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Gilgenmann: Lebenslang Lernen Klaus Gilgenmann:

Lebenslang Lernen - warum Menschen es immer schon konnten, aber erst in der modernen Gesellschaft auch dürfen und sollen „Im Sozialen geschieht alles als Erfindung und Nachahmung, wobei die Nachahmungen die Flüsse bilden und die Erfindungen die Berge.“ Gabriel Tarde, 1890

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auch von Solchen, die den Spielraum kultureller Evolution biologisch eng determiniert sehen3, zugunsten von Theorieansätzen, die im Rahmen von Mehrebenen-Selektion (Sober/Wilson 1998) und Gen-Kultur-Koevolution (Richerson/Boyd 2005) argumentieren. Im Folgenden wird vorgeschlagen, die Entwicklung des menschlichen Lernvermögens durch eine zweistufige Transformation zu erklären, in der der Selektionsdruck der natürlichen Umwelt aufgefangen und verlagert wird in die soziale Binnenumwelt der Individuen und in deren psychische Innenwelt. Die Internalisierung äußeren Selektionsdrucks verläuft parallel zur Externalisierung menschlichen Handelns und Erlebens durch technische Naturbeherrschung und Organisation der sozialen Lebenswelt. Beides zusammen bedingt und ermöglicht in der modernen Gesellschaft eine in der kulturellen Evolution bisher nicht da gewesene Freisetzung natürlichen Lernpotenzials. Dennoch bleibt der Umgang mit diesem Potenzial ambivalent: Einerseits wird das Lernen in nie gekanntem Maße postuliert und gefeiert, andererseits werden seine institutionellen Voraussetzungen zunehmendem Druck ausgesetzt.

1. Beschränkungen des Lernens als Bedingungen der Evolution

2. Lebenslang Lernen als pädagogisches Projekt der Moderne

Warum befällt viele Menschen ein Unbehagen angesichts der Forderung nach lebenslangem Lernen? Liegt es daran, dass sie nicht so viel lernen wollen? Oder liegt es am falschen Pathos, mit dem in der Politik darüber gesprochen wird? Ich vermute, es liegt daran, dass die Formel vom lebenslangen Lernen mit der Schule verknüpft ist. Denn dass sie nicht aufhören können, zu lernen, haben die Menschen ja längst gelernt. Dass sie aber ein Leben lang die Schulbank drücken sollen, wirkt wie eine Strafandrohung. Und dennoch trifft die Assoziation zu: Es geht nicht um irgendein Lernen, sondern um organisiertes Lernen, um jene Übungspraktiken, die als gezielte Steigerungsmittel der kulturellen Tradition – zunächst nur für Oberschichten und erst in jüngster Zeit für alle – im Gebrauch sind. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte es zur Würde des Menschen (seines Erwachsenseins), dass der Einsatz dieser Praktiken auf bestimmte Lebensphasen begrenzt war. Dies soll nun überholt sein.

Die Freisetzung menschlichen Lernens in der modernen Gesellschaft wird als eine hervorragende, aber auch riskante Errungenschaft angesehen, weil die kulturelle Evolution in ihrem bisherigen Verlauf weitgehend auf Beschränkungen dieses Potenzials beruhte. In den einschlägigen Verlautbarungen der Europäischen Gemeinschaft4 verheißt die Formel vom lebenslangen Lernen ein erfolgreiches Leben in einer Gesellschaft, die – ohne genauer zu sagen, was daran neu sein soll – als Wissensgesellschaft bezeichnet wird. Kritiker dieser Programme behaupten, dass sie den Geist der europäischen Bildungstradition längst verraten und für wirtschaftliche Interessen instrumentalisiert hätten.5 Eine solche Kritik greift jedoch zu kurz.6 Sie verkennt die evolutionäre Dimension dieser Programme, deren Propagierung durchaus einen Einschnitt im Umgang mit dem natürlichen Lernpotenzial menschlicher Individuen markiert – zugleich aber tiefer liegende Probleme verdeckt.

Es gehört zum Selbstverständnis der modernen Gesellschaft, das menschliche Lernen theoretisch entdeckt und praktisch neu erfunden zu haben. Die Formel vom lebenslangen Lernen ist ein gesteigerter Ausdruck dieser Vorstellungen. Im Gegensatz dazu stehen natur- und kulturhistorische Untersuchungen, die zum einen zeigen, dass lebenslanges Lernen in den natürlichen Ausgangsbedingungen der menschlichen Art bereits angelegt ist, und zum anderen, dass das menschliche Lernen in den historischen Sozialformen des Menschen vielfältigen Beschränkungen unterworfen ist. Mehr oder weniger für alle Lebewesen gilt, dass es unmöglich ist, nicht zu lernen. Es gilt aber auch, dass es nicht möglich ist, ohne Einschränkungen zu lernen. Das menschliche Lernvermögen ist nicht nur von Natur aus, sondern mehr noch von Kultur aus beschränkt. Diese Beschränkungen sollen im Folgenden als Bedingungen seiner Evolution betrachtet werden. Ihre Funktion innerhalb der menschlichen Kultur lässt sich durch Beobachtung des Umstands erschließen, dass Beschränkungen in sozialen Umwelten nicht nur selektiv, sondern zugleich als Schutzschirm vor dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt und kulturelle Sozialsysteme als Treibhäuser evolutionär unwahrscheinlicher Errungenschaften wirken.

Die Forderung nach lebenslangem Lernen ist Teil eines kulturellen Steigerungsprogramms, das Populationen menschlicher Individuen seit mehr als dreitausend Jahren überwiegend in der Form religiöser Übungen beschäftigt hat.7 Es wird unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft in säkularisierter Form als pädagogisches Programm mit dem Versprechen eines besseren Lebens im Diesseits fortgeführt. Die allgemeine Schulpflicht macht auch gegenüber Ungläubigen deutlich, dass es sich hier um ein Angebot handelt, das man nicht ablehnen kann. Am Anfang des pädagogischen Projekts der Moderne stand die Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert. Lange Zeit hatte man gedacht, die besondere Bildsamkeit des Menschen sei beschränkt auf die frühen Lebensjahre – je früher, desto offener und riskanter das Lernen. Dass es sich dabei nur um Ausläufer eines noch nicht erschlossenen Lerngebirges handelt, ist erst im 20. Jahrhundert als Nebenprodukt der Hirnforschung bekannt geworden.8

Es geht in der folgenden Skizze vor allem um diese kulturevolutionäre Dimension.1 Im Lernen von Anderen, also sozialem Lernen, wird häufig der Kern dessen gesehen, was die menschlichen Lebensformen von der anderer Lebewesen unterscheidet. Zu fragen ist dann, wie es überhaupt möglich war, dass diese Form des Lernens sich herausgebildet hat, und insbesondere, wie es zu der unwahrscheinlichen Steigerung in der heutigen Lebenswelt gekommen ist. In dieser Hinsicht entfernt sich der hier skizzierte Ansatz sowohl von Theorien, die sich für die natürlichen Voraussetzungen kultureller Phänomene gar nicht interessieren2, wie

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Daher ist einschränkend zu sagen, dass hier weder biologisch-psychologische Aspekte des Lernens – vgl. Oerter in diesem Band - noch pädagogisch-didaktische Aspekte im engeren Sinne – vgl. Scholl und Schwarz in diesem Band - ausführlich behandelt werden. 2 Ich beziehe mich damit auf kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien, die Darwinsche Begriffe nur im Analogieverfahren auf ihre Gegenstände beziehen.

Grundlage der folgenden Argumentation ist die Unterscheidung von zwei Arten (situativ und sozial) und drei Antriebsformen (intern/extern/reflexiv) des Lernens: Spontanes, intern motiviertes Lernen, zur Erweiterung gegebener kognitiver Strukturen führt, Lernen an externen

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Ich beziehe mich damit auf biologische und psychologische Evolutionstheorien, die Adaptationen nur auf der Ebene individueller Organismen erkennen und Individuen als Vehikel ihrer Gene betrachten. S. http://www.lebenslanges-lernen.eu/ 5 Vgl. Dewe/Weber 2007, und ähnlich, aber sorgfältiger vor dem Hintergrund des deutschen Bildungsbegriffs argumentiert, Sandkuhlen 2009. 6 Es ist ein unreflektierter Ausdruck des im Folgenden skizzierten Freisetzungsprozesses natürlicher Dispositionen in der Moderne, wenn die Forderung nach lebenslangem Lernen als Bedrohung der Autonomie der Individuen wahrgenommen wird. 7 Zur Interpretation der Religionen als Übungssysteme s. Sloterdijk 2009 - unter Hintanstellung der in soziologischer Sicht vorrangigen Stabilisierungsfunktion für extendierte Sozialsysteme. 8 Für eine plastische Darstellung der Neuentdeckungen der Gehirnforschung s. Doidge, 2008, mit Bezug auf Evolutionäre Pädagogik s. auch Singer 2006: „Over the past years evidence has become available that in a few distinct brain regions, parts of the hippocampus and the olfactory bulb, neurons continue to be generated throughout life, and these neurons form new connections and become integrated in existing circuitry (Kempermann et al. 1997 for review)”. 4


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Widerständen oder Vorgaben, zur Reduktion und Schließung kognitiver Strukturen und Reflexionslernen, das zur Regeneration der Offenheit kognitiver Strukturen führt.9

Motivation / Steuerung intern extern reflexiv

Situatives Lernen Erfindung / Entdeckung Erfolg Misserfolg situative Korrektur

Soziales Lernen Nachahmung / Wiederholung Imitation Instruktion soziale Korrektur

