Mein Jahr als biblische Frau - 9783865917539

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Rachel Held Evans

Mein Jahr als

biblische Frau Eine moderne Frau lebt nach biblischen Traditionen und entdeckt 端berraschend Zeitloses

Aus dem Englischen von Antje Balters


Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Oktober: Sanftmut – Nichts für »wilde« Mädchen? . . . . . . 19 November: Häuslichkeit – Marta, Marta . . . . . . . . . . . . . . . 37 Dezember: Gehorsam – Mein Ehemann, mein Herr . . . . . . 53 Januar: Mut – Kann die echte Frau aus Sprüche 31 bitte mal aufstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Februar: Schönheit – Meine Brüste sind wie Türme . . . . . . 93 März: Zucht und Anstand – Kleider machen Leute . . . . . . . 111 April: Reinheit – Die schlechteste Zeit zum Zelten . . . . . . . 125 Mai: Fruchtbarkeit – Computerbabys und heimliche Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Juni: Unterordnung – Veranlagt, sich zu fügen? . . . . . . . . . . 169 Juli: Gerechtigkeit – Esst mehr Meerschweinchen! . . . . . . . 191 August: Schweigen – Ich bin eine Frau, man soll mich nicht hören! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 September: Gnade – Zeit des Staunens. . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Quellenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

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Oktober: Sanftmut Nichts für »wilde« Mädchen? Nicht der äußerliche Schmuck – wie kunstvolle Frisuren, goldene Ketten oder aufwendige Kleidung – soll für euch Frauen wichtig sein. Eure Schönheit soll von innen kommen! Schmückt euch mit Unvergänglichem wie Freundlichkeit und Güte. Das gefällt Gott. 1. Petrus 3,3-4

Diesen Monat: Einen sanften und stillen Geist entwickeln (1. Petrus 3,3-4). Schluss mit Klatsch, Tratsch und Lästern (1. Timotheus 5,13). Eine Knigge-Lektion (Sprüche 11,22). Kontemplatives Gebet einüben (Psalm 131). Ein »Zankschwein« für Benehmen wie die »zänkische Frau« aus den Sprüchen (Sprüche 21,19; 19,13; 27,15). Auf dem Dach Buße tun für zänkisches Verhalten (Sprüche 21,9).

Petrus beschreibt eine gottesfürchtige Frau als eine Frau mit einem »sanften und stillen Geist«. Als ich mit Freundinnen über mein Ziel für den Monat Oktober sprach, nämlich einen sanften und stillen Geist zu entwickeln, da lachten ein paar von ihnen. Gar nicht gemein, sondern auf sympathische, wissende Art und Weise. Das lag zum Teil daran, dass sie mich kannten. 19


