goon magazin, n°25

Page 1

BYe BYe…

magazin für gegenwartskultur no.25  frühling 2008 www.goon-magazin.de

VIDEOSPIELSPEZIAL

Junges Medium, junge Kunst  s.68 Neue Räume: Kampftourismus ...  s. 74


editorial

no. fünfundzwanzig  25

Kleine Ursache!

Apple MacBook Air inkl. Beratung ab 1.699,00 Euro Bei GRAVIS bekommen Sie mehr – mehr Vorteile, mehr Aufmerksamkeit, mehr Kompetenz. Zum Beispiel zum superflachen, neuen MacBook Air. Kommen Sie vorbei und probieren Sie es aus. Ganz in Ihrer Nähe und im Internet: www.gravis.de

GRAVIS ist ausgezeichnet mit dem European Seal of E-Excellence für das beste Preis-Leistungsverhältnis für Produkte, Service und Beratung.

von sebastian hinz

»Es ist kein rechter Schluss, es muss ein richtiger da sein, muss, muss, muss.« bertolt brecht

Bekanntlich soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist. Nur dürfte dann das Kapitel dieses Printmagazins noch nicht geschlossen werden. Wir streben mit diesem Schritt auch kein Ende des Drecks an, den wir angerichtet haben. Es gibt nur einfach keine andere Wahl. (Das ist am schlimmsten!) In den letzten sechs Jahren und mit nunmehr 25 Ausgaben war es das alleinige Anliegen aller Beteiligten, ein gutes Heft zu machen. Es galt sich abzuheben von der einschlägigen Journaille, die ihren selbstgewählten popkulturellen und zeitgenössischen Themen zunehmend mit Gleichgültigkeit begegneten. Als wir 2002 die erste Ausgabe veröffentlichten, machte sich bereits einige Zeit diese Interesselosigkeit an der Welt und somit auch an der Kultur bemerkbar, die einerseits der Hedonismusförderung in Popkunst und Literatur der 1990er Jahre, andererseits der Resignation der Autoren vor den Verflechtungen in ein Markt- und Mediengefüge geschuldet war. Diese Idiosynkrasie von Popliteratur und auch Popjournalismus war uns ein Dorn im Auge, blieben doch dabei vor allem jene Leser auf der Strecke, für die Musik, Literatur, Theater, Kunst, Film oder Comics schlichtweg mehr bedeutete, als das unterstützende Gefühl eines kurzen Aufbäumens während der Adoleszenz, die nicht nur jene Songs in ihrem iPod willkürlich wiedergeben, die sie schon als 16-jährige inspirierten (oder schlimmer: ihnen gar nichts bedeuten). Mitunter wurde vergessen, dass es Menschen gibt, für die Gegenwartskultur immer auch Selbstvergewisserung, Differenzerfahrung und Identitätsstifter war. Für diese Interessierten wollten wir schreiben. Denn auch für uns ist Kultur nicht nur so ein Kick: Das ist unser Leben! So abgedroschen dieser Satz auch klingt, unsere Devise war: »Lasst uns die Zeitung machen, die uns selber gefällt und die wir vermissen!« Und es ist ein wunderbares Gefühl zu wissen, diesen Traum realisiert zu haben. Wir haben eine Zeitschrift herausgebracht, welche die Komplexität – die wunderbare Vielfalt als auch die feinen Verästelungen – der Gegenwartskultur ernsthaft und anregend vermittelte. Unsere Themenauswahl war ambitioniert, Kompromisse immer ein Schlag in die Magengrube. Wir haben die Spreu vom Weizen getrennt, lange bevor andere Magazine das als ihre große Idee verkauften. Bei diesen Ambitionen darf es auch nicht verwundern, wenn wir in dieser letzten Ausgabe noch ein weiteres Themenfeld öffnen. Doch schaut man genauer, ist unser Videospiel-Spezial (ab Seite 68) nicht nur eine spezifische Auseinandersetzung mit Computerspielen, sondern kann insgeheim auch als ein Kommentar zur allgemeinen kulturellen Lage gelesen werden. Von der Wertschätzung des Produktes, über den Wunsch nach einer ernsthaften ästhetischen Auseinandersetzung, bis hin zur mangelhaften Rezeption dieses permanent aufblühenden Kulturzweiges in den Medien werden genau jene Dinge angesprochen, die uns an dieser Stelle seit zwei Dutzend Ausgaben auch auf anderen Gebieten der Gegenwartskultur beschäftigt haben. Dahinter steckt wie immer ein versteckter Aufruf an den Leser, die Augen zu öffnen und das Alltägliche, das scheinbar Gewöhnliche, neu und anders kennen zu lernen. Und nicht zu letzt ist die hier, in unserer abschließenden Ausgabe begonnene, aufrichtige Auseinandersetzung mit Videospielen auch Indiz dafür, dass in einem scheinbaren Ende ein möglicher Anfang schon impliziert sein könnte. Es ist eben noch nicht am schönsten, also warum sollten wir dann ruhen?

www.goon-media.de editorial  3


ingredients no. 25

fetzen 6 material: Game Shirts 7 Zaptastic  KinoKontrovers 8 New Trade Order 9 ShortFilmStop 10 plattentektonik mit AGF 11 Naketano  Malte Seidel

»Sound ist physischer und fassbarer, als man sich allgemein vorstellen kann. Es ist für mich eine formbare Substanz, die sich auf unzählige Arten verändern kann.« ROB MAZUREK im Gespräch

Seite 14

»Wenn der Monitor das neue Tor zur Welt ist, dann sind Videospiele der Eingang in die Unterwelt.« Das VIDEO-GAMES-SPECIAL ab Seite 86

Die wundersame Musik der finnischen Musikerin Merja Kokkonen s.20

Kant war gestern: Thomas Ostermeiers Inszenierungen s.38

Artifizialität in den Filmen von Douglas Sirk s.56

Mario & Co. – Die Welt der Videospiele s.68

töne

worte

bilder

zeichen

14 18 20 21 22 23 24

34 38 40 42 43

52 54 56 57 58 60 61

Eis Zeit Raum Patricia Highsmith Douglas Sirk Janne Lehtinen Dirk Schwieger »Don Jon« Marc Hempel

68 72 74 76 78

62 63 64 65 66 67

Todd Haynes  Joel und Ethan Coen Hugo Verlinde  Hans-Jürgen Syberberg Benjamin Wolberg Alan Moore  Paul Thomas Anderson

Kroatische Gegenwartsliteratur Thomas Ostermeier Sonja Eismann David Peace Don DeLillo

79 »Project Gotham Racing«  »The Sims« 80 »Advanced Wars: Dark Conflict«  »Gesundheit« 81 genealogie der superhelden Teenage Mutant Ninja Turtles

reviews 26 epiphany outlet 27 Delbo  F.S.K. 28 beep street 29 Fessenden  Snöleoparden 30 Colorlist  Food 31 the relay

44 45 46 47 48 49

performativ Jenny Erpenbeck Piereangelo Maset  William Blake Hamid Skif  »Wann kommt Mama« Tanja Bogusz

eklektische schatten

white cubes

standards 11 Impressum 84 kolumne

framerate

RLM 4  ingredients

Die Welt der Videospiele Videospieljournalismus Das Prinzip des Raumes Ästhetik des Videospiels Super Mario

Miau.

Rob Mazurek Autechre Islaja Taunus Xiu Xiu Gregor Samsa Suggestion eines Kunstwerks

ingredients  5


fetzen

fetzen

PlaYerS CHoiCe Seine Leidenschaften trägt der Popist gerne auf der Brust. Und was dem Musicfreak das Bandshirt, ist dem Gamergeek das Gaming Shirt! HinG.Com omainClot d iC l B u P | teeS.Com

S

tS.Com | 80

nerdYSHir

ZaPtaStiC! Für die einen ist es nur ein Stück weißes Plastik, in das man die Wii-mote und den Nunchuk steckt. Für die anderen ist es der Wii-Zapper, eine Art Lightgun, die von kommenden Wii-Actionspielen wie »Resident Evil – The Umbrella Chronicles«, »Medal of Honor« oder »Ghost Squad« unterstützt wird. Neu ist das nicht, Nintendo hatte schon für frühere Konsolen den NES-Zapper und den SNES Super Scope hergestellt, und damit das Arcade-Gefühl der Lightgun-Shooter auf das Sofa geholt. Der Plastikrahmen allein kann nix, ist ein reines Accessoire, macht aber Shooter für die Wii zugänglich. Der Zapper kommt mit »Link’s Crossbow Training« im Paket, Schießübungen, die sich markanter Locations aus »The Legend of Zelda –The Twilight Princess« bedienen. »Link’s Crossbow Training« von Nintendo C

kinGPlaYer.de | loWreZ .de | joYStiCkju

M

nkieS.Com

Y

CM

MY

CY

CMY

K

“ A master of interpretation” Time Out

“She inhabits other people’s songs with a fierce conviction that’s often startling.” Mojo

feat. Songs von Frank Sinatra, Hank Williams, Bob Dylan, Janis Joplin, Billie Holiday und Cat Power selbst. Limited Edition mit 5 Bonus-Tracks (mit Songs von Nick Cave, Roberta Flack, u.a.) 6  fetzen

13.04. Köln 21.04. Hamburg 22.04. Berlin 23.04. Frankfurt 24.04. München

LIVE

limited edition mit 4 Bonus-Tracks

CAT POWER JUKEBOX

NEUES ALBUM AB 07.03.

kinokontroverS Mit einer Reihe makelloser Veröffentlichungen hat sich die DVD-Edition KinoKontrovers (Legend) längst zum essenziellen Ort der Filmkunst im deutschen Markt entwickelt. Wie breit das Spektrum des titelgebenden Schlagwortes aufgefasst wird, zeigt sich an zwei aktuellen Beiträgen. Während der Belgier Koen Mortier mit »Ex Drummer« ein punkig-existenzialistisches Manifest der schwarzen Sozialromantik formuliert, begibt sich Robinson Devor in seinem Doku-Essay »Zoo« auf die Spuren eines authentischen Falles von Zoophilie mit Todesfolge (für den Täter, nicht das Pferd …) aus dem Jahr 2005. Vorsichtig und meditativ umkreist Devor das Tabuthema und liefert so einen würdigen Beitrag zu einer Edition, die sich allen Erscheinungsformen des Unkonventionellen in der cineastischen Kunst widmet. »Ex Drummer« (KinoKontrovers 7) von Koen Mortier, ab 31.3.2008 auf DVD »Zoo« (KinoKontrovers 8) von Robinson Devor, noch ohne Termin (beide Legend)

SEITE 83 >

Goon t S verlo fetzen  7

ByteFM mixtape. täglich um 17 Uhr @ ByteFM Webradio www.byte.fm


fetzen

fetzen

SHortFilmSHoP

neW trade order Das Projekt »New Trade Order« führt Independentfirmen aus den unterschiedlichen Bereichen Musik (Rubaiyat, Monika Enterprise), Mode (Fairwear, fairliebt.) und Zeitungswesen (SPELLA) im Zeichen der »Fairness« zusammen. Es ist ein Gegenentwurf zu den unverständlichen Kooperationsmachenschaften zwischen Indie-Szene und Industrie. »New Trade Order« ist die Reaktion auf einen Artikel von Ted Gaier aus dem vergangenen Jahr zu den Widersprüchen von Kooperationen zwischen Indie-MusikSzene und Industrie. Welche Thesen werden dort verfolgt? Magnus Miller, Rubaiyat: Ted Gaier hat u.a. in einem Interview mit dem Initiator der Jägermeister-Rock-Liga zum Ausdruck gebracht, wie er mit der Idee Rock-Liga differiert: Weder die Veranstaltung selbst, noch die Motivationen von Indie-Bands, die daran teilnehmen, sind für ihn selbstverständlich und »ok«! Die Rock-Liga steht im Grunde stellvertretend für viele der fragwürdigen Kooperationen zwischen Indie-Kultur und Monster-FirmenSponsoring, die inzwischen als ganz normal angesehen werden. Auch wir denken, dass diese Form nicht der Weg sein kann. Wir verurteilen dies aber auch nicht pauschal, da wir selber auch indirekte Berührungen zur Industrie haben.

Mit welchen Ideen will »New Trade Order« sich diesen Widersprüchen entgegenstellen? Mathias Ahrberg, fairliebt: Mathias Ahrberg, fairliebt: Die codierte Kultur des Undergrounds mit ihrem Image der Unabhängigkeit ist ein beliebtes Objekt der etablierten Industrie, um die eigenen Produkte emotional aufzuladen. Solche Kooperationen und die damit einhergehenden Synergieeffekte, gehören am übersättigten Markt zum guten Ton, und für uns zählt in erster Linie die Arbeitsweise der Partner und nicht ihre wirtschaftliche Stärke. Es geht um die Währung Freundlichkeit. Magnus Miller, Rubaiyat: Bei der Idee »New Trade Order« stehen Kooperationen mit Firmen im Vordergrund, die wir sehr schätzen, auch wenn diese Zusammenarbeiten letztendlich auf viel kleinerem Level stattfinden. Wichtig ist, dass die Musikwelt von sich aus mehr über den Tellerrand blickt, wenn es um Inhalte und Umsetzungen geht und mehr Indies aus anderen Disziplinen unterstützt. Firmen wie Fairwear oder fairliebt. sind meines Erachtens mehr »Indie« als die meisten Musiklabels oder Musiker, die dieses Etikett tragen. Die Compilation »New Trade Order« ist bei Rubaiyat/Monika Enterprise/Groove Attack erschienen und kostenlos erhältlich

Das WorldWideWeb auf der einen und die DVD-R auf der anderen Seite dienen im Diskurs um die Filmdistribution als Projektionsflächen zweier diametraler Positionen: als Sündenböcke für verwerfliches Raubkopieren wie als filmwirtschaftliche Utopie des Obsoletwerdens von Speichermedien. Dass ihr wahrer Wert vielleicht eher darin liegt, schwer zu vermarktende Formen wie den Kurzfilm verfügbar zu machen, zeigt das Projekt ShortFilmShop der KurzFilmAgentur Hamburg. Gegen ein Entgelt von € 3,00/ Film werden bislang 22 Filme zum Download angeboten, bei Erwerb kommt neben der brennfertigen, mit handelsüblichen DVD-Playern kompatiblen Image-Datei auch ein Cover zum Ausdrucken. Auf Kopierschutzrestriktionen wird hingegen verzichtet – ein Zeichen des Respekts vor dem zahlenden Kunden und ein unbedingt unterstützenswertes Projekt. http://shop.shortfilm.com

H ICAB E ! E H T YL S foto: aus: »ich rette das multiversum« von ulf groote

Gefördert durch die

«

sse

nn eigni r ma Lieb der E s k a re ani And Mech e »Di

CHUTSSAGA D EN D ungsLA fführ tt a u Urawerkst

8  fetzen

3 Kurzstücke zu den 90ern: ab 17.3.2008 // 3 Kurzstücke zu den 00ern: ab 11.4.2008 // fetzen  9 Die zusammengesetzte Deutschlandsaga (50er bis 00er): ab 23.4.2008 // Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin // Karten: 030.890023 // www.schaubuehne.de


platten, die mich geformt, gebessert und gebildet haben

fetzen

impressum

Plattentektonik mit aGF Um fĂźr mein neues Album ÂťWords Are MissingÂŤ zu werben, mĂźsste ich hier eigentlich von Stockhausen schreiben, aber da will ich gar nicht hin. Ich war ein einziges mal in meinem Leben in einem Fanclub, so richtig mit Fanclubausweis und den Namen der Band auf meine Jeans sticken, mit Freunden zu den Konzerten trampen, die gleichen Haare stylen wie die Sängerin, erste Reihe Hände hoch, Schwitzen und jeden Seufzer mitsingen. Die Band damals hieĂ&#x; Silly und deren Frontfrau Tamara Danz leider inzwischen tod. Sillys erstes Album ÂťMont KlamottÂŤ kam 1983 raus und ich war 14 Jahre alt, lebte in Halle-Neustadt, Block 953, Haus 15 (heute weggerissen) und brauchte dringend die echte Welt, Tamara Danz und vor allem die exzellenten Texte von Werner Karma und später auch von Danz selbst haben sie mir erĂśffnet. Sie war poetisch, hyperemotional, politisch aufgeladen, subversiv, verfĂźhrerisch, dramatisch. Es waren die Jahre vor der Wende und ich habe damals so dermaĂ&#x;en mitgerockt, dass ich alles Rockpotential das ein Mensch in einem Leben hat komplett verrockt haben muss. Rockmusik ist gemeinsam mit der DDR aus meinem Leben verschwunden. Es ist neue wunderbare Musik and diese Stelle getreten und sie funktioniert anders. Aber Alben wie ÂťMont KlamottÂŤ, ÂťLiebeswalzer Battalion d’AmurÂŤ, ÂťFebruarÂŤ und ÂťParadiesvogelÂŤ sind Schätze! Vermutlich hat mich

diese Energie mehr geprägt als jede Bassdrum danach. Was nicht heiĂ&#x;t, dass ich diese Musik heute genieĂ&#x;en kann, aber ich muss zugeben, sie hat mich beim Schreiben dieser Kolumne zum Heulen gebracht. Silly hat mir gezeigt wie kraftvoll Musik sein und was sie bewegen kann. Ich war Ăźber alle MaĂ&#x;en absorbiert und hingebungsvoll versessen. Silly verdanke ich sehr viel, sie haben einen geheimen unsichtbaren Code tief in mich hineingeschrieben ‌ ÂťParadiesvĂśgel fängt man nicht ein. ParadiesvĂśgel fliegen dir zu von ganz allein.ÂŤ AGF (aka Antye Greie) ist Sängerin, Software-Musikerin, Produzentin und E-Poetin. AGFs Soloarbeiten ergaben sich aus der kĂźnstlerischen Erkundung der digitalen Technologie, was sich auf ihrem ersten Soloalbum ÂťHead Slash BauchÂŤ (auf Orthlorng Musork 2001) manifestierte, in dem sie Fragmente von HTML-Skript und Software-HandbĂźchern in eine Form der elektronischen Poesie und dekonstruierten Pop Ăźbersetzt. Eine persĂśnliche Form der Poesie in die elektronische Musik, Popsongs, Kalligraphie und das Internet transferierend, haben ihre Live-Auftritte, Performances und Klanginstallationen auf der ganzen Welt – in Museen, Auditorien, Theatern, Konzerthallen und Clubs stattgefunden. AGF lebt und arbeitet in Berlin. Weitere Projekte sind das deutsche Elektronik-Duo Laub, die Lappetites, AGF/DELAY (mit Vladislav Delay), THE DOLLS (Delay und Craig Armstrong) und Zavoloka&AGF. Soeben ist ihr neues Soloalbum ÂťWords Are MissingÂŤ auf ihrem eigenen Label AGF Producktions erschienen. Mehr: www.poemproducer.com

