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Das neue Laissez-Faire

Das neue LaissezFaire Foto: Ilya Bushuev (www.iBushuev.com) / ibush /stock.adobe.com

Früher verriet Mode, wer man war: Punk oder Popper, Technohead, Hippie oder ganz normal. Heute bedeutet sie nichts mehr. Warum?

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Text: Philipp Wurm

Vielleicht muss man den Bedeutungsverlust der gazinen nicht unbedingt eine glitzernde Fotostrecke Mode an einem hässlichen Stiefel festmachen, einst gewidmet würde. mals vernäht aus Überresten der Wehrmacht. Aus Doc Marten’s symbolisieren dabei einen Trend. Gummi, das in den Gerätschaften der Luftwaffe ver Mode verweist immer seltener auf die Identitäten arbeitet war, aus Leder, das die Hosen von Offizieren ihrer Träger*innen; ihre Funktion als sozialer Steck formte, aus Epauletten, die auf den Schulterpartien brief, gehüllt in Stoffe und Ornamente, verblasst. Vor von Uniformen hafteten. allem unter Youngstern.

In der Improvisationswirtschaft nach dem Ende Früher konnte man an Klamotten einiges ablesen. des Zweiten Weltkriegs hatte der deutsche Arzt Klaus Es gab die schwarzen Rollkragenpullis, die Philo Märtens dieses Recycling-Produkt gemeinsam mit sophie-Studierende in den späten 50ern trugen, einem Geschäftspartner entwickelt. In München er während sie in Pariser Jazzkellern existenzialistische öffnete das Unternehmerpaar 1952 eine Fabrik, wo Vibes verströmten. Die Batik-Hemden, die Schlagho ihre Erfindung schließlich industriell angefertigt sen, die Blumenkränze der Hippies. Die Turnschuhe, wurde. Als Doc Marten’s die breiten Hosen, die machte der Schuh später schlackernden Hemden Karriere. der Skater. Selbst in den

Eine britische Tra 90ern markierten Out ditionsfirma, mächtig fits noch Subkulturen. im Segment der Fußbe kleidung, erwarb die PaAngezogen wird alles, Etwa in der Techno-Be wegung, deren Matentrechte an den Galowas einen schinenmusik knapp schen; weil das Modell, als Gesundheitsschuh Wow-Effekt erzielt verhüllte, manchmal nackte Oberkörper zu vermarktet, so abseitig 120 beats per minutes und eigentümlich war, zucken ließen: Motorik wurde es in den folgen als modischer Auftritt. den Jahrzehnten zum Heute ist dieses Kultobjekt westlicher Zeichensystem brüchig Jugendkulturen. Ein Erkennungsmerkmal, das wie geworden. Die Klamotten und Accessoires, deren kein anderes Accessoire die Zugehörigkeit zu einzel Codes nicht mehr gelten, sind so vielfältig wie die nen Szenen verkörperte. Warenlager in den Logistik-Zentren der Online-Ver

Sid Vicious, der Bassist der Sex Pistols, trug diese sandhändler. Die Bomberjacke, einst Oberteil aus Schuhe, ebenso andere Punks, später banden sich den Kleiderschränken der Arbeiterklasse, wird heute Skins die Boots um, darunter waren auch rechts auch gern von Professorentöchtern getragen. Tattoos, radikalen Vollidioten, weshalb Docs bis heute leider ebenfalls ein proletarisches Symbol, dessen Träger unter Neonazis populär sind. Letztere tragen sie oft einstmals working class heroes in den Hallräumen mit weißen Schnürsenkeln. Auch gesehen wurde das des britischen Heavy Metals waren, Lemmy Kilmister Objekt an den Extremitäten von Grungerockern und etwa und Ozzy Osbourne, sind heute Hautgemälde SM-Aktivisten. Immer war dieser Stiefel ein Klei von Stadtbürgern, die sich abends zu Rotwein und dungsstück von Gegenkulturen, emanzipatorischer Risotto treffen. Ganz zu schweigen von verwaschenen Strömungen, aber eben auch menschenfeindlicher Pink-Floyd-T-Shirts, die Hipster mögen. Sie deuten Gruppen. nicht unbedingt darauf hin, dass zu Hause das „Um