Zum Teil aber auch daran, dass viele von uns Gemeindemädels diese Geschichte mit dem »sanften und stillen Geist« schon seit frühester Kindheit eingeimpft bekommen haben. Paulus’ Brief an die Christen in Kleinasien dient oft als Abschreckung: für alle christlichen Mädels, deren lästige Fragen in der Sonntagschule nicht willkommen sind oder deren »wilde Art« ihren Müttern Sorgenfalten auf die Stirn treibt. »Ich bin gespannt, ob du den sanften und stillen Geist schaffst«, schrieb mir eine meiner Leserinnen. »Ich habe es versucht und bin kläglich gescheitert. Aber wahrscheinlich bin ich einfach zu laut, direkt und eigensinnig, um diesem Bild zu entsprechen.« Eine andere schrieb: »Es ist traurig, dass so vielen starken, begabten, mutigen Frauen eingeredet wird, sie müssten diese gesamte starke Seite ihrer Persönlichkeit auf Eis legen, weil sie sonst nicht sanft und still genug sind. Ich erlebe Frauen, die ihren kleinen Teil der Welt durchaus zum Besseren verändern könnten. Doch sie verharren in dieser Pose der Sanftmut und tun gar nichts.« Eine dritte Leserin fügte noch hinzu: »Dieser Vers dudelt ununterbrochen in meinem Kopf, und immer denke ich, ich sei nicht gut genug. Bin ich überhaupt fürs Christsein geschaffen?« Das konnte ich gut nachempfinden. Mein Mann ist geduldig und zurückhaltend. Ich dagegen scheine schon mit tausend Meinungen geboren worden zu sein – und der Begeisterung, diese Meinungen auch kundzutun. Leidenschaftlich, überzeugend und zu Übertreibungen neigend, kommt mir das Informationszeitalter sehr entgegen. Ich blogge, halte Vorträge, schreibe Bücher und twittere. Und ab und zu fragt mich die Nielsen Company, ein Umfrageinstitut mit Sitz in den Niederlanden, oder ein Journalist sogar nach meiner Meinung zu einer bestimmten Frage. Auf der Suche nach mehr biblischen Worten über sanftmütige Frauen schaute ich ins Buch der Sprüche: eine Sammlung weiser Worte, die uns einige der geistreichsten Bemerkungen, Witze, Lobeshymnen und Gedichte über Frauen bescheren. Die Beschäftigung mit dem Weiblichen sollte nicht weiter verwundern. Schließlich hatte der Autor, König Salomo, siebenhundert 20


Frauen und dreihundert Konkubinen! Zu den mitwirkenden weiblichen Charakteren in den Sprüchen gehören unter anderem die tugendhafte Frau, die törichte Frau, die tüchtige Hausfrau, die Frau, für die man sich schämen muss, Frau Klugheit und Frau Dummheit. Häufige Auftritte hat darin auch die sogenannte »zänkische Frau«, die offenbar genau das Gegenteil von einem sanften und stillen Geist darstellt: t »Besser in der Wüste wohnen als bei einer zänkischen und zornigen Frau« (Sprüche 21,19). t »Ein törichter Sohn ist seines Vaters Herzeleid und eine zänkische Frau wie ein ständig triefendes Dach« (Sprüche 19,13). t »Eine zänkische Frau und ein triefendes Dach, wenn’s sehr regnet, lassen sich miteinander vergleichen: wer sie aufhalten will, der will den Wind aufhalten und will Öl mit der Hand fassen« (Sprüche 27,15-16). t »Besser im Winkel auf dem Dach wohnen als mit einer zänkischen Frau zusammen in einem Hause« (Sprüche 21,9). Die zänkische Frau brachte mich auf eine Idee, wie ich vielleicht ein paar von meinen weniger sanftmütigen Angewohnheiten loswerden konnte. Ich beschloss, eine Art Sparschwein einzurichten, in das ich jedes Mal eine Münze stecken musste, wenn ich mich selbst bei einer zänkischen Handlung ertappte. Als zänkisches Verhalten zählte dabei unter anderem auch: Tratschen, Lästern, Nörgeln, Jammern und Klagen, Übertreiben und bissige Bemerkungen. In der Bibel werden bissige Bemerkungen nicht konkret genannt. Aber im Rahmen einer Entscheidung, die ich noch bedauern sollte, fügte ich dieses kleine Laster der Liste als eine Art Dreingabe hinzu. Ich nannte das Ganze mein »Zankschwein«. Außerdem beschloss ich, dass am Monatsende jeder Cent, der in das »Zankschwein« gewandert war, einer Minute entsprach, die ich büßend auf dem Dach verbringen musste. Denn laut dem Buch der Sprüche ähnelt das Leben mit einer zänkischen Frau einem triefenden Dach. 21