Individuelles Wissen Erweiterung Beschränkung Erweiterung durch Beschränkung

Die Weitergabe kultureller Wissensvorräte von Generation zu Generation impliziert soziales Lernen in dem basalen Sinne, dass etwas nachgeahmt und repliziert wird, das einmal von Anderen, Älteren, Vorfahren lebensgeschichtlich erlernt worden ist. Dieses kulturspezifische Moment des Lernens wird heute für so selbstverständlich gehalten, dass es oft gar nicht mehr bemerkt wird.10 Als weniger selbstverständlich - und daher besser erkennbar – erscheint dagegen das Lernen von Fremden, fremden Personen bzw. fremden Kulturen – ein Lernen, das nicht bloß zur Replikation der eigenen Kultur, sondern zu deren Erweiterung oder Veränderung beiträgt. Ähnliches gilt für die organisierten Lernprozesse in der Schule. Auch hier handelt es sich um Fremdes in dem Sinne, dass es nicht im Rahmen genetisch ererbter oder vorschulischsozialer Prozesse, sondern nur in einem methodisch-systematisch erweiterten Rahmen erlernt werden kann. Aus dem Umstand, dass das schulische Lernen ungewöhnliche Anstrengungen verlangt, ist gefolgert worden, dass es um die Überwindung einer Kluft zwischen den durch Adaptation in Steinzeitgesellschaften erworbenen Erkennungsmustern und den kognitiven Anforderungen komplexer Gesellschaften gehe.11 Es ist jedoch fraglich, ob eine solche kognitive Kluft überhaupt besteht. Wenn das Problem in der natürlichen Beschränktheit des menschlichen Lernverhaltens bestünde, müsste dessen Lösung – wie in einem Nullsummenspiel – allein der Kultur zugerechnet werden.12 Aber schon die Beobachtung frühkindlicher Entwicklung zeigt, dass die Offenheit und Variationsbreite der Individuen viel größer ist als die jeweilige soziale Umwelt zulässt. Das Andere und Fremde hat immer schon die natürliche Neugier fasziniert – so sehr, dass es zum Problem für die kulturelle Ordnung wird. Das häufig wie ein Naturgesetz interpretierte Verhaltensmuster „Imitiere die Erfolgreichen!“ ist selbst schon ein kultureller Imperativ, der die natürliche – durch Sexualität und Reifungsverzögerung ermöglichte – Variation und Wissbegierde zugunsten des Erhalts sozialer Ordnung beschränkt. Was für den einzelnen Erfolg versprechend ist, kann sich auf der Ebene seines Sozialsystems leicht als desaströs herausstellen. Der wichtigste Nebeneffekt des Konformismus der Nachahmung besteht in der Reduktion von Varianz innerhalb und der Stabilisierung von Differenzen zwischen kulturellen Sozialsystemen (Richerson/Boyd 2005, S.162).

9 Mit Reflexionslernen ist hier zunächst nur der gedächtnisgestützte Vergleich vergangener Erfahrungen mit aktuellen Wahrnehmungen gemeint, der anpassungsorientierte Verhaltensvariation ermöglicht. Es ist offenkundig, dass dieses Potenzial von der Verfügbarkeit sprachlicher Symbole abhängt und mit der Verfügbarkeit externer Speicher für vergangene Erfahrungen wachsen kann. In der Dimension des sozialen Lernens - also dem Lernen durch Nachahmung - macht dies das entscheidende Steigerungspotenzial aus. 10 S. dazu schon Tarde 1890 (2003). Allerdings zollt auch der Theoretiker der Nachahmung dem modernen Zeitgeist Tribut, wenn er den Primat bei Entdeckungen und Erfindungen ansetzt. 11 Eine solche Deutung von Anpassungsproblemen der menschlichen Kognition an moderne Lebensumstände wird nahegelegt durch die Dominanz der molekulargenetischen Perspektive in der neodarwinistischen Theorie und die entsprechende Focussierung auf kontentspezifische Lernmuster in der Evolutionären Psychologie. Entsprechende Formulierungen finden sich auch in der Evolutionären Pädagogik z. B. bei Scheunpflug 2001, S. 156. Dagegen bei Richerson und Boyd der Vorschlag, die Erklärung von Anpassungsproblemen mit der „Big Mistake“-Hypothese durch die auf Gruppenselektion rekurrierende Theorie der Gen-Kultur-Koevolution zu ersetzen (2005, S. 188ff). 12 Eine solche Zurechnung, die auf der dichotomen Gegenüberstellung von Natur und Kultur basiert, wird im antinaturalistischen Mainstream der Kultur- und Sozialwissenschaften aufgemacht.

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3. Lebenslang Lernen als evolutionäres Programm Trotz oder wegen der Hochschätzung, die dem Lernen in der modernen Gesellschaft entgegengebracht wird, gibt es in der wissenschaftlichen Literatur wenig Konsens darüber, was darunter zu verstehen sei. Die Auseinandersetzung darüber kann hier nicht nachgezeichnet, sondern nur in ihrer Polarisierung grob charakterisiert werden. Auf der einen Seite stehen – vor allem in den Kultur-und Sozialwissenschaften – fast uneingeschränkte Plastizitätsannahmen, die die Frage nach den organischen Voraussetzungen solcher Plastizität gar nicht erst aufkommen lassen.13 Auf der anderen Seite stehen – vor allem in den Natur- und Lebenswissenschaften – Annahmen über die genetische Determiniertheit menschlichen Verhaltens und seiner organischen Grundlagen14, die mit der tatsächlichen Vielfalt kultureller Erscheinungsformen nur schwer zu vereinbaren sind. Um die Polarisierung und wechselseitige Blockierung der Deutungsmuster zu überwinden, soll im Folgenden – im Anschluss an Theorien der Koevolution natürlicher und kultureller Sozialsysteme – zwischen drei Arten des Lernens unterschieden werden, die kausal unabhängig voneinander und kombiniert vorkommen.15 In evolutionsbiologischer Perspektive ist Lernen ein Potenzial, das allen Lebewesen zur Verfügung steht, um sich ihrer jeweiligen Umwelt anpassen und dadurch überleben zu können.16 Der evolutionäre Prozess besteht ja nicht bloß aus der Selektion abweichender Gen-Automaten, sondern setzt in ihrer jeweiligen Umwelt selbstständig operierende Lebewesen voraus. Der Wandel der Arten, der dadurch zustande kommt, dass (mehr) Lebewesen mit abweichenden Eigenschaften überleben, schließt Viele ein, die nur deshalb überleben, weil sie gelernt haben, sich aktiv an ihre Umweltbedingungen anzupassen.17 Die Besonderheit der menschlichen Art ist zunächst darin zu sehen, dass diese Aktivität – mehr als bei allen anderen Lebewesen – Techniken der Nischenkonstruktion18 einschließt, mit der sie äußeren Selektionsdruck verringern.19 13

Vertreter der Evolutionären Psychologie haben dem Mainstream der kultur- und sozialwissenschaftlichen Literatur unbeschränkte Plastizitätsannahmen vorgeworfen und dagegen die These spezieller Adaptationen (kontentspezifischer Module) beim Menschen aufgestellt (Tooby/Cosmides 1992). Erhebliche Einwände dagegen bei Buller (2004, S. 195ff). Ergebnisse der neueren Gehirnforschung stützen eher die Annahme eines hohen Maßes an neuronaler Plastizität. S. dazu zusammenfassend Doidge 2008. Hier wird zugleich deutlich, dass diese Plastizität mit einem hohen Maß an Verwundbarkeit einhergeht. 14 Dazu Doidge, 2008 S. 9: „Vierhundert Jahre lang galt allein der Gedanke an Modifizierungen des Gehirns als völlig unvorstellbar, denn die gängige Lehre der Medizin und der Neurowissenschaften behauptete, die Anatomie des Gehirns sei fest vorgegeben. Nach Abschluss des Entwicklungsprozesses in der Kindheit sei nur noch eine einzige Veränderung möglich: der schleichende Verfall. Wenn Gehirnzellen sich nicht richtig entwickelten, wenn sie verletzt wurden oder abstarben, sollten sie demnach nicht ersetzt werden können. Das Gehirn könne seine Struktur nicht abwandeln oder neue Funktionen entwickeln, wenn ein Teil beschädigt sei.“ 15 In evolutionsbiologischer Perspektive lassen sich natürlich mehr Typen des Lernens konstruieren. In der vergleichenden Verhaltenslehre von Konrad Lorenz sind es allein neun für den außermenschlichen Bereich (Lorenz 1978). In anderen Beiträgen zu einer evolutionstheoretisch orientierten Pädagogik werden fünf Lernarten unterschieden: Prägung, Gewöhnung, Erfahrung, Nachahmung und Instruktion (Scheunpflug 2001 47ff.) Mit der Beschränkung auf drei Typen geht es mir im Folgenden v.a. darum, die Steigerungsmöglichkeiten herauszustellen, die sich aus der Rekombination methodischen Übens mit dem natürlichen Lernpotenzial ergeben. Eine ähnliche These zur Kombination verschiedener Typen der Intelligenz in der kulturellen Evolution findet sich bei Doidge (2008) S. 356 FN 14 mit Bezug auf Ausführungen des kognitiven Archäologen Steven Mithen über drei genetisch vererbte Intelligenz-Module beim Menschen. 16 Die Möglichkeit der phänotypischen Anpassung des einzelnen Organismus kommt bereits bei den einfachsten biologischen Systemen vor, sogar bei Bakterien, aber erst die Entwicklung des Zentralnervensystems hat die Evolution adaptiver phänotypischer Reaktionen und Verhaltensweisen in großem Umfang möglich gemacht. Zur Evolution des Lernens von einfachsten Organismen bis zu den Primaten s. Harlow 1969. „Schätzt man die Lerndaten von Tieren zu Problemen, die in ihrer Schwierigkeit vom Diskriminationsvermögen bis zur eindrucksvollen Messung des menschlichen Auffassungsvermögens reichen, nüchtern und ohne Emotionen ab, so ist man geradezu erschlagen von der intellektuellen Verwandtschaft der getesteten Gruppen.“ (S.87) Harlow betrachtet Lernen generell als Ergebnis der Hemmung unpassender Reaktionen auf Umweltreize. In dieser Perspektive wird allerdings die explorative Seite des Lernens (das Neugierverhalten) unterbelichtet. S. dagegen auch unter dem Aspekt des Nachahmungspotenzials Tomasello 2009. S. auch die Ausf. zur natürlichen Evolution des Lernens bei Treml (2004, S. 97-132) in Abgrenzung zu diesbezüglichen Beiträgen von Heschl und Voland. 17 Richerson und Boyd (2005, S. 99ff) vermuten, dass es sich bei dem sozialen Lernpotenzial des Menschen um eine Adaptation an die wechselhaften Umweltbedingungen im Pleistozän handelt. 18 Zur Nischenkonstruktion als einer spezifischen Form der Gruppenevolution s. Oddley-Smee et al. 2003 19 In der Systemischen Evolutionstheorie von Mersch (in diesem Band) wird Umweltselektion (wie in der Luhmannschen Systemtheorie) generell durch Selbstselektion ersetzt. Da Mersch aber (anders als Luhmann) an