XXX xxx xxx

8=6GADII:;>:A9

%)#%( 7Vc\ 7Vc\ 8ajW

76GG6 =:69 C>8: C:L DJI;>I

&*#%( HX]d`daVYZc

6B6C9>C: =JC<GN! =JC<GN <=DHI

''#%( HX]d`daVYZc

;G6C@ H=>CD7> E:I:GH %(#%) HX]d`daVYZc

herausgeber ÂŽ media e.V. Sebastian Hinz, Postfach 12 69 29, 10609 Berlin sebastian@goon-magazin.de

goon

redaktion Dan Gorenstein, Astrid Hackel, Sebastian Hinz (ViSdP), Zuzanna Jakubowski, Jens Pacholsky, Jochen Werner Email: vorname@goon-magazin.de art direction & gestaltung Daniel Rosenfeld ď›œ layout@goon-magazin.de ďŹ nanzen & veranstaltungsmanagement Falk Stäps ď›œ falk@goon-magazin.de abonnementverwaltung & vertrieb Jens Pacholsky ď›œ abo@goon-magazin.de anzeigenleitung & marketing Stefan Gerats ď›œ anzeigen@goon-magazin.de Es gilt die Anzeigenpreisliste II/2008 internetauftritt Daniel Rosenfeld ď›œ layout@goon-magazin.de Stefan Gerats ď›œ stefan@goon-magazin.de Sebastian Munz ď›œ slade.de/projekte bildredaktion Tilman Junge public relations Fabian Saul schlussredaktion Mareike WĂśhler praktikantin Vera HĂślscher titelgestaltung Daniel Rosenfeld Desweiteren danken wir ihrer Mitarbeit: Shehan Bonatz, Bruno Colajanni, Klaus EsterluĂ&#x;, Antye Greie, Cornelis Hähnel, Mitja Harloff, Renko Heuer, Vera HĂślscher, Andreas Huth, Ronald Klein, Ireneusz Kmieciak, Anne Kraume, Michael Krause, Patrick KĂźppers, Brock Landers, Caroline Lang, Susanne Lederle, Holger Lehmann, Kruno Lokotar, Sabine Lenore MĂźller, Stefan Murawski, Roland Osswald, Robert Pick, Matthias Penzel, Konrad Roenne, Julia Saul, Annika Schmidt, Nina Scholz, Alexander Schubert, Pascal Schulthess, Markus von Schwerin, Malte Seidel, Eileen Seifert, Martin Silbermann, Lea Streisand, Falko Teichmann, Bernd Weintraub, Robert Wenrich Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck – auch nur auszugsweise – darf nur mit vorheriger und schriftlicher Einwilligung der Redaktion erfolgen. Alle Urheberrechte liegen bei der Redaktion, sofern nicht anders angegeben. Die Urheberrechte der Artikel, Fotos und Illustrationen bleiben bei den Verfassern, Fotografen und Illustratoren. FĂźr unaufgefordert eingesandtes Material aller Art wird weder Verwendung garantiert noch Verantwortung Ăźbernommen.

lieBlinGSklamotte Im Herbst 2004 hat ein kleines und feines Streetwear-Projekt das Licht der Welt erblickt und wurde liebevoll und wohlßberlegt auf den Namen Naketano getauft. Dahinter steckt kein Multikonzern, der mit sympathischer Front Horden von twenty-somethings die Praktikumsvergßtung aus der Tasche zieht, sondern ein kleiner Stab an jungen Designern, der sich bemßht, uns mit gemßtlichen und unentbehrlichen Lieblingsteilen zu versorgen. Nicole Christensen, bekannt durch ihre Arbeit als Chefdesignerin bei mazine, und ihr Team verfolgen mit Naketano eine absolut immer farbenfrohe, sportliche und feminine Linie, die in ausgewählten Shops und online zu bekommen ist. Wir verlosen auf Seite 83 ein Lieblingsstßck. www.naketano.de

SEITE 83 >

Goon t S verlo

malte Seidel Das spannendste an der Kunst ist die Suche nach eindeutiger Interpretation. Das steht im Widerspruch zur Kunst, die – wie auch bei den Bildern des Wahlberliners Malte Seidel – meist anstelle von Klarheit etwas Geisterhaftes offeriert. ›Geist‚ hĂśrt sich erstmal komisch an, aber ich wĂźrde ihn so interpretieren, dass es um das Wesen eines Menschen geht. Ich glaube, dass die wahren Momente zwischen Menschen dann stattfinden, wenn sie etwas von ihrem Wesen preisgeben. Wenn ich mich an diese Momente versuche zu erinnern, finde ich keineswegs plakative Bilder, sondern Bilder aus GefĂźhlen, die fast ›geisterhaft‚ sind, wieder verschwinden und mich trotzdem intensiv berĂźhren.ÂŤ FĂźr unsere Ressortbilder hat der 22jährige den Scanner als Werkzeug entdeckt.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Fßr ihre Artikel ßbernehmen die Autoren die presserechtliche Verantwortung. leserbriefe post@goon-magazin.de

goon wird bundesweit vertrieben mit freundlicher UnterstĂźtzung von: ÂŽ

HJGGDJC9:9 %)#%) HX]d`daVYZc

B>MI6E:H 8:AAB6I:H 86IH 6C9 86IH 6C9 86IH

&%#%) HX]d`daVYZc

8JI 8>IN

Dieses Heft ist die vorerst letzte Ausgabe des Goon Magazins. Bis zu einem baldigen Neubeginn bleibt uns bitte gewogen:

www.goon-media.de

&(#%) C7>

I=>H L>AA 9:HIGDN NDJ

''#%) 8V[Z OVeViV fetzen ď›œ 11

10 ď›œ fetzen

`aVc\`aVc\`aVc\#YZ


töne

töne

»Sean Booth und Rob Brown sprengen dabei alle Hörgrenzen, denn so haben Funk, HipHop und Acid zuvor nicht geklungen. Es kann nicht falsch sein, Autechre als die letzten großen Revolutionäre der elektronischen Musik zu bezeichnen.« Eine Laudatio für AUTECHRE Seite 18

»Uns regen eher die kleine Sachen an, die sich kaum merklich verändern, wo es keine Spannung gibt, die sich entladen möchte.« Jochen Briesen von TAUNUS im Gespräch Seite 21

14 18 20 21 22 23 24

Rob Mazurek Autechre Islaja Taunus Xiu Xiu Gregor Samsa Suggestion eines Kunstwerks

reviews 26 epiphany outlet 27 Delbo  F.S.K. 28 beep street 29 Fessenden  Snöleoparden 30 Colorlist  Food 31 the relay


Nuno Ramos: Menschen, die ein Feuer in mir entfachen. Auch Filme bescheren mir gute Einfälle. Man sagt außerdem, Sie seien ein sehr politischer Mensch. The Chicago Underground, das Ensemble, das Sie mit dem Schlagzeuger Chad Taylor und mitunter einigen Gastmusikern bestreiten, definiert sich in erster Linie als politische Combo und eben nicht als Jazzkapelle oder RockBand. Glauben Sie, dass Musik die Gesellschaft verändern kann? Letztlich geht es doch schlicht darum, ein Gefühl zu vermitteln, eine gewisse Stimmung, die in einem abstrakten oder weniger abstrakten Sinne die Möglichkeit eines einzig kreativen Lebensentwurfes vorschlägt, ohne der Last und der Konfusion eines Krieges ausgesetzt zu sein. Es sind gerade Vorwahlen in den Vereinigten Staaten. Verfolgen Sie diesen Wahlkampf? Ja, ich bin sehr interessiert und nehme regen Anteil an diesen Vorwahlen. Wie eben bereits erwähnt, muss es doch möglich sein, ein künstlerisches Leben zu führen, ohne der Belastung eines Krieges ausgesetzt zu sein. Die BushRegierung abzusetzen ist der erste Schritt dahin. Meines Erachtens könnte Barack Obama ein hervorragender Präsident sein.

Die Grenzen des Gehörs ausmessen Innerhalb der gedeihenden Avantgarde- und Jazzszene Chicagos ist roB maZurek eine der Triebfedern. In mindestens einem halben Dutzend Projekten ist der Trompeter derzeit aktiv und auch als Gastmusiker tritt er regelmäßig in unzähligen Kollaborationen in Erscheinung. Nicht nur ist Ende des letzten Jahres die DVD »Chronicle« mit Live-Aufnahmen des Chicago Underground Trios bei Delmark erschienen, für Mitte dieses Jahres ist auch ein neues Album von Sao Paulo Underground bei Aesthetics angekündigt und soeben wurde bei Thrill Jockey die Zusammenarbeit zwischen dem Exploding Star Orchestra und der Jazzlegende Bill Dixon veröffentlicht. Zeit für ein Interview …

14  töne

text, interview: sebastian hinz foto: jim newberry

Herr Mazurek, es scheint, Sie sind ein ziemlich eifriger Mensch. Wo kommen denn Ihre ganzen Einfälle her? Rob Mazurek: Meine besten Ideen scheine ich zu haben, wenn ich einen langen Spaziergang mache oder zum Mond schaue oder im Ozean schwimmen gehe. Dabei beginnt ein Sound in meinem Kopf zu wirbeln, und schließlich muss ich diese Eingebungen nur noch zu Papier bringen. Normalerweise bringe ich die Kompositionen an meinem Klavier zu Ende. Mich stimulieren aber auch die Lektüre kritischer Kunsttheorien oder die Beschäftigung mit Arbeiten anderer Künstler wie James Turrell, Mark Rothko,

Der Jazz selbst hatte auch immer eine politische Dimension. Nicht zuletzt war Jazz stets verbunden mit der Idee der Gleichheit: Die kollektive Improvisation galt als Vorwegnahme einer gleichberechtigten Gesellschaft. Würden Sie ihre musikalische Arbeit auch in diese Tradition einordnen? Ich glaube an die wahre Demokratie. Meines Erachtens hat die Improvisation eindeutig die Fähigkeit, Politisches zu übertragen. In der von mir entworfenen Musik hat jeder Musiker jederzeit die Möglichkeit, alles auszuprobieren. Dabei muss natürlich sowohl das Vertrauen in diese Möglichkeit als auch in die eigenen Fähigkeiten sehr hoch sein. Es ist ein lebenslanger Prozess, der mitunter nichts mit der eigentlichen Instrumentenbehandlung gemein hat. Jazz ist eine sehr spirituelle Musik, was es unbedingt an die Sonne zu bringen bedarf. Am Ende geht es doch darum, etwas für die Allgemeinheit zu schaffen. Von eben dieser Allgemeinheit erhält Jazz derzeit wieder größere Aufmerksamkeit. Gerade Kritiker und Musikliebhaber, Menschen also, die Musik allgemein als Kunstform verstehen, hören wieder mehr beim Jazz hin. Was glauben Sie, worin die Gründe dafür liegen? Das liegt vielleicht an der Natur dieser Musik. Der Klang des Jazz ist sehr natürlich, ebenso unverfälscht, schlicht, ungekünstelt, wie die Dinge, die wir auch sonst am Leben am meisten mögen. Der Krieg ist nicht natürlich. Ein Blick in den Himmel dagegen schon. Neulich war ich in einem Klub in Chicago namens Rodan, wo Jeff Parker, Josh Abrams und John Herndon auftraten. Das war unglaublich: dieser Klang, diese Tonfolgen! Der Saal war leer, doch ich konnte den Sound fühlen. Ich habe mir erlaubt, mich ganz dieser wundervollen Musik hinzugeben. Der Saal war leer … töne  15


Vor kurzem war im amerikanischen Rolling Stone vom »War of Loudness« zu lesen. Hintergrund war, dass in Zeiten der MP3 der Sound an Qualität eingebüßt hätte. Merkwürdig nicht allein deshalb, weil wir, von technischer Seite aus betrachtet, eigentlich den besten Klang aller Zeiten haben könnten. Die Quelle dieses »War of Loudness« ist die akustische Kompression von moderner Popmusik: die eher leisen Töne werden angehoben und die lauteren Ausschläge werden rigoros abgesenkt – die leisen Töne werden lauter und die lauten Töne werden leiser. Damit einher geht der Verlust der Lautstärke als kompositorisches Mittel. Die Verlierer dieses Trends sind Toningenieure, Produzenten und die ambitionierten Hörer. Liegt vielleicht auch darin ein Grund, dass sich Musikliebhaber wieder mehr der Faszination natürlicher Klangerzeugung widmen? Die Menschheit sollte sich in manchen Dingen unbedingt einer Neubewertung ihrer »Errungenschaften« stellen. Die Möglichkeiten für den Menschen sind unglaublich, vielfältig und oftmals verwirrend. Wir werden ohne Unterlass bombardiert mit Bildern und Geräuschen. Wie niemals zuvor in der Geschichte der Welt sollten wir einen Schritt zurücktreten und wieder anfangen, den Blättern in den Bäumen zu lauschen. Es gilt zurückzuerobern, was für eine wunderbare Resonanz ein Sound besitzt. Ihre Arbeit als Musiker besteht in erster Linie in der Herstellung und Manipulation von Sound, ob nun als Jazztrompeter oder bei der Komposition mit elektronischer Musik. Was ist das eigentlich genau: »Sound«? Stimmt, manchmal manipuliere ich den »Sound« ein bisschen und manchmal lasse ich ihn weitestgehend, wie er ist. Doch eigentlich spielt es keine Rolle, ob ich den »Sound« nun so belasse oder ihn auf verschiedene Weisen verändere, denn der Punkt ist: Es ist immer einfach nur »Sound«. Ich mag es, »Sound« zu nehmen und sowohl physisch als auch metaphysisch mit ihm eins zu werden. Dahingehend haben Sie einmal den Satz geäußert: »Sound has also taken on quite a sculptural quality«. Der Sound sollte auch in seinen bildhauerischen Eigenschaften betrachtet werden. Nun ist ihre zweite Leidenschaft neben der Musik die Malerei. Gibt es Verbindungen zwischen ihrer visuellen Kunst und ihrer Musik? Ich hatte sehr oft das Gefühl, dass ich mit Sound zeichne. Ebenso häufig glaube ich, dass ich mit Sound bildhauerisch umgehen kann. Sound ist physischer und fassbarer, als man sich allgemein vorstellen kann. Es ist für mich eine formbare Substanz, die sich auf unzählige Arten verändern kann. Letztlich geht es darum, diese komplexe Architektur direkt in den Himmel zu bauen und die Atmosphäre mit dem Licht des Sounds zu bestrahlen. Das Exploding Star Orchestra ist ja so etwas wie die lose Zusammenkunft einiger der besten Jazzmusiker Chicagos. Wie ist es eigentlich zu diesem Projekt gekommen? Das war so, dass eines Tages das Chicago Cultural Center an mich herangetreten ist und mich beauftragte, ein großes Ensemble zusammenzustellen, welches 16  töne

im Millenium Park in Chicago auftreten sollte. Dabei sollte die Gruppe eine vielfältige Auswahl an Musikern beinhalten, die möglichst die avantgardistische Seite der Chicagoer Musikerszene repräsentieren. Ich habe die Musiker ausgewählt, Proben veranstaltet und schon war das Exploding Star Orchestra geboren. Auf dem neuen Album des Exploding Star Orchestra war der Trompeter Bill Dixon maßgeblich in den Aufnahmeprozess integriert. Könnten Sie uns erzählen, wie es ist, mit einer lebenden Legende zusammen zu arbeiten? Für das aktuelle Album haben wir zwei Versionen von Bill Dixon eingespielt. Sie heißen »Entrances/One« und »Entrances/Two«. Außerdem nahmen wir zwei Versionen von meiner Komposition »Constellations for Inner Light Projections (for Bill Dixon)« auf. Dabei gab es sehr intensive Auseinandersetzungen über die Beschaffenheit des Klanges. Wir haben uns eine Woche Zeit genommen, um wirklich sehr intensiv zu proben, wodurch wir einige der anwesenden Musiker wirklich an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringen konnten; die Kompositionen erhielten dadurch eine dichtere Konsistenz, und auch die Musiker selbst rückten näher zusammen. Und Bill Dixon – er ist ein Meister der Projektion. Seine Intensität als Instrumentalist und Ideengeber ist gewaltig. Mit einem einzigen Atemzug kann er einen ganzen Berg dem Erdboden gleichmachen; mit einem kurzen Flöten errichtet er einen aus Vögeln bestehenden Wolkenkratzer. Allein in der Nähe dieses großartigen Mannes zu sein, war ein reines Vergnügen und eine Herausforderung auf allen Ebenen. Bill Dixon fordert deine Aufmerksamkeit und bereitet dich darauf vor, auf alles gefasst sein zu müssen.