Schon nach den ersten paar Tagen waren in dem »Zankschwein« 26 Cent und ein zerknitterter Notizzettel, auf dem ich die einzelnen Übertretungen notiert hatte: 6.10.10: 1 Cent, bissige Bemerkung darüber, dass Dan offenbar mein erstes Gebot zu Kopf gestiegen ist. 7.10.10: 1 Cent, über das »Zankschwein« gejammert. 7.10.10: 1 Cent, über den Selbstversuch allgemein gejammert. 8.10.10: 5 Cent, über negative Kommentare in meinem Blog geschimpft (vier der fünf Laster waren beteiligt). 8.10.10: 1 Cent, Dan angenörgelt, dass er den Müll rausbringen soll. 9.10.10: 1 Cent – mich darüber beschwert, dass Dan völlig willkürlich auch noch das Fluchen auf meine Lasterliste gesetzt hat. Allem Anschein nach machen bissige Bemerkungen einen großen Teil meines Humors aus und bin ich eine Person, die viel jammert. Positiv zu bemerken ist aber auch, dass ich anscheinend gar nicht so viel tratsche und lästere – das ist gut, denn das zu unterlassen, verlangt ja auch das neunte Gebot. Klatsch, Tratsch und üble Nachrede werden in der Bibel als überraschend schwerwiegende Übertretung betrachtet. Sie gehören neben Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit, Neid, Mord, Hader, List, Niedertracht und Gotteslästerung zu den Anklagepunkten, die der Apostel Paulus in Römer 1 gegen die sündhafte Menschheit aufführt. In den Sprüchen gibt es an mehreren Stellen die Warnung vor übler Nachrede. Auch in Paulus’ Briefen an Timotheus geht es oft um die Sorge über Klatsch, Tratsch und Gerede unter Frauen in der Urgemeinde von Ephesus. Paulus schreibt besonders über Frauen in Leitungspositionen: »Ebenso sollen die Diakoninnen vorbildlich leben, keine Klatschmäuler sein, sondern besonnen und in allen Dingen zuverlässig« (1. Timotheus 3,11). Es war im Übrigen die Sünde der üblen Nachrede oder loshon hara (»böses Gerede«), durch die sogar eine der mächtigsten Frauen Israels zu Fall kam: die Prophetin Mirjam, Schwes22


ter des Mose und Leiterin der Anbetung des Volkes Israel. Sie wurde von einer Hautkrankheit befallen, etwas Ähnlichem wie Schuppenflechte, nachdem sie gehässige Bemerkungen über Zippora, die Frau ihres Bruders gemacht hatte, die Kuschiterin war (4. Mose 12,1-16). Wie an dieser Geschichte deutlich wird, brauchte man gar nicht zu lügen, um sich des loshon hara schuldig zu machen. Denn es wurden auch wahre Aussagen als böse betrachtet, wenn sie aus Gehässigkeit oder Boshaftigkeit geäußert wurden. Interessanterweise wurde Mirjams Bruder Aaron nicht bestraft, obwohl er beim Lästern mitgemacht hatte. Laut Talmud bringt loshon hara drei Personen um: diejenige, die redet, diejenige, die das Gesagte hört, und die Person, über die geredet wird. »Umbringen« mag dem modernen Leser vielleicht ein bisschen übertrieben vorkommen. Aber denken Sie nur einmal an all die zerstörten Freundschaften, ruinierten Karrieren und vereitelten Chancen, die durch Lästern und üble Nachrede von Frauen verursacht wurden. Plötzlich scheint diese heftige Sprache durchaus angebracht, nicht wahr? Jedes Mal wenn wir das Klischee bedienen, dass Frauen nicht miteinander auskommen, richten wir Schaden für das Weiterkommen unseres Geschlechts an. Die Komikerin Tina Fey hat das einmal so formuliert: »Sabotage zwischen Mädels ist die drittschlimmste Verhaltensweise von Frauen.«1 Daran musste ich denken, als ich einen Cent in mein »Zankschwein« warf. Gerade hatte ich eine nicht besonders schmeichelhafte Insiderinformation weitergegeben über eine meiner Erzfeindinnen unter den Autorinnen … und dann noch einmal drei Cent dafür, dass ich über die Existenz des »Zankschweins« gejammert hatte. Ich war wild entschlossen, mit meiner »Dachstrafe« unter zwei Stunden zu bleiben. Aber als dann der 1. November auf der 10-Tage-Wettervorhersage auftauchte, da schaute ich nach, ob ich einen Regenschirm brauchen würde. t t t