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Erstens gibt es also das grundlegende Potenzial jedes lebenden Organismus mit den je eigenen sensomotorischen Mitteln seine jeweilige Umwelt - bei höher organisierten Lebewesen auch: sich selbst in ihrer Umwelt - wahrzunehmen.20 Der Selektionsvorteil durch Anpassung ist evident, ebenso aber auch der Nachteil, der einerseits aus den raumzeitlichen Beschränkungen des eigenen Erfahrungsbereichs erwächst und andererseits aus dem kognitiven Aufwand, die jeweilige Situation angemessen zu reflektieren.21 Zweitens gibt es genetisch verankerte Mechanismen der Umweltwahrnehmung, die mit einfachen Verfahren der Mustererkennung in typischen Situationen funktionieren. Sie können als vorkulturelle Formen sozialen Lernens bezeichnet werden, da sie ja von lebenden Mitgliedern der eigenen Verwandtschaftsgruppe genetisch vererbt werden.22 Der Selektionsvorteil liegt in dem ersparten Aufwand, der schnellen Reaktion etc. – der offenkundige Nachteil in der Unangepasstheit bei veränderten Umweltbedingungen. Als natürliche Beschränkungen stellen diese Mechanismen zugleich Startbedingungen des sensumotorischen und kulturellen Lernens dar. Die einfachsten Mechanismen dieser Art des Lernens sind binär angelegt wie bei Pflanzen, die sich zum Licht drehen. Lebewesen mit komplexeren Anlagen (Zentralnervensystem) verfügen über komplexere „Module“ für die Orientierung in ihrer Umwelt. Im Blick auf das besondere Lernpotenzial bei Menschen kann man deshalb von „Startmodulen“ sprechen, weil sie den Erkenntnisaufbau und damit die weiteren Lernprozesse überhaupt ermöglichen.23 Drittens gibt es kulturell vererbte Mechanismen der Umweltwahrnehmung, die schon in tierischen Sozialsystemen nach dem Muster der Weitergabe der Lebenserfahrungen anderer Gruppenteilnehmer, vorrangig der Eltern und Ältesten, funktionieren.24 Der Selektionsvorteil liegt auch hier in dem ersparten Aufwand und der Nachteil in der Inflexibilität bei sich ändernden Umweltbedingungen. Es ist jedoch zugleich offenkundig, dass hier im Vergleich zum zweiten Typ des Lernens mehr Flexibilität enthalten ist – insbesondere auch durch die Möglichkeit der Nachkorrektur in der jeweiligen Lebenszeit.25 Wenn man nach den natürlichen Quellen des erweiterten Lernpotenzials von Menschen fragt (also nach Merkmalen, die Menschen nicht mit allen Säugetieren, nicht einmal mit anderen Hominiden teilen) dann kommen v.a. drei Faktoren26 in den Blick, die in dem dritten Typ des Lernens – dem Lernen von Anderen in der jeweiligen Gruppe – zusammenkommen: 1. Die Modifikation der Überlebensbedingungen durch sexuelle Selektion, die bei allen sich sexuell fortpflanzenden Arten zur innerartlichen Abweichungsverstärkung mit Bezug auf individuellen Akteuren festhält, muss er dafür den Begriff der Kommunikation überdehnen, in dem er (in dieser Hinsicht wie Latour) auch Sachen, Ressourcen aus der Umwelt als Kommunikationspartner betrachtet. Wenn höher organisierte Lebewesen sich selbst in ihren Aktionen auf die Umwelt wahrnehmen, kann schon von Reflexion i.S. der Rückkoppelungseffekte gesprochen werden, die in der sensumotorischen Wahrnehmung entstehen und die beim Menschen zum Ausgangspunkt für methodisches Üben werden. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass dieses Reflexionspotenzial nur möglich wird durch Koppelung an das basale Potenzial sensomotorischer Situationswahrnehmung in Verbindung mit einem Gedächtnisspeicher. 21 Tooby/Cosmides (1992) stellen primär auf die hier an zweiter Stelle genannten kontentspezifischen Mechanismen ab. Andererseits unterscheiden sie zwischen transmitted und evoked culture – wobei Letztere ja auch auf situationsspezifischen Wahrnehmungen ohne sozial vermitteltes Lernen aufbauen. 22 Wie weit hier die Analogie zum sozialen Lernen in der Kultur trägt, hängt davon ab, ob sich unter den genetisch verankerten Mechanismen beim Menschen nicht nur kontentspezifische Lernmodule, sondern auch ein allgemeines Potenzial i.S. des dritten Typs nachweisen lässt: eine Art Lamarck-Modul, das darauf spezialisiert ist, die Praktiken erwachsener Mitglieder der eigenen Gruppe nachzuahmen und auf diese Weise „blind“ zu übernehmen, was Andere lebensgeschichtlich erlernt haben. 23 Claessens (1993, S. 56) interpretiert Divergenzen zwischen limbischem System und Neocortex i.S. einer Behinderung des Lernens. Diese Relation lässt sich jedoch auch umgekehrt i.S. einer natürlichen Zweistufigkeit des Lernens interpretieren: die Offenheit cortikaler Verknüpfungen wird ermöglicht und abgesichert durch Beschränkungen des stammesgeschichtlich älteren subcortikalen Systems. 24 Um die Besonderheit des sozialen Lernpotenzials bei Menschen herauszustellen, unterscheidet Tomasello (1996) noch einmal zwischen Emulation und Imitation. 25 In Anspielung auf die Bezeichnung der genetisch ererbten Lernformen als kontentspezifische Mechanismen könnte man bei den kulturell ererbten Lernformen auch von entspezifizierten Mechanismen sprechen – wobei zu berücksichtigen ist, dass die ontogenetisch frühesten Formen des sozialen Lernens auch zunächst sehr kontentspezifisch ansetzen, der Übergang also fließend ist. 26 Auch in dieser Hinsicht lassen sich natürlich mehr Faktoren unterscheiden. So sind es z. B. neun Dimensionen in den Ausführungen zur Anthropogenese bei Sloterdijk (2004, Sphären III). 20

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Fitness-Indikatoren führt. In Verbindung mit den Besonderheiten der menschlichen Sexualität - relativ geringe äußere Merkmalsunterschiede der Geschlechter, nicht zyklusabhängige Frequenz des Sexualverkehrs – werden damit Spielräume für Lernprozesse geöffnet, die sich weit von den Zwecken der Konkurrenz ums Überleben entfernen.28 2. Die Modifikation der Überlebensbedingungen durch Reifungsverzögerung in der ontogenetischen Entwicklung – Neotenie – die zu einer ungewöhnlich langen Abhängigkeit des menschlichen Nachwuchses von den Eltern führt.29 Dies hat Folgen für das Verhalten der Eltern (geschlechtsspezifische Investitionen30) und für die kognitive Entwicklung der Kinder (spezifische Prägungsempfindlichkeiten). 3. Die Modifikation der Überlebensbedingungen durch Gruppenbildung, die in mehr oder weniger großem Umfang bei allen Lebewesen vorkommt,31 die aber beim Menschen exorbitante Ausmaße angenommen hat durch symbolgestützte Techniken der Kommunikation und der inneren und äußeren Naturbeherrschung. Die Bedeutung der Gruppenbildung für die Entwicklung des menschlichen Lernens kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden, zumal in dieser Form die beiden anderen Faktoren – das sexuelle Wahlverhalten und die verlängerte Nachwuchspflege – eingebunden und modifiziert werden.32 Ihre grundlegende Bedeutung liegt in der Verschiebung der Grenze gegenüber der natürlichen Umwelt, deren Selektionsdruck die Individuen ausgesetzt sind. Der äußere Druck wird für die Einzelnen gemildert und im Inneren ersetzt durch den Selektionsdruck der Gemeinschaft. Der äußere Selektionsdruck wird dadurch natürlich nicht abgeschafft, er lastet jetzt eben nur verstärkt auf der Gruppe im Ganzen. Man kann sich evolutionstheoretisch auf den Standpunkt stellen, dass auch die Phänomene der kulturell erweiterten Grupppenevolution nichts daran ändern, dass es um den Ausbreitungserfolg sich selbst replizierender genetischer Programme geht. Interessant und erklärungsbedürftig sind aber gerade die Umwege, die die natürliche Evolution für ihre immer gleichen Zwecke geht.33 27

