhe von 60 Metern. Trotz einer Einwohnerzahl von mehr als einer Million Menschen scheint die Stadt Lusaka verschwunden zu sein. Nicht mal das Licht eines Autos oder Lasters ist zu sehen. Es gibt keine Straßenlaternen oder Feuer. Wir haben bald keinen Treibstoff mehr in unseren Tanks und wir sehen in 60 Metern Höhe keine Landebahn, keinen Flughafen, nicht die geringste Spur des Bodens. Es ist nicht nur Angst, die mir die Luft abschnürt. Es ist vollkommene Fassungslosigkeit. Die Funkgeräte bleiben still. In den 16 Jahren, in denen ich Jets geflogen bin und Piloten ausgebildet habe, habe ich niemals von etwas Derartigem gehört. Sind wir vom Kurs abgekommen? Wenn ja, wie weit? Fliegen wir über Wasser? Befinden wir uns über einer unsichtbaren Schicht Nebel? Unterliegen die Höhenmesser einem groben Irrtum? Nichts macht Sinn. Mein ehemals gestärktes Hemd mit dem weißen Kragen ist jetzt feucht und verknittert und mein Herz rast. In einer Lautstärke, die nur knapp über einem Flüstern liegt, bete ich: „Herr, was soll ich tun? Du bist der Einzige, der weiß, was hier los ist; also, Gott, was soll ich jetzt tun?“ Während ich mit nur noch einem Rest Treibstoff nutzlose Warteschleifen in 3.600 Metern Höhe irgendwo über Sambia fliege, wandern meine Gedanken zurück zu einem anderen Flug … dem lebensverändernden Flugzeugabsturz, bei dem ich nur ein Passagier war – und doch der einzige Überlebende. Der Flug, der mich für immer veränderte. Der Flug, der meine ganze Existenz definiert hat. 16


Freitag, 18. Juli 1969

Ich war 19 Jahre alt. Der Tag in meiner Heimatstadt Los Alamitos war um ungefähr 4:30 Uhr noch nicht angebrochen. Der Himmel war taubengrau mit nur einem leichten Federkleid tief hängender Wolken. Die Morgenzeitung war noch nicht da, aber am Vortag hatte die LA Times angekündigt: „Die Astronauten bereiten das Landungsmodul vor, während sich Apollo dem Mond nähert.“ Der Flug der Apollo 11 hatte in dieser Woche die Nachrichten beherrscht. Aller Augen und Ohren waren auf den Himmel gerichtet, verfolgten jede Bewegung des Raumschiffs und lauschten jeder seiner Übertragungen. Die Welt war fasziniert. In diesem Moment jedoch war der größte Teil meiner Welt noch in tiefem Schlaf versunken – blind für Apollo 11, die durch den Weltraum raste, und blind für meinen MGB , der auf dem Weg zum Burbank-Flughafen durch die Straßen jagte. Der leichte dunkelgrüne Roadster war in der Lage, in kaum mehr als elf Sekunden von null auf hundert zu beschleunigen. Was soll ich sagen? Ich war 19 und das Testosteron pulsierte durch meine Adern. Ich spielte als Halbspieler für das Pasadena College und war als Pilot auf dem besten Weg dazu, bald Jets fliegen zu dürfen. Alles in allem lebte ich auf der Überholspur. Ich ging ganztags zur Schule, spielte Baseball und arbeitete im Familienunternehmen mit. Dieses stellte Rotholzspäne her und beförderte sie per LKW zu den verschiedensten Orten in Kalifornien. Das Material wurde im Garten- und Landschaftsbau verwendet, von Spielplatzanlagen bis zu Golfplätzen war alles dabei. Seit meiner Kindheit hatte ich mitgearbeitet, belud und entlud Laster und half, wo Südlich von Los Angeles, westlich von Anaheim Sportwagen, der 1962 von der British Motor Corporation (BMC) herausgebracht wurde. Der sog. „Halbspieler“ wird beim Baseball zwischen zweiter und dritter Base eingesetzt.

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es nötig war, um mir etwas Geld zu verdienen. Oft verbrachte ich meine Abende damit, versäumte Wartungsarbeiten an den LKWs nachholen. Manchmal bediente ich eine ganze Nacht lang die Verpackungsmaschine oder die Ballenpresse, um einen Auftrag für den nächsten Tag zu erfüllen. Aber meistens fuhr ich einen Neunachser, der mit Massen von Rotholzspänen gefüllt war, die ganze Nacht durch irgendwohin. Meist kam ich dann gerade rechtzeitig zurück, um an meinen morgendlichen Unterrichtsstunden teilzunehmen. Sämtliche verbleibende Zeit und fast all mein dabei verdientes Geld investierte ich in Flugstunden beim Bracket Air Service in La Verne. Rückblickend weiß ich nicht, wie ich das alles geschafft habe. Das „Warum“ liegt hingegen auf der Hand: Ich wollte alles mitnehmen, was das Leben zu bieten hatte. Das bedeutete viele Stunden im Klassenraum, auf dem Spielfeld und in der Luft – sehr gut! Und das alles kostete Geld. Ich war kein verwöhntes Kind. Ich bekam keine finanzielle Unterstützung für meine außerschulischen Aktivitäten. Das Fliegen war teuer. Autos waren teuer. Obwohl meine Eltern mir all das also nicht bezahlten, gaben sie mir die Möglichkeit, so viele Stunden im Familienunternehmen zu arbeiten, wie ich wollte, um mir meine kostspieligen Hobbys leisten zu können. Eines dieser Hobbys war das in Großbritannien hergestellte Cabrio, das ich jetzt in den Sonnenaufgang eines herrlichen südkalifornischen Morgens steuerte. Der Wind hatte zwei Tage lang aus Santa Ana geweht und den Dunst vertrieben, der aus dem San Fernando Valley stammte. Die einzige Farbe am Himmel war eine Spur von Orange. Das einzige Geräusch waren die Umdrehungen meines Vierzylindermotors, die mich beschworen, endlich hochzuschalten. Habe ich erwähnt, dass ich 19 Jahre alt war? Und habe ich auch erwähnt, dass ich einen Monat zuvor vom College geflogen war? Es war keine Verwarnung. Es war ein endgültiger Rausschmiss. Aber das war mir egal. Mit der Hand am 18