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Außerdem fing ich an, meinen Kopf beim Gebet zu bedecken, um mein sechstes Gebot (»Du sollst beim Gebet deinen Kopf bedecken«) zu befolgen. Das Gute daran, ein Projekt wie meines im Oktober zu beginnen, ist, dass Kapuzenpullis und -jacken wunderbar als unauffällige Kopfbedeckung dienen können. Man kann 1. Korinther 1,11 bei jeder Mahlzeit und jedem Gottesdienst unauffällig beachten. Die Leute denken sicher, dass einem vielleicht kalt ist, halten einen aber nicht gleich für einen religiösen Freak. Dasselbe gilt für Schals und Mützen. »Aber sollst du nicht eigentlich ohne Unterlass beten?«, fragte meine Schwester Amanda, die anscheinend sogar noch mit 26 eine ewige Sonntagsschul-Streberin war. »Ja, vielleicht solltest du einfach den Kopf immer bedeckt halten«, stimmte Dan ein. »Vielleicht versuche ich das im März beim Thema Anstand«, entgegnete ich. »Du solltest auch darauf achten, koscher zu essen«, sagten manche Freunde. »Du solltest außerdem ein Kloster besuchen, ein Baby bekommen und dir einen Privat-Rabbi besorgen!« Ich war ziemlich sicher, dass Rabbis nicht für einzelne Projekte gebucht werden konnten, und der Sache mit dem Baby hatte Dan gleich von Anfang an einen Riegel vorgeschoben. »Wir werden auf keinen Fall als Teil deines Versuches ein Kind bekommen«, sagte er. »Auf gar keinen Fall!« Aber die lautesten Stimmen kamen von meinem Blog, wo die Leser in Rekordanzahl auf die Ankündigung meines Projektes reagierten. »Das wird geil!« »Du bist verrückt.« »Ich habe einen Knoten im Magen: aus Sorge um dich!« »Weiter so – mach dich nur lustig über Gottes Wort.« »Das hat doch A. J. Jacobs schon gemacht.« »Ich finde, du bist verrückt, aber das sind ja die meisten kreativen Leute.« Man hätte doch meinen sollen, dass ich nach drei Jahren Blog24


Erfahrung eine virtuelle Superkraft entwickelt hätte, zu der unter anderem ein außergewöhnlich dickes Fell gehört. Aber als ich mir jetzt all die Kommentare ansah, da geriet meine Selbstsicherheit dermaßen ins Wanken, dass ich mich seekrank fühlte. Dieser Ansturm von Lob und Kritik löste unglaubliche Selbstzweifel in mir aus. Kurz darauf, es war an einem Dienstagvormittag gegen 10.30 Uhr, fand ich mich heulend unter meiner Bettdecke wieder. Ich jammerte darüber, wie schwer es sei, Autorin zu werden (außer dass wir verrückt sind, haben wir Kreative nämlich auch gern mal unsere Launen …). Für Selbstmitleid blieb mir allerdings nicht viel Zeit. Die unmittelbarste Auswirkung meines neuen »biblischen Frauseins« brachte nämlich ein entsprechendes Tagesprogramm mit sich: Ich musste erst das Bett machen, bevor ich meine E-Mails checkte. Bevor ich bei Facebook surfte oder mich an mein Schreibprojekt setzte, musste ich Dan Frühstück machen und mit der Wäsche fertig sein. Dieser Versuch, das zweite Gebot einzuhalten (»Du sollst dich deinen häuslichen Pflichten widmen«), erforderte eine erhebliche Verschiebung der gewohnten Prioritäten! Und das verwirrte nicht nur mich, sondern auch meinen Mann. Am ersten Morgen des Projektes wachte Dan auf und roch den Duft von Rührei. Da nahm er diese hocherfreute, aber leicht argwöhnische Haltung an, die Männer haben, wenn sie nicht so genau wissen, ob sie sich freuen sollen oder ob die ganze Sache nur eine Falle ist. »Danke, Schatz«, sagte er nach seinem zweiten Glas Orangensaft. »Ich kann ja dann den Abwasch machen.« »Nein, kannst du nicht. Das ist jetzt mein Job«, entgegnete ich. Zweifelnd sah Dan mich an. »Bist du sicher?« »Ja. Glaubst du, die Frau aus Sprüche 31 hat ihren Mann den Abwasch machen lassen? Also geh und entspann dich. Ich räume ab.« Fröhlich wie ein kleiner Junge sprang Dan von seinem Stuhl auf. Und ich stand vor einem Riesenstapel fettiger Teller, die zusammen mit denen vom Vorabend ganz sicher nicht alle in den 25