Die eigenständige Bedeutung der sexuellen Selektion gegenüber der Umweltselektion ist bereits von Darwin betont, von seinen Nachfolgern aber – insbes. unter dem Einfluss der Molekulargenetik - zunächst vernachlässigt worden. In diesem Sinne vertritt G. Miller (2001, S. 460f) die These, dass Kreativität als sexuell selektierter Indikator für die Fähigkeit zu proteischem Verhalten, für jugendliche Energie und Intelligenz entstanden ist. S. dazu auch Treml 2004, S.199-206. 28 Anders als Mersch (in diesem Band) versuche ich nicht, die kulturelle Evolution ausschließlich über Mechanismen der sexuellen Selektion (bzw. „Gefallenwollen-Kommunikation“) zu erklären, sehe aber ebenso in diesem zweiten Mechanismus der Selektion einen wichtigen Hebel zur Entstehung von Systemen höherer Ordnung („Superorganismen“) bis zu den kulturellen Sozialsystemen des Menschen. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass in der Verlagerung der Konkurrenz auf Gruppenebene – s. Punkt 3 oben – ein eigenständiger Grund für die kulturelle Selektion altruistischer Verhaltensmuster liegt. 29 Neotenie ist in der deutschen philosophischen Anthropologie zunächst als Argument für eine unvergleichbare Sonderstellung des Menschen eingeführt und gegen die Darwinsche Theorietradition positioniert worden. (Gehlen 1978, Montagu 1984 u.a. Einwände bei Promp 1990) Mit den Entdeckungen zur Bedeutung der Ontogenese in der Entfaltung genetischer Effekte (Carroll 2006) zeichnet sich eine Erweiterung der neodarwinistischen Synthese ab, in der solche Phänomene integriert werden. Zur Rezeption im Blick auf eine evolutionstheoretisch orientierte Pädagogik s. Treml 2004 S. 123ff und 132-148. 30 Im Kontext der parentalen Investition kommt die Institution der Monogamie in den Blick. Im Sinne der Unterscheidung zwischen proximaten und ultimaten Faktoren wäre zu klären, inwieweit es dabei um Investitionsschutz für die Nachwuchspflege, um die gesicherte Erblinie oder um Altersversorgung geht. 31 Die evolutionäre Bedeutung der Gruppenbildung in dem hier skizzierten Sinne wird als Insulationshypothese herausgestellt bei Claessens 1968 1993 und Sloterdijk 2004 im Anschluss an H. Miller 1964, der diese These gegen den damaligen Stand der Evolutionsbiologie noch mit einem kräftigen Schuss Teleologie versehen hat. Zur Verankerung höherstufiger Formen der Selektion in der Evolutionsbiologie s. Mayr 1997, und ausführlich Sober/Wilson 1998. 32 Sexuelle Selektion wird beim Menschen in ihrer Wirkung auf den Organismus vermutlich eher herabgesetzt und zugleich in kontingenzsteigernder Weise kompliziert durch den Umstand, dass auch Männer wählen. Reifungsverzögerung wird im Binnenraum der Familie gesteigert und in der Schule in kontingenzsteigernder Weise kompliziert durch den Umstand, dass Erfolge und Misserfolge Lernprozesse kumulativ steuern und blockieren. 33 Anschlußmöglichkeiten für Theorien der kulturellen Evolution in der biologischen Evolutionstheorie waren lange Zeit blockiert durch die Bevorzugung der molekularbiologischen Perspektive und die Vernachlässigung von Selektionsprozessen auf der Ebene von Gruppen und Populationen. S. dazu die ideengeschichtlichen Ausführungen bei Sober/Wilson 1998 und diesem Sinne auch Treml 2004, S. 63ff. Mersch bezeichnet deshalb die Anwendung der Darwinschen Theorie auf menschliche Sozialsysteme generell als „sozialdarwinistisch“ (in diesem Band). Eine


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Die Verschiebung der Grenze zwischen natürlicher und sozialer Umwelt ist zugleich eine Verschiebung der Anteile zwischen passiv erlittener und aktiv erlernter Anpassung.34 Gruppenbildung erhöht den Anteil der Lernanforderungen. Der Preis, den die Individuen für den Schutzschirm der Gruppe zu zahlen haben, liegt in der Unterwerfung unter die Regeln des Gruppenlebens.35 Im Einzelfall ist keineswegs sicher, ob sich das lohnt. Die kulturelle Evolution hat dafür insofern „vorgesorgt“, als die wichtigsten Regeln in einer frühen Phase der ontogenetischen Entwicklung gelernt werden, in der die Individuen die Folgen noch gar nicht abwägen können.36 4. Soziales Lernen als Bestandteil kultureller Gruppenevolution Dem menschlichen Erinnerungsvermögen fällt es nicht leicht zu unterscheiden, welches Wissen „aus eigener Anschauung“ und welches Wissen von Anderen bezogen wurde. Vermutlich ist die Unterscheidung selbst überhaupt erst mit dem methodologisch gesteigerten Kontrollbedarf der modernen Wissenschaften in die Welt gekommen. Demgegenüber ist die basale Präferenz für den sozialen Wissensvorrat wahrscheinlich schon in unserem genetischen Erbe verankert. Dass Menschen besonders lernfähig sind, kann vor allem auf drei Lebensumstände zurückgeführt werden, die zu entsprechenden Adaptationen bei unseren Vorfahren geführt haben: Gruppenbildung, Klimaveränderung und Wanderungsbewegungen. Verdichtete Formen der Sozialität, die schon bei den Hominiden zu beobachten sind, könnten Mutationen mit größeren Gehirnen bevorzugt haben, um den Zusammenhalt durch Empathie und Betrugsdetektion zu stabilisieren (Dunbar 2003). Rasche Klimaveränderungen im Pleistozän könnten das Überleben von Individuen begünstigt haben, die über mehr Flexibilität für die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen verfügen (Richerson/Boyd 2005, S.131ff). Beide Umstände könnten die globale Ausbreitung menschlicher Gruppen durch Wanderung (Carvalli-Sforza 1999) gefördert haben, die ihrerseits erhöhte Flexibilität für wechselnde Umweltbedingungen verlangt. Die entscheidende Adaptation ist jedoch nicht in der Steigerung des kognitiven Potenzials durch Gehirnentwicklung zu sehen, sondern in der Gruppenbildung selbst, deren wesentliche Funktion in der Entlastung vom äußeren Selektionsdruck und damit von Anpassungen auf organischer Ebene besteht. Nur so ist zu erklären, dass es sich bei der für Menschen typischen Ausdehnung des Lernvermögens primär um soziales Lernen handelt. Die evolutionäre Funktion des sozialen Lernens besteht in der Einsparung von Lernkosten für die Individuen. Alle kulturellen Steigerungsformen des Lernens basieren auf dieser Ersparnis. Alles soziale Lernen ist Lernen im Medium der Kommunikation, das heißt bei Menschen zunächst und vor allem durch Sprache. An der Evolution der menschlichen Sprache lassen sich die besonderen Eigenschaften der kulturellen Evolution wie in einem Brennglas beobachten.37 solche Distanzierung scheint mir jedoch nicht nötig, wenn es möglich ist, in der Evolution kultureller Sozialsysteme Mechanismen der Umweltselektion zu identifizieren, die durch Internalisierung des äußeren Selektionsdrucks entstanden sind. 34 Evolutionsbiologen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn macht, den Einfluss von Anlageund Umweltfaktoren in der Entwicklung menschlichen Verhaltens auseinanderzurechnen. Das komplexe Zusammenwirken der Faktoren wird jedoch einseitig verkürzt, wenn behauptet wird, dass die Gene durch Steuerung des individuellen Verhaltens sich selbst die passenden Umwelten suchen (Voland 2006). Dagegen spricht schon die Eigenselektivität der sozialen Umwelt, die ihrerseits als Ergebnis der Selektion zwischen Gruppen zu betrachten ist. 35 Schon Freud (1948) hat darin den tieferen Grund für ein Unbehagen gesehen, das viele Zeitgenossen in der modernen Gesellschaft empfinden. Auch Treml spricht von einer Ambivalenz im Verhältnis von „Phänen“ und „Denen“ in diesem kulturübergreifenden Sinn 2004, S.167. 36 Bei dem Bezug auf ontogenetische Entwicklung handelt es sich um ein einschränkendes Moment im Begriff des sozialen Lernens, das in Theorien der „cultural transmission“ häufig fehlt, um den Replikationsmechanismus der kulturellen Evolution hinreichend zu spezifizieren. 37 Ausführungen zur Evolution der Sprache muss ich hier beiseitelassen. Im Hinblick auf eine evolutionäre Einbettung ist es allerdings wichtig, nicht von der Gegebenheit der Sprache auszugehen (und Übergänge anhand der Verwendung technisch erweiterter Kommunikationsmittel zu rekonstruieren) sondern bereits den Übergang von gestischer Kommunikation, die in tierischen Sozialitäten breit verankert ist, zu symbolischer Kommunikation zu betrachten, die erst beim Menschen in elaborierter Form vorkommt. Zu Hypothesen über die Bedingungen der Möglichkeit symbolsprachlicher Kommunikation s. Tomasello 2009 und Cruse 2003. Während Tomasello im Vergleich von Primaten und menschlichen Kleinkindern den Übergang von einfacher Gestenkommunikation zu symbolsprachlicher Kommunikation rekonsruiert, hat Cruse (2003) in Computermodellen gezeigt, dass kognitiv