Schaltknüppel und der Pilotenlizenz in der Tasche lebte ich meinen Traum, war ich der Star meines eigenen Films. Mein Leben war ein Abenteuerstreifen, der nur darauf wartete, dass der Vorspann endete, damit die Geschichte beginnen und das Adrenalin fließen konnte. Ich war so nah dran. Für mich bestand der Vorspann aus den Kursen am College und den Stunden in der Luft. Ich touchierte einen Bordstein und hörte, wie die Reifen quietschten. Auch als ich einen Hauch Vietnam im Nacken spürte, dachte ich nicht im Traum daran, dass ich die Zurückstellung als Student verlieren könnte. Schließlich war ich 19 und unbesiegbar. Es gab andere Colleges. Und ich war sicher, dass ich an einem von ihnen ein Baseball- oder zumindest Footballstipendium bekommen würde. Vom Fliegen einmal abgesehen fühlte ich mich vor allem bei einem harten Angriffsspiel so richtig lebendig. Aber nichts davon spielte eine Rolle. Nicht jetzt. Alles, worauf es im Augenblick ankam, war meine Verabredung mit einer schlanken zweimotorigen Piper Navajo. Bald würde ich mich in der Luft befinden und über dem Verkehrschaos von L.A. schweben. Alle meine Sorgen würden hinter mir liegen, eingeschlossen das College sowie die undankbare, niemals endende Fahrerei mit den LKWs. Am Flughafen angekommen schaltete ich runter. Ich war bemüht, niemanden zu verärgern und gebührenden Respekt zu zeigen. Denn das hier war heiliger Boden für mich. Hier, auf dem Rollfeld, tummelten sich meine Träume und warteten nur darauf, dass ich ins Cockpit stieg und den Gurt anlegte. Seit ich 14 Jahre alt gewesen war, wollte ich Pilot in der kommerziellen Luftfahrt werden – reisen, die Welt sehen, die Uniform tragen, das Abenteuer leben. Ich wollte alles. Und ich wollte es unbedingt. Um dorthin zu kommen, benötigte ich einen Mentor, und ich wollte ihn an jenem Morgen treffen. Sein Name war Chuck 19


Burns, ein 27 Jahre alter Pilot. Er hatte die Lizenz, die Uniform, die Fähigkeiten, alles. Und er war bereit, mich unter seine Fittiche zu nehmen. Ich ließ mich gewöhnlich drei- oder viermal die Woche blicken, um ihn zu begleiten. Dann flogen wir durch den Staat, um Bankschecks auszuliefern. Ich bekam zwar kein Geld dafür, konnte aber allerhand Flugzeit ansammeln. Für einen jungen Piloten wie mich war das Entlohnung genug. Darüber hinaus bot sich mir die Möglichkeit, eine qualitativ hochwertige Maschine zu fliegen und von einem fähigen Ausbilder zu lernen. Ich besitze immer noch das Logbuch dieser frühen Flüge. Mein erster Flug mit Chuck fand am 29. Mai 1969 statt, in einer Piper Aztec. Wir waren in der Zeit seither gute Freunde geworden. Mehr als Freunde. Er war wie ein älterer Bruder für mich geworden. Ich kam als Erster auf dem Rollfeld an, wo die rot-weiße ­Piper Navajo abgestellt war. Die Navajos waren zweimotorige Flugzeuge, die Piper Aircraft Mitte der 1960-er Jahre für kleinere Frachten und den kommerziellen Markt entwickelt hatte. Die Turbo Navajo konnte bis zu sieben Passagiere plus Besatzung befördern und kam mit kraftvollen Lycoming-Motoren daher, von denen jeder 310 PS vorzuweisen hatte. Die Hartzell-Propeller waren verstellbar (Segelstellung). Leer wog das Flugzeug ein bisschen weniger als 2.000 Kilo, das maximale Fluggewicht lag bei ungefähr 3.000 Kilo. Die maximale Geschwindigkeit betrug 420 km/h, die Reisegeschwindigkeit 380 km/h. Chuck und ich hatten die Navajo erst am Vorabend „ausgeführt“. Wir hatten beide ein Date und beeindruckten die Mädchen mit einem Flug über die Lichter der Stadt, die wie funkelnde Juwelen auf einem Hintergrund aus schwarzem Samt aussahen. Es war ein wunderschöner Abend – kein Wind, keine Wolken und nur ein kleiner Dunstschleier. Chuck übernahm Start und Landung und ließ mich den Rest fliegen. Damals gab es nur begrenzte Luftverkehrskontrollen. Der Luftraum oberhalb von 20