»Bill Dixon ist ein Meister der Projektion. Seine Intensität als Instrumentalist und Ideengeber ist gewaltig. Mit einem einzigen Atemzug kann er einen ganzen Berg dem Erdboden gleichmachen; mit einem kurzen Flöten errichtet er einen nur aus Vögeln bestehenden Wolkenkratzer.« Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und Bill Dixon, sieht man mal von der Liebe zum Jazz ab: beide haben Sie die Malerei zu einer weiteren kreativen Ausdrucksmöglichkeit erkoren, beide verfolgen Sie auch politische Absichten mit Ihrem Schaffen (man denke nur an Bill Dixon in den 1960er Jahren und die »October Revolution« im Jazz). Könnten Sie genaueres über Ihr Verhältnis zu Bill Dixon erzählen? Meinen ersten Kontakt mit Bill Dixon hatte ich über die Cecil-Taylor-Schallplatte »Conquistador«. Als ich ihn hier erstmalig hörte, war ich nicht nur fasziniert von der Musik, sondern insbesondere von seiner originären Spielweise. Ich begann also, Platten von ihm zu suchen, womit mein lebenslanges Studium seiner Ideen und Musik ei-

»Meines Erachtens hat die Improvisation eindeutig die Fähigkeit, Politisches zu übertragen.« nen Anfang fand. Getroffen habe ich Bill Dixon während eines Auftritts beim Guelph International Jazz Festival in Kanada. Ajay Heble, der visionäre Direktor des Festivals, ließ damals Bill Dixon zusammen mit dem wunderbaren Bassisten Joelle Leandre auftreten, während ich dort mit Sao Paulo Underground engagiert war. Wir haben uns dann bei einer Gesprächsrunde über den Zweck der Improvisation getroffen, die Bill Dixon dort geleitet hat. Ich war einer der daran beteiligten Musiker. Unsinnig zu erwähnen, dass ich unglaublich nervös war, ihn zu treffen, ganz abgesehen davon, dass ich auch mit ihm zusammen auf einer Bühne improvisieren sollte. Doch wir haben uns irgendwie sofort verstanden und unseren Dialog über das Leben und die Musik dort begonnen. Damals drückte er auch schon sein Interesse an einer Kollaboration oder etwas Ähnlichem aus, worauf ich ihm vorschlug, gemeinsam neue Musik für das Exploding Star Orchestra zu entwickeln. Der Rest ist Geschichte. Bill Dixon ist einer der aufregendsten Menschen, die ich jemals auf diesem Planeten getroffen habe. Er ist ein so gütiger Mensch, mit einem großen Herzen und einem wundervollen Sinn für Humor. Doch er hat einen eisernen Willen, weswegen nicht wenige Kritiker und auch Musiker vor ihm die Flucht ergriffen. Bill Dixon ist eine Inspiration für ein künstlerisches Leben. Er ist ein Bildner von Klang und Schönheit – mit einem unvergleichlichen Sinn für Timing. Man hat das Gefühl, er könne nur mit einem Blick neue Sonnensysteme erschaffen. Sein Sound ist multiuniversal und ich kenne niemanden, der die Grenzen des Gehörs so gründlich ausmisst. Neben dem Exploding Star Orchestra wird ihr Name mit einer Vielzahl anderer Projekte in Verbindung gebracht: Isotope 217, Chicago Underground, Sao Paulo Underground, Mandarin Movie, Tigersmilk – um nur eine Auswahl zu nennen. Außerdem gibt es noch allerhand Soloarbeiten von Ihnen. Was sind die Besonderheiten des Zusammenspiels mit verschiedenen Musikern und ständig wechselnden Persönlichkeiten? Ich mag es einfach, in jedem Kontext Sound zu kreieren. Für mich ist das eine Frage sowohl des Experimentierens mit unterschiedlichen Klangmöglichkeiten als auch des Herauskitzelns verschiedener Persönlichkeiten. Die Soloarbeiten sind genauso interessant und vielleicht eher eine verdichtete persönliche Auseinandersetzung. Es ist demnach nicht so, dass Sie einfach aus der Not eine Tugend machen, weil es als Jazzmusiker in den USA aus finanziellen Gründen undenkbar ist, nur in einer Formation zu spielen, während man in Deutschland ein Stück weit auf ein Sicherheitsnetz an staatlichen Förderungen und Versicherungen für Künstler bauen kann? In den USA gibt es nichts Vergleichbares. Chad

Taylor, ihr Kollege beim Chicago Underground Duo, sagte einst im Interview, dass die US-Regierung mehr Geld in die Blaskapellen der Armee stecken würde als in die Unterstützung von Jazzmusikern. Es stimmt schon, dass es bisweilen sehr schwierig ist, diesen künstlerischen Lebensentwurf am Laufen zu halten. Doch ich spiele nicht in verschiedenen Projekten, damit ich mir dieses Leben finanzieren kann, sondern um die Möglichkeit der Vielfältigkeit zu haben, eben einfach um meine Kreativität auszuleben. Ihre Heimatstadt Chicago stellt für mich eine Art Schmelztiegel des kreativen Austauschs dar. Innerhalb der letzten etwa 20 Jahre ist hier eine starke Gemeinschaft entstanden, in der man sich gegenseitig hilft und sich wechselseitig beeinflusst. Wie würden Sie die derzeitige Situation für Avantgarde-Musiker in der »windigen Stadt« einschätzen? Es gibt in Chicago fünf oder sechs Veranstaltungsorte, in denen Jazz- und Avantgardekünstler auftreten können: The Hideout, The Velvet Lounge, Elastic, The Empty Bottle, The Continental, Heaven Gallery, Myopic Books. Zurzeit leben sehr viele Musiker hier. Sie setzen die alte Chicagoer Tradition fort, hart an ihren Talenten zu arbeiten und mit verschiedenen Formaten und Klangentwürfen zu experimentieren. Der Zusammenhalt ist stärker als jemals zuvor.

»Sound ist physischer und fassbarer, als man sich allgemein vorstellen kann. Es ist für mich eine formbare Substanz, die sich auf unzählige Arten verändern kann.« Chicago ist in gleichem Maße zu einem Zentrum für ein weltweites Netzwerk von talentierten Musikern geworden. Man denke nur an den Austausch mit skandinavischen Musikern wie Mats Gustaffson, Paal Nilssen-Love, Fred Lonberg-Holm oder dem Chicago Luzern Exchange zwischen Keefe Jackson und Marc Unternährer usf. Glauben Sie, dieser Transfer von Ideen, Wissen und kulturellen Eigenheiten hat die Musik Chicagos in der letzten Dekade verändert? Wenn neue, unbekannte Elemente in eine bereits funktionierende Gemeinschaft gelangen, dann bieten diese komplexen Strukturen die Möglichkeit, bestimmte Dinge noch weiterzuführen, weiterzudenken. Die Welt rückt auch im Bereich der Avantgardemusiker zusammen. Vielleicht ist das hier in Chicago ein gutes Beispiel für ein post-politisches, künstlerisches Dasein.

töne  17


im_____land des________ unerwar___TeTen auteCHre sind die letzten echten Avantgardisten der elektronischen Tanzmusik. John Locke und Pythagoras würden sicherlich zustimmen text: jens pacholsky fotos: chris burnell

Radiotaugliche Musik basiert auf der Erinnerung. Radio soll Geborgenheit suggerieren und nicht ablenken. Das ist ein rein biologisches Prinzip, welches John Locke bereits im 17. Jahrhundert formulierte. Der britische Philosoph betrachtete in seinem 1690 veröffentlichten »Essay Concerning Human Understanding« die menschliche Wahrnehmung von Sprache, aber auch von Geräuschen und setzte diese in einen ökologischen Kontext. Einer der Aspekte dabei war der Zwang des bewussten Hörens, der sich vornehmlich bei Klängen und Klangkompositionen einstellt, die nicht zugeordnet werden können und deren Klangspektrum bzw. Wortlaut keine bekannte (erinnerte) Assoziation weckt. Nach Locke nehmen wir Geräusche als mögliche Gefahr wahr, die eine erhöhte Aufmerksamkeit fordert, solange wir sie in der Umgebung nicht visualisieren können. Der Grund, weshalb gerade Heavy-RotationRadiosender erfolgreich sind, liegt darin, dass wir die Musik in abstrahierter Form bereits kennen. Das ist das ganze Geheimnis der populären Musik, die die Sehnsucht nach vorbelegter Erinnerung bedient. Diese beschrieb der Autor und Journalist David Stubbs 2003 in der Musikzeitschrift The Wire als »entweder nostalgisch oder ›classic radio‹-Nachkommenschaft, die sich unbedingt mit Dir vertraut machen möchte und der Kram für zukünftige Revivals wird, befleckt mit Assoziationen und Bedeutungen.« Du bist aus gutem Grund allein Sean Booth und Rob Brown designen Musik, die keine Assoziation bereitstellt. Die geborenen Manchesterianer verweigern die Quellenangabe. Das bricht sich bis zur Titelgebung der Stücke herunter, die gänzlich arbiträr ist. Man weiß bei Autechre selten, wo die Klänge herkommen, wie sie positioniert sind und schon gar nicht, wie die Songs am Ende komponiert wurden. Autechres Musik ist wie die 18  töne

extraterrestrische Begegnung in Stanislaw Lems Buch »Fiasko«. Die außerirdischen Lebensformen dachten nicht mit menschlicher Logik (sondern einer uns gänzlich unbegreiflichen Denkform). Der Dialog musste scheitern, denn nach John Locke existiert ein Wort an sich eigentlich gar nicht. Worte sind weniger physische Laute, als vielmehr Träger persönlicher Ideen. Nur wenn ein Wort eine Assoziation besitzt, die zudem zwischen den Kommunizierenden annähernd identisch ist, ist ein Begreifen und Kommunizieren möglich. Im Sinne von John Locke bedeutet Autechres Musik vor allem eins: Du bist allein. Der Hörer steht auch bei ihrem neunten Album »Quaristice« vor einer unbekannten Soundscape, zu der er sich eigenständig Zugang verschaffen muss. Autechre fordern bewusstes Hören ein. Das Fehlen der Assoziationen, der Erinnerungen an etwas zuvor Gehörtes, erzwingt ein genaues Betrachten dieser Klangfelder, bis im Kopf endlich eine neue Synapsenverschaltung einrastet. Es dauert eine Weile, bis sich ein Album von Autechre auskristallisiert hat, die Strukturen erkennbare Formen annehmen und ihre Verknüpfungen durchscheinen. Das kann manchmal geologische Zeitintervalle in Anspruch nehmen. Die Assoziation, die sich dabei neu bildet, ist eine rein private, weshalb die (emotionale) Kommunikation von Autechres Musik im Nachgang unmöglich ist. Frank Zappas Ausspruch »Über Musik zu schreiben, ist wie zu Architektur zu tanzen« findet hier seine wahrheitsgemäße Entsprechung. Autechre sind der Inbegriff individualisierter Musik. Minutiös geplanter Dadaismus Im Gegensatz zu den meisten so genannten Avantgardisten, die versuchen, bekannte Konzepte auf andere Medien anzuwenden oder eine Assoziation zu zerstören, betreten Autechre produktions- und klangtechnisch fort-

laufend Neuland. Sie pfeifen auf Akademikerdenken und Konzeptualisierung. Autechre sind Darwinisten mit Hang zur sprunghaften Evolution. Es geht um ein ernsthaftes, freies Spiel mit Parametern »um einen beweglichen Punkt, der von wandernden Wänden umgeben ist«, erklärt Sean Booth in einem Pitchfork-Interview. Und ergänzt: »All diese Fragen, warum wir den Track so oder so gemacht haben … Ich muss ganz ehrlich sagen, ich weiß es nicht. Ich habe, verdammt noch mal, keine Ahnung.« Wenn es eine Intention gibt, der Autechre nachgehen, dann ist es die Komposition von Dancemusic, die es vorher noch nie gegeben hat und die nicht nach dem fünften Hören langweilig wird. Die Positionierung des Klanges im Kopf Eine Basis dafür bildet die Entwicklung verschiedener Klangtechnologien. Darin verdichten sich laut Robert T. Dean und Freya Bailes die Möglichkeiten, in Zukunft Kompositionen mit Pattern zu verwirklichen, die bislang (ökologisch) nicht existieren – die Möglichkeit eines umfassenden, echten, freien Avantgardismus. Autechre äußerten daher schon vor Jahren ihr Erstaunen, dass angesichts der technischen Möglichkeiten überhaupt noch Bands existieren, die identisch klingen. Die Antwort ist eigentlich einfach: Den meisten Musikern mangelt es sowohl an Denkfortschritt als auch an einer grundlegenden

mathematischen Ahnung von Kompositionsästhetik. Zum einen erkannte der Musikwissenschaftler Martijn Voorelt im Jahre 2002, dass musikalische Innovationen noch immer der technologischen Innovation vorausgehen, die Technologie also nicht per se befähigt, innovative Musik zu machen. Zum anderen darf man mehrere tausend Jahre zurückgehen und Pythagoras und Polyklet lauschen, auf deren Verknüpfung von Harmonie (der Klang) und Proportion (die Komposition) nicht zuletzt der ›goldene Schnitt‹ der ästhetischen Perfektion beruht. Autechre sind unerreichte Meister darin, Klänge zu modulieren und diese zu einem äußerst ausdifferenzierten Gebilde zusammen zu fügen. Ähnlich dem pythagoreischen Konzept der aufsteigenden Proportion, bei der das Verhältnis von einem Finger zu einer Hand, von der Hand zum Arm, vom Arm zum Oberkörper usw. die Gesamtästhetik bestimmt, wird durch die beiden Mittdreißiger jeder Einzelklang pedantisch positioniert, wird dieser entlang einer Zeitlinie innerhalb eines sich bewegenden Raums und in Relation zueinander verortet. Ästhetik ist kein statisches Moment. Die Sounds sind in ständiger Bewegung, so dass sich die Proportionsgleichungen in Sekundentaktung verändern. So sehr »Quaristice« in sich verdichtet wirkt, so sehr lavieren Sounds beständig frei herum, erscheinen auf verschiedenen Koordinaten und verändern während des Klingens ihre Position. Es geht um Räumlichkeit in der vierten Dimension. Rob Brown bemerkte dazu vor drei Jahren bei BBC: »[Unsere] Sinne sind so entwickelt, dass wir bei einem Klang genau wissen, in welcher Art Raum wir uns befinden. [Dieses Bewusstsein] gibt uns eine unendliche Freiheit.« Im Grunde ist es Funk und Acid Ein wesentlicher Aspekt bei Autechre ist außerdem, dass ihr Avantgardismus tanzbar bleibt, in energischster Weise Rhythmus generiert, der regelrecht gewalttätig erscheinen kann. Beide, Booth und Brown, sind mit HipHop und Acid House sozialisiert. Kein Wunder, dass Autechre sich von der klassischen Experimentalmusik – insbesondere der musique concrète – distanzieren und eher auf den Funk verweisen. Dessen Musiker würden, laut Sean Booth, den Eindruck machen, einfach nur abzulesen. In Wirklichkeit sei ihre Musik aber nicht dekodierbar. »Obwohl die Loops ähnlich klingen, sind sie mathematisch völlig verschieden. Die Variationen sind so weitläufig, dass es schätzungsweise keine zwei identischen Taktfolgen beim Funk gibt.« Auf »Quaristice« sind ihre Wurzeln nun umso offenbarer geworden. Autechre haben sich von den Epen der letzten Jahre fortbewegt und in zwanzig Skizzen eine Art Oldschool-Hommage für Futuristen gezeichnet, die für ihre Verhältnisse fast schon eindeutig ausfällt. Booth und Brown sprengen dabei alle Hörgrenzen, denn so haben Funk, HipHop und Acid zuvor nicht geklungen. Es kann nicht falsch sein, Autechre als die letzten großen Revolutionäre der elektronischen Musik zu bezeichnen. SEITE 83 >

Goon t S verlo

töne  19


Die Schneekönigin Es stürmt in den Wipfeln, Ästen und Kronen: Die finnische Musikerin Merja Kokkonen macht als iSlaja wundersame Musik daraus text, interview: holger lehmann

»Oh my! That old stone face doesn’t talk to me any more!« merja kokkonen, islaja

Zwei Vogelschwingen umrahmen ein sich aus ihnen ergebendes Gesicht. Ihre Köpfe bilden und bedecken gleichzeitig die Augen eines Mädchens, aus deren Haaren sich ein Name formt: Islaja. Das ist der Fantasiename der jungen Finnin Merja Kokkonen, die in Helsinki lebt und arbeitet, seit kurzem sogar ausschließlich für und um ihre Kreationen, ihre Grafiken, ihre allmählich mehr Gedichte werdenden Songtexte, ihre Musik. Ermutigt durch süße Belohnungen sang sie schon als Kind sehr gern, und, so sagt sie heute, daran hat sich auch nicht viel verändert, lediglich die Belohnungen seien nun andere. 2004 war das Jahr, in dem die Künstlerin Islaja zwischen den von ihr gezeichneten Vogelflügeln geboren wurde, und es war gleichzeitig das Jahr des Debüts auf dem finnischen Plattenlabel Fonal, welches allein einer umfassenderen Darstellung bedürfte (Kiila, Es, Paavoharju, TV-Resistori und Circle lohnen ein dringendes Ohr) und eben genau das Label war, das Islaja sprunghaft zur Anerkennung innerhalb einer Hörerschaft verhalf, die auf sie zu warten schien. Denn die Gerätschaften standen schon lange in den von Erinnerungen verhangenen Wäldern, die angemoosten, phosphorisierenden Holz- und Saiteninstrumente, das grünspanende Glockenspiel, die im Wipfel winkende Mundharmonika. Sie alle tönten im aufkommenden Wind, mäanderten umeinander, stolperten weich und absichtslos vor sich dahin. Bis sich eine menschliche Stimme zu ihnen gesellte, oder vielmehr: aus

ihnen ergab. Islaja murmel-sing-summt leicht jenseits der Berechenbarkeit, schwerelos in der Zunge. So zumindest auf »Meritie« (2004) und »Palaa Aurinkoon« (2005). Wenn Islaja auf die Frage, inwiefern Religion in ihrem Leben eine Rolle spiele, antwortet: »Oh my! That old stone face doesn’t talk to me any more!« und damit auf eine sehr religiöse Erziehung anspielt, die sie nunmehr aufzubrechen versucht, lässt sich verstehen, warum sie nicht einfach ein weiteres Mädchen mit einer Loop-Maschine und versponnenen Weltvorstellungen ist. 2007 erschien dann »Ulual YYY«. Da war von Anfang an etwas passiert, etwas ist aufgestanden. Sie selber sagt, sie hätte bemerkt, dass es wirklich Menschen da draußen gibt, die sich mehr auf ihre Musik einlassen, als sie sich vorstellen konnte. Und also steckte sie umso mehr Aufmerksamkeit auch in ihre Texte. Waren diese auf dem Vorgänger »Palaa Aurinkoon« kleine, konfektionierbare Bilderperlen, die in rätselhaft tingelnder, verlorener Stimmlage Ausdruck wurden und ihren Gehalt am Gesang durch dessen Undurchsichtigkeit stärkten, sind es nunmehr wunderbar formelhaft daher gewundene Text- und Sinngestalten, wesentlich nachdrücklicher im Vortrag, dabei viel offener haltend, was an Stimmungswettern aufzieht. Und auch ohne jede Texteinsicht erreicht das regnerische, Messer gegen den Wind werfende Timbre Islajas die tiefen Seen innerhalb unserer Ohren. Auch rufen nun die Instrumente ihre Stimme nicht mehr hervor, sondern sie selber beginnt diesen zuzurufen, sie zu kanalisieren, zu leiten, zu dämmen und zu hegen. Auf Ecstatic Peace soll noch in diesem Jahr ein weiteres Album ihre Entwicklungsfähigkeit unter Beweis stellen – sodass die Schwingen sich wieder öffnen.