Geschirrspüler passen würden. In dem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass ein Jahr doch sehr, sehr lang sein kann. t t t

Dans Tagebuch Ich bin es nicht gewohnt, Rachel daran zu erinnern, etwas zum Mittagessen zu machen, aber gerade eben hatten wir ein Gespräch, das ungefähr so ging: ICH : Kannst du mir eine Kleinigkeit zum Mittag machen? RACHEL : Okay. Kannst du das Bild für mein Blog bear-

beiten? ICH : Moment mal. Sagst du mir da etwa gerade, was ich tun soll? RACHEL (lächelnd): Na ja, du sagst mir ja auch, was ich tun soll. ICH (lächelnd): Ja, aber ist das denn nicht genau das, wozu du dich bereit erklärt hast? Danach sagten wir beide eine Weile nichts. RACHEL : Okay, ich mache dir was zu essen; aber würde

es dir etwas ausmachen, wenn ich mir erst noch die Haare föhne? (Sie hatte die nassen Haare in einen Handtuchturban gewickelt, und das schon seit mindestens einer halben Stunde). ICH (im halb ernsten Tonfall): Also ich weiß ja nicht; verspäteter Gehorsam ist doch eigentlich Ungehorsam, oder? Rachel stand auf, um mir etwas zu essen zu machen. Wow. Dieses Gespräch oder etwas Ähnliches hätte vor dem Start des Projektes niemals stattgefunden. Uns war

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beiden klar, dass dieser ganze Dialog mit einem Augenzwinkern stattgefunden hatte. Trotzdem fühlte ich mich nicht gut dabei. Schließlich habe ich Rachel ja nicht geheiratet, weil ich jemanden zum Essenmachen brauche. Sie hat mir irgendwann erzählt, dass es mit einem »Bad Hair Day« endet, wenn sie ihr Haar zu lange in einem Handtuchturban trocknen lässt … ich werde ihr sagen, dass sie erst ihr Haar föhnen kann.

t t t Eine schöne Frau ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Ring durch die Nase. Sprüche 11,22

Natürlich kam ich zu meinem Benimmkurs zu spät. Als ich endlich mit meinem kleinen knatternden Auto in der feinen Wohngegend ankam, in der Flora Mainord lebt, war es bereits 17 Uhr. Eigentlich waren wir um 16.30 Uhr verabredet gewesen. Aber nachdem ich von der Schnellstraße abgefahren war, zuckelte ich den Rest des Weges hinter einem Schulbus her. Kurz vorm Ziel bog ich falsch ab und irrte in einem Labyrinth von Straßen herum, deren Namen alle etwas mit Wasser zu tun hatten. Und ich musste ganz dringend aufs Klo! Es schien Flora nichts auszumachen, dass ich zu spät kam. Flora war eine große Frau mittleren Alters mit dunklem Haar und olivfarbenem Teint. Sie trug ein schwarzes Top, eine schwarze Hose und Kaskaden glitzernden Schmucks um den Hals. Ihr Haus war dekoriert wie ein Palast. Überall standen Kristall- und Porzellangefäße in alten Vitrinen. Rechts vom Entree lag ein sehr förmlich wirkendes Speisezimmer, in dem für ein Fünf-GängeMenü gedeckt war. Auf der linken Seite befand sich das Wohnzimmer, von wo aus ich im Hintergrund die Stimme von Maria Carey zu hören glaubte. Ich fragte mich, wo Flora zwischen all 27