1.000 Metern war mehr oder weniger frei und lud zur Erkundung ein. Und genau das taten wir: Hollywood. Santa Monica. Arcadia. Pasadena. Wir kamen ziemlich spät nach Hause. Umso kürzer war für uns beide die Nacht gewesen. Das Flugzeug war mühelos geflogen und hatte weder Ärger noch Sorgen gemacht. Obwohl unser abendlicher Flug erst acht Stunden her war, konnte ich es nicht erwarten, wieder in die Luft zu kommen. Es war aufregend, mit einer solchen Maschine allein zu sein. Von der Funktion her war sie ein robuster Ackergaul, doch besaß sie die Form eines schlanken Rennpferdes. Sie war genauso schön wie kraftvoll. Ich überprüfte den Zustand des Flugzeuges, untersuchte alles von den Reifen bis hin zur Windschutzscheibe. Ich fühlte mich wie ein Jockey, der das Pferd, mit dem er gleich ins Rennen gehen will, seine Beine, den Sattel, das Zaumzeug sorgfältig überprüft. Alles geprüft. Jetzt erst kletterte ich ins Cockpit. Dort saß ich einen Moment und nahm alles in mich auf. Die Skalen, die Schalter. Den Geruch von Leder und Metall. Das Gefühl meiner Hände, die nach den Kontrollschaltern griffen. Das Gefühl meiner Träume, die bereit waren loszufliegen. Ich führte ein paar Checks durch, dann startete ich die Motoren. Sie erwachten stotternd zum Leben, verfielen aber schon bald in ein gleichmäßiges Schnurren. Die Propeller begannen lautstark zu rotieren, dann verschwamm auch dieses Geräusch. Das Gefühl von so viel Kraft in den eigenen Händen war erregend. Ich schaltete die Maschinen aus und all diese Kraft erlosch mit einem einzigen Handgriff. Meinem Handgriff. Es war mehr als erregend; es war berauschend. Ich kletterte aus dem Flugzeug und wartete in der Nähe des Hecks auf Chuck. Dabei schaute ich hinüber zu den gigantischen Jets, die an den jeweiligen Flugsteigen aufgereiht waren, weiter zu anderen, die über die Startbahn rollten und darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. Als sie von ihren starken Motoren 21


donnernd in die Luft katapultiert wurden, geriet mein Blut in Wallung. Obwohl ich in den 1960-er Jahren aufgewachsen war, war ich kein Kind meiner Zeit gewesen. Die ganze Hippie- und Drogenkultur ging an mir vorbei, ohne dass ich ihr auch nur einen zweiten Blick zugeworfen hätte. Allerdings mochte ich einen großen Teil der Musik. Viele der Texte erzählten von Drogenkonsum. „Eight Miles High“ von den Byrds zum Beispiel: „Acht Meilen hoch, und wenn sie landen …“ – mir gefiel daran mehr das Bild des Fliegens als alle anderen Implikationen. Diese Jets konnten buchstäbliche acht Meilen hoch fliegen. Auch ich war schon in beträchtlicher Höhe geflogen, und das in kleineren Flugzeugen. Ich war sicher, dass keine Droge auch nur annähernd das Gefühl vermitteln konnte, das mit einem Flug in solcher Höhe vergleichbar war, vor allem nicht mit einem Flug in einem derart kraftvollen Flugzeug, das einem selbst die Illusion unendlicher Stärke gab. Man kann sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, in einem dieser Dinger zu starten, eines zu fliegen, eins zu landen – der Landeanflug … die Streifen auf der Landebahn, die dir in rasender Geschwindigkeit entgegenkommen … das Quietschen von Gummi, wenn man aufsetzt, das Röhren der Maschinen, das dich einholt. Was für ein Rausch! Meine Eltern teilten meine Begeisterung für das Fliegen nicht. Sie unterschieden sich nicht von anderen Eltern, die ihre Kinder in den 1960-ern großzogen. Es gab schon am Boden ausreichend Dinge, über die man sich Sorgen machen konnte – Drogen, freie Liebe, die „Britische Invasion“ und die Musik, die sie mitbrachte, Vietnam … Welche Eltern würden diese Liste auch noch frei6 Als „British Invasion“ wird in der Popmusik der schlagartige Erfolg britischer Beatgruppen Mitte der 1960-er in den USA bezeichnet.

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willig erweitern, indem sie ihr Kind in eine längliche Metallbox steckten und zuließen, dass es damit in einer Höhe von 1.200 Metern herumtollte? Abgesehen davon hatten sie noch immer die Hoffnung, dass ich im Familienunternehmen bleiben würde. Mein Großvater, der es gegründet hatte, war noch aktiv. Mein Vater, der sein eigenes Geschäft innerhalb dieses Unternehmens eröffnet hatte, war dort. Meine beiden Onkel. Mutter. Großmutter. Meine Brüder und verschiedene Cousins. Es wurde irgendwie erwartet, dass ich ihrem Beispiel folgen würde. Ich denke, sie waren der Meinung, dass ich mir das mit dem Fliegen schon irgendwann aus dem Kopf schlagen würde. Sie hofften, ich würde auf die Erde zurückkehren, meine Füße wieder auf den Boden stellen und mein Namensschild auf einem Schreibtisch im Büro der Firma platzieren. Aber sie sahen, wie leidenschaftlich gern ich flog und zeigten Nachsicht. Ein weiterer Jet startete. Das Geräusch der anschwellenden Motoren schlug eine Saite in mir an, die ich nicht erklären kann. Es war, als würde ich unglaublich ansprechende Musik hören, als würde alles in mir darauf reagieren und in einem einzigen aufsteigenden Crescendo zu meiner Seele sagen: „Dafür wurdest du gemacht!“ Meine Tagträume wurden unterbrochen, als sich mir ein sympathischer Mann in den Dreißigern näherte. Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin Gene Bain. Ich fliege heute mit dir.“ Sein Händedruck war fest und selbstsicher. Gene war Polizist in Fresno und ein Freund des Chefpiloten der Firma. Er hatte eine Berufspilotenlizenz und war die Strecke gelegentlich schon selbst geflogen. Außerdem hatte er einen guten Ruf, was sehr wichtig war. Schließlich legte ich mein Leben in seine Hände. „Hast du schon die Vor-Abflug-Kontrolle und den Motorprüflauf durchgeführt?“ „Nun, nicht wirklich“, sagte ich. 23