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Die wichtigste Eigenschaft der Sprache in dieser Hinsicht liegt in der Ablösbarkeit sprachlich mitgeteilter Informationen von den lebendigen Individuen als Sprecher und Hörer. Dadurch können nichtflüchtige Elemente der Kommunikation entstehen, besonders ausgezeichnete Wissensinhalte, die zu basalen Replikationseinheiten der kulturellen Evolution werden.38 Während die genetischen Replikationseinheiten der natürlichen Evolution untrennbar mit ihren Trägern, den lebenden Organismen verbunden sind, sind die kulturellen Replikationseinheiten untrennbar verbunden mit menschlichen Sozialsystemen. Sie sind elementare Bestandteile einer spezifischen Form von Gruppenevolution. Der evolutionäre Erfolg dieser Einheiten bemisst sich nicht an ihrer Einnistung im kognitiven System einzelner Individuen und auch nicht nur an ihrer Ausbreitung im Wissensvorrat der Gruppe, sondern vor allem am Erfolg der jeweiligen Gruppe in der Konkurrenz mit anderen Gruppen bzw. Sozialsystemen. Ihre Replikation ist immer schon mit der Tendenz zur Ausbreitung verbunden. 39 Obwohl die Funktion kultureller Replikationseinheiten primär auf der Ebene der Populationen und ihrer Sozialsysteme zu erkennen ist, bleibt die „darunter“ liegende Ebene der Evolution lebendiger Individuen hieran beteiligt. Dass es sich hier um Evolution auf einer anderen Ebene als der der Individuen (und ihrer Gene) handelt, ist u.a. daran zu erkennen, dass die kulturellen Elementareinheiten sich nicht nur in sprachlichen Symbolen gegenüber dem Bewusstsein und Willen der einzelnen Individuen, sondern mit technischen Mitteln auch gegenüber der gesprochenen Sprache verselbstständigen können. In den Formen der schriftlichen Aufzeichnung und externen Speicherung kultureller Sinneinheiten wird deutlich, dass die Replikatorfunktion von den Individuen auf die Sozialsysteme übergegangen ist. Dennoch gibt es für die Replikation kultureller Elementareinheiten einen entscheidenden Engpass, der sich aus der Beteiligung lebendiger Individuen ergibt. Der mit technischen Mitteln externalisierte Sinnvorrat muss zu seiner eigenen Regeneration (und Variation) laufend reinternalisiert – also erneut von Individuen kognitiv angeeignet werden. Dieser Prozess findet primär im Wechsel der Generationen statt und bleibt aus evolutionsbiologischen Gründen an die Übertragung zwischen lebenden Individuen gebunden. Die evolutionäre Funktion dieser Rückkoppelung des kulturellen Wissensvorrats an die ontogenetischen Entwicklungsprozesse lebendiger Individuen kann in einem Sicherheitsgewinn gesehen werden: Er liegt darin, dass kulturelle Sinnkonstrukte sich nicht beliebig weit von den natürlichen Voraussetzungen entfernen können, die in dem spontan verfügbaren kognitiven Potenzial menschlicher Individuen gegeben sind. Die Replikation kultureller Wissensvorräte durch Kommunikation wird durch die organischkognitiven Voraussetzungen des Handelns und Erlebens ihrer individuellen Teilnehmer nicht nur beschränkt, sondern auch angetrieben. So wie die genetische Replikation durch Fortpflanzung in entsprechenden Antriebsstrukturen der Individuen verankert ist, so ist es auch die kulturelle Replikation durch Kommunikation. Die Wissensvorräte einer Population haben die Tendenz sich auszubreiten – auf Kosten anderer Wissensvorräte bzw. beschränkt durch die Konkurrenz mit diesen. Obwohl Mitteilungshandlungen den Individuen erhebliche Kosten (jedenfalls höhere als das Mitteilungserleben in der Perspektive des Verstehens) verursachen, werden sie offenkundig dafür entschädigt durch das Vergnügen, das erfolgreiche Kommunikation bereitet.40 Die Tendenz zur kommunikativen Verbreitung des eigenen Wissens ist (als proximate Ursache) in den Antriebsstrukturen menschlicher Individuen fest verankert. Bereits in den einfachsten Formen der menschlichen Kommunikation ist zu unterscheiden zwischen ihrer Verwendung in räumlicher und zeitlicher Perspektive: Die Ausdehnung der

sehr einfach ausgestattete künstliche Agenten bei zureichender Zahl von gestischen Interaktionen zu übereinstimmendem Symbolgebrauch kommen. Ich muss hier auch die Frage ausklammern, durch welche Prozesse innerhalb kultureller Sozialsysteme diese Auszeichnung erfolgt. Es ist aber hervorzuheben, dass Prozesse der intergenerativen Kommunikation, insbesondere der primären und sekundären Sozialisation als einschränkende Bedingungen beteiligt sind. Diese Einschränkung fehlt in vielen Theorien der kulturellen Evolution, insbesondere in der Memtheorie von Dawkins (1978). 39 Die Ausbreitung und Konkurrenz der Religionen ist das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen der kulturellen Evolution. 40 Geoffrey Miller führt dieses Vergnügen auf sexuelle Selektion zurück - unter Verweis darauf, dass Männer um Sprecherrollen konkurrieren, während Frauen besser zuhören (G.Miller 2000, S. 385ff). 38


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Kommunikation in räumlicher Hinsicht charakterisiert alle Formen, die in einfachen Sozialsystemen vorkommen. Sie bleibt jedoch zunächst weitgehend an die Reichweite des menschlichen Organismus (seine Nahwelt) gebunden. Die Ausdehnung der Kommunikation in zeitlicher Hinsicht stellt Sonderformen dar, die zum einen an besondere Gedächtnisleistungen und Erzähltechniken Einzelner gebunden ist und zum anderen ihre allgemeine Verwendung in der intergenerativen Kommunikation (in Prozessen der Sozialisation und Erziehung) findet. Deshalb ist auch hinsichtlich des für die Reproduktion menschlicher Sozialsysteme grundlegenden kulturellen Wissens zwischen horizontal-räumlichen und vertikal-zeitlichen Formen der Weitergabe zu unterscheiden. Die räumliche und zeitliche Ausbreitung der kulturellen Replikatonseinheiten verläuft bereits in einfachen Sozialsystemen in verschiedenen Bahnen, wenn auch häufig gleichzeitig und in enger Koppelung. Die Ausdehnung der Kommunikation in zeitlicher Hinsicht wird durch die ontogenetische Einprägung tradierter Erwartungsstrukturen zum Medium der Stabilisierung kultureller Wissensvorräte. Diese Besonderheit der nichtflüchtigen Elemente der Kommunikation wird auch in der symbolischen Auszeichnung deutlich, die in erweiterten Formen der Sozialität mit der technisch externalisierten Speicherung kultureller Wissensvorräte verbunden ist. Zwar kann die Steigerung der zeitlichen Reichweite mit technischen Mitteln auch unabhängig von ontogenetischen Prozessen erfolgen. Sie muss dann aber über die Organisation von Schulen wieder in die intergenerative Kommunikation eingeführt werden. Nur in den vertikalen Formen der intergenerativen Tradierung (also in Prozessen der Internalisierung und Sozialisation) wird jenes latenzgeschützte „inviolate level“ erreicht, das zur Bildung stabiler Wissensstrukturen (ähnlich dem Genvorrat einer Population) benötigt wird. Bereits in den einfachsten Formen der Kommunikation lässt sich auch die Wirkung eines Variationsmechanismus auf die kulturellen Replikationseinheiten beobachten: Sie geschieht primordial eher zufällig, als Kopierfehler, Missverständnis, unbeabsichtigte Nebenfolge eines kommunikativen Handelns, das primär an der Replikation, also der Bewahrung interessiert ist. Je einfacher die Sozialsysteme, desto mehr ist ihre Reproduktion vom Vergessen der bewahrenswerten Wissensvorräte bedroht, desto mehr liegt der Fokus der Kommunikation auf der Nachahmung. Nicht die bewusste Abweichung (Innovation) sondern die korrekte Nachahmung wird belohnt. Aber Fehler, Missverständnisse etc. kommen vor und damit kann der geteilte Wissensvorrat einer Population sich laufend ändern. Nachahmung ist – wie der Vergleich mit der diesbezüglichen kognitiven Ausstattung bei anderen Lebewesen zeigt (Tomasello 2009) – selbst schon eine kognitiv höchst voraussetzungsvolle Operation. Sie kann nur gelingen, wenn die an der Kommunikation teilnehmenden Individuen über Fähigkeiten verfügen, sich vorzustellen, was der Andere erlebt (denkt, fühlt), wenn er bestimmte Handlungen vollzieht. Handeln und Erleben sind also primär fließend gekoppelt – durch diesen Zwang zur Koppelung in ihrer raumzeitlichen Reichweite aber auch beschränkt. Erst durch die Erweiterung der Kommunikation mit technischen Mitteln findet jene Entkoppelung der Handlungs- und Erlebenskomponenten statt, die mit besonderen Steigerungsmöglichkeiten und Risiken für den kulturellen Reproduktionsprozess einhergeht. 5. Ausdifferenzierung des sozialen Lernens in der Kultur Die Primärformen situativen Lernens sind ausgelegt auf den Konkurrenzvorteil der Individuen in einer gegebenen Situation. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es also nicht überraschend, dass in den im menschlichen Gehirn verankerten kognitiven Orientierungen der kurzfristige Vorteil vor langfristigen Orientierungen dominiert. Eine erste Modifikation dieses Grundmusters kommt mit der weiblichen Selektion (der Bevorzugung parental investitionsbereiter Männchen) bereits in der natürlichen Evolution vor. Die weitere Entfaltung langfristiger Orientierungsmuster erfolgt in handlungsdruckentlasteten Binnenräumen kultureller Sozialsysteme. Aber auch bei der Bevorzugung von langfristigen Orientierungen in der kulturellen Tradition handelt es sich zunächst noch nicht um Weitsicht in einem Sinne, der auch mögliche Umweltveränderungen – also Neues – einschließt. Die Primärform sozialen Lernens ist auf die kopiergetreue Bewahrung derjenigen Verhaltensmuster ausgelegt, die sich in der Population unter den jeweiligen Umweltbedingungen bewährt haben. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es also keineswegs überraschend, dass traditionell die