Statische Bewegung Jochen Briesen und Jan Thoben kreieren als taunuS Minimal Music im Folk-Gewand text, interview: markus von schwerin

Wenn Jochen Briesen nicht an seiner Promotion in Philosophie arbeitet, widmet sich der Berliner seinen vielfältigen musikalischen Projekten zwischen Postrock, Listening Electronica und Folk-Poesie. Bevor es mit Gaston wieder ins Studio geht, gibt der (solo als Semuin bekannte) Multiinstrumentalist zusammen mit seinem Gitarrenpartner Jan Thoben wieder ein Lebenszeichen als Taunus. Es heißt »Harriet« und erscheint beim feinen Label Ahornfelder. Als du und Jan vor circa fünf Jahren im Vorprogramm von Nina Nastasia zu sehen wart, konnte man sich an Akustikgitarren-Duos wie Illenberger & Kolbe und Diethelm/Famulari erinnert fühlen, die bis Mitte der 1980er Jahre in bundesdeutschen Universitätsstädten in ausverkauften Häusern spielten. Oder auch an die freundliche Übergangsmusik, wie sie lange im Kinderprogramm der ARD zu hören war. Auf jeden Fall eine Spielart, die in der Berliner Folk- und Postrock-Szene weiterhin Seltenheitswert genießt. Jochen Briesen: Du meinst die Ballonfahrt, nicht wahr? Die hatten wir bei unserer ersten Platte »Malinche« durchaus im Kopf. Auf »Harriet« ist alles klarer, statischer, spröder – die Gitarren werden hier langsamer gepickt und sind nicht mehr so ineinander verzahnt. Zwar gab es auf der alten Platte schon Minimal-Strukturen, doch jetzt werden die Gitarren kontrastiert mit anderen Klangfarben, wie dem Unisono-Spiel von Kontrabass und Vibraphon. Die beiden Instrumente sind bspw. im Stück »Tramin« völlig unabhängig vom Metrum der darunter laufenden Gitarren. Siehst Du bei Taunus eine Verwandtschaft zu den Arbeiten von F.S. Blumm, der ja die Westerngitarre schon seit längerem als Hauptexperimentierfeld nutzt und auch beim Titelstück Eurer neuen Platte mitgewirkt hat? Ich verstehe, wenn man seine und unsere Platten vom Klangeindruck her in Verbindung bringt, aber komposi-

20  töne

torisch gehen wir anders vor. Denn bei ihm sind dramaturgische Entwicklungen innerhalb eines Stückes sehr wichtig, da soll sich immer etwas irgendwohin bewegen. Uns regen aber kleine Sachen, die sich kaum merklich verändern, wo es keine Spannung gibt, die sich entladen möchte, am meisten an zuzuhören. So wie in »Petrella«, wo zunächst nur ein gestrichener Kontrabass zu vernehmen ist und erst langsam das Anblasgeräusch des Klarinettisten einsetzt? Die Klarinette stammt ja von Michael Thiecke, der sich deutlich an der Grenze zwischen Improvisation und Neuer Musik bewegt. Wir kennen ihn von vielen Konzerten und sind seit Jahren von seiner Spielweise begeistert. Derek Shirley, der schon auf der ersten Taunus Kontrabass spielte, stammt auch aus der Berliner Improv-Szene und hat Michael direkt angesprochen, ob er nicht mitmachen wolle. Da waren wir schon aufgeregt, als wir ihm die am Rechner vorkomponierten Stücke gaben. Wir wussten ja nicht, ob er überhaupt darauf Lust hat, denn an einigen Stellen hatte er einfach nur eine Melodie zu spielen. Bei den letzten drei Taunus-Auftritten war er aber immer dabei – ich denke, das ist ein gutes Zeichen! Das Cover-Artwork von »Harriet« erinnert mit seiner Aufzählung der beteiligten Musiker – neben den bereits genannten macht ja auch Jans Bruder Wilm als Vibraphonist mit – an frühe Jazz-Platten. Dabei fasziniert vor allem die Fotoserie mit den scheinbar unvermittelt in der Luft schwebenden Bettlaken und Jacken. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die Schatten. Wie seid Ihr auf den Fotografen William Hundley gestoßen? Wir haben seine Fotoserien im Netz entdeckt und gleich Kontakt mit ihm aufgenommen. William hüpft mit seinen Textilobjekten so in die Luft, dass sie ihn meist ganz verdecken und er nimmt sich dabei per Selbstauslöser auf. Für mich passen seine Motive des Sich-Versteckens und Unerkannt-Bleibens sehr gut zur namengebenden Schildkröte, die sowohl von Charles Darwin, als auch von dessen Nachfolgern den Großteil ihrer 175 Lebensjahre für ein Männchen gehalten wurde. Wahrscheinlich kamen die vergeistigten Evolutionstheoretiker nie auf den Gedanken, sie einfach mal umzudrehen!

töne  21


Liebhaben Die Erhöhung des Grades an Abstraktheit führt nur in den Fällen Liebe, Musik und deren Kombination durch Xiu Xiu zu einer besseren Zugänglichkeit

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Gregor Samsa, der Protagonist in Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«, steht

exemplarisch für ein Unbehagen an der Moderne. Etwa 80 Jahre später entlehnt eine junge Band aus dem amerikanischen Bundesstaat Georgia den Namen der literarischen Figur für einen ähnlichen künstlerischen Entwurf

text, interview: pascal schulthess

Der Nobelpreis in Literatur wurde »für ihren musikalischen Fluss der Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit außergewöhnlicher sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen« von der schwedischen Akademie 2004 an Elfriede Jelinek verliehen. Ihre marxistische und feministische Karikatur auf den österreichischen Heimatroman »Die Liebhaberinnen« (englischer Titel: »Woman As Lovers«) von 1975 zeigt, wie unmöglich, leidenschaftlich, deutlich und dunkel Liebe zwischen Frau und Mann sein kann. Die Entstehungsphase von Xiu Xius neuem Album »Woman As Lovers« wurde von diesem Buch und der Möglichkeit, tiefgehende und ehrliche Liebe bei einer Frau zu finden, der gegenüber man sich in der Vergangenheit gemäß dem primitiven, brutalen und charakterlich degenerierten Männerbild aus Jelineks Buch verhalten hat, entscheidend beeinflusst. Jamie Stewart, Gründer und einziges ständiges Mitglied der in San Francisco, Kalifornien, beheimateten Band, wollte das Verhalten des männlichen Stereotypen nicht ausleben, kann die vorherrschende Stimmung allerdings auch nicht komplett ablehnen. »Das Buch wurde zu etwas, gegen das ich rebellierte, um doch immer wieder von ihm aus dem Konzept gebracht und hart und unerwartet getroffen zu werden.« Krieg und Frieden Neben dem auch auf den letzten Tonträgern vorherrschenden persönlichen Sujet in Stewarts Texten, diesmal weniger befremdlich, sondern durch die Thematisierung 22  töne

von Liebe und ihrem Potenzial weitaus zugänglicher, finden sich unter den 14 Songs auch wieder politisch motivierte Stücke, wie »Child At Arms«, basierend auf P. W. Singers Buch »Children At War« über den erzwungenen Drogenkonsum und den Missbrauch von Kindersoldaten, und »Guantanamo Canto« über die Verbrechen des gleichnamigen US-Foltergefängnisses. Diese Inhalte bringt Stewart in poetischen, der englischen Sprache ungeahnte Emotionen entlockenden Textstrukturen unter und intoniert sie voller Hingabe und Dramatik: mal flüsternd, geradezu hauchend, dann wieder wild schreiend. Zusammen mit Multi-Instrumentalistin Caralee McElroy, Schlagzeuger Ches Smith und Bassist Devin Hoff (Greg Saunier von Deerhoof mischte auch wieder in der Produktion mit) wird diese Poesie unter dem bewussten Einsatz von Pausen – dem Spiel mit der Stille – zu einer bizarren, quälenden und zugleich bezaubernden Klangwelt kombiniert. Howard Wiley, der viele der Songs durch sein wildes und virtuoses Saxophonspiel unterstützt, und Michael Gira, Kopf der Experimental-Folk-Rock Band The Angels Of Light und Gründer der Swans, reizen den Wahnsinn vollends aus. Letzterer steht auf dem Queen/David BowieCover »Under Pressure«, welches es schafft, noch geschwollener als das Original zu wirken, mit Stewart zusammen am Mikrophon. »Es schien ein verrücktes Vorhaben zu sein, einen Song mit einem Idol machen zu wollen, der wiederum von zwei weiteren Vorbildern geschrieben wurde – aber jetzt liebe ich ihn«, sagt Jamie Stewart selbstbewusst dazu. Ein Selbstbewusstsein, das sich in allen Stücken von »Woman As Lovers« wiederfindet. Wie sonst könnte man so intime und persönliche Musik machen, die auf abstrakte Weise delikate Themen wie Sexualität, Nihilismus, Liebe und Tod anspricht.

text, interview: sebastian hinz

Klang gewordenes Zweifeln

Was ist Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung« in letzter Instanz mehr als eine Parabel auf die Zeit der Moderne? Es ist schon merkwürdig: Ungeachtet der ganzen Errungenschaften, die der aufgeklärte Mensch in den vergangenen 200 Jahren machen durfte, bleibt am Ende des Tages noch immer ein Gefühl der Beklommenheit. Es ist ein Paradoxon. Nicht allein die immer wieder aufflammenden Wertediskussionen machen es deutlich: Wir wollen es uns nicht so recht gemütlich machen in der Welt. So verlangen wir einerseits nach mehr Individualismus, um diesen im nächsten Atemzug zu verteufeln. Seit die Gesellschaft keine geheiligte, oktroyierte Struktur mehr besitzt und seit die gesellschaftlichen Einrichtungen und Handlungsweisen nicht mehr in der »Ordnung der Dinge« (Foucault) oder im Willen Gottes gründen, sind sie im gewissen Sinne frei verfügbar geworden. Sie können so umgestaltet werden, dass ihre Konsequenzen unseren neuen Zwecken des individuellen Glücks und Wohlergehens entsprechen. Doch trügt der hier vermittelte Optimismus, denn die Sache selbst ist zu komplex. Es ist nicht nur der schwierige Prozess der Selbstverantwortung für das Handeln, Denken und Fortkommen in einem sich stetig verändernden Wertesystem, es sind auch neue, weniger durchsichtige Strukturen und komplizierter werdende Konstrukte, die sich einem Leben in den Weg stellen. Die Freiheit in diesem Sinne gibt es nicht. So bleibt dem einen oder anderen nur der Rückzug in die eigene Welt, mitunter auch in den Chininmantel eines Käfers.

Es ist genau diese träumerische Entrücktheit, die auch die Musik von Gregor Samsa kennzeichnet. Die Kompositionen des inzwischen siebenköpfigen Ensembles aus dem amerikanischen Bundesstaat Georgia sind Klang gewordenes Zweifeln an der modernen Welt. In ihren Arrangements bedienen Champ Bennett, Nikki King und ihrer Mitstreiter zum einen Muster der vormodernen Klassik, des Orchestralen, andererseits Elemente der zeitgenössischen Musik: einsam kreisender Minimalismus oder das Unbestimmte elektronischer Geräusche, ohne Ort und Herkunft. Stimmen erklingen meist rückwärts oder unverständlich. Auf ihrem am 24. April bei Own Records erscheinenden zweiten Album »Rest« wurde die Vorherrschaft der Gitarren durch allerhand Pianospuren gebrochen, die auf einem seltenen Bösendorfer-Synthesizer eingespielt wurde, der einst dem Komponisten Philip Glass gehörte. Gregor Samsa sprechen mit ihrer Klangwelt eine Hörerschaft an, die nach einem Ausdruck für das empfundene Unbehagen an der modernen Welt verlangt. Dies ist für Leute, die sich gegen den Verlust von Dingen mit Wert, von Vinylschallplatten oder Büchern, stemmen; es ist ein vehementer Ausbruch aus der Verengerung und Verflachung des Lebens. Enger, weil uns das Notwendigste verloren gegangen ist, nämlich eine Grundlage für die Unzufriedenheit mit der Gegenwart und die Einsicht, dass es Alternativen dazu gibt. Flacher, weil die Seele der Menschen ein Spiegel ist, der zwar nicht die Natur, aber ihre Umgebung wiedergibt, denn wir kennen inzwischen weder Deutungen noch Poesie oder die Tätigkeit der Vorstellungskraft. Dafür steht der Name Gregor Samsa, literarisch und musikalisch.

töne  23


suggestion eines Während das Nachdenken über neue Systeme der Musikverbreitung in vollem Gang ist, prostituiert sich das Kunstwerk selbst weiterhin zugunsten seines Tauschwerts. Ein Plädoyer

kunstwerks

text: fabian saul

Es ist ein langsamer, qualvoller Tod, den das etablierte System von Musikherstellung und -verbreitung seit fast einem Jahrzehnt stirbt. Das mag zum einen daran liegen, dass eine radikale Umstellung aus Sicht der Profiteure dieses Systems zumindest ein wirtschaftlich blinder Fleck zu sein scheint, wobei hier die Scheuklappen mehr der Sicherung der eigenen Existenz dienen als allem anderen. Dennoch zeigt neuerdings auch die Rezeption neuer Erscheinungen, dass der bestehende Anachronismus zwischen dem Konsumieren von Musik und deren Herstellung und Verbreitung langfristig nicht aufrecht zu erhalten ist. Als Radiohead im Herbst des letzten Jahres es ihren Hörern frei stellten, welchen Betrag sie für den Download ihres neuesten Albums »In Rainbows« bereit zu zahlen sein würden, waren die Feuilletons und einschlägigen Magazine fast ausschließlich mit der Betrachtung und Einschätzung dieses Pionierprojektes beschäftigt. Man musste schon fast bis zur Einführung des »normalen« physischen Tonträgers in den Handel Anfang des Jahres warten, um etwas über das eigentliche musikalische Werk zu erfahren. Wo das etablierte System instabil wird, wo die Differenz zwischen Produzent und Konsument aufschnappt wie eine Schere, beginnt das Nachdenken über neue Systeme, über die Möglichkeit eines Wandels. Das ist im Fall des Musikgeschäfts nicht neu, doch während dieses Nachdenken in den vergangenen Jahren zum größten Teil durch das Klagelied der Plattenfirmen über zurückgehende Erlöse bestimmt war, spielen diese in einem Beispiel wie Radiohead schlichtweg keine Rolle. Ähnliches haben die Einstürzenden Neubauten, Prince, Nine Inch Nails, Saul Williams und andere gezeigt. Problematisch an diesen Modellen ist hingegen, dass sie eben nur in diesen prominenten Beispielen denkbar bleiben und selbst dann ihr Erfolg noch ungewiss ist. So sollen 62 Prozent der Besu24  töne

cher der Radiohead-Webseite keinen Cent für das Album gezahlt haben. Und Trent Reznor, Kopf hinter den Nine Inch Nails und Produzent von Saul Williams, ärgerte sich zuletzt in seinem Blog darüber, dass bei einem ähnlichen Versuch Ende des Jahres sogar 81,7 Prozent nichts gezahlt hätten. Dennoch ist das Nachdenken über neue Systeme an sich in vollem Gang und wird/muss ebenso andauern, um Alternativen etablieren zu können. Interessant bleibt dabei, dass es das eigentliche Kunstwerk berührt, da der Blick auf die Systeme, in denen es funktionieren kann, die Inhalte häufig überschattet. Das ist zu verkraften und in gewisser Weise eine notwendige Unterordnung. Und dass es nun in erster Linie die Künstler selbst sind, die auch die Vertriebsmöglichkeiten überdenken und eben nicht die großen Plattenfirmen, zeigt nicht nur deren Unflexibilität, sondern auch dass Gewinneinbußen noch längst keine Verluste bedeuten. Die Profiteure von gestern sind noch lange nicht die Verlierer von heute.

Ein Musikstück muss sich am Ende eben gegen U-Bahn-Lärm, Straßengeräusche, kreischende Kinder und nicht zuletzt gegen die anderen Konkurrenzprodukte auf dem Player durchsetzen. Neben der Frage der Anpassung des Musikvertriebs an die digitale Realität, fand in den vergangenen Monaten eine andere Art des Eingießens von Kunstwerken in eine Konsumform statt. Es ist die Komprimierung und diese ist es auf verschiedenen Ebenen. Zunächst auf der Ebene der Produktion von Musik. Die Unterschiede zwischen laut und leise hat die Popmusik aufgegeben. Seit Jahren liefern sich die Studios einen »War

of Loudness«, titulierte der amerikanische Rolling Stone. Ein Musikstück muss sich am Ende eben gegen U-BahnLärm, Straßengeräusche, kreischende Kinder und nicht zuletzt gegen die anderen Konkurrenzprodukte auf dem Player durchsetzen. Hier zählt es immer laut, immer fett zu sein; Qualität zu suggerieren, wo diese eigentlich geopfert wurde. Produktionen, die Höhen und Tiefen kappen, um stets eine »Wall of Sound« zu präsentieren, auch dort, wo das Musikstück diese nicht hergibt, funktionieren natürlich in erster Linie auf Ohrstöpseln und im Autoradio. Da klingt das dann (gleich) gut, nur leider auf Kosten der Musik selbst, und zu Gunsten ihrer Marktfähigkeit. Dass der Nutzwert, also das Musikstück selbst, eine untergeordnete Rolle spielt, ist nicht neu. Die Umstände sind durchaus vergleichbar mit der Umstellung auf die CD, die bereits weniger Qualität und Dynamik versprach, als die Schallplatte.

Und wenn einem die Aufgabe des Kontextualisierens der einzelnen Teilchen überfordert, bleibt immer noch der Freiflug durch das Unviversum: Shuffle. Interessant ist aber im Falle der digitalen Umstellung, dass es nicht nur eine Komprimierungskultur im Musikstück selbst, sondern auch in der Form des Konsumierens gibt. Der wesentliche Parameter für das Konsumieren von Musik ist die Speicherkapazität. Der Zugriff auf diese ist dabei ein frei wählbarerer. Er ist losgelöst vom Ort, losgelöst von der Form, die der Künstler für z.B. ein Album vorgesehen hat, losgelöst von einer zeitlichen Einschränkung (abgesehen von Akkulaufzeiten) und ist nun mehr eine Menge frei beweglicher Teile, deren Rahmen lediglich durch die Speicherkapazität gesteckt wird. Ziel ist es dabei,

möglichst auf jedes Teilchen stets zugreifen zu können; jeder Song, jeder Interpret, jedes Werk ist vorrätig. Rein praktisch bietet das Internet eine verfügbare Vielfalt – ob entgeltlich oder unentgeltlich –, die diesem Ziel sehr einfach nahe kommen lässt. Und wenn einem die Aufgabe des Kontextualisierens der einzelnen Teilchen überfordert, bleibt immer noch der Freiflug durch das Unviversum: Shuffle. Dies ist die zweite Ebene eines Komprimier-Vorgangs der alles andere als das Kunstwerk unberührt lässt. Es ist eben auf seine Verfügbarkeit angewiesen, um auch als Produkt zu funktionieren und muss sich allen Parametern, die seinen Tauschwert bestimmen, zwangsläufig unterordnen. So lässt sich es sich in der gegenwärtigen Realität von Musikherstellung und -verbreitung nur als Anachronismus begreifen, dass das alte Kunstwerk sich einer neuen Form fügt, statt aktiv nach neuen Kunstformen zu suchen, die bestehenden Konsumformen zu seinen Gunsten nutzt. Nachdem also die Perspektive zweiter Ordnung bezüglich Verbreitung und Vertrieb vollkommen eingenommen wurde, ist die Zeit reif für die selbige in der Herstellung von musikalischen Kunstwerken. Solange dies nicht geschieht, funktionieren MP3s eher als Abziehbildchen einer alten Zeit, suggerieren ein Kunstwerk, welches aber schon lange verformt ist, und sich, solange es sich nicht aus dieser Abhängigkeit befreit, sein Nutzwert zugunsten seines Tauschwerts prostituiert. Nur mit Hilfe neuer Kunstformen kann am Ende das Werk in Inhalt und Form, in Wirkung und Bedeutung, in Qualität oder eben auch im Dilettantismus, seine Eigenständigkeit bewahren.

töne  25


epiphany outlet text: renko heuer

review

hierhin, dorThin Feinstaub im Getriebe und Spiegelscherben: delBos viertes Album text: jochen werner

»du verirrst dich nach wie vor innen wie außen wie in der zeichnung die sich jahr um jahr erschließt.« delbo: piamo