In Wirklichkeit hatte ich das sehr wohl getan und alles war in Ordnung, aber ich fühlte mich zu unerfahren, um so viel Verantwortung zu übernehmen. „Ich hab die Motoren warmlaufen lassen“, bekannte ich, „und die Vor-Abflug-Kontrolle im Außenbereich vorgenommen, aber du solltest das Ganze lieber selbst noch einmal prüfen.“ Dann sind wir heute ja doppelt sicher, dachte ich. Wenige Minuten später gesellte sich Chuck zu uns und wir drei gingen federnden Schrittes auf das Flugzeug zu, das uns in Richtung Norden nach Santa Maria, Coalinga, Fresno, Visalia, Bakersfield und einigen anderen Zwischenstopps in Kalifornien bringen sollte. Wir kletterten an Bord und machten es uns auf unseren Sitzen bequem. Gene nahm den Platz des Piloten ein. Ich ließ mich neben ihm nieder, auf dem Platz des Kopiloten. Und Chuck, der Erfahrenste von uns, saß hinter uns auf einem Klappsitz, sodass er jede unserer Bewegungen beobachten konnte. Das Wetter war ruhig, der Himmel klar. Ich war total entspannt, als Gene die Motoren startete. Die Propeller liefen an, und dasselbe tat mein Herz. Es beschleunigte in gespannter Erwartung des Fluges. Als Gene jedoch das Flugzeug zur Startbahn rollen ließ, wurde meine Vorfreude gestört. Er wirkte irgendwie ziemlich aufgebracht und drückte aggressiv an den Flugkontrollschaltern herum. Ich fragte mich, was sein Problem war. Chuck stellte sich offenbar dieselbe Frage, sagte aber nichts. Er tippte mir nur auf die Schulter und bedeutete mir, die Plätze mit ihm zu tauschen. Als Chuck seinen Gurt anlegte, näherten wir uns gerade der Startbahn 15. Wir würden einen sogenannten „Abflug vom mittleren Teil der Startbahn“ machen, unsere normale Vorgehensweise. Das bedeutete eigentlich nur, dass wir nicht bis zum weit entfernten Ende der Startbahn rollen mussten. Stattdessen würden wir unseren Terminal-Parkplatz verlassen und von dem Punkt 24


aus starten, wo sich unser Weg mit der Startbahn kreuzte, und nicht die ganze 400 Meter lange Startbahn nutzen, die sich hinter uns befand. Auf diese Weise konnten wir ein bisschen Zeit und Treibstoff sparen. Wir hielten inne, um die Motoren hochlaufen zu lassen und die Vor-Abflug-Checkliste durchzugehen. Gene betätigte die Schalter, überprüfte die Anzeigen. Ich sah ihm dabei zu, wie er die Schritte durchführte, die ich mittlerweile im Schlaf beherrschte. Alle Primär- und Sekundärsysteme überprüft. Chuck sah genau zu, er beobachtete alles. Wenn er beunruhigt war, zeigte er es nicht. Schließlich waren wir bereit zum Abflug. Gene drosselte die Motoren und steuerte das Flugzeug auf die Startbahn im Südosten zu. Durch das Fenster erhaschte ich einen Blick auf eine Boeing 727, die in einer Entfernung von vielleicht 100 Metern über die Startbahn rollte. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Navajo war ein tolles Flugzeug. Aber die 727 stellte sie in den Schatten. Eines Tages werde ich eine davon fliegen, dachte ich, und es war mehr ein Gelübde als ein Gedanke. Vom Kontrollturm knisterte eine Botschaft zu uns herüber. „Navajo Fünf-Null-Yankee, hier ist der Burbank Tower. Sie haben Starterlaubnis, Startbahn Eins-Fünf. Nach dem Start drehen Sie nach rechts, Richtung zwei-vier-null, steigen Sie und halten Sie dreitausend. Die Abflugkontrolle wird bei eins-zwei-vierpunkt-sechs-fünf sein.“ Chuck sprach ins Mikrofon. „Roger. Navajo Fünf-Null-Yankee frei zum Start. Startbahn eins-fünf, Richtung rechts zwei-viernull, steigen und halten dreitausend und zwanzig-vier-sechzigfünf.“ Alle Systeme waren startbereit. Gene schob auf maximale Startleistung und das Flugzeug beschleunigte die Startbahn entlang. Dabei hüpfte es ein wenig auf und ab. Aber das passierte immer. 25


Was normalerweise nicht passierte, war, dass wir uns plötzlich bei ungewöhnlich geringer Geschwindigkeit bereits in der Luft befanden. Zig Fragen rasten durch meinen Kopf und lenkten meinen Blick auf die Skalen. Warum waren wir so früh in der Luft? Aus welchem Grund sollte Gene bei weniger als normaler Fluggeschwindigkeit abheben, obwohl das Flugzeug doch mit Treibstoff und Frachtgut voll beladen war? Ich sagte nichts. Schließlich hatte man mir gesagt, dass Gene ein guter Pilot sei. Außerdem war er doppelt so alt wie ich. Die Motoren ächzten unter dem Gewicht der Maschine und dem fehlenden Auftrieb. Sie schienen nicht mehr im Gleichklang zu arbeiten. Überhaupt nicht. Anstelle der gewohnten Harmonie zwischen den beiden Motoren gaben ihre Drehzahlen ein dissonantes Heulen von sich. Irgendetwas war absolut nicht in Ordnung. Ich wusste es. Chuck wusste es. Gene wusste es. Chuck bellte die Worte, die meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten: „Lass uns auf dem lichten Gelände da drüben notlanden.“ Er zeigte auf einen Friedhof in einigen hundert Metern Entfernung. Ich hielt den Atem an, als der Anblick von einer dichten Wand aus Kiefern die vordere Windschutzscheibe ausfüllte. Wir steigen nicht, sagte ich zu mir selbst. Wir werden über diese Bäume nicht hinwegkommen. Jeder Muskel in meinem Körper erstarrte. Mein Gott, wir stürzen ab! Chuck stürzte sich auf den Schalthebel. Ich wappnete mich für den Aufprall. Ich war 19.