den feinen Möbeln, den Seidenkissen und den Familienerbstücken wohl ihren Mann ließ. »Möchten Sie sich vielleicht erst noch ein bisschen frisch machen im Bad oben?«, fragte sie. Oh ja! Im Internet hatte ich nach einer Benimmtrainerin gesucht. Denn ich dachte, so ein Kurs würde vielleicht meine Ecken und Kanten ein wenig glätten. So könnte ich mich dem sanften stillen Geist, von dem Petrus schreibt, ein bisschen mehr annähern. Aber heutzutage sind zertifizierte Benimmtrainer ungefähr genauso schwer aufzutun wie Privat-Rabbis. Also musste ich eine zweistündige Autofahrt in Kauf nehmen zwecks eines PrivatBenimmkurses zu den Themen: offizielles Essen, angemessenes Verhalten beim Vorstellen, Gesprächstraining, Manieren, Verfassen von Dankeskarten und Einladungen, Erscheinungsbild und Benehmen im Geschäftsleben. Flora wurde sehr empfohlen und hatte einen interessanten Werdegang aufzuweisen: Schönheitskönigin, Wettermoderatorin, Modeberaterin, Unternehmerin, Benimmexpertin. In dem Bad im ersten Obergeschoss gab es ein schickes Sofa, das mich ein bisschen aus der Bahn warf, genauso wie die Reihe zarter weißer Handtücher, die auf dem Waschbecken lagen. Weil ich nicht so genau wusste, welches davon ich benutzen sollte, wischte ich mir die Hände an meinem Rock ab. Echt stilvoll, Rachel! Den Anfang des Kurses machte eine Übersicht über Floras Bibliothek mit Benimmliteratur, zu der unter anderem auch ein paar reizende Erstausgaben von Emily Post sowie einige signierte Ausgaben der Klassiker von Letitia Baldrige gehörten. Ich riss ein paar selbstironische Witze über meine Schusseligkeit. (Das machen meine Mutter und ich nämlich immer, wenn wir nervös sind.) Aber Floras pummelige Bäckchen blieben in einem Lächeln erstarrt, das wie festgetackert wirkte. Immer wieder hielt sie inne, um mich erst ausreden zu lassen und dann ihre Lieblingszeilen aus dem Buch laut vorzulesen: »Das optimale Gespräch muss ein Austausch von Gedanken sein und nicht, wie 28