Die eigentliche Epiphanie, im Gegensatz zu den Quasi-Zuständen der vergangenen Jahre, die im Folgenden wie ein zerfledderter und ungeformter Kern allen musikalischen Dingen, die da kommen sollen, unterliegen wird, ist Los Angeles. Jene Stadt, die eigentlich keine ist. Das gewucherte Rhizom, das eher einer manifesten Social Networking Plattform gleicht – und eben keiner anderen Metropole. In LA kann es passieren, dass man aus der wohl temperierten Umgebung des niemals protzenden SUV durch die nicht immer flache Landschaft schaut und ganz beiläufig eine überdimensionale Billboard-Galerie erblickt, von der einen im Gegenzug ein Fuchs anstarrt. Für diesen plakatierten Kunstgriff beispielsweise, wie gesehen auf der La Brea Avenue, in mehrerlei Hinsicht Demarkationslinie zwischen Gut und Böse, ist u.a. ein gewisser Aaron Rose verantwortlich, einst Gründer der Alleged Gallery (in NYC allerdings) und menschlicher Hub- und Angelpunkt in der heute nicht zuletzt dank ihm lukrativen Skate-Art-Welt. Dass Rose nicht nur mit dem ANP Quarterly (gemeinsam mit Brendan Fowler aka BARR und Ed T.) eines der besten Magazine überhaupt macht, nein: kuratiert, sondern auch musikalisch zu überzeugen weiß, hat der stilsichere Hut-, Hemd- und Chino-Träger mit seiner Band tHe SadS nun endgültig unter Beweis gestellt. Deren Debütalbum (»Rough Stabs«, Teenage Teardrops) nämlich, vierköpfig und frei nach dem Motto »I Was Feeling Sad/I Went Shopping/I Bought This Record/I Still Feel Sad« aufgenommen, ist eine schillernde Trauermeile, »the audio equivalent of a failing relationship in a Godard movie«, das einen selbst mit dem anachronistischen Klackern einer Schreibmaschine zu umgarnen weiß. Aaron Roses derzeitige Lieblingsband wiederum, Soiled mattreSS & tHe SPrinGS, ist zwar die klangliche Antithese zu den harmonischen Pop-Ausschweifungen seiner Combo, aber doch ein unvergleichliches Erlebnis völlig neuartiger Couleur: »Honk Honk Bonk!«, so der Titel des auf Upset! The Rhythm erschienenden Erstlings, sagt bereits alles über das Quartett, denn Peter Schuette, Matthew Thurber und Aviram 26  töne

Cohen von der »anderen Küste« (NYC) treten in der Tat schonungslos auf die kollektive Hupe, wenn sie mit Keyboards, Saxophon und Schlagzeug die Worte Zirkusmusik und Jazz zu einem kranken Gedicht ohne Worte pressen. Die dreiköpfige Hydra, zu monoton-spaßig für Jazz, zu kaputt-ausgelassen für Postrock, jongliert kopfüber mit kalten Kaffeetassen in der Achterbahn – und keiner wird nass. Ebenfalls schon längst in die Stadt der Engel umgeseidelt sind tHe marS volta, deren viertes Album (»The Bedlam in Goliath«, Universal) gerade veröffentlicht wurde. Natürlich darf auch hier die Geschichte, der Überbau, der allem Prog- und Rocktreiben unterliegt, nicht fehlen: War ihr erstes Album noch der fiktionale Traum eines verstorbenen Freundes, dichteten sie beim Nachfolger ein von einem ebenfalls verschiedenen Bandmitglied gefundenes Tagebuch einfach weiter, nahmen beim nicht mehr ganz so euphorisch empfangenen Drittwerk eine Studie über allerhand Amputationen in Angriff, um nunmehr von ihrer Episode mit einem Hexenbrett zu berichten: Angeblich hat das Quija ihnen eine ganze Tour verhagelt, ganz wie die sprichwörtliche Petersilie. Kraut und Rüben kommen einem dagegen in den Sinn, wenn man Boom Bip, nunmehr gemeinsam mit Gruff Rhys als neon neon bei Lex, vor wenigen Wochen als DJ im Vorprogramm von Fog in Silver Lake beobachtete: Von den slicken 1980er Jahren bis zu »Check Your Head« war alles dabei. »Stainless Style« (Lex Records), ist hingegen in erster Linie slick; retrofuturistischer Kaugummi-Pop der elektronischen Sorte, konzeptionell um John DeLoreans Ausfälle und Frauengeschichten (»Raquel«) geschweißt. Und bei so einer Karre kann bekanntlich kein Libyer mithalten. Nach so viel Los Angeles abschließend noch ein Blick auf nada SurF, deren fünftes Album (»Lucky«, City Slang) aus nicht wirklich greifbaren Gründen plötzlich noch eingängiger als die Vorgänger daherkommt. Irgendwie ist da mehr Hitpotenzial, mehr Kopf-hoch-Stimmung, mehr Surf und weitaus weniger Nada. Was uns im Grunde genommen dann doch wieder nach Los Angeles holt.

Jean-Jacques Delbo, das war einer dieser ewigen Nebendarsteller des französischen Kinos, der aber immerhin im Verlauf seiner Karriere mit Henri Verneuil, Mario Bava, Luis Buñuel und Fritz Lang gearbeitet hat. Delbo, das ist außerdem der Name eines brasilianischen Herstellers von Absperrschiebern, einer Form von Druckventilen, im Portugiesischen ungleich blumiger als válvula guilhotina bezeichnet. Charlotte Delbo, schließlich. Geboren 1913, in der résistance aktiv, inhaftiert in Ravensbrück und Auschwitz, dann Autorin der Trilogie »Auschwitz, et aprés«. Ein Koordinatensystem von reichlicher Spannbreite, das die fünf Lettern des so schlichten Namens auffächern. Irgendwo darin wären auch die Berliner Tobias Siebert, Daniel Spindler und Florian Lüning zu suchen. Oder vielleicht eher: hier und dort, zwischen den Orten und allen Stühlen, »wie diese körper die an feinen linien brechen die

einigkeiT machT sich BreiT Eine inländische Expedition führte F.S.k. nach Hamburg, wo mit »Freiwillige Selbstkontrolle« eine aufregend unaufgeregte Platte entstanden ist text: markus von schwerin foto: katja ruge

Letztes Jahr stellten F.S.K. fest, dass sie schon über zehn Jahre im Weilheimer Uphon-Studio ihre postrockigen »Kraut House«-Platten aufnehmen. Der Wunsch nach Veränderung führte das süddeutsche Quintett (das sich rühmen kann, neben The Fall die meisten Peel-Sessions eingespielt zu haben) nach Hamburg, wo Ted Gaier und Mense Reents ihr frisch eingeweihtes Art-Blakey-Studio zur Verfügung stellten. Und die Rechnung ging auf: mit dem selbstbetitelten neuen Werk ist der seit 1980 in der Besetzung Justin Hoffmann, Michaela Melián, Thomas Meinecke und Wilfried Petzi aktiven Band (Drummer Carl Oesterhelt kam

in teile gehen sobald sie sich erinnern«. Zersplittert, zerstoben, Feinstaub im Getriebe von Melodik und Struktur, immer woanders. Immer auf der Flucht, nicht vorm Erinnern, sondern vorm Erinnertwerden. Verstecken sich vor der Zeit hinter monoton treibenden Basslinien, in deren Abgründen, ganz weit hinten, kaum hör-, aber spürbar, unfassbare Subbässe pumpen. Dazu Textfetzen wie Spiegelscherben, die Fäden zueinander spinnen, ohne sich jemals zum sprichwörtlichen roten zusammenzufinden. Stattdessen: ein Gespinst aus sich überkreuzenden, umschlingenden, verknotenden Vektoren, das potenziell überall hinführt und doch nicht loslässt. Delbo, Album Nummer Vier, »Grande Finesse«. »Grande Finesse« von Delbo ist bereits bei Loob Musik/Universal erschienen

Mitte der 1990er Jahre dazu) ihr frischestes Album seit »Goes Underground« geglückt. Denn so sehr die Entstehungsgeschichte des Vorgängers (mit Detroit-Techno-DJ Anthony ›Shake‹ Shakir) auch faszinierte, hatte »First Take Then Shake« doch einige Längen. Bei den neuen Stücken reißt der Spannungsbogen dagegen nie ab, was vor allem den abwechselnden Gesangsparts fast aller F.S.K.-Musiker (die Lyrics über ermüdete Nachtschwärmer, B-Movie-Ikonen und Feierabendverkehrsteilnehmer verfasste wie immer Meinecke) und der Vielfalt der stilistischen Mittel aus 28 Jahren Band-Geschichte zuzuschreiben ist: Hier trifft die textliche Chuzpe der NDW-Anfangstage auf die seit »4 Instrumentals« entwickelte rhythmische Raffinesse, bei der die Band selbst gerade »Cyber R&B aus Atlanta« als Einfluss angibt, die aber – man höre nur »Coupé« und »Virginia Beach« – ebenso auf die Genialitäten eines Jaki Liebezeit oder dem klassischen Munich-Disco-Sound (»Vogue Vogue«) schließen lässt. Und wenn Meinecke nach dem inbrünstig schräg dargebotenen Refrain von »Sylvester« (»Ei-nig-keit / Macht sich breit/ Ei-nig-keit / Zu zweit«) die Lap Steel Guitar aufjaulen lässt, ist auch der Bogen zu F.S.K.’s Americana-Exkursionen der Jahre 1987 bis 1995 geschlagen. »Freiwillige Selbstkontrolle« von F.S.K. ist bereits bei Buback/Indigo erschienen.

töne  27


beep street text: jens pacholsky

review

knarZen, knirschen, knarren Über die elektroakustischen Geräuschewelten von FeSSenden

Seinen kreativen Alltag stetig zu wiederholen, dürfte dem Künstler grausig sein. Mr. Blank hat in Paul Austers »Travels in the Scriptorium« wenigstens den Vorteil eines sehr porösen Gedächtnisses. Für die stagnierenden Künstler ist Alzheimer somit die beste Chance, nicht an sich selbst zu verzweifeln. In einer ähnlichen Position muss Alex Paterson von tHe orB sein, nur glaubt er, sich noch erinnern zu können. Er erhebt mit Gründungsmitglied Martin Glover die neue Arbeit (»The Dream«, Stereo Deluxe) zum legitimen Nachfolger des zweiten Orb-Albums »U.F.Orb« von 1992. Nicht nur, dass er damit die neun Alben zwischen 1992 und 2007 in Frage stellt, auch die Verbindung zum vergangenen bahnbrechenden Ambient-House ist unsinnig. »The Dream« kommt dem Blueprint nicht ansatzweise nahe, sondern ergibt sich in Reisesendungs-Soundtracks mit Dritte-Welt-Läden-Charme. neBulla & dj dore sind noch jünger und nutzen ihr Gedächtnis da distinkter. Sie vergessen zum einen die Entfernung von USA und UK, von HipHop und elektronischer Musik, und verquirlen auf ihrem freien Download-Mix »The Dirtystep Mixtape Vol. 2« (Code Of Arms Records) Dirty South Crunk und die minimalisierte Bassstruktur des 2-Step. Sie erinnern sich zum anderen ganz richtig an die universelle Macht des Basses, und schlagen die Brücke zwischen dem Glammer des Booty Clubs und der Bodenständigkeit des DubstepWarehouses. An einer ähnlichen Stelle setzen auch tHe taPe vS. rQm an. Produzent Robot Koch vergisst eh gerne, jedoch nie in der Absicht, das Alte nur wieder als das Neue entdecken und verkaufen zu können. Die EP »Luvely« (Mouthwatering Records) startet mit einem Postrockwirbel, rutscht in einen Rhodespiano-SpacejazzBouncer mit RQMs frei rotierenden Geschichtsfetzen, um am Ende noch mal völlig auszukreisen. Und das passiert allein nur im Original, welches im Anschluss von Chris De Luca zum Hüftkreis-Wüstling zerhackt, von Filewile zu einer Prince-Hommage verdreht und durch Kalabrese in den Minimal-House-Bassbin geworfen wird. Bekanntlich halten sich auch die Shadow Huntaz immer zwischen Hip28  töne

Hop und Elektronik auf. Deren MC nonGenetiC hat auf dem Weg von »Madrid 2 Los Angeles« (Project:Mooncircle) den Produzenten Strand getroffen, der die Schatten mit iberischer Sonne vertreibt. Die leuchtend leichten Electronica-Sounds mit Jazzeinschlägen wirken teils etwas überholt, halten die Stagnation der Electronica-Bewegung aber auf verhältnismäßig hohem Niveau. CadenCe WeaPon hat wiederum die Mittelmäßigkeit seines Debüts von 2007 als auch seines starren Rapstils hinter sich gelassen und die Schwächen ordentlich aufgearbeitet. Das nennt man echte Entwicklung. Mit seinen nerdigen »Afterparty Babies« (Big Dada) tänzelt er irgendwo zwischen Oldschool, Electro, Crunk und Underground HipHop herum, ein bisschen wie Roots Manuva, ein bisschen wie El-P und insgesamt überraschend frisch, verquer und mit avanciertem Rapstil. Mr. Blank, der vergessliche Protagonist aus Paul Austers Roman, wird im Laufe der Geschichte auch der Anfang eines Romans vorgelegt, den er längst geschrieben, aber vergessen hat. So beginnt er die eigene Geschichte erneut zu schreiben, als hätte sie nie existiert. Das könnte Chris Clark passiert sein, der die zerbrochenen HipHopExkurse vergisst, die er aus dem elektronischen Fundus sezierte. Er steht wieder am Ausgangspunkt: Techno. »Turning Dragon« (Warp) ist eine Furie der Noise-geschwängerten Dirty-Electro-Breaks a la Para One und Jackson & His Computerband, nur irgendwie verstörter und lauter. Selten war ein Neustart kompromissloser, wenn er auch um alte Strukturen nicht ganz herumkommt. Da stellt ihm das kollektive Gedächtnis ein Bein. meat numBer 5 stolpern auf dem selbst betitelten Album (Anodyne Electric Company) mit sichtlicher Freude über dieses Gedächtnis. Sie hacken sich in Erinnerungen an DJ Shadows »Preemptive Strike«, Mr. Scruff, The Avalanches, Req und Hint, wenn sie schlichten, gut arrangierten Electronica HipHop mit zerkratzten Vocals bestreuen und mehr Fleisch auf dem Tisch fordern. Das soll auch gut fürs Gedächtnis sein.

ene, mene, misTe, es raPPelT in der kisTe text: sebastian hinz

Am Anfang herrscht genau zwei Minuten Stille. Dann folgt ein viellautender Geräuschesturm, ein Sausen, Zischeln, Heulen. Ein kompakter Quader aus Knarzen, Knirschen, Knarren, mit jähem Beginn und abruptem Ende. »peakV/ Z*sin« wurde die Erschütterung ebenso verschlüsselt genannt. Hinter dieser Lektion im Rauschen steckt die Formation Fessenden (eine Verbeugung vor dem Filmemacher Larry Fessenden?), namentlich der New Yorker Joshua Convey, Stephen Fiehn und Steven Hess aus Chicago. Letzterer hat sich durch Kollaborationen mit Christian Fennesz, Tony Buck, Glenn Kotche, Greg Davis, Keith Berry und den Bands Pan American, Dropp Ensemble, Haptic, On einen Namen in der Welt der Klangmanipulationen gemacht. Dabei hat Steven Hess stets versucht zu verdeutlichen, dass diese Transzendierung nicht als ein Hinausgehen über die Welt der Erscheinungen, sondern vielmehr als ein Sichverlieren in dieser Welt zu verstehen ist. Ähnlich wie das Rauschen der Großstadt aus einer Vielzahl von Geräuschen besteht, deren Quelle vom Hörer nicht ausgemacht werden kann, werden von Fessenden Klänge und Klangfolgen angeboten, die nicht auf eine bestimmte Ereignisfolge zurückzuführen sind. Doch der bloßen Kakophonie gibt sich das Trio dann doch nicht hin, und so gesellen sich zu dem elektronischen Equipment auch die akustisch leichter identifizierbaren Instrumente Gitarre, Bass, Schlagzeug und geben den Kompositionen die nötige Struktur. Dieses elektroakustische Soundgeflecht bekommt dadurch rhythmische Tiefe und erinnert bisweilen – wie im besten Stück »Mid-Swing« – an das österreichische Ensemble Radian. »v1.1« von Fessenden ist bereits bei Other Electricities erschienen

Inspiriert von Klängen aus der ganzen Welt komponiert ein Däne namens SnÖleoParden eine fantasiereiche Musik – demnächst will er mit Außerirdischen musizieren text: sebastian hinz

Auf dem Stück »Dreng« hören wir einen sechsjährigen, obdachlosen pakistanischen Jungen singen. Anderthalb mitreißende Minuten basierend auf einem Tonbandmitschnitt, den Jonas Stampe zufällig in Indien aufnahm, als er gerade unterwegs mit den pakistanischen QawwaliMusiker Meher Ali and Sher Ali war. Jonas Stampe, der sich als Musiker nach seinem Lieblingstier Snöleoparden nennt, hat eine sehr spezielle Beziehung zum indischen Subkontinent. Nicht nur ist er selbst zur Hälfte Pakistani, auch hat er das traditionelle Zupfinstrument Sitar von keinem geringeren als Ravi Shankar (inzwischen weitestgehend nur noch als Vater von Norah Jones bekannt) gelehrt bekommen, den er zufällig in Delhi traf und in dessen Live-Band er 1999 spielte. Farbenfroh und versponnen wie seine Lebensgeschichte, sind auch die elf leichtlebigen Songfragmente, die Snöleoparden auf seinem selbst betitelten Debütalbum präsentiert. Von fünfminütigen Xylophoneskapaden zum Minimalismus eines Steve Reich dargeboten bloß auf einer marokkanischen Lehmtrommel, von psychedelischem Rock, klimpernder Elektronika bis zum Kinderlied zeigt dieses phantasiereiche Werk reichlich Facetten und ungebremste Freude am Spiel. Laut Eigenaussagen sei eine Steigerung nur noch durch ein Zusammenspiel mit Außerirdischen möglich. »Snöleoparden« von Snöleoparden ist bereits bei Rump Recordings erschienen

töne  29


review

text: sebastian hinz

the relay

auf simPle weise knifflig ColorliSt haben ein komplexes, vielschichtiges Meisterwerk aufgenommen,

das niemals kompliziert wirkt

text: sebastian hinz fotos: charles gorczynski and dev brown

Das belgische Plattenlabel Stilll hat unter dem Namen Off eine Veröffentlichungsserie ins Leben gerufen, die sich modernem Jazz, neuer Klassik, Avant-Rock, experimentellen Beats und weiblichen Stimmen widmen soll. Nun ist dort ein Album erschienen, das sämtliche dieser Klassifizierungen in sich vereinen kann. Lediglich von den weiblichen Stimmen muss man absehen, handelt es sich doch bei »Lists« von Colorlist um ein Instrumentalwerk.