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Joel Ost e en

Ganz einfach

gl端cklich! Warum Sie gerade heute Grund zur Freude haben

Aus dem Englischen von Eva-Maria Nietzke


Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das für dieses Buch verwendete fsc®-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer Papier, St. Pölten, Austria.

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag FaithWords, Hachette Book Group, 237 Park Avenue, New York, NY 10017, unter dem Titel »Every Day a Friday«. This edition published by arrangement with FaithWords, New York, NY, USA. All rights reserved. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. © 2011 by Joel Osteen © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Wenn nicht anders angegeben, wurden die Bibelverse der »Gute Nachricht Bibel« entnommen, © 1997 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816734 isbn 978-3-86591-734-8 Umschlaggestaltung: Björn Steffens Umschlagfotos: Aleksander1, Shutterstock Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany


Dieses Buch ist Victoria, Jonathan und Alexandra gewidmet. Ich habe euch lieb, jeden Einzelnen von euch. Eure Liebe, Freude und Frรถhlichkeit erhellen mein Leben, und ich freue mich jeden Morgen beim Aufwachen auf einen neuen Tag mit euch.



Inhalt Teil 1 Vergeuden Sie Ihre Kraft nicht Kapitel 1  Machen Sie jeden Tag zu einem Freitag

13

Kapitel 2  Vergeuden Sie Ihre Kraft nicht

33

Kapitel 3  Verleihen Sie Ihrer Freude Ausdruck

49

Kapitel 4  Blühen Sie dort, wo Sie gepflanzt wurden

62

Kapitel 5  Genießen Sie die Reise

75

Teil 2 Lernen Sie, was Sie ignorieren sollten Kapitel 6  Alles eine Frage der Perspektive

93

Kapitel 7  Lernen Sie, was Sie ignorieren sollten

105

Kapitel 8  Die Stimme des Anklägers zum Schweigen bringen

122

Kapitel 9  Ein Leben ohne Ausflüchte

134

Kapitel 10  Sie können zuletzt lachen

143


Teil 3 Leben ohne Krücken Kapitel 11  Leben ohne Krücken

155

Kapitel 12  Leben Sie nicht für die Anerkennung der anderen

166

Kapitel 13  Befreiung vom ewigen Wettstreit

175

Kapitel 14  Beziehungen zu den richtigen Personen knüpfen 187

Teil 4 Reisen mit leichtem Gepäck Kapitel 15  Vergeben, um frei zu werden

199

Kapitel 16  Entmutigung überwinden

213

Kapitel 17  Mit unerwarteten Schwierigkeiten fertigwerden 223 Kapitel 18  Sagen Sie Nein zu einer kritischen Haltung

233

Kapitel 19  Mit den Augen der Liebe sehen

245

Teil 5 Lachen Sie oft Kapitel 20  Die heilende Kraft des Lachens

263

Kapitel 21  Lächle, und die Welt lächelt zurück

275


Teil 6 Helfen Sie anderen, ihre Träume zu verwirklichen Kapitel 22  Helfen Sie anderen, erfolgreich zu sein

293

Kapitel 23  Bauen Sie andere auf

306

Kapitel 24  Helfen Sie, andere zu heilen

318

Teil 7 Feiern Sie sich selbst Kapitel 25  Sprechen Sie sich selbst Mut zu

331

Kapitel 26  Die Stimme des Sieges

345

Kapitel 27  Genießen Sie Ihre Segnungen

368

Danksagung

381



Teil 1

Vergeuden Sie Ihre Kraft nicht



Kapitel 1

Machen Sie jeden Tag zu einem Freitag John war 92 Jahre alt und blind, doch als seine Frau Eleanor heimging, war sein Verstand nach wie vor hellwach. Er war sich bewusst, dass er nicht allein leben konnte, also beschloss er, in ein nettes Seniorenheim zu ziehen. Am Morgen des Umzugs war er um acht Uhr fertig. Wie immer sah der bejahrte Gentleman tadellos aus, seine Haare waren ordentlich gekämmt, und sein Gesicht war glatt rasiert. Er wurde von einem Taxi abgeholt und ins Seniorenheim gefahren. John kam, wie es für ihn typisch war, zu früh dort an und musste mehr als eine Stunde warten, bevor eine junge Hilfskraft namens Miranda ihn auf sein Zimmer führte. Während John seine Gehhilfe durch die Flure manövrierte, beschrieb ihm Miranda sein Zimmer in allen Einzelheiten. Sie sagte, dass das Sonnenlicht durch ein großes Fenster in den Raum ströme, es gebe eine bequeme Couch und einen schönen Schreibtisch. John unterbrach ihre Schilderungen: »Ich liebe es. Ich liebe es. Ich liebe es.« Miranda lachte und sagte: »Wir sind doch noch nicht da. Sie haben noch nichts gesehen. Warten Sie eine Minute, und ich zeige Ihnen das Zimmer.« »Nein, Sie brauchen es mir nicht zu zeigen«, erwiderte John. 13


»Ob ich mein Zimmer mag oder nicht, hängt nicht davon ab, wie die Möbel darin aufgestellt sind. Es hängt von meiner inneren Einstellung ab. Glücklich zu sein ist etwas, für das man sich vorab entscheidet.« Der alte, weise John hatte begriffen: Glücklich zu sein ist eine Entscheidung. Wenn Sie morgens aufwachen, können Sie wählen, wie Sie den Tag erleben wollen. Sie können beschließen, gut gelaunt zu sein, oder sich dafür entscheiden, schlechte Laune zu haben.