Exakt dieser vieldeutige Treter ist heute so Main magumma“-Album in heavy rotation läuft. stream wie ein weißes T-Shirt, die Lidl-Tüte oder Wer dieses Phänomen verstehen will, findet eine Erdbeer-Eis. Ein Normcore-Artikel, der von Leuten Erklärung in einem zeitgenössischen Schlüsselwerk, aus der ganzen Gesellschaft getragen wird. Junge nämlich im 480-Seiten-Kompendium „Gesellschaft Neuköllnerinnen, die sonst in Douglas-Filialen um der Singularitäten“ des Kultursoziologen Andreas den ersten Platz im Katy-Perry-Lookalike-Contest Reckwitz. Darin beschreibt der Wissenschaftler, was wetteifern, tragen ihn. Raver*innen und Normalos die Menschen von heute, darunter auch die jungen ebenso. Genauso ältere Menschen, die auf der Straße Menschen aus den Mittelschichten, antreibt – ihre leben, gekleidet in Styles, denen in Hochglanz-Ma Lebensentwürfe, ihre habituellen Muster.

Als Punks noch Punks waren: Remineszenz an eine Subkultur

Seine These: In ihrem Alltag geht es um größtmögliche „Sichtbarkeit“. Auf Dresscodes heruntergebrochen: Angezogen wird alles, was einen Wow-Effekt erzielt. Die Mode wird dabei Mittel zum Zweck in einer Gegenwart, die von Social Media geprägt ist, vom Willen zur Selbstoptimierung und mannigfaltigen Möglichkeiten in den Tempeln des Konsums.

Früher ging es natürlich auch darum, Aufsehen zu erregen. Der Wandel besteht in der Bedeutungslosig keit der Garderoben. Die optische Erscheinung ist nicht mehr Spiegel einer Jugendkultur, kein Ebenbild dafür, ob jemand Punk oder Rap-Fan, Techno-Jün ger*in oder Metalhead, Schachspieler*in oder Waldschrat ist. Stattdessen ist alles ein großes Verklei dungsfest.

Im Maskenspiel auf den Trottoirs und Terrassen würde die ses Ideal bedeuten: Die optische Erscheinung Mode wird zur Per ist nicht mehr formance. Präsentiert wie Bildergalerien auf Spiegel einer Jugendkultur Instagram-Accounts, diesen Panoramen, auf denen Gipfelfotos aus dem Lanzarote-Urlaub, ausgeleuchtet von ma gischen Filtern, mitreißender sind als die karstige Realität.

In der Kleiderwahl wird die eigene Persönlich keit ebenso überzeichnet, manchmal sogar zur Behauptung, zur Fiktion. Der Typ auf der Weserstraße, der sich anzieht wie David Foster Wallace, mit Brille, Tennishemd und Bandanas, arbeitet in Wirklichkeit im Back Office von Zalando. Zugegebenermaßen ein erfundenes Beispiel.

Die Kleiderkisten für die Kostümierungen finden sich im Fundus einer unerschöpflichen Vintage-Kul tur – in Berlin etwa zu Kaufoptionen geworden auf den Ständen der Flohmärkte, am Maybachufer oder auf dem Boxhagener Platz, auf Online-Portalen wie Etsy und Kleiderkreisel.

Dass Kleider keine Chiffren mehr für persön liche Weltbilder sind, ist außerdem die Folge eines Büro-Alltags, wo Konventionen abgestreift werden, selbst in konservativen Kreisen. An den ständigen „Casual Fridays“ dürfen sich Unternehmensbera terinnen, Banker und Young Professionals aus der Jurisprudenz locker machen und in Espandrillos zu Meetings latschen.