so viele glauben, die sich am meisten Sorgen über ihre Unzulänglichkeiten machen, eine eloquente Zurschaustellung von Scharfsinn oder Redekunst.« »Die Eigenschaften einer großen Dame sind immer noch in der Regel der vier S zu finden: Seriosität, Schlichtheit, Sensibilität und Stille.« Dann begaben wir uns in das Speisezimmer, wo Flora kunstvoll zwei Gedecke arrangiert hatte. Eines mit einer Tischkarte, auf der mein Name stand, und eines mit einer Tischkarte mit ihrem Namen. Ich war insgesamt mit fünf Gabeln, vier Messern, drei Tellern, zwei Löffeln und einer Armada von Gläsern konfrontiert: bestehend aus einem Wasserglas, einer Champagnerflöte, einem Weißweinglas, einem Rotweinglas und einem Sherryglas. Ich hatte ja keine Ahnung, dass reiche Leute so viel Alkohol trinken. Flora erklärte mir ruhig und gelassen jeden Gegenstand auf dem Tisch und erinnerte mich immer wieder daran, auf meine Haltung zu achten und mein Essen zum Mund zu führen statt umgekehrt. »Sind Sie jetzt vertraut mit dem kontinentalen Speisestil?«, fragte sie, nachdem sie mir ein Krabbenküchlein als Appetizer gebracht hatte. »Wahrscheinlich meinen Sie damit etwas anderes als das Frühstück im Hampton Inn, das im Preis enthalten ist, oder?« Dieses Mal wurde ich mit einem perlenden Lachen belohnt, und schon bald saßen wir bei einem ganz ungezwungenen, netten von Flora selbst zubereiteten Essen. Besonders gut gefiel mir an Floras Unterrichtsstil, wie sie kleine Anekdoten und historische Details einflocht. So hielt etwa ein Gast bei einem Staatsbankett von Eleanor Roosevelt die Fingerschale irrtümlich für ein Getränk und trank daraus. Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm daraufhin Mrs Roosevelt ebenfalls ihre Fingerschale und trank daraus wie der Gast. Nach Floras Einschätzung ist das der Inbegriff guten Benehmens. »Es geht gar nicht darum, alles richtig zu machen, sondern um 29


grundsätzlichen menschlichen Anstand. Es geht letztlich darum, den anderen über sich selbst zu stellen.« Nach einem zweiten Glas Champagner hatte ich außerdem gelernt, wie man sich die Serviette richtig auf den Schoß legt (mit den Kniffen zum Tisch), wie man eine Dankeskarte schreibt (innerhalb einer Woche, nachdem man ein Geschenk bekommen hat) und wie man ein Kompliment annimmt (ohne es mit gespielter Bescheidenheit abzutun). Am Ende des Tages saß ich gerade, hielt Blickkontakt und konnte Komplimente annehmen wie ein Profi. Aber hatte ich dadurch jetzt einen sanften und stillen Geist bekommen? Der Lastwagenfahrer, der mich auf dem Heimweg beim Überholen schnitt, hätte das wahrscheinlich vehement verneint. Er kostete mich 5 Cent. t t t Erlöse mich von geistlicher Furchtsamkeit und vor Ungestüm … Von aller Unachtsamkeit in meinem Verhalten erlöse mich, oh Herr. Aus Gertrudes vierter geistlicher Übung

Gegen Ende Oktober, als die Berge in meiner Heimatstadt in einem letzten strahlenden Rot aufleuchteten, wurde mir klar, dass mein »Zankschwein« irgendwie nicht richtig funktionierte. Sicher, ein paar schlechte Angewohnheiten war ich losgeworden: Ich jammerte nicht mehr so viel, hörte besser zu, und es gelang mir richtig gut, das Thema zu wechseln, wenn gelästert oder getratscht wurde. Einmal hatte ich es sogar geschafft, einen ganzen Tag lang keinen einzigen Cent ins Schwein stecken zu müssen, aber innerlich war ich nicht ruhiger geworden. Mein Geist blieb rastlos. Auf meinem Blog sammelten sich weiterhin endlos Kommentare und E-Mails zu meinem Projekt. Schon bald war mir klar: Die auf Reaktionen basierende Kultur von Facebook, Twitter 30