Entscheiden Sie sich dafür, glücklich zu sein Ich möchte Sie mit diesem Buch dabei unterstützen, dass Sie sich Tag für Tag dafür entscheiden, glücklich zu sein. Mit welchen ­Herausforderungen Sie zu kämpfen haben, welche Umstände Sie auch bedrücken – Sie können entscheiden, wie Sie darauf reagieren. Nur Sie selbst können bestimmen, wie Sie Ihr Leben leben. Es hängt nicht von den Umständen ab. Es hängt von Ihren Ent­ scheidungen ab. Abraham Lincoln sagte dazu treffend: »Die meisten Menschen sind so glücklich, wie sie es sich vorgenommen haben.« Lincoln hätte sich vor diesem Hintergrund bestimmt über das Ergebnis einer kürzlich durchgeführten Studie gefreut, die ­besagt, dass die Menschen freitags 10 Prozent glücklicher sind als an anderen Wochentagen. Wie kommt das? Nun, sie freuen sich auf das bevorstehende Wochenende, und so nehmen sie sich unbewusst vor, glücklicher zu sein. Freitags beschließen die meisten Menschen unwillkürlich, ihr Leben mehr zu genießen. Ich möchte Sie vor die Herausforderung stellen, jeden Tag zu einem Freitag zu machen. Erlauben Sie sich selbst, jeden Tag ganz einfach glücklich zu sein. Nicht nur am Wochenende. Nicht nur bei besonderen Ereignissen. Nicht nur im Urlaub. Wenn Sie die richtige innere Haltung haben, können Sie montags genauso glücklich sein wie freitags. In der Bibel heißt es nicht: 14


»Freitag ist der Tag, den der Herr gemacht hat«, sondern: »Diesen Tag hat der Herr zum Festtag gemacht« (Psalm 118,24). »Diesen Tag«, das bedeutet Montag, Dienstag, Mittwoch und jeden anderen Tag der Woche. Sie können glücklich sein, selbst wenn es regnet, wenn Sie einen langen Arbeitstag haben oder den Abwasch erledigen müssen. Warum beschließen Sie nicht, jeden Tag glücklich zu sein? Es gibt eine englische Abkürzung, die auch der Namensgeber einer Restaurantkette ist: »TGIF – Thank God it’s Friday« – »GsDeiF – Gott sei Dank, es ist Freitag.« Doch eigentlich sollten wir im Deutschen entsprechend sagen: »GsDeiM – Gott sei Dank, es ist Montag.« »GsDeiD – Gott sei Dank, es ist Donnerstag.« »GsDeiS – Gott sei Dank, es ist Sonntag.« Laut einer anderen Studie erleiden Menschen montags häufiger einen Herzanfall als an anderen Wochentagen. Offenbar beschließen viele in gewisser Weise, dass der Montag ein stressiger Tag ist. Sie leiden unter dem Montagmorgen-Syndrom. Doch wenn Sie am Montagmorgen aufwachen, sollten Sie den negativen Gedanken, die an Ihre Tür klopfen, eine Absage erteilen; Gedanken wie: Es wird ein harter Tag und eine lange Woche. Der Verkehr wird schlimm sein. Ich habe schrecklich viel Arbeit auf dem Schreibtisch. Ich wünschte, es wäre Freitag. Lassen Sie solchen Gedanken keinen Raum. Sagen Sie sich stattdessen: »Nein danke. Ich habe dem Tag bereits die Tür geöffnet, und der allmächtige Gott, der Schöpfer des Universums, hat mir persönlich seine Freude geschenkt. Ich weiß, dass dies ein wundervoller Tag werden wird.« Nehmen Sie sich vor, dass es für Sie keinen MontagmorgenBlues geben wird. Sagen Sie sich vielmehr: »Ich kann lächeln. Ich empfinde Freude. Gott schenkt mir seine Gunst. Ich werde meine Woche erfolgreich bewältigen.« Ich weiß, dass manche Tage schwieriger sind als andere. Wenn Sie jedoch Ihre Gedanken auf das Positive ausrichten, brauchen Sie sich nicht mühsam durch solche Tage zu schleppen und ver15


zweifelt auf den Freitag zu warten, um endlich das Leben zu genießen. Der Glaube bezieht sich immer auf den gegenwärtigen Moment. Nehmen Sie doch die folgende Haltung ein: »Ich freue mich, in diesem Moment zu leben. Ich freue mich, heute zu atmen. Ich freue mich über meine Familie, meine Gesundheit und die Möglichkeiten, die sich mir eröffnen. Es gibt so viele Gründe, in diesem Moment glücklich zu sein.«

Sie haben das Recht, glücklich zu sein Wenn man den Verfassern der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung glaubt, so hat unser Schöpfer jedem Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück geschenkt. Selbst der britische Premierminister David Cameron erkannte dies an, als er vor Kurzem vorschlug, jeder Einwohner solle einmal jährlich sein »allgemeines Wohlbefinden« (auf Englisch GWB = general well-being) einschätzen. »Das allgemeine Wohlbefinden kann nicht in Geld gemessen oder auf den Märkten gehandelt werden«, sagte er in einem Interview. »Es geht um die Schönheit unserer Umwelt, die Qualität unserer Kultur und vor allem um die Stärke unserer zwischenmenschlichen Beziehungen.« Ein australischer Forscher fand heraus, dass unsere Lebensziele und Entscheidungen genauso viel oder sogar mehr Einfluss auf unser Glücksempfinden haben als unsere Körperchemie oder unsere genetische Veranlagung. Einer anderen Studie zufolge wird mehr als die Hälfte unseres Glücksempfindens von nichtbiologi­ schen Faktoren bestimmt. 10 Prozent hängen mit den Lebensum­ ständen zusammen und die restlichen 40 Prozent mit den Entscheidungen, die wir treffen. Es ist Ihre Entscheidung, glücklich zu sein. Beschließen Sie, diesen Tag zu genießen, ein gesegnetes, erfolgreiches Jahr zu erleben. Es mag manche Rückschläge geben, und vielleicht verändern sich 16