Auf den Flohmärkten der Großstädte findet man Vintage-Kleidung en masse

Die Hijab ist ein Kleidungsstück, das besorgte Bürger verwirrt. Denn sie provoziert

Aber was bringt diese Flexibilität? Sind Textilien nis der Mode, schreibt in der „Zeit“ über den Monur noch Fetzen und Fummel in einer neoliberalen dest-Fashion-Trend: „Eine Frau, die sich in einen moReality-Show? Oder bringen die chamäleonhaften dischen Schleier hüllt, bekennt Farbe: Sie outet sich Verwandlungen einen spielerischen Umgang mit in einer oft islamophoben Gesellschaft als Muslima.“ Rollen und Klischees hervor, der von der Last gesell Sie kämpfe „um das Recht, sich in der öffentlichen schaftlicher Umstände befreit? Sphäre bedecken, verhüllen zu dürfen“. Das Kopftuch

Ein kulturpessimistischer Abgesang wäre jeden wird dabei zum Artefakt in einer Ikonografie der falls eine fade Leier. Rebellion, nebst Hüftschwüngen und Pilzfrisuren,

Die neue Freiheit an den Kleiderbügeln kann Irokesen, androgynen Looks und queeren Zungen auch subversiv sein. Ein Beispiel dafür ist das große küssen. Symbol an der Schwelle des neuen Jahrtausends: das Es steht unter den Vorzeichen eines modischen Kopftuch, das letztlich auch Accessoire einer Jugend Crossovers in einer multikulturellen Gesellschaft. kultur sein kann – einer migrantischen LebenswirkDenn in einer Stadt wie Berlin, in deren Shisha-Cafés, lichkeit im Wedding, in Restaurants und an Nord-Neukölln, in der deren Ausgeh-Treffs, Gropiusstadt. Oder etwa wird das Kopftuch nicht doch nicht? selten um Insignien

Unter besorgten eines westlichen Life Bürgern und einigen Feministinnen rufen Das Kopftuch wird dabei styles ergänzt. Darunter übrigens auch Doc Hijabs einige Ängste zum Artefakt in einer Marten’s, diese Stiefel, hervor. Alice Schwarzer und AfD-Politiker sehen Ikonografie der Rebellion die alles und nichts zu gleich bedeuten. Man darin Beweismittel. De könnte auch sagen: Die ren Anklage: Die Tücher Kopftuchträgerin ist stehen für die Unterdrü heute der größte Bürger ckung von Frauen. Nike, schreck. Zumal in Läneine der bedeutsamsten dern, wo Parteien wie Sportmarken der Welt, hat dagegen längst eine Mode die AfD in den Parlamenten sitzen und Brandstifter linie entwickelt – und damit die traditionelle Kopfwie Thilo Sarrazin immer noch Bestseller schreiben. bedeckung zum letzten Schrei in der Welt junger, Dort verwirrt und provoziert das Utensil. lässiger Influencerinnen gemacht. Die Zielgruppe der Warum aber taugen Kleidungsstücke nicht mehr angesagten Textilien bilden junge Fashionistas, die als Embleme für musikalischen Szenen und Subkul in Saudi-Arabien, Bahrain und den Vereinigten Ara turen? bischen Emiraten leben. Oder eben auch in Marseille, Ein Bruch, der damit zu tun haben könnte, dass Stockholm und Berlin – und deren Eltern oder Groß Musik heute, im Zeitalter von Spotify, als großes, in eltern vielleicht einmal aus dem Maghreb, der Türkei einanderfließendes Klangarchiv wahrgenommen oder der arabischen Halbinsel eingewandert sind. wird. Dabei verwischen die Arrondierungen – auch

Dass unter Kopftuchträgerinnen auch Frauen sind, in der Hauptstadt. So dass auch nicht mehr jene Ab die leiden, nämlich unter den Folgen missinterpre grenzungsrituale eine Rolle spielen, die früher eintierter Koranverse, Chauvinismus und einem engen mal typisch waren: Mod vs. Rocker, Popper vs. Punk, Lebensradius: sehr wahrscheinlich. Alles andere wäre Eastcoast vs. Westcoast. verklärender Kitsch. Die Kopftücher bedecken aber „Wer die Mode zu lesen versteht“, hat der Philo auch die Häupter von Frauen, die weitaus selbstbe soph Walter Benjamin einmal gesagt, „kann lesen, stimmter sind als in den Ressentiments der Mehrwas kommt.“ Berlin, die Stadt der Early Adopter, ist heitsgesellschaft. Und deren Kleider nicht immer der passende Ort für diesen Blick in die Zukunft. Verstummung unter dem Einfluss religiöser Episteln spiegeln. Sie sind vor allem die Fans dieser Modest Fashion, die Konzerne wie Nike zur Couture machen.

Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, Autorin von Büchern wie „Angezogen – Das Geheim

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