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konformistische Nachahmung dominiert und Abweichungen (die natürlich vorkommen) negativ sanktioniert werden. Überraschend ist vielmehr die Legitimität von Abweichung und der Entdeckung von Neuem in der Moderne. Dies wird erst durch eine Rekombination des sozialen Lernens mit dem situativen Lernen ermöglicht, die das Reflexionspotenzial der Individuen in situativen Kontexten für langfristige Orientierungen nutzt. Situativ, genetisch und sozial disponiertes Lernen stehen in der menschlichen Kultur nicht in einer historischen Folge, sondern sind in verschiedenen Mischungsverhältnissen gleichzeitig vorhanden. Sie variieren sowohl in den historischen Sozialsystemen verschiedener Populationen wie auch im Inneren der Sozialsysteme bei verschiedenen Individuen. Die größte Herausforderung des menschlichen Lernvermögens ergibt sich aus dem Ausbreitungserfolg menschlicher Populationen selbst, insbesondere dem Wachstum der Größe und Komplexität ihrer Sozialsysteme.41 Im Folgenden soll (in der hier gebotenen Kürze) gezeigt werden, dass das exorbitante Größenwachstum menschlicher Sozialsysteme zu einer eigenständigen Quelle sozialen Lernens wird, und dass es zusammen mit der Steigerung der Binnenkomplexität des soziokulturellen Gehäuses - gewissermaßen als zweite Stufe der Verlagerung des natürlichen Selektionsdrucks von den Individuen auf die Gruppenebene – zugleich eine Verlagerung des sozialen Selektionsdrucks ins Innere der Individuen in Prozessen der Sozialisation und Erziehung hervorbringt. Als grundlegende Bedingung dieser Tendenz zur Internalisierung ist zunächst auf der Ebene der kulturellen Gruppenbildung eine Entwicklung zu beobachten, die parallel zur Internalisierung des Selektionsdrucks in umgekehrter Richtung verläuft: die Externalisierung menschlichen Handelns und Erlebens in technischen Artefakten, die einerseits der äußeren Ausdehnung und andererseits der internen Verdichtung der Sozialsysteme dienen.42 Neben der allgemeinen Bedeutung von Techniken der Naturbeherrschung für den Ausbau des soziokulturellen Gehäuses kommt der Waffentechnik für die territoriale Ausdehnung und den technischen Kommunikationsmitteln für die innere Organisation besondere Bedeutung zu. Um die evolutionäre Funktion von Technik im Wandel menschlicher Sozialsysteme zu verstehen, ist es notwendig, die Wechselwirkung zwischen Erfindung und Gebrauch – technikhistorisch zwischen Innovation und Nachahmung43, techniksoziologisch zwischen Macher- und Nutzerperspektive – angemessen zu beschreiben. Jeder Gebrauch von Technik beruht auf dem Potenzial zu nachahmendem Lernen, das in kognitiver Hinsicht höchst voraussetzungsvoll – also fehleranfällig - ist und das in sozialer Hinsicht häufig zu unbeabsichtigten Effekten – also zu Variation auf der Ebene der Populationen führt. Jede Erfindung beruht auf einem spezifischen Reflexionspotenzial, mithilfe dessen implizite Voraussetzungen dieser Effekte expliziert und dadurch der bewussten Gestaltung zugänglich gemacht werden. Die Ausbreitung dieser Erfindungen durch Nachahmung setzt ihrerseits die Rückverwandlung des Explizierten in implizite Voraussetzungen des Handelns voraus. Diese Verwandlung erfolgt primär in Prozessen der intergenerativen Weitergabe. Deshalb ist in der Einheit der Unterscheidung von Innovation und Nachahmung auch ein Schlüsselproblem der modernen Pädagogik zu erkennen. Die bisher erwähnten Beschränkungen, die zu Bedingungen der kulturellen Evolution werden, sind zu spezifizieren durch den Mechanismus der Konkurrenz auf der Ebene der Gruppen, der die Entwicklung menschlicher Sozialsysteme in beiden Richtungen - Externalisierung und Internalisierung - vorantreibt. Während die genetisch ererbten Beschränkungen eher als Startbedingungen des Lernens wirken (als Bedingungen seiner Möglichkeit i.S. der Vermeidung von Überlast) führen die Beschränkungen, die aus der Konkurrenz der Gruppen um beschränkte Umweltressourcen erwachsen, zu neuen, unwahrscheinlicheren Formen des sozialen Handelns 41

Die Größe menschlicher Sozialsysteme erscheint uns heute so selbstverständlich, dass sie – im Unterschied zu deren Komplexität – selten zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Reflexion gemacht wird. Zum Problem des Größenwachstums s. Richerson/Boyd 1998. 42 In diesem Sinne - stellvertretend für viele Soziologen, die an die Theorietradition der Philosophischen Anthropologie anknüpfen - Claessens 1993, S. 54ff 43 Der Begriff der Nachahmung ist bekanntlich bereits in der Frühphase der Soziologie von G. Tarde zur Grundlage einer umfassenden Sozialtheorie gemacht worden, die auch die Gegenbegriffe der Entdeckung und Erfindung einschließt.


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und lernbereiten Erlebens. Die Ansatzpunkte zur Steigerung des Lernvermögens ergeben sich vor allem beim dritten Typ, dem sozialen Lernen. Die Kombination des sozialen Lernens mit den genetisch ererbten Mechanismen ist als Startbedingung in allen ontogenetischen Prozessen wirksam. Im Folgenden soll das Augenmerk auf die Steigerungsmöglichkeiten gerichtet werden, die sich aus der Kombination des sozialen Lernens mit dem natürlichen Reflexionspotenzial (dem erstgenannten Typ des Lernens) ergeben. Dies lässt sich an der Ausdifferenzierung von zwei korrespondierenden Formen des sozialen Lernens – Nachahmung und Instruktion - im Verlauf der kulturellen Evolution zeigen. Das Meiste, was sozial gelernt wird, ergibt sich unmittelbar aus der Beobachtung des Nachgeahmten.44 Aber bereits in einfachen (schriftlosen) Gesellschaften ist dies nicht der einzige Typ des sozialen Lernens. Bestimmte Erfahrungen, die sich der unmittelbaren Beobachtung entziehen – z. B. weil diejenigen, die sie machten, schon verstorben sind – werden symbolisch aufbereitet und von Generation zu Generation weitererzählt. Dieser Lernstoff repräsentiert das kulturelle Erbe der Gruppe und wird höher bewertet als jener, der immer wieder (nachahmend) aus alltäglichen Beobachtungen zu gewinnen ist. Mit dem Aufkommen von Schrift erweitert sich der Umfang dessen, was als kulturelles Erbe ausgezeichnet wird und nicht mehr spontan durch Nachahmung gelernt werden kann. Die Verwaltung des Erbes fällt in die Hand der Schriftgelehrten, die zumeist einer Priesterkaste angehören und hochselektiv mit dem gespeicherten Wissen umgehen.45 Man kann darin bereits den Prototyp des Instruktionslernens erkennen, der im modernen Schulwesen dann zum dominanten Typ wird. 46 Die Entwicklung der Lernprogramme in der modernen Gesellschaft wird jedoch noch durch andere Faktoren beeinflusst. Mit der Verallgemeinerung des Schriftverkehrs durch Buchdruck und Alphabetisierung47 geht eine Ausdehnung der Reichweite und Verdichtung der Kommunikation im Inneren der Sozialsysteme einher. Die Verfügung über das kulturell bewahrenswerte Wissen muss anders organisiert werden. Die entscheidende Innovation des sozialen Lernens in der Moderne zeigt sich in der Kombination des methodisch angeleiteten Lernens mit dem natürlichen Reflexionspotenzial der Individuen in der aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.48 Diese Ressource war unter dem Druck der kulturellen Tradition jahrtausendelang eingeschnürt und für die Organisation des Lernens nur in sehr eingeschränktem Maße verfügbar. Traditionelle Sozialsysteme konnten so viel Lernen nicht zulassen – sie mussten es aber auch nicht, weil sie unter relativ stabilen Umweltbedingungen nur wenig internes Variationspotenzial benötigten. Die bewusste und mit technischen Mitteln organisierte Rückwirkung auf das menschliche Lernen in der Moderne wird dadurch möglich, dass die natürliche Reifungsverzögerung i.S. einer andauernden Adoleszenz über ihre natürlichen Auslösebedingungen (Kindheit, Pubertät, Adoleszenz) hinaus ausgedehnt wird.49 Auch wenn das natürliche Reflexionspotenzial der Individuen in Alltagssituationen immer schon geübt wurde und wird, kann es sich erst im Schonraum der Schule - unter den Bedingungen eines pädagogischen Arrangements, das den Selektionsdruck der (natürlichen und) sozialen Umwelt noch einmal herabsetzt - weiter entfalten: sowohl i.S. einer sozialen Ausweitung des Beteiligtenkreises - nicht nur Oberschichten - wie auch i.S. einer individuellen Erweiterung des kognitiven Potenzials für

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Abstraktionsleistungen. Durch die Ausdifferenzierung handlungsentlasteter Übungsräume wird das natürliche Reflexionspotenzial freigesetzt für Prozesse der Selbstreflexion, die der Dezentrierung des Denkens sowie der Explikation und Korrektur in vorgängigen Sozialisationsprozessen erworbener, impliziter Verhaltenserwartungen dienen können. 51 Eine generelle Bedingung menschlichen Reflexionslernens ist die Entlastung von Handlungszwängen (Gehlen 1978, S. 62ff ). Damit ist keine vollständige Ablösung vom Selektionsdruck der Umwelt gemeint, sondern nur die Chance aus Fehlern zu lernen – also nicht sofort den normalerweise (insbesondere im modernen Berufsalltag) damit verknüpften Sanktionen ausgesetzt zu sein. Reflexionspotenzial wird ausgebildet durch die gedankliche Vorwegnahme von Handlungsabläufen, das sogenannte Probehandeln, das bei besonders begabten und dafür trainierten Menschen zum theoretischen oder philosophierenden Denken gesteigert wird. In der modernen Schule wird eine handlungsentlastete Situation hergestellt, in der dieser Prozess methodisch eingeübt werden kann. Die Erweiterung des natürlichen Lernpotenzials durch die Schule kann als rekursiv verknüpfter Prozess von Explikation und Implikation der innerhalb einer kulturellen Population geteilten Wissensvorräte beschrieben werden. So ist beim Sprachlernen neben angeborenen Voraussetzungen einerseits die spontane Nachahmung beteiligt, in der implizite Elemente der Sprache als Erwartungsstrukturen bzw. Institutionen entstehen, zum anderen die instruktive Einübung, in der Elemente des Sprachgebrauchs expliziert und in Regeltechniken neu gefasst werden. Zur Seite der Explikation durch methodische Anleitung des natürlichen Reflexionspotenzials gehören Prozesse der Dekontextualisierung.52 Zur Seite der Wiederherstellung implizit funktionierender Wissensbestandteile gehört die methodische Einübung selbst, die durch Routinebildung den Spielraum für eine Respezifikation des Wissens i.S. der gesellschaftlich erweiterten Anforderungen schafft.53 ¬

Explikatives Lernen (Reflexion)

Soziales Lernen I spontane Nachahmung

­

° Soziales Lernen II organisierte Unterrichtung

Implikatives Lernen (Latenz)