und Co. können jemanden wie mich in eine Ein-Mann-FreakShow verwandeln. Positive Kritik katapultierte mich in schwindelerregende Höhen, während negative Kommentare eine Abwehrhaltung bewirkten und mich manchmal auch richtig wütend machten. Ich fand es furchtbar, dass Leute, die ich noch nicht einmal kannte, mich dermaßen beeinflussen konnten! Ein einzelner Kommentar von »Anon1« oder »MilwaukeeDad« war in der Lage, mir schlaflose Nächte zu bereiten! Anhänger des kontemplativen Gebets lehren, dass der Schlüssel zur Gelassenheit darin besteht, einen unbeständigen Geist zu beherrschen. In Sprüche 16,32 heißt es: »Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte gewinnt.« In unserer immer stärker fragmentierten, unablässig lärmenden Welt erfordert die Suche nach intensivem Leben und Denken konzentrierte Schritte der Selbstkontrolle. Geerdet zu sein heißt, Wurzeln zu entwickeln. In einem letzten verzweifelten Versuch, doch noch meinen nicht besonders sanften und stillen Geist in den Griff zu bekommen, beschloss ich, endlich etwas zu tun, was ich schon seit Langem vor hatte: Ich wollte mich mit dem kontemplativen Gebet beschäftigen. Nun ist es in aller Regel so, dass wir Evangelikalen vor allem Mystischen und auch vor der Meditation zurückschrecken. Denn diese Praktiken hören sich zu passiv und zu sehr nach Innenschau an für unser von Aktionismus getriebenes religiöses Empfinden. Doch ich wollte es dennoch mit einem etwas strukturierteren Gebet versuchen. Ein wenig hatte ich bereits über die Lectio Divina recherchiert und über das Gebet der Sammlung, und ich beschloss, genau damit zu beginnen. Die Lectio Divina oder »göttliche Lesung« hat eigentlich mit Lesen gar nichts zu tun. Es geht dabei viel mehr ums Zuhören. Sich dem Text so anzunähern wie einem Altar und Gott einzuladen, selbst in den Worten des Textes zu sein und sich so zu zeigen. Es gibt dabei unterschiedliche Vorgehensweisen. Aber in der Regel beginnt eine Lectio Divina damit, dass man 31


einen Bibelabschnitt langsam durchliest und sich alle Wörter oder Bilder aufschreibt, die die Seele berühren. Danach folgt eine Phase der stillen Meditation und danach wird derselbe Abschnitt noch einmal gelesen. Dieser Ablauf kann beliebig oft wiederholt werden. Die Methode wird manchmal mit einer Mahlzeit verglichen: Man labt sich an den Worten Gottes, indem man erst einen Bissen nimmt (Lesen), diesen kaut (Meditation), dann schmeckt (Gebet) und ihn schließlich verdaut (Kontemplation). Der Gedanke dahinter ist, jede Feinheit, jedes »Aroma« des Textes »herauszuschmecken« und sich dann daran zu freuen. Ganz ähnlich hilft auch das Sammlungsgebet dabei, den Geist ruhig werden zu lassen, damit die Wahrheit ihre Wirkung darin hinterlassen kann. Im Sammlungsgebet sucht man sich ein heiliges Wort oder einen Bibelvers aus und konzentriert sich intensiv darauf. Das dient als eine Art Ausgangspunkt, als ein Anker, zu dem man zurückkehren kann, wenn die Meditation durch Ablenkung gestört wird. Das Ziel dieser Übung besteht letztlich darin, über alle Gedanken, Bilder und Wahrnehmungen hinauszugelangen, um einfach in der Realität zur Ruhe zu kommen, die jenseits von Worten liegt. Diese Methode wird schon seit Jahrhunderten von Christen praktiziert, besonders in den orthodoxen Gemeinden im Osten. Ich beschloss, eine Woche lang jeden Morgen kontemplatives Gebet zu praktizieren und dabei das Wort »Frieden« als das Wort der Sammlung zu verwenden sowie Auszüge aus den Psalmen und den Sprüchen als Lectio Divina. Ich brachte noch ein paar Atemübungen mit ein, die mir halfen, mich zu konzentrieren, und beschloss, jede Sitzung mit einer Meditation von Teresa von Avila abzuschließen, der legendären spanischen Kirchenlehrerin: Lass dich nicht ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles geht vorüber. Gott allein bleibt derselbe. Wer Gott hat, hat alles. Gott allein genügt. 32


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