Die zwei im Jazz sozialisierten Musiker Charles Gorczynski und Charles Rumback aus Chicago, Illinois haben hier zusammen mit einer Handvoll Gastmusikern (u.a. von Isotope 217 und Telefon Tel Aviv) eine Langspielplatte aufgenommen, welche die Freude am Unregelmäßigen und Unschematischen in fast schon simpler Manier zu Wecken weiß. Mit Leichtigkeit wird ein Bogen zwischen Chicagoer Avantgarde, ausgefeilten Clicks’n’CutsSpielereien und cinematographischen Momenten von Bands wie den Rachel’s geschlagen. Das Ganze ist dabei so raffiniert verstrickt, dass das, was mit zitternder Elektronik beginnt, in ausgefeilten Streicherarrangements zergeht und nach unerhörten, rhythmischen Verästelungen im freien Spiel des Jazz mündet. So werden weder das Divergente noch das Widersprüchliche verdeckt, noch werden sie ungeschlichtet belassen. Ein Hörgenuss mit Tiefe. »Lists« von Colorlist ist bereits bei Off / Stilll/Broken Silence erschienen

weniger leuTe, mehr nachTisch Die norwegisch-britische Formation Food ist jetzt nur noch ein Duo. Das schadet dem neuen Album nicht wirklich text: sebastian hinz

»Last Supper« hieß das letzte Album von Food. Es gilt, man sagt das oft so lapidar, als Meilenstein. Damals war Food noch ein Quartett mit Arve Henriksen fesselnd an der Trompete fabulierend und Mats Eilertsen am Bass als optimale Ergänzung der Rhythmussektion spielend. Nun bilden der britische Saxophonist Iain Ballamy und der norwegische Schlagzeuger Thomas Strønen, zwanzig Jahre nach dem sich die Band 1988 beim Molde Jazz Festival gründete, nur noch ein Duo. Ihr fünftes Album »Molecular Gastronomy« ist die erste Bestandsaufnahme in der neuen Zweisamkeit und allen Befürchtungen zum Trotz, kann man diese als gelungen bezeichnen. Das liegt vor allem daran, dass es Thomas Strønen gelingt, die Halbierung der Rhythmusfraktion durch schlauen Einsatz von elektronischen Geräuschen zu kompensieren, mitunter 30  töne

sogar mehr Struktur zu geben. Der Wegfall des doch sehr speziellen, »atmenden« Trompetespiels Arve Henriksens ist freilich schwerer zu ersetzen, wurde aber dankenswerterweise auch nicht versucht. So rückt das Zusammenspiel zwischen Saxophon und Schlagzeug auf »Molecular Gastronomy« mehr in den Vordergrund. Hätten die Norweger generell nicht so viel Vergnügen an süßlichen Syntheziserflächen, wäre das Machwerk wohl noch zufriedenstellender ausgefallen. »Molecular Gastronomy« von Food ist bereits bei Rune Grammofon/Cargo erschienen

Es war einer der Glaubenssätze von Karl Krauss, dass das Aktuelle über Nacht sterbe. Alles, was einen Blick von weiter her auf die Dinge werfe, mag heute sogar dunkel erscheinen, schwer verständlich und vielleicht erst zehn Jahre später sich wirklich erschließen. Gerade junge österreichische Musiker scheinen sich dem Lehrsatz ihres Landsmannes angenommen zu haben. So ist im Herzen Wiens unlängst eine kleine Szene um Musiker wie Christian Fennesz, Peter Rehberg, Werner Dafeldecker und Martin Siewert entstanden, die Zeitloses oder Zeitunabhängiges komponieren. In dieser Reihe unbedingt zu nennen, sind auch Stefan Németh und Martin Brandlmayr. nÉmetH, Mitbegründer des Labels Mosz und als Musiker unter anderem bei Radian und Lokai aktiv, hat soeben sein erstes Soloalbum (»Film«, Thrill Jockey) veröffentlicht. Hierbei handelt es sich um eine Zusammenstellung und Neuarrangierung von Kompositionen, die Németh seit 2001 für verschiedene Installationskünstler und Kurzfilmer verfasste. Dennoch braucht es zum Hörgenuss nicht unbedingt den Kontext dieser Bildgewalten: wie beim Kartenmischen schieben sich die einzelnen elektronischen Klänge fließend ineinander und geben immer neue Variationen preis. Natürlich wirkt auch hier Schlagzeuger Martin Brandlmayr mit. Brandlmayr, auch bei Radian und Trapist dabei – ist nämlich einer der Umtriebigsten innerhalb dieser österreichischen Avantgardeszene, und weiß mit seinen Projekten wie kein Zweiter hier mühelos und unkompliziert zwischen den verschiedenen Stilen Jazz, Improvisation, Elektronik und Folk zu wechseln. Gerade hat Brandlmayr zusammen mit Nicholas Bussmann als kaPital Band 1 (»Playing by Numbers«, Mosz) wirre Geräuschkulissen zu einem eigenen akustischen Mikrokosmos geordnet, schon lässt er seine Jazz-Besen für das österreichisch-neuseeländische Dreigespann autiStiC dauGHterS (»Uneasy Flowers«, Staubgold) über die Becken kreisen. Zusammen mit Dean Roberts und Werner Dafeldecker ist hier ein song-orientierter Zweitling entstanden, der auf das Experiment nicht verzichtet und vor allem durch seine gegen den

Kamm gebürstete Rhythmik überzeugt. »Tramphapert«, würde der Wiener die hier zelebrierte, leicht mystische, traumverlorene Stimmung nennen. Aus einer anderen Ecke der österreichischen Hauptstadt kommen B. Fleischmann und Herbert Weixelbaum, die als duo505 auch auf ihrem zweiten Album (»Another Illusion«, Konkord) eine Groovebox aus dem Hause Roland in den Mittelpunkt ihrer Kompositionen stellen. Doch um es frei nach Karl Kraus zu sagen: Es genügt nicht nur, kein Konzept zu haben, man muss auch unfähig sein, es umzusetzen. So wird nach einem guten Beginn fast nur noch eine alternative musikalische Untermalung zu Aerobic-Videos der 1980er Jahre angeboten, was in der ehemaligen DDR »Medizin nach Noten« hieß. Vielleicht wollen sich die beiden Musiker auch ein zweites Standbein als Muzak-Komponisten aufbauen: Die Cover-Versionen des Discohits »Just an Illusion« und von Dinosaur Jr’s »Feel The Pain« eigneten sich hervorragend als Hintergrundmusik zum Schlendern durch den Supermarkt. Ah woos? Lekmimoasch, das geht gar nicht! Noch ein Blick in die Nachbarländer: Gewohnt gelassen geht es in der Schweiz zu, wo sich die drei Musiker von SteamBoat SWitZerland schon mal eine dreiviertel Stunde Zeit für ein einziges Stück nehmen. Für eine weitere Aufnahme reichten dann auf dem fünften Album (»Zone 2«, Grob) die Kapazitäten nicht mehr. Manuskripten und Konzeptionen schenken Dominik Blum, Marino Pliakas und Lucas Niggli dabei ebenso wenig Vertrauen: Sie improvisieren was die Tasten des Bösendorfer Imperial, die Saiten der Akustikklampfe, die Felle des Schlagzeugs eben hergeben. Dabei changieren sie virtuos von den Momenten der Intensität der Rockmusik zur Virtuosität des Jazz, hin zum Serialismus moderner Klassikwerke. Zum Abschluss sei noch der zweite Streich von niCe neW outFit (»Strip Down, Stand Up«, Fidel Bastro) empfohlen. Eine Weile haben Platten aus Louisville, Kentucky diese Soundästhetik geprägt und das war eine schöne und prägende Zeit: in Wien, Zürich und Berlin.

töne  31


worte

worte

»Die Wahrheit zu sagen, ist leicht und angenehm.« Kruno Lokotar über KROATISCHE GEGENWARTSLITERATUR Seite 34

»Es wird so getan, als sei die Befreiung von Geschlechterdichotomien immer noch ausschließlich die Sache der Frauen.« SONJA EISMANN im Gespräch über Popfeminismus Seite 40

34 38 40 42 43

Kroatische Gegenwartsliteratur Thomas Ostermeier Sonja Eismann David Peace Don DeLillo

reviews 44 performativ 45 Jenny Erpenbeck 46 Piereangelo Maset William Blake 47 Hamid Skif »Wann kommt Mama« 48 Tanja Bogusz 49 eklektische schatten


Algoritam goes to Hollywood

Die angesagtester Autoren und Bücher der kroatischen Literaturszene – ein Crashkurs von Kruno Lokotar

übersetzung: margit jugo fotos: goldstein

Ich arbeitete in einer Bücherei als Bibliothekar, als das Telefon klingelte und ein unbekannter Jemand mir den Chefredakteurposten in einem etablierten Verlagshaus anbot. Bis dahin hatte ich mein Studium in den Fächern Komparatistik, Geschichte und Bibliothekswesen abgeschlossen, etwa 15 Jahre lang Kritiken und Essays über Kultur geschrieben, Literaturtheorie und -geschichte unterrichtet, als Redakteur eines Kulturmagazins gearbeitet, die ›Regie‹ einer Literaturperformance-Talkshow übernommen und sie wie auch die äußerst beliebten kollektiven Auftritte einer ganzen Reihe von meist jüngeren Schriftstellern moderiert, die als FAK bekannt sind. Um möglichst cool zu wirken, reagierte ich NKWD-mäßig reserviert und gab wortkarg zu verstehen, ich sei interessiert. Nach dem ersten Gespräch erklärte ich mich mit allen Bedingungen einverstanden.

Zwei Jahre später, 2004, erhielt ich den erstmals verliehenen Preis für den Redakteur des Jahres. Ohne Frage: Der Preis für den Redakteur des Jahres wird für Bücher verliehen, und hinter Büchern stehen Autoren. Damals war es mir bereits gelungen, eine starke Gruppe von gern gelesenen und viel gelobten Autoren zu ›schaffen‹, und jetzt, da ich zusammen mit allen Prosaautoren in das neue Verlagshaus Algoritam, eines der größten in Kroatien, übergewechselt bin, habe ich das Glück, gleichzeitig Sekretärin, kritischster Leser, Psychologe, gewerkschaftlicher Beschützer und Rechtsberater, PR-Mensch, Ideenventilator, Damenrückenkrauler, Herrenschuhputztuch und Freund zu sein, also all jenes zu tun, was die unerschöpfliche Arbeit eines Redakteurs von zahlreichen ausgezeichneten Autoren aus drei ex-jugoslawischen Ländern ausmacht.

Renato BaretiC´

Emir ImamoviC´ Pirke

(*1963) wollte sein Leben lang Bongo spielen, doch das Schreiben ging ihm leichter von der Hand – nach einer Aufmerksamkeit erregenden Karriere als Journalist schrieb er den Roman »Osmi povjerenik« (»Der achte Beauftragte«), der zum preisgekröntesten kroatischen Roman aller Zeiten wurde. »Der achte Beauftragte« ist eine Utopie auf einer fiktiven kroatischen Insel, fernab jeglichen Segens der Zivilisation und sogar von Mobilfunknetzen, auf der, wie in einer Hakim Bey’schen Temporären Autonomen Zone und in einem Ambiente und einem Ton wie in Salvatores’ »Mediterraneo« außer den Rentnern, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, auch italienische Schmuggler, bosnische Pornodarstellerinnen, Aborigine-Heilfrauen usw. anzutreffen sind. Auf der Insel kreuzen sich der Rationalismus und Pragmatismus der Hauptfigur mit einem New-Age-Kontext, woraus ein Roman mit traurigem Ende entsteht, weil es überhaupt ein Ende gibt. Die meisterhafte Sprache, ja sogar das Erfinden einer neuen, aber allen verständlichen Sprache, hat diesem Roman bedauerlicherweise nicht geholfen, so dass die ausgezeichnete, fertige deutsche Übersetzung noch auf den Schreibtischen großer Verlage ausharren muss. Bareticˇs zweiter Roman »Pricˇaj mi o njoj« (»Erzähle mir von ihr«) handelt von einer unmöglichen Situation, einem Liebesdreieck zu zweit, da die Frau der Hauptfigur, eine Heldin des Heimatkrieges, als vermisst erklärt wurde, lebendig tot wie bei Sophokles, was den menschlichen, Ehe- und Lebensstatus der Hauptfigur in eine Pattposition bringt. Sein neuer Roman, dessen Manuskript gerade um etliche Kilobytes zunimmt, handelt vom Aufwachsen eines Jungen in einem Bordell und droht nach seiner Veröffentlichung, wie es derzeit aussieht, den »Achten Beauftragten« ernsthaft in den Schatten zu stellen. Chiffre: »Mediterraneo« im Herzen der Globalisierung.

34  worte

(*1973), ein legendärer, ehemaliger Redakteur des einflussreichsten bosnisch-herzegowinischen Wochenmagazins in Sarajevo, der liberalen Zeitschrift Dani, ist immer noch einer der geistreichsten Menschen, die ich kenne. Dieser erfahrene Journalist verwandelte die wahre Geschichte über zwei Idioten, die anstelle des Sohnes und der Tochter des Tankstelleneigentümers vier kleine Mädchen entführen und jetzt nicht wissen, was sie mit ihnen machen sollen, in eine ausgezeichnete Krimikomödie, derer sich auch Guy Ritchie nicht schämen würde, mit dem Titel »Jel neko vidio djevojcˇice, kurve, ratne zlocˇince« (»Hat jemand die kleinen Mädchen, Huren und Kriegsverbrecher gesehen«). Der satirische Roman »Tajna doline piramida – u potrazi za dokazima da su u Bosni i Hercegovini živjela inteligentna bica« (»Das Geheimnis des Pyramidentals – auf der Suche nach Beweisen für die Existenz früheren intelligenten Lebens in Bosnien und Herzegowina« entlarvt die bereits weltweit bekannte Suche nach Pyramiden im Städtchen Visoko bei Sarajevo als Farce, die, ob Sie es glauben oder nicht, vom Staat finanziert wird, schlimmer noch, der Staat misst anhand der Loyalität zu diesem Blödsinn den Patriotismusgrad, sodass dieser turbulente Roman auch der gesellschaftlich engagierten Literatur zugerechnet werden kann. Chiffre: Danis Tanovicˇ übernimmt die Regie und Guy Ritchie die Montage dieses Mooreschen Dokumentarfilms über ..., na über ... die Pyramiden bei Sarajevo!

worte  35


Olja SaviC´eviC´

(*1974) veröffentlichte ihren ersten Poesieband im Alter von 14 Jahren, und ihren Erfolg bei den Kritikern, ihre Beliebtheit und ihren Status als Kolumnistin erzielte sie mit der Kurzgeschichtensammlung »Nasmijati psa«. Diese Sammlung, die für den deutschen Markt »Augustschnee« genannt wurde, kann in der Ausgabe des Verlags Voland & Quist gelesen werden, den ich auf diesem Wege für seinen guten Geschmack beglückwünschen möchte. Chiffre: Willkommen im ersten besser ausgestatteten Buchladen.

Vlado BuliC´

Ivan VidiC´

(*1966) schrieb etwa 15 Dramen, von denen 11 in Theatern von Vitrovitica (15.000 Einwohner) bis Santiago und London aufgeführt wurden, seltsamerweise jedoch nicht in Deutschland, dessen Theater dafür eigentlich offen sein sollten. Denn Vidicˇs gesellschaftskritische, dunkle, realistisch-groteske Stücke mit lyrischen Sequenzen stellen in erster Linie die marode Familie als verlängerten Arm des Staates dar. Sein Prosawerk »Gangabanga« ist ein Krimi und Ideen­roman, in dem Opfer des Transformationsprozesses zurückschlagen, indem sie ihre österreichischen Kapitalisten bestehlen, denen Vidicˇ auch geistreiche, politisch unkorrekte Tiraden widmet. Ich persönlich halte den Kurzroman »Violator« für sein Meisterwerk, eine harte, modernistische Allegorie über die Irrenhausgesellschaft, geschrieben mit der Energie und dem Elan des frühen deutschen Romantismus, in der Horrorszenen mit dem Kafka’schen Absurden, mit ungezügeltem Lachen und Humor abwechseln. Wann auch immer dieser Roman übersetzt wird, und das wird er, wird es nicht zu spät sein, denn solchen Texten können Zeit und Raum nichts anhaben, im Gegenteil. Chiffre: Regie beim psychedelischen Tschechow, der in seinen prägenden Jahren mit Gottfried Benn Gesellschaft pflegte, führt David Lynch. 36  worte

Vladimir ArsenijeviC´

(*1965) ist ein serbischer, an der kroatischen Küste geborener Schriftsteller, der mehr auf dem Punktrip – eine seiner Bands hieß Berliner Straße – als auf dem Literaturtrip war. Doch die Welt der Literatur betrat er im großen Stil. 1994 wurde er, zur allgemeinen Konsternation des nationalistischen Serbiens, für seinen Roman »U potpalublju«, der bis heute in etwa 20 Sprachen übersetzt wurde, mit dem renommiertesten Preis Kroatiens ausgezeichnet. In Deutschland wurde dieser Roman 1996 vom Rowohlt Verlag Berlin unter dem Titel »Cloaca Maxima« veröffentlicht. »Cloaca Maxima« handelt von Deserteuren und von Opfern des Krieges, ihren persönlichen Dramen und Tragödien während des serbischen Angriffskrieges. Sein zweiter Roman, »Anđela«, handelt von Liebe und Heroin, und sein drittes Buch, die Reisebeschreibung »Mexiko – ratni dnevnik« (»Mexiko – Ein Kriegstagebuch«), schockierte die Nationalisten erneut, da es von der Freundschaft des Autors zum albanischen Dichter Xhevdet Bajraj handelt. Die Novelle »Išmail« schrieb er in Zusammenarbeit mit dem Comiczeichner Aleksandar Zograf, und sein neues Buch, ein Erzählungsgeflecht aus persönlicher Perspektive über ultimative Verbrecher, das ich gerade per E-Mail bekomme, ist hitverdächtig von Irkutsk Richtung Westen bis Anchorage. Chiffre: »Sympathy for the Devil«, aufgeführt von einem Kirchenchor.

(*1979) setzte sich eines Nachts hin und schrieb in etwa 24 Stunden 60 Gedichte. In den darauffolgenden Tagen schrieb er weitere 40 und veröffentlichte dann den Poesieband »100 komada« (»100 Stück«), mit dem er Eingang in Poesieanthologien fand. Dann hatte er von Poesie wohl genug und wurde Autor einer narrativen Webkolumne, die sich zu einem Blog entwickelte. Den Motiven der Kolumne folgend, schrieb er den Roman »Putovanje u srce hrvatskog sna« (»Reise ins Herz des kroatischen Traums«), einen Bildungsroman im Schatten des Krieges und der Transformation aus einem feudalen Dorf in ein Unternehmen, in dem Hunter S. Thompson und M. P. Thompson, ein kroatischer Sänger, dem Chauvinismus und Antisemitismus vorgeworfen wird, aufeinander stoßen, in dem Gewalt auf Liebe trifft, Drogen auf Gehirnzellen, und in dem die qualvolle Suche des Romanhelden nach Identität mit einer Auflösung in der virtuellen Welt und im korporativen Kapitalismus endet. Der Roman wurde mit dem prestigeträchtigen Preis der Tageszeitung Jutarnji list für das beste Prosawerk des Jahres 2006 ausgezeichnet, und Bulicˇ gibt sich seither relaxed und schreibt Drehbücher für humoristische Sitcoms. Chiffre: Hunter S. Thompson reist von »Padre, padrone« nach »Less than Zero«.