©

Die Vielfalt kultureller Formen wird – wie in der natürlichen Evolution – ermöglicht durch Beschränkungen.54 Ihre Evolution erfolgt durch Verlagerung des Selektionsdrucks der äußeren Umwelt in Strukturen der sozialen Binnenumwelt, die ihrererseits Differenzierungen im Verhaltensspielraum der Individuen zulassen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht nur bis heute nicht abgeschlossen, sie bleibt auch stets gefährdet durch die riskante Ordnung der Sozialsysteme, die sie ermöglichen. Dies zeigt sich besonders an den Ambivalenzen, die in der modernen Gesellschaft zutage treten. 6. Ambivalenzen des Lernens in der modernen Gesellschaft Menschen haben keine Probleme damit, lebenslang zu lernen – aber nicht an jedem Ort und nicht zu jeder Zeit. Je nach Lebensumständen fallen verschiedene Kosten des Lernens an, die

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Zur evolutionären Bedeutung der Nachahmung - im Anschluss an Tarde und Girard - Claessens 1993, S. 33. Hochkultur ist also primär Schriftkultur, vgl. Sloterdijk 2004, S.427ff. Sloterdijk (2009, S.309ff) legt eine solche Sicht nahe, abstrahiert dabei aber von dem Umstand, dass im Gefolge des Buchdrucks das Lesen und Schreiben zur allgemeinen Lebensbedingung geworden ist. 47 Zum Zusammenhang des pädagogischen Projekts der Moderne mit dem Buchdruck s. Giesecke 1991. 48 Die Einübung von Reflexion kann in diesem Sinne als ein Mechanismus der Variation bezeichnet werden, um Inkonsistenzen zwischen dem kulturellen Basisprogramm der Tradierung und den sensumotorischen Primärwahrnehmungen der Situation aufzulösen. Diese Fähigkeit setzt natürlich die Verwendung symbolsprachlicher Kommunikation als Mittel des rekursiven Vergleichens aktueller Situationsbeobachtungen mit gespeicherten Erfahrungen schon voraus. 49 Dies auch als Einwand gegen die von Luhmann und Schorr (1982) vorgebrachte These vom Technologiedefizit der Pädagogik, die nachträglich mit biologischen Argumenten unterfüttert worden ist, bei der es sich m.E. aber auch um ein Zugeständnis an den antipädagogischen Zeitgeist der 70er Jahre handelt. Zur Relativierung der Defizithypothese s. schon Scheunpflug 2004. 45 46

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Erst vor dem Hintergrund technisch erweiterter Kommunikationsmittel der Gesellschaft wird erkennbar, in welchem Maße der pädagogisch organisierte Beitrag zum Reflexionslernen dann auch von der individuellen Verfügung über entsprechende Selbstbeschreibungen abhängt. Was man über reale Situationen in der Welt weiß, hängt immer auch davon ab, was man über sich selbst, seine subjektiven Überzeugungen weiß: indem man das Eine vom Anderen zu unterscheiden lernt. Zur Unterscheidung der drei Wissensarten Davidson 1991. 51 Zur Dezentrierung des Denkens im Anschluss an die kognitivistische Entwicklungspsychologie Piagets s. Oerter in diesem Band und in anderen Beiträgen. 52 Ich nehme damit ein Argument von Oerter auf, wonach wissenschaftliches Denken entsteht durch die Verknüpfung des natürlich angelegten Reflexionspotenzials mit dem kulturell erweiterten und methodisch angeleiteten Lernen. 53 Hier geht es generell um das Potenzial, das Oerter in seinem Beitrag – dort allerdings beschränkt auf das mathematische Fähigkeiten – als Expertise bezeichnet. 54 S. meine einleitenden Bemerkungen dazu oben und Ausführungen über Evolution durch Beschränkung im Falle der Erziehung bei Treml 2004, S.230-249


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individuell aufzubringen sind. Wo immer die Zeit für die Einübung neuer Routinen knapp ist, oder wo die Situation keine Zeit für Reflexion lässt, greifen oder fallen die Individuen auf kulturell schon eingeübte oder genetisch ererbte Muster zurück, die miteinander kollidieren können.

ausgelöst wird. Diese Kollisionstendenzen können sich gegenseitig verstärken. Deshalb muss laufend erhöhter Aufwand in Bezug auf das Erlernen eines angemessenen Umgangs mit der riskanten Ordnungsstruktur getrieben werden. Die Formel vom lebenslangen Lernen ist dafür ein Indiz, liefert aber noch keine angemessene Beschreibung des Problems.60

Dass die moderne Gesellschaft sich damit schmückt, das menschliche Lernen entdeckt und gewissermaßen neu erfunden zu haben, hat mit Differenzierungen zu tun, die in Folge der Ausdehnung und Verdichtung der Kommunikation mit technischen Mitteln im inneren Gefüge der Gesellschaft hergestellt wurden.56 Die Dominanz der vertikalen Differenzierung (entlang der Minderheit der Schriftkundigen und der Masse der Unkundigen) wird abgelöst und überschrieben durch eine horizontale Differenzierung, die arbeitsteilig funktional ausgerichtet ist. Dabei reproduziert sich vertikale Differenzierung auf der Ebene der Organisationen der Funktionssysteme, verlagert sich zugleich aber zunehmend auch in die kognitive Binnenstruktur der Individuen, von denen mehr Eigenselektivität verlangt wird. Die Steigerung der Eigenselektivität geht einher mit der Ausdifferenzierung von Handlungs- und Erlebenskomponenten der menschlichen Kommunikation. Das reflexiv individualisierte Selbst ist nur möglich um den Preis der Unterbrechung primordialer Kommunikationsflüsse: einerseits durch organisationsgestützte Verselbstständigung von Handlungsformen unter Einsparung von erlebensgesteuerten Reflexionsleistungen und andererseits durch mediengestützte Verselbstständigung von Erlebensformen unter Verzicht auf handlungsgesteuerte Rückwirkungen. So zeigt die Ebenendifferenzierung des kulturellen Gehäuses Entsprechungen zur Ebenendifferenzierung des psychischen Apparats der Individuen.57

In abstrakt-allgemeiner Form sind die Probleme des modernen Bildungswesens als Differenzierungsfolgen zu beschreiben.61 Sie zeigen sich für die Individuen als Aufspaltung der Erwartungen zwischen normenkontrollierten, rollenkonformen Verhaltensweisen einerseits und der Freisetzung natürlich-disponierter, hedonistischer Verhaltensweisen andererseits. Kurzfristige Orientierungen, die in typischen Situationserfahrungen der Jäger- und SammlerGesellschaften entstanden sind und in der Event-Kultur der modernen Unterhaltungsindustrie weiter stimuliert werden, kollidieren mit den langfristigen Orientierungen, die in handlungsentlasteten Konstellationen der kulturellen Tradition gepflegt wurden und im modernen Berufsleben weiter benötigt werden. Die Probleme liegen in der zunehmend exklusiven Differenz der Verhaltensmuster auf den verschiedenen Ebenen und ihrer mangelhaften Integration auf einer Metaebene. Diese Integration war - um den Preis einer Verdunkelung des Vorgangs - eine Leistung von Religion u.a. Ursprungserzählungen. Sie ist in der modernen Gesellschaft weitgehend an die Pädagogik bzw. die Organisation des Bildungswesens übergegangen, die sich damit aber häufig überfordert zeigt.62

Die Wiederentdeckung der natürlich evolvierten Ressourcen aus der längsten Epoche der Menschheitsgeschichte – also eine „Renaissance“ der Steinzeit58 – wird möglich durch die kulturelle Binnendifferenzierung der modernen Gesellschaft, in der sich ein hohes Maß an Disziplinierung in den Handlungsketten auf der Makroebene mit der Freisetzung natürlicher Dispositionen des Handelns und Erlebens auf der Mikroebene verbinden.59 Die Kombination von formalisierter Fremdkontrolle und informeller Selbstkontrolle bedingt und ermöglicht im bisherigen Verlauf der kulturellen Evolution nicht gekannte Freiheitsspielräume auf der Mikroebene der individuellen Interaktionen. Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft beziehen ihre Dynamik auf der Makroebene der Organisationen aus der Neutralisierung tradierter Beschränkungen natürlicher Anlagen des menschlichen Verhaltens und dem funktionsspezifischen Gebrauch dieser natürlichen Ressourcen (z. B. eigennütziges Verhalten in der Wirtschaft, Dominanz in der Politik, Neugier in der Wissenschaft, Sanktionierung im Recht, Kreativität in Technik und Kunst, Bindung in Familie und Freundschaft etc.) Diese dynamische Verbindung ist allerdings ständig gefährdet durch ihren eigenen Erfolg. Mit der fortlaufenden Ausdehnung der Reichweite und internen Verdichtung moderner Sozialsysteme wächst die Gefahr der Konfusion der Verhaltensmuster auf den verschiedenen Ebenen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird bedroht durch Entdifferenzierung, die sowohl durch das Vordringen natürlich disponierter Verhaltensmuster auf die Makroebene wie auch durch das Vordringen organisationstypischer Kontrollverfahren auf die Mikroebene 55

Diese Kosten des Lernens werden häufig sogar als bestimmender Faktor i.S. natürlicher Beschränkungen der kulturellen Evolution eingeführt. (Voland 2006). Viele Lernprozesse wären jedoch unerklärbar, wenn allein Kostenkalküle die kulturelle Evolution dominieren würde. 56 Zur grundlegenden Bedeutung des Erlernens der Schriftsprache für die kulturelle Erweiterung des menschlichen Lernpotenzials s. u.a. Oerter in diesem Band. Zur umwälzenden Bedeutung des Buchdrucks s. Giesecke (1991). Die Bedeutung der neuen computernetzgestützten Medien, die auf der Verallgemeinerung der Schriftkultur aufsetzen, diese aber um die Wiedereinführung bildhafter Kommunikation mit technischen Mitteln erweitern, ist noch keineswegs zureichend erforscht. 57 Mit der Anspielung auf Freuds Beschreibung der psychischen Ebenenhierarchie von Es, Ich und Überich soll keineswegs behauptet werden, dass es sich hierbei um eine simple Abbildung, ein Produkt der Gesellschaft handelt. Die Ähnlichkeit verweist vielmehr auf Koevolution von psychischen und sozialen Systemen in der Kultur. 58 Sloterdijk (2009) spricht von einer Renaissance der in der Antike gepflegten Übungspraktiken in der Gegenwart. Um die Ambivalenz deutlich zu machen, muss man m.E. aber auch von einer Renaissance der in Steinzeitgesellschaften evolvierten natürlichen Dispositionen sprechen. 59 Die Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene des Sozialen wird in den Sozialwissenschaften häufig nur als Methodenproblem (als Problem der Verknüpfung in der Beschreibung verschiedener Phänomenbereiche) und nicht als historisch-empirisches Problem betrachtet.