Ihre Lebensumstände, aber lassen Sie sich dadurch nicht von Ihrer inneren Haltung abbringen. Bleiben Sie bei Ihrer Entscheidung, glücklich zu sein. Nicht das, was Ihnen widerfährt oder was Sie haben beziehungs­ weise nicht haben, ist ausschlaggebend. Entscheidend ist, wie Sie innerlich eingestellt sind und welche Entscheidungen Sie treffen. Als unsere Tochter Alexandra noch ein Baby war und ich morgens zu ihrem Gitterbettchen ging, hüpfte sie voller Vorfreude auf und ab. Wenn ich sie dann herausnahm, schlang sie ihre Arme und Beine um mich und gab mir einen dicken Kuss. Warum war sie so aufgeregt? Sie freute sich einfach auf einen neuen Tag. Sie freute sich, am Leben zu sein und einen neuen Tag zu genießen. Diese Begeisterung hat Gott in jeden von uns hineingelegt. Wir sollten niemals vergessen, jeden Tag freudig zu begrü­ ßen. Doch wenn wir älter werden, passiert es oft, dass wir uns von den Schwierigkeiten des Lebens niederdrücken lassen und die Freude verlieren. Wir müssen uns klarmachen, dass jeder Tag ein Geschenk Got­ tes ist. Wenn der Tag vorbei ist, können wir ihn nicht mehr zu-

rückholen. Wenn wir den Fehler begehen, Entmutigung, Unzufriedenheit oder schlechter Laune Raum zu geben, haben wir den Tag vergeudet. Manche Menschen verschleudern ein Jahr nach dem anderen und sind unglücklich, weil sie sich von jemandem ungerecht behandelt fühlen oder weil sie nicht ihren Willen bekommen oder weil ihre Pläne sich nicht so schnell realisieren lassen, wie sie es sich gewünscht hätten. Ich habe beschlossen, keinen einzigen Tag mehr zu vergeuden. Ich nehme jeden Tag als Geschenk aus Gottes Hand.

Bereiten Sie sich darauf vor, siegreich zu sein Zu Beginn eines neuen Tages stellen wir uns auf Sieg oder auf Niederlage ein. Wenn wir morgens aufwachen, sollten wir unsere Gedanken in die richtige Richtung lenken. Vielleicht fühlen Sie 17


sich entmutigt und deprimiert und denken: Ich habe heute keine Lust, zur Arbeit zu gehen. Oder: Ich will mich nicht um die Kinder kümmern. Oder: Meine Probleme wachsen mir über den Kopf. Wenn Sie den Fehler begehen, solchen Gedanken nachzuhängen, bereiten Sie sich im Grunde innerlich schon auf einen schlimmen Tag vor. Sie lenken Ihren Glauben in eine falsche Richtung. Drehen Sie Ihre Gedanken um 180 Grad: Dies wird ein wundervoller Tag! Mir wird etwas Gutes passieren. Gott hat gute Pläne für mich, und ich darf darauf vertrauen, dass er mir neue Möglichkeiten, göttliche Begegnungen und übernatürliche Durchbrüche schenkt. Wenn Sie diesen Ansatz wählen, öffnen Sie Erfolg, Wachstum und Erneuerung Tür und Tor. Ich stelle mir dann immer vor, dass Gott zu den Engeln spricht: »Habt ihr das gehört? Sie rechnen mit meiner Güte. Sie rechnen damit, erfolgreich zu sein, obwohl die Wirtschaftslage so schlecht ist. Sie rechnen damit, dass es ihnen gut geht, obwohl die Diagnose des Arztes etwas anderes sagt. Sie rechnen damit, dass es ihnen gelingen wird, ihre Träume zu erfül­ len, auch wenn sie im Moment nicht über die nötigen Mittel verfügen.« Wenn Sie jeden Tag voller Vertrauen in das beginnen, was Gott tun kann, und mit etwas Gutem rechnen, dann wird er seinen Engeln befehlen, sich an die Arbeit zu machen und die Umstände zu Ihren Gunsten einzurichten. Er schenkt Ihnen Momente der Ruhe, bringt Sie mit den richtigen Personen zusammen und öffnet die richtigen Türen. So kann Gott wirken und erstaunliche Dinge tun. Manchmal werden Sie deutliche Verbesserungen in Ihrem Leben sehen, wenn Sie nur diese kleine Korrektur vornehmen. Sie werden nicht nur mehr Energie haben, sondern auch eine bessere Grundeinstellung, und Sie werden produktiver sein. Sie werden sehen, wie sich neue Türen öffnen. Sie werden neue Freunde finden. Sie werden einige der Durchbrüche erleben, für die Sie gebetet haben – wenn Sie morgens aufstehen und sich nicht auf Niederlage, sondern auf Sieg einstellen. Rechnen Sie mit Wachstum. Rechnen Sie mit Gottes Gunst. 18


NaNc y Rue

Was f체r

M채dchen coole Tipps zum Frauwerden

aus dem englischen 체bersetzt von Marion achenbach


Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100

Das für dieses Buch verwendete fsc®-zertifizierte Papier Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland.

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Zonderkidz, Grand Rapids, Michigan 49530 USA, unter dem Titel »Body Talk«. All rights reserved.