Nada GašiC´

(*1950), Doktorin der Slawistik und Übersetzerin aus mehreren slawischen Sprachen – unter anderem übersetzte sie auch Hašeks »Braven Soldaten Schwejk« in Zagreber Jargon – schrieb ihr Erstlingswerk mit 57 Jahren, und vielleicht ist deshalb ihr Nachbarschaftskrimi ein so reifes und faszinierendes Buch. Wie jeder gute Krimi porträtiert »Mirna ulica, drvored« (»Ruhige Straße, Baumreihe«) außer einem Rätsel, das auf eine in der Welt der Literatur noch nie da gewesene Weise gelöst wird – irgendwie tschechisch mit viel Liebe, und russisch unerbittlich, das Kleinbürgertum – die Nachbarschaft und sympathische und liebenswerte Menschen, bis diese die Gelegenheit bekommen, sich schweinisch zu verhalten, andere Nachbarn zu tyrannisieren und anzuschwärzen oder Ungerechtigkeiten bestenfalls ruhig zu beobachten. Chiffre: Jirˇi Menzel dreht nach Rekonstruktion von Primo Levi einen fiktionalisierten Dokumentarfilm über einen Mord in der Nachbarschaft.

Dejan Šorak

(*1957) ist Regisseur, und sein Film »Oficir s ružom« (1987, »Der Offizier mit der Rose«), gelangte über die reguläre Kinodistribution in mehr als 40 Länder. Sein letzter, sechster Film, »Dva igracˇa s klupe« (»Zwei Spieler von der Ersatzbank«) kam sogar in die Auswahl des strengen Tribeca Film Festivals von De Niro. Šoraks erster Roman, »Kontrolna projekcija« (»Kontrollprojektion«) ist ein Thriller, in dem die Hauptfigur überhaupt nicht auftaucht, und der zweite, »Ja i Kalisto« (»Ich und Kallisto«), ist Science Fiction für Menschen wie mich, die Science Fiction überhaupt nicht mögen. »Ja i Kalisto« stieß auf Interesse in den USA und wird gerade übersetzt, was, wie ich hoffe, eine gute Vorbereitung für den Roman ist, an dessen Fertigstellung wir gerade arbeiten. Dieser neue Roman, »Americˇko-hrvatski u boji« (»Amerikanischkroatisch in Farbe«) ist ein weltweit einzigartiges Unterfangen, denn bislang hat, wie ich denke, kein einziger Regisseur einen Roman über den Film geschrieben, und erst recht keine Trilogie in einem Umfang von 1050 Seiten. Šorak schreibt über drei Generationen einer kroatischen Auswandererfamilie – eine Drehbuchautorin, eine Schauspielerin und eine Regisseurin – die schicksalhaft mit dem Film und mit Hollywood verbunden ist, und es ist klar, dass in diesem Roman über den Film, der von Natur aus etwas vorgaukelt, da er eine Illusion ist, Teufel auftauchen, und so fehlt es auch nicht an Exorzismen: Dass Venedig in Louisiana aufgebaut wird, wo Mädchen ein Wettschwimmen über Kanäle veranstalten, in denen es vor Alligatoren nur so wimmelt, dass die Mafia überall ihre Finger im Spiel hat und dass anhand von drei Schicksalen sowie zahllosen beiläufigen Erzählungen eine Geschichte des Films geschrieben wird, die den Zeitraum von den 30er Jahren bis Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts umfasst. Teufel auch, wenn am Film etwas dran ist, dann auch an diesem ›Buch im Hollywoodformat‹. Chiffre: Ridley Scott führt (mit John Le Carré als Dramaturgen) Regie bei dieser Trilogie mit einem Budget in Höhe von 325.000.000 $, mit der er elf Nominierungen erzielt, aber nur sechs Oscars gewinnt; für den besten Film, die beste Regie, das beste Drehbuch, die beste Darstellerin, das beste Szenenbild und die besten Spezialeffekte. Und keinen einzigen Goldenen Bären.

Ja, die Liste der Aufgaben eines Redakeurs, wie ich sie sehe und ausführe, muss um die angenehme Arbeit des Schreibens von Texten wie diesem hier ergänzt werden. Denn die Wahrheit zu sagen, ist leicht und angenehm. Also sprach Jeschua Ha-Nozri. worte  37


Sehnsucht nach Unmündigkeit Kant war gestern: Thomas Ostermeiers Inszenierung von martin CrimPS »Die Stadt« und mark ravenHillS »Der Schnitt«

text, interviews: susanne lederle foto: arno declair

Eine wackelige Handkamera, auf Füße gerichtet, die durch die Einstellung die eigenen werden. Man läuft über ein Gitter, unten ist schemenhaft eine blonde Frau zu erkennen, die sich verängstigt umblickt, fliehend, aber wovor? Dieses Blair Witch Project-Flair irritiert, der befremdliche Blick auf die ›eigenen‹ Schritte, die über ihren Kopf hinweg schreiten: Ist es der Zuschauer, vor dem sie flieht? Wer verstört hier wen? Oder ist das alles nur ein wüster Traum? Den Trailer zur Premiere von »DIE STADT und DER SCHNITT« von Martin Crimp und Mark Ravenhill in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier am 21. März in der Berliner Schaubühne gibt es bei Youtube zu sehen. Auf gut eine Minute verdichtet vermittelt er ein Gefühl für das, worum es bei diesem Projekt geht: um die totale Verunsicherung des Zuschauers. Die Stadt als Matrjoschka Einen gewöhnlichen Theaterabend, basierend auf einer soliden Inszenierung und der klassischen Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum darf man von diesem ambitionierten Projekt nicht erwarten. Die Doppelproduktion von Thomas Ostermeier (Regie), Julian Rosefeldt (Videokunst), Jan Pappelbaum (Bühnenbild) und Alex Nowitz (Musik) sprengt die Grenzen zwischen Theater, Installation, Videokunst und Gesang: Statt sich nach dem Einlass faul auf seine Sitze fallen lassen zu dürfen, findet sich das Publikum in einer begehbaren Installation wieder, die den urbanen Raum zu einem labyrinthartigen Parcours aus Korridoren werden lässt. Wie in einer Ausstellung entdeckt es unterwegs verschiedene visuelle, szenische und musikalische MiniInstallationen. In einem zylindrischen, nur durch Schlitze einsehbaren Raum, wird live gespielt. Eine »Peepshow« nennt Ostermeier das und muss meinen, dass die Inszenierung der Stadt, die wie eine Matrjoschka immer noch eine weitere in sich birgt, die Inszenierung des Blickes ist. Damit weist sie dem Zuschauer doch wieder seine ursprüngliche Rolle zu. Aber der sieht hier weniger Schauspielern als sich selbst beim Zuschauen zu: beim bewussten, heimlichen, selektierten oder verweigerten.

Visualisierung der Musik Im Trailer bewegt sich der Komponist Alex Nowitz als futuristische Computer-Puppe, zwei Fernbedienungen in den Händen, maschinenartig zu schwingenden, immer wieder zerreißenden elektronischen Tonsequenzen und setzt auch die eigene, elektronisch verfremdete Stimme ein. Nowitz greift dazu auf eine am STEIM (Studio for Electro-Instrumental Music in Amsterdam) entwickelte Technik zurück. Mit den einer Wii-Konsole entliehen Fernbedienungen steuert er über einen Computer elektronische Klänge an und kontrolliert sie allein durch seine Bewegungen. Das funktioniert, weil die Sensoren der 38  worte

Fernbedienungen die variierenden Abstände messen und per Bluetooth an den Computer senden, dessen Software die Daten in Tonhöhen umrechnet. Schon das 1919 erfundene Theremin, auch Ätherwellengeige genannt, das erste elektronische Musikinstrument und verantwortlich für den psychedelischen Sound der Musikuntermalung von Science-Fiction-Serien der 1960er Jahre, arbeitete mit Abstandsmessung. Dankenswerterweise lassen die Fernbedienungen der Wii-Konsole, deren Entwicklung sich die Gemeinde der Musik-Performance-Künstler nicht hätte leisten können, die kabellose Übertragung der Daten zu und eröffnen damit völlig neue Möglichkeiten. Für Nowitz ist die Erfindung des »Klangtanzes«, wie er es nennt, eine Erweiterung seines ohnehin schon weiten und mitunter kuriosen musikalischen Betätigungsfeldes. Zwar ist ihm bewusst, dass Klangtanz mehr nach anthroposophischem Tüchertanz als nach ästhetisch aussagekräftiger Musik-Performance klingt, aber ein besserer Name für die »sichtbare Gestaltung der Musik« ist ihm noch nicht eingefallen.

»Wo immer du auch hingehst, deine Probleme nimmst du mit« In klassischer Komposition und Gesang ausgebildet, ist sein Spezialgebiet mittlerweile Countertenor, also die Technik, als männlicher Sänger mit Hilfe einer durch Brustresonanz verstärkten Kopf- bzw. Falsettstimme in Alt- oder sogar Sopranlage zu singen. Aber auch andere erweiterte Stimmtechniken, »alles, was vom gewöhnlichen Weg der Stimminduktion abweicht«, wecken Nowitz’ Interesse. »Das sind Inversklänge, Lippen- und Zungentechniken, zum Beispiel auch eine bestimmte Tieftontechnik durch besondere Kehlkopfstellung aus der Mongolei.« Freiwillige Unmündigkeit Nach dem Prolog dieses Installations-Parcours teilt sich der Raum, der Eiserne Vorhang senkt sich und durch die Stadt und Publikum geht ein Schnitt. Die beiden Stücke, die Uraufführung von Martin Crimps »The City«, und »The Cut« von Mark Ravenhill kommen getrennt von einander zur Aufführung. Nach der Pause, in der sich die Stadt erneut formiert und den Parcours begehbar macht, hat man die Gelegenheit, das jeweils andere Stück zu sehen. Mark Ravenhills »Der Schnitt« ist eine Art Huxleysches Dystopie-Szenario. Allerdings kontrolliert hier die Obrigkeit ihre Bürger nicht mehr mittels Gedankenpolizei, sondern führt an ihnen einen ominösen, nie näher erläuterten operativen Eingriff durch, um sich Kontrolle über ihr Bewusstsein zu verschaffen. Paul ist Angestellter der Behörde, die den Schnitt durchführt. Ein junger Mann, der ihn aufsucht, um sich freiwillig dieser Operation zu unterziehen, zwingt Paul zu einer seltsamen Verkehrung der Rollen, die ihn zusehends in die argumentative Gegenposition drängt. Er wird zum kritischen Beobachter seiner

selbst. »Eine Sehnsucht danach, nicht mehr verantwortlich zu sein, nicht mehr Subjekt zu sein« sagt Thomas Ostermeier, drückt sich in dem Wunsch aus, sich freiwillig von seinem Bewusstsein abschneiden zu lassen. Auszusteigen aus einer zunehmend komplex-vertrackten Gesellschaft, deren Mitglied man freiwillig-unfreiwillig ist. Schon in Ravenhills Monolog »Product« (2005) ging es um solche Verwicklungen: Ein Produzent will eine Frau für einen Film gewinnen, worin sie eine Frau spielen soll, deren Mann bei den Anschlägen auf das World Trade Center umgekommen ist, und die sich ausgerechnet in ein Mitglied der Al-Qaida verliebt. Was nützt es, Subjekt zu sein, wenn man sein Leben nur noch wie einen Film, sich selbst darin nur noch als Objekt wahrnimmt und dennoch sein Gewissen behält. Oder wenn aus der unüberbrückbaren Distanz zum eigenen Leben heraus sein Gewissen verliert. Fiktion der Fiktion In Martin Crimps »Die Stadt« greift die Verunsicherung, in die man sich selbst treibt, derart um sich, dass am Ende nichts mehr sicher ist, nicht einmal die letzte Gewissheit, die Descartes einst konstatierte: dass wir selbst existent sein müssen, wenn wir denken können, dass wir es sind. Die Übersetzerin Claire ist fasziniert von demjenigen, dessen Texte sie übersetzt. Das treibt ihren Mann Chris, durch den Verlust seines Arbeitsplatzes in seinem Selbstwertgefühl ohnehin schon erschüttert, in noch tiefere Depressionen. Chris verstrickt sich in seinen Selbstzweifeln und projiziert sie zunehmend auf die Außenwelt, so dass die Wahrnehmung seiner Wirklichkeit bald psychotischparanoide Züge annimmt: Findet der Krieg, von dem die Nachbarin redet, wirklich statt? Was spielen die Kinder? Was macht meine Frau gerade? Ist mein Bild von mir selbst wahr oder erfunden, bin ich wahr oder erfunden? Claire ist es, die am Ende des Stückes gleichermaßen zur Lösung und weiteren Verrätselung beiträgt. Sie schenkt ihrem Mann ein Tagebuch, in dem sie ihrem Gefühl, ihr Leben sei nicht echt, Ausdruck verleiht. Ostermeier sieht den britischen Dramatiker, hierzulande vor allem durch »Angriffe auf Anne« (»Attempts on her life«, 1997) und »Auf dem Land« (»The country«, 2000) bekannt geworden, in der Nachfolge Samuel Becketts, weil seine Figuren komisch episch agieren und sich darin profane Beziehungswirklichkeiten mit der Sehnsucht nach einer poetischen Sprache verbinden. Crimp selbst meinte einmal in einem Interview, »in meinem Kopf existiert eine Vorstellung, ähnlich wie Kavafis´ Gedicht ›Die Stadt‹: Wo immer du auch hingehst, deine Probleme nimmst du mit. Denn du kannst deinen eigenen Kopf nicht verlassen und dein Beziehungsgeflecht auch nicht«. »DIE STADT und DER SCHNITT« von Martin Crimp und Mark Ravenhill, Regie: Thomas Ostermeier, Premiere am 21. März 2008, Schaubühne Berlin, weitere Vorstellungen vom 24.-26.3. www.schaubuehne.de

worte  39


Quentin Tarantino, ein Pop-feminist? Sonja eiSmann – die Herausgeberin der Anthologie »Hot Topic. Popfeminismus heute« – im Interview zu Pop und Feminismus gerade eben jetzt

zweitens, da sich Männer so zu Unrecht von feministischen Thematiken auch gar nicht erst in die Pflicht genommen fühlen? Nein. Es gibt so viele Men-Only-Events (oder Bücher), die nicht als solche deklariert sind, dass ich finde, Frauen stehen auch ihre eigenen Räume zu – die gehen mit dem Ausschluss wenigstens offen um. Da Männer in allen Bereichen schon so viel sichtbarer sind als Frauen, geht es mir darum, dieser Überpräsenz eine andere, deutliche weibliche Präsenz entgegenzusetzen. Und Formulierungen wie »umgekehrter Sexismus« oder »Rassismus« sind meiner Meinung nach reaktionär, weil sie existierende Machtverhältnisse einfach ausblenden.

text, interview: annika schmidt illustration: bruno colajanni/ludag.com Du wurdest anlässlich der Anthologie hauptsächlich von Frauen interviewt. Feminismus ist also scheinbar immer noch ein Thema von Feministinnen für Feministinnen. Warum schafft er es nur selten aus der Falle des selbstreferenziellen Spezialistinnen-Themas? Weil so getan wird, als sei die Befreiung von Geschlechterdichotomien immer noch ausschließlich die Sache der Frauen. Spätestens seit der 2. Frauenbewegung der 1970er Jahre haben sich Frauen in fast exzessiver Weise mit ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihren Körpern auseinandergesetzt – von den Männern kam (fast) nichts. Abseits davon ist es natürlich so, dass gerade Deutschland eine lange antifeministische Tradition hat (siehe Einverdiener-Modell, Ehegattensplitting, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten etc.) und auch die Medien meist alles darum geben, ein möglichst unvorteilhaftes Bild von Feminismus zu zeichnen. Einerseits haben feministische UndergroundKünstlerinnen wie Peaches oder Le Tigre gezeigt, dass der Eintritt in den Mainstream auch ohne ideellen Verlust vor sich gehen kann. Andererseits wurde die subkulturelle Riot Grrrl-Bewegung schnell in der Mainstream-Presse durch das zahme Konstrukt »Girlism« domestiziert. Zines sperren sich oft gegen den Kontakt zu etablierten Medien. Zu Recht? Kann sich der Pop-Feminismus wie der Pop selbst nur als Nischen-Thema treu bleiben? Nein, das glaube ich nicht. Es ist immer auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas. In den USA ist man in puncto Akzeptanz von Feminismus schon viel weiter, auch wenn es selbst dort natürlich noch horrible Sexismen gibt. Die Frage ist vielmehr: Was für eine Art von Politik möchte man verfolgen? Für mich wäre es z.B. unmöglich, eine Forderung wie jene der Autorinnen des Buches »Manifesta« zu unterstützen, die Frauen den gleichen Zugang zu militärischen Positionen wie Männern ermöglichen will. Dadurch wird ein Status Quo zementiert, den ich nicht mittragen möchte. 40  worte

»Popfeminismus ist die Kritik von Populärkultur mit feministischen Mitteln«

Feministische Errungenschaften im Pop wären sicherlich, wenn Musik-Journalistinnen wie Kerstin Grether und Feministen wie Thomas Meinecke nicht mehr die Ausnahme bilden würden. Gleichberechtigung der Pop-Besessenen durch Gleichbehandlung ihrer Produkte unabhängig vom Geschlecht. Muss der Feminismus dafür und zur Etablierung positiver Role Models seine Außenseiterposition aufgeben? Es ist ja nicht so, dass das eine frei gewählte Position ist und sich der Feminismus schmollend in eine Nische zurückzieht, sondern es gibt einfach zu wenig Akzeptanz für die Themen. Ich wüsste nicht, inwieweit man die Forderungen noch verwässern könnte, nur um eine größere Akzeptanz zu erzielen – wobei man noch nicht einmal davon ausgehen könnte, dass das dann die Folge wäre. Der Wunsch nach Gleichberechtigung ist im dritten Jahrtausend ja nun nicht gerade so radikal, dass die Frauen da noch wahnsinnig viele Zugeständnisse machen müssten, um nur ja niemanden vor den Kopf zu stoßen. Wirken Women-Only-Events oder -Veröffentlichungen wie Deine nicht in zweierlei Hinsicht kontraproduktiv: erstens, da die unausgesprochene exklusive und somit sexistische Struktur von Männerdomänen wie dem MusikJournalismus zwar offiziell, aber doch kopiert wird und

Auch die meisten Frauen identifizieren sich nicht mit dem sogenannten »F-Wort«. Verspielte amerikanische Vorbilder wie die Riot Grrrls konnten sich in Deutschland nicht wirklich etablieren. Die einzig wirklich bekannte Zeitschrift heißt nicht Bust, Bitch oder Venus, sondern in etwa »Lieschen Müller«, nämlich Emma. Der Feminismus ist hier also in der öffentlichen Wahrnehmung noch gar nicht Pop. Auch die Pop-Kultur hat ihre Impulse nie in Deutschland, sondern importiert sie stets um Jahre verspätet. Aber woran liegt das? Wenn ich das wüsste! In Wien sieht es da zum Glück schon viel besser aus – hier gab und gibt es ja mit popfeministischen Zeitschriften bzw. Zines wie nylon, Female Sequences, jetzt Fiber und Cuntstunt, und auch die An.Schläge haben mittlerweile sehr viele poppige Themen, eine rege Community. Mir fällt auch immer wieder auf, wie selbstverständlich es in Wien ist, dass Frauen hinter den Plattentellern stehen und feministische Musik auflegen – in Köln, wo ich wegen meines Intro-Jobs über vier Jahre wohnen musste, habe ich das ganz selten bis eigentlich nie erlebt. Ich denke aber auch, dass sich in Deutschland mittlerweile etwas entwickelt in dem Bereich. Ist vielleicht die Einseitigkeit des Emma-Feminismus der Herausgeberin Alice Schwarzer ein Grund für die Unattraktivität des Labels »Feministin«? Wollen viele Frauen vielleicht einfach mehr Differenzen und Spielarten, die ein Third-Wave-Feminismus mit sich bringt? Bitte nicht Feminismus immer auf Alice Schwarzer ver-

kürzen. Natürlich ist das auch die Schuld der Medien, die nichts Komplexeres rüberbringen können, aber wer die Augen öffnet, wird sehen, wie viel mehr es da schon immer gab. Ich persönlich finde Feministinnen wie Gloria Steinem, SdB, Shulamith Firestone und bell hooks höchst attraktiv – das sind nun alles keine Third Wavers (bis auf bell vielleicht). Und wieso muss denn Feminismus immer so unbedingt attraktiv gemacht werden? Warum redet niemand davon, Antisemitismus – wo doch Michel Friedman so ein Schleimer ist – attraktiv zu machen oder Antirassismus? Ist also Pop-Feminismus theoretisch der aus den USA importierte Third Wave-Feminismus und praktisch – wie es Deine Anthologie zeigt – aufs Unterschiedlichste gelebte feministische Pop- und Alltagskultur von Frauen? Popfeminismus ist ein Begriff, der bis jetzt mangelhaft bis überhaupt nicht theoretisiert wurde – in anderen Ländern/Sprachen gibt es diesen Terminus gar nicht. Ich stehe seinem Potenzial auch ein wenig kritisch gegenüber, weil er eine unkritische, untheoretische Dimension zu ›versprechen‹ scheint. Weniger Bedrohung durch Fluffigkeit quasi. In meiner (Ideal-)Vorstellung ist Popfeminismus die Kritik von Populärkultur mit feministischen Mitteln. Und ja, das kommt dem US-Third-Wave-Feminism relativ nahe. Ich halte aber wenig von der New Domesticity, feminist housewives, homeschooling und Burlesque von Frauen im Heterorahmen oder der Haltung »Because I do it it‘s feminist«, die man in den USA als Instant-Empowerment häufiger vorfindet. Könnte »Pop« hier nicht auch im ursprünglichen Sinne als ein freies, dissidentes und linkes Spiel mit Zeichen und Oberflächenstrukturen verstanden werden und dieses feministische Spiel »Pop-Feminismus« auch offen für Männer sein? Quentin Tarantino, ein Pop-Feminist? Ach, wäre Pop doch nur dieses wahnsinnig interessante, dissidente und linke Spiel mit Zeichen und Oberflächenstrukturen ..., dann wäre vielleicht auch Tarantino Feminist. In unserer Warenrealität aber: no. Sonja Eismann, 1973 geboren, war Redakteurin von Intro und der Zeitschrift nylon. KunstStoff zu Feminismus und Popkultur. Jetzt schreibt sie u. a. für die taz, Jungle World, Spex und fm4 und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem EU-ForschungsProjekt zu Grrrl Zines. Die von ihr herausgegebene Anthologie »Hot Topic. Popfeminismus heute« ist im Ventil Verlag erschienen.

worte  41


dubiose Immobiliengeschäfte und Kindesentführungen, die bis in die höchsten Kreise der lokalen Politik reichen, pflastern seine Recherchen.

»1983« liest sich wie ein Gegenmodell zu den Vorgängerromanen. Seine drei Erzählstränge ergänzen, was in der Hysterie auf der Jagd nach dem Ripper und dessen Festnahme verloren ging. David Peace führt den Leser aus der Sicht des Polizisten Jobson und der des Anwalts Piggott auf die Pfade in die Vergangenheit von Mord und Machtbesessenheit. Die beiden Perspektiven werden um die einer verlorenen Seele ergänzt. Ihre Erzählung leuchtet wie ein weiterer Lichtstrahl in den dunklen Raum, der nach wie vor um den Serienmörder herum besteht. Zusammen ergeben die drei Parallelerzählungen das Finale des »Red Quartetts« Der große Plot am Ende einer Epoche. Riding Quartetts«.

Jenseits von Gott Mit »1983« schließt david PeaCe sein »Red Riding Quartett« ab

text: roland oßwald

Von 1975 bis 1980 wird zwischen Manchester und Leeds eine Reihe junger Frauen entführt, geschändet und ermordet. Diese Jahre sind die dunkelste Zeitspanne in der Polizeigeschichte Nordenglands. Weil an seinem Auto falsche Nummernschilder angebracht sind, wird im Januar 1981 Peter Sutcliffes Wagen angehalten. Bei ihm befindet sich eine Prostituierte. Außerdem sind ein Messer, ein Hammer und ein Strick in dem Fahrzeug. Die typischen Werkzeuge des Yorkshire Rippers. Peter Sutcliffe wird mitgenommen. Drei Tage später gesteht er dreizehn Morde und sieben schwere Attacken auf Frauen. Ein ganzer Landstrich atmet wieder auf. Du hast Träume... David Peace war zu jener Zeit ein Junge, der in dieser Gegend aufwuchs. Heute ist er vierzig Jahre alt, lebt in Tokyo und hat über den Ripper und das damalige Yorkshire geschrieben. Vier Romane. »1983« ist der vierte und abschließende Band seines »Red Riding Quartetts«. Die ersten drei sind »1974«, »1977« und »1980«. Und in Deinen Träumen... 1983 verschwindet wieder ein Schulmädchen in Yorkshire. Detective Chief Superintendent Maurice Jobson übernimmt die Ermittlungen. Wenige Tage später präsentiert Jobson einen Hauptverdächtigen. Als dieser angeblich Selbstmord in der Untersuchungshaft begeht, stellt der Anwalt John Piggott eigene Nachforschungen an und begibt sich in die Schattenwelt Yorkshires. Pornohandel,

42  worte

Alle vier Bücher sind unvergleichbar. Sie werden von einem so enorm hohen Erzähltempo bestimmt, dass man sich vor der Lektüre innerlich anschnallen sollte. Das zentrale Thema ist Mord. David Peace erspart dem Leser nichts. Wenn der große böse Wolf das Rotkäppchen zu fassen kriegt, dann fließt eben Blut, und am Ende ist das Mädchen tot. Es ist abstoßend, brutal, zerstörend. Man kann es sich vielleicht so vorstellen: Der Autor David Peace wandert auf dem Boden eines schwarzen Abgrunds und blickt irgendwann nach oben. Und dort schaut er in die vom Wahn getränkten Gesichter all derer, die zu lange hinabstarren, und beschreibt, was er in ihnen sieht. Sind riesige, verrottende Dinger. Zum Glück seiner Leser ist David Peace ein Besessener. Besessen vom berühmten Zwang zur Prosa. Elf Stunden täglich schreibt er. Vier schläft er. Den Rest des Tages widmet er seiner Familie. Momentan arbeitet er an einer Tokyo Trilogie, der wie auch beim »Red Riding Quartett« ein realer Serienmörder als Vorlage dient. Der Mann mordete im von den Amerikanern besetzten Nachkriegs-Japan. Peace kündigt in einem Interview an, dass wenn die Ripper Bücher grau waren, die Japan Bücher schwarz werden. Im Original ist der erste Band bereits erschienen. Auf die beiden folgenden muss man wohl kaum lange warten.

Endlose Tragik, gescheiterte Beziehungen, Alzheimer und Poker Mit »Falling Man« erscheint don delillos lang erwartete

Antwort auf 9/11 text: shehan bonatz illustration: bruno colajanni/ludag.com »Falling Man«, das ist das Foto des AP-Fotografen Richard Drew von einem der Männer, die am 11. September 2001 aus den Zwillingstürmen sprangen, um den Flammen zu entkommen. Don DeLillos ›Falling Man‹ ist ein Performance-Künstler und Zeiten-Chronist, der mit seinen waghalsigen, inszenierten Sprüngen von Hochhäusern diese Szene nachstellt und den Menschen das Grauen von 9/11 immer wieder ins Bewusstsein ruft. Dafür wird er mehrmals verhaftet, denn er verkörpert zu sehr das Trauma, dem die Menschen noch nicht offen ins Gesicht sehen können. Wie die Fernsehbilder von 9/11, die die Hauptperson Lilliane immer wieder zurückspult, um sie in einer endlosen Wiederholungsschleife anzusehen, bewegt sich auch DeLillos Roman in einer Zeitschleife. Sein Hauptcharakter Keith ist ein Überlebender aus dem World Trade Center. Er, der vorher nicht wusste, was er wollte, weiß jetzt, dass er Ehemann und Familienvater sein will. Er kehrt zu Ex-Frau Lilliane und Sohn Justin zurück, um ein neues Leben zu beginnen. Und doch gelingt ihm dies nicht, und schließlich flüchtet er sich ins Pokerspiel. Das Leben der Menschen in New York scheint geteilt ins Davor und Danach, doch dies ist nicht die einzige Tragik des Romans. Lilliane und ihre Mutter Nina kämpfen gegen Alzheimer, gegen das Vergessen, das Keith wiederum herbeisehnt.

mehr verändern kann. Die Spektakel der Zukunft, die die Welt verändern, gehören den Terroristen. Diese Veränderung hat in »Falling Man« bereits stattgefunden: »Durch den terroristischen Akt erobern sich die Terroristen einen Platz in der Geschichte: Sie sind wie eine Virusinfektion. Ein Virus reproduziert sich außerhalb der Geschichte.« Die Erklärung, dass die Terroristen die Terroranschläge aus Panik verüben, dass sie der Übermacht des Westens in monetärer und militärischer Hinsicht nur die Übermacht von todesbereiten Selbstmordattentätern entgegensetzen können, ist dagegen keine neue Erkenntnis. DeLillo will aber auch keine breit angelegte Ursachensuche betreiben. (Wer einen solchen Roman erwartet, sollte lieber John Updikes »Terrorist« lesen.) Stattdessen präsentiert er Schnappschüsse der Gesellschaft, voller Tragik und doch voller Poesie, ohne damit eine Katharsis anzubieten. Der Terror hat selbst auf die Kinder übergegriffen, die ihre eigene Interpretation des Terrorismus liefern. Für sie hat der Angriff noch nicht stattgefunden und sie suchen jeden Tag den Himmel ab, um die Flugzeuge rechtzeitig zu entdecken und den geheimnisvollen Bill Lawton (aka Bin Laden) aufzuspüren. Der Terrorakt ist endlos reproduzierbar, und so betrachtet DeLillo nicht nur den Alltag, die Ehe- und Lebenskrisen nach den Anschlägen, sondern auch das Leben in der Terrorzelle in Hamburg. So entsteht eine Zeitschleife ohne Anfang und Ende, die Zeit der Terrorakte ist nicht abgeschlossen, jegliches Sicherheitsgefühl ist eine Illusion, es kann jederzeit wieder geschehen.

Außerhalb der Geschichte, oder: Auf der Jagd nach Bill Lawton DeLillo mischt die Schicksale der verschiedenen Menschen in ein Gesamtbild. Dies tut er, wie auch schon in vorherigen Romanen, in einem filmähnlichen Schreibstil mit scharfen Schnitten und Zeitsprüngen. Damit kann er das Chaos des Lebens verdeutlichen, verwirrt aber hin und wieder auch den Leser, der manchmal den Kontakt zu den Figuren und den Faden verliert. Überhaupt sollte er hier keinen zweiten Roman wie »Mao II« von 1992, der einst prophetisch die Auslöschung des Schriftstellers durch den terroristischen Akt voraussagte, erwarten. Bereits damals ließ DeLillo seinen Protagonisten, den Autor Bill Gray, äußern, dass ein Schriftsteller die Welt nicht worte  43


performativ text: astrid hackel

review

das »sie« ansTelle eines »du«

KULTUR & GESPENSTER

Unaufgeregt und klar: jennY erPenBeCks Jahrhundertroman »Heimsuchung« text: astrid hackel

»travelogue i« ©Sebastian Bolesch

»Das magische Königreich der Kinks«, schrieb der Rolling Stone, »ist ein Rock-Disneyland in seiner allerschönsten Form«. Die skurrilsten Typen und Geschichten hat Sänger Ray Davies erschaffen und doch anders als Bob Dylan oder Tom Waits nie seine Nische gefunden. Die besungenen Unsicherheiten auf dem Konzeptalbum »Lola versus Powerman and the Moneygoround, Part One«, einer kritischzynischen Abrechnung mit der Musikindustrie, lassen sich ohne Probleme auch auf andere Lebens- und Schaffenskrisen übertragen. Im wunderschönen, zuletzt in Wes Andersons Film »The Darjeeling Limited« wieder aufgelegten Song »This Time Tomorrow« fragt Ray Davies, das ständige Touren leidlich gewöhnt, wo wir morgen um diese Zeit sein, was wir wissen und was wir sehen werden. Die im kleinen, heruntergekommenen Pariser HÔtel du nord Gestrandeten – Asylanten, Emigranten, Auswanderer – wüssten mit Sicherheit keine Antwort darauf, denn gerade, weil sie es nicht wissen, sind sie ja hier, auf Transitstation ohne Fortkommensgarantie. Die aus Taiwan stammende Tänzerin und Choreografin Mei Hong Lin, ehemalige Schülerin Pina Bauschs und Direktorin des Tanztheaters am Staatstheater Darmstadt, lässt in ihrem neuen Stück wie zufällig erscheinende Bewegungsbilder aus Parallelen und Geraden, Begegnungen und verpassten Gelegenheiten entstehen, zeichnet die Sehnsüchte und Hoffnungen der Hotelgäste nach, aber auch ihre Ängste und ihre Abgeschnittenheit. Es ist der Prozess, der im postmodern dance im Vordergrund steht, nicht das fertige Produkt. Und so schwer es in der Vergangenheit war, altes, unwiederbringlich über die Bühne Gegangenes wieder aufleben zu lassen, es ist doch immer nur das Konzept, das reproduzierbar ist und nicht seine Umsetzung. Es käme deshalb, erklärt Jorge Luis Borges, weniger auf den Text an als auf die Art, wie er gelesen werde. Wer 1993 noch zu jung war, hat seit einigen Wochen die Chance, Sasha Waltz’ bahnbrechenden traveloGue i – tWentY to eiGHt doch noch live zu erleben – und zwar in seiner aktuellen Lesart. Dieses Stück stellte die hiesige Tanzszene damals gehörig auf den Kopf, 44  worte

und wenn Waltz vor der Aufführung noch ein unbeschriebenes Blatt war, sollte sich dies danach schlagartig ändern: Radikal und verspielt, grotesk und martialisch ist die inzwischen zum Klassiker avancierte, jetzt von einer neuen Tänzergeneration wieder aufgenommene bildreiche Reisebeschreibung. Und wie im »Hôtel du Nord« ziehen in »Travelogue I« Momentaufnahmen einer kleinen, bunt zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft vorüber. Ein anderer schräger Haufen, anfangs ziemlich ziellos und einsam, findet sich und damit eine ganz eigene Antwort auf die Sinnfrage: Er gründet eine Band namens tHe FreakS. Der Regisseur Eike Hannemann bringt die Popsatire des US-Amerikaners Joey Goebel im Jenaer Club Kassablanca auf die Bühne. Damit aus Schauspielern in kurzer Zeit echte Rockstars werden, engagierte man dazu eigens den Musiker und Komponisten Benny Lackner, der mit zwei Kollegen als gleichnamiges New Yorker Trio Jazzstandards neu erfindet und dabei auch mit anderen Musikstilen wie HipHop und Drum‘n‘Bass flirtet. Wo der verkappte Philosoph Luster, die im Rollstuhl sitzende Satanistin Aurora, die frühreife Ember, der irakische Ex-Soldat Ray und die Rockoma Opal auftauchen, da werden sie ausgelacht. Die Welt ist einfach zu klein für diese ausgeprägte Artenvielfalt. Man sollte auch als schräger Vogel oder im Affenkostüm auf die Straße gehen dürfen, ohne einen Blick zu riskieren. Ray Davies besingt in »This Time Tomorrow« die Entfernung und Entfremdung von der Erde und stellt es sich im übrigen sehr angenehm und luxuriös vor, wie ein Affenmensch zu leben: »Swinging up and down a coconut tree und eat bananas all day, oh what a life of luxury, to be like an apeman«, aber das ist schon wieder ein anderer Song dieser völlig unterschätzten Platte. »Hôtel du Nord«, UA, Inszenierung und Choreografie von Mei Hong Lin, 7., 13., 15., 21., 26.3., Staatstheater Darmstadt »Travelogue I – Twenty to eight«, Sasha Waltz & Guests, 21.-24.3., Radialsystem Berlin »Freaks« von Joey Goebel, UA, Regie: Eike Hannemann, 20., 21. 30.3. und 1.4., Theaterhaus Jena im Kassablanca

Die unbeschwerten Sommer auf dem Land: tagsüber sonnenbaden, Kirschkuchen backen, nach Worten ringen, und am Abend zusammensitzen bei frisch gefangenen Krebsen und Wein. Im Rückblick währen sie, verglichen mit einem dahingegangenen Jahrhundert, kaum länger als eine Minute, und die Glücksmomente werden noch von Selbstkritik, zwischenmenschlichen Spannungen und halbherzig ignorierten Warnzeichen überschattet. Bedeutet dieser Schritt den Rückzug aus der Geschichte, das Ende eines Aufbegehrens? Und ist es denkbar, auch hier eingeholt zu werden von den sich draußen überschlagenden Ereignissen, einer seelenlos-grausamen Gegenwart? In Christa Wolfs »Sommerstück« ist es eine Katze, von der, in einen Vogelbauer gesperrt, am Ende ein schwer definierbares, zerschlissenes Fellbündel übrig bleibt; in Jenny Erpenbecks fast zwanzig Jahre später veröffentlichtem Roman »Heimsuchung« sind es anfangs stille Bräuche und später kleine Gesten, ein »Sie« anstelle eines »Du«, die den Verfall vorwegnehmen. So ambivalent der Titel, so ambivalent die Geschichte eines Hauses und seiner wechselnden Bewohner, die Erpenbeck in ihrem zweiten Roman in einzelne Episoden auffächert. Unaufgeregt, in einer zugleich klaren und märchenhaften Sprache und mit überwältigendem Fachwissen. Wie beiläufig, als nähme ein Nachfahr ein Foto nach dem anderen zur Hand, um sich an Lebensabschnitte, die untrennbar mit einem Stück Land im Ostbrandenburgischen verbunden sind, zu erinnern. Aus kleinen, zusammengesetzten Steinen wird so die Geschichte eines