Die horizontale Differenzierung der Gesellschaft auf der Ebene ihrer Organisationen verlangt ein steigendes Maß an Instruktion – also Einübung, die auf die technische Perfektionierung des Handelns unter Einsparung von Reflexionskosten ausgerichtet ist. Dies ist vorrangig das Aufgabengebiet der modernen Schule (und i.e.S. des Sekundarschulsystems). Die vertikale Differenzierung der Gesellschaft zwischen Makro- und Mikroebene63 verlangt ein steigendes Maß an Reflexion, um die divergenten Handlungs- und Erlebensweisen der Individuen zu integrieren. Die Einübung dieser Art des Lernens ist zunächst das Aufgabengebiet der Hochschulen und im weiteren Sinne des tertiären Bildungswesens – sie wirkt jedoch zurück auf die vorhergehenden Formen des Lernens.64 Die Integration der auseinanderdriftenden Verhaltenserwartungen durch Steigerung des individuellen Reflexionspotenzials ist angelegt in der Idee der Bildung als Selbstzweck.65 Alles menschliche Lernen findet auf der Mikroebene des Handelns und Erlebens von Individuen statt. Daher kann sich auch die Pädagogik im Prinzip nicht ablösen von der Interaktion unter Anwesenden, auch wenn sie immer darüber hinaus zielt. Ihr Auftrag hat mit der Entstehung und Entwicklung von Makrophänomenen der Sozialität zu tun, die die Individuen als kulturelle Umwelt umgeben, als soziales Gehäuse vor dem Selektionsdruck der natürlichen Umwelt 60

Pädagogische Folgeprobleme der Mikro-Makro-Divergenz sind von James Coleman bereits 1982 unter dem Titel „The Asymmetric Society“ beschrieben worden. Darüber hinaus wäre auf Fundamentalismen und Totalitarismen als Folgeprobleme von Entdifferenzierungsprozessen in der Moderne zu verweisen. 61 Probleme sozialer Differenzierung sind ein klassisches Thema der soziologischen Theorietradition, dessen ursprüngliche Einbettung in eine evolutionstheoretische Perspektive allerdings in den Lehrbüchern heute weitgehend verdrängt erscheint. 62 Eine ebenso grundlegende wie immer wieder gefährdete Bedingung ist die Durchsetzung von Gewaltfreiheit in den schulisch organisierten Freiräumen des Lernens. 63 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die umfangreiche sozialwissenschaftliche Diskussion über Mikro-, Mesound Makroebenen der Sozialität einzugehen. Vgl. dazu Greve u.a. 2008. – In evolutionärer Perspektive sind Individuen und Sozialsysteme gleichermaßen ontologisch irreduzible Gegebenheiten. Es macht also keinen Sinn, Sozialität als emergentes Phänomen zu bezeichnen, wohl aber große Sozialsysteme im Verhältnis zu Kleinen. M.E. ist es auch nicht zweckmäßig, von einer Mesoebene zu sprechen, wohl aber von einer Metaebene, auf der die symbolisch generalisierten Konstrukte angesiedelt sind, die geeignet sind, die evoluierte Divergenz zwischen Phänomenen der Mikro- und der Makroebene kognitiv zu überbrücken. Zu Parallelen in der Unterscheidung von drei Welten vgl. Treml 2008 und Bätz in diesem Band. 64 Die am hierarchischen Aufbau des Schulwesens orientierte Einteilung der Aufgabengebiete ist dahin gehend zu relativieren, dass Voraussetzungen des Reflexionslernens bereits in der Schule und sogar in der vorschulischen Sozialisation angelegt werden. 65 Die Idee der Bildung als Selbstzweck lässt sich auf die ironische Formel herunterbrechen, wonach Bildung das sei, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was gelernt werden sollte (Blumenberg 1998, S. 24f). Dieser Mechanismus ist allerdings nicht nur an Bildung zu beobachten. Bildung erfüllt ihre Funktion umso besser, je mehr es den Individuen gelingt, externe Zwecke auszublenden. Die Umkehrung von Mitteln in Zwecke, also die Verselbstständigung der proximaten Funktion, ist ein grundlegendes Mittel der Kultur für ihre evolutionären Zwecke.


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schützen und zugleich zu sozialen Anpassungsleistungen zwingen, deren Komplexität weit über das hinausgeht, was ihr kognitives Orientierungssystem spontan zur Verfügung stellt. Ein typisches Problem des Instruktionslernens ist der Umstand, dass die reflexive Explikation asymmetrisch auf der Seite des Lehrenden verankert ist, während die Lernenden auf der Stufe vorreflexiv-implikativer Nachahmung verbleiben. Das Gelernte wird auf Vorrat vermittelt für den Fall, dass eine Situation eintritt, in der die Lernenden dann reflexiv darauf zurückgreifen können. Das Reflexionsvermögen selbst wird dadurch aber nicht geübt. Das pädagogische Problem lässt sich mithilfe der Unterscheidung zwischen Macher- und Nutzer-Perspektive im Umgang mit technischen Produkten beschreiben - besteht darin, diese Differenz reversibel zu halten: Es genügt nicht, dass der Ingenieur (i.S. der Ergonomie) die spontanen Gewohnheiten der gewöhnlichen Nutzer versteht – i.S. des pädagogischen Projekts der Moderne muss auch der gewöhnliche Nutzer in die Lage versetzt werden können, sich die Perspektive des Ingenieurs anzueignen. Die Wiederentdeckung des natürlichen Reflexionspotenzials für pädagogische Zwecke hat eine lange Inkubationszeit in der Geschichte des europäischen Hochschulwesens. Das nachahmende Lernen, das über Jahrtausende das soziale Band zwischen den Generationen gebildet hat, wird in der Moderne auf riskante Weise methodisch kombiniert mit dem natürlichen Versuch-undIrrtums-Lernen. Die Einübung bezieht sich nicht mehr nur auf die Bewahrung alter, sondern auch und vorrangig auf die Gewinnung neuer Erkenntnisse. Jetzt heißt die Devise: Bildung durch Wissenschaft. Die Motivationslage der Lernenden kann in dieser Form der Instruktion nur dadurch stabilisiert werden, dass der Reflexionsprozess erkennbar bleibt, der den Lernstoff hervorgebracht hat. In der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts sah es eine Zeit lang so aus, als ob die Bevorzugung eines an den Fortschritten der Wissenschaft orientierten Reflexionslernens die notwendigen Übungspraktiken der Schule gefährden würde. Dagegen ist heute zu beobachten, dass unter dem Etikett der europaweiten Förderung lebenslangen Lernens eine zunehmende Verschulung der tertiären Einrichtungen des Bildungswesens stattfindet,66 die die Spielräume für die Entfaltung des Reflexionspotenzials wieder erheblich verengt.67 Die konjunkturellen Variationen der bildungspolitischen Programme sind als Ausdruck und Bestandteil der Konkurrenz innerhalb und zwischen den staatlich organisierten Gesellschaften der Moderne zu betrachten. Obwohl bereits kleine Veränderungen im Bildungssystem große Wirkungen erzielen können, spielen Probleme seiner Organisation wegen der nur relativ langfristig beobachtbaren Effekte in den politischen Auseinandersetzungen nur eine geringe Rolle.68 Ihre Lösung bleibt deshalb – in einem evolutionären Sinne, der die andauernde Gefährdung kultureller Errungenschaften anzeigt – weitgehend dem Zufall überlassen. Literatur Blumenberg, H. (1998): Begriffe in Geschichten, Frankf.a.M.: Suhrkamp Buller, D. J. (2006): Adapting Minds. Evolutionary Psychology and the Persistent Quest for Human Nature; Cambridge, Massachusetts: The MIT Press. Carvalli-Sforza, L. L. (1999): Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation, München. Wien: Hanser V. Carroll, S. B. (2008): EvoDevo. Das neue Bild der Evolution. Berlin: Berlin University Press Claessens, D. (1993): Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankf. a.M.: Suhrkamp Coleman, J. S. (1986): Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen mit unpersönlichen Systemen. Weinheim und Basel: Beltz V. 66

Dazu u.a. Sandkuhlen 2009. Wenn die Verzögerung des Reifungsvorgangs beim Menschen eine allgemeine Bedingung seines Lernpotenzials darstellt, kann die Verlängerung der Adoleszenz durch schulische Bildungsprozesse als kulturelle Fortsetzung dieses evolutionären Curriculums betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtig zu beobachtende Kompression der schulisch organisierten Lebensphase, die Angleichung der Leistungskontrollen im Bildungssystem an deren Gestalt im Arbeitsleben und die Verkürzung der Lernzeiten als Rückschritt zu interpretieren – dem aber ein Fortschritt auf teilnahmeerweiterter Stufe folgen kann. Auch für die Evolution des menschlichen Lernens gilt, dass durch die Pfadabhängigkeit vorgängiger Investitionen zwar eine Richtung vorgegeben, der Ausgang aber durchaus offen ist. 68 Nach einer Studie von Wößmann/Piopinik (2009) würden sich Bildungsreformen, die bei der Verbesserung des Bildungserfolgs der Teilnehmer mit dem schlechtesten Bildungsstand (in Deutschland 20 Prozent) ansetzen, den größten Nutzen für wirtschaftliches Wachstum erzielen. Die ökonomischen Erträge wären jedoch zunächst gering und maximale Effekte würden sich erst nach vierzig Jahren zeigen. 67

Gilgenmann: Lebenslang Lernen

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