© 2007 by Nancy Rue

© der deutschen Ausgabe 2013 by Gerth Medien GmbH, Asslar,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Die Bibelstellen wurden der Neues Leben Bibel entnommen. © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

by Hänssler Verlag im SCM Verlag GmbH & Co. KG, Holzgerlingen Bestell-Nr. 816770

isbn 978-3-86591-770-6 Lektorat: Verena Keil

Umschlaggestaltung: Hanni Plato Umschlagfoto: Shutterstock

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Druck und Verarbeitung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany


Inhalt Kapitel 1:  Was geht hier eigentlich vor? . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 2:  Von Brüsten, BHs und   anderem Mädchenkram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Kapitel 3:  Lebenslänglich?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kapitel 4:  Startschuss für Couch-Potatos . . . . . . . . . . . . 75 Kapitel 5:  Rund ums Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kapitel 6:  Wenn es bis zum Himmel stinkt . . . . . . . . . . 123 Kapitel 7:  Die Sache mit den Jungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Kapitel 8:  Gute Entscheidungen treffen . . . . . . . . . . . . . 157 Kapitel 9:  Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177



KAPITEL 1:

Was geht hier eigentlich vor?



C

onny steckte ihre Nase in die Chipstüte. Nicht, weil sie so verrückt nach dem Inhalt war. Keiner sollte merken, dass die anderen Mädchen auf der Pyjamaparty über ein Thema sprachen, von dem sie keinen blassen Schimmer hatte. »Wenn du deine Periode bekommst, ist das echt total schmerzhaft«, erklärte Anna Adams gerade. Was meinte sie nur mit »Periode«? »Hast du deine schon?«, fragte Nina neugierig. Anna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe mich vor einem Monat erst einmal mit BHs eingedeckt und laufe seitdem nicht mehr ohne rum.« Einen BH? Wozu das denn? Conny warf einen verstoh­ lenen Blick über den Rand ihrer Chipstüte und sah zu Anna hinüber. Gütiger Himmel! Die hat tatsächlich schon einen Busen. Wie war das denn so schnell passiert? »Echt? Guck mal, was ich jetzt immer mache.« Sophie zog das Bein ihrer Schlafanzughose hoch und zeigte stolz ihren Unterschenkel. »Alter! Du rasierst dir die Beine?«, staunte Nina. Also, das tat garantiert weh! »Auch unter den Armen«, klärte Sophie sie auf. Sie zuckte gleichgültig mit den Achseln, als sei das das Normalste auf der Welt. Nina und Anna starrten Sophie mit weit aufgerissenen Augen an, als wenn diese plötzlich fünf Jahre älter wäre und ihnen nun gönnerhaft gestat­ tete, sich in ihrer Nähe aufhalten zu dürfen. 9


Was ist mit all den Themen, über die wir uns bei unseren früheren Pyjamapartys unterhalten haben? Über Puppen und Aufkleber und darüber, wie wir am besten einen ­nervigen Jungen mit einer Wasserbombe erschrecken konnten? »Hey, ihr«, rief Conny. Die Freundinnen wandten widerstrebend ihre Blicke von Sophies entblößtem Bein ab. Conny hielt eine Tüte m&m’s hoch. »Will jemand welche?« »Bloß nicht!«, wehrte Anna ab. »Ich bin total fett geworden und mach deshalb gerade eine Diät.« »Aber du bist doch dünn wie ’ne Bohnenstange!«, widersprach Conny erstaunt. »Hallo? Sieh dir das doch mal an!« Anna kniff sich in die Taille. Conny konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. »Ich nehm auch keine«, erklärte Nina und winkte ab. »Jungs stehn nicht auf fette Mädchen.« »Na und?«, wollte Conny gerade erwidern. Doch auch ­Sophie blickte kopfschüttelnd auf die m&m-Tüte und klopfte sich auf den Hintern. Diese Handbewegung schienen Nina und Anna sofort zu verstehen, denn sie nickten einvernehmlich. Conny warf sich eine Handvoll Nüsse in den Mund und war sprachlos. Was um alles in der Welt ging hier vor? Ja, was war eigentlich los? Conny verdrückte die ganze Packung m&m’s allein, während ihre Freundinnen sich bis tief in die Nacht hinein über Bauchkrämpfe und BHs unterhielten, und darüber diskutierten, wie man am besten fünf Kilo an einem Tag abnehmen konnte. Als Conny am nächsten Tag nach Hause kam, stellte sie sich als Erstes prüfend vor den Spiegel. Wow! Es stimmte. Sie hatte tatsächlich Haare an Stellen bekommen, wo sie nie zuvor welche bemerkt hatte. 10


Auf ihrer Brust waren eindeutig zwei kleine Erhebungen zu erkennen. Beim letzten Mal, als sie vor dem Spiegel gestanden hatte – wie lange war das eigentlich her? –, waren ihre Hüften definitiv noch nicht so breit gewesen. Eigentlich hatte sie ihren Körper noch nie so gründlich vor dem Spiegel unter die Lupe genommen wie jetzt. Aber eins stand fest: Das, was sie heute sah, war vorher nicht da gewesen. Und was war das bloß für ein komischer Geruch, der ihr da in die Nase stieg? Conny hob den Arm und schnüffelte. Sie rümpfte an­ gewidert die Nase. »Igitt!« Das Schlimmste stand ihr aber wahrscheinlich noch bevor. Während sie die m&m’s nach Farben sortiert hatte, hatte sie aus den Gesprächen der anderen herausgehört, dass sie bald, irgendwann in naher Zukunft, die gefürchtete »Periode« bekommen würde. Sie wusste immer noch nicht genau, was das war, aber es konnte nichts Gutes bedeuten. Jedenfalls nicht, wenn man sich dabei blamierte, Krämpfe bekam und mit all den anderen Unannehm­ lichkeiten zu kämpfen hatte, von denen ihre Freundinnen gesprochen hatten. Und die hatten es schließlich von anderen gehört. Connys Spiegelbild verschwamm vor ihren Augen, als ihr plötzlich aus unerklärlichen Gründen die Tränen kamen. Normalerweise weinte sie nicht so leicht, aber das hier war schon heftig! Ihr Körper verwandelte sich direkt vor ihren Augen in ein unbekanntes Wesen – und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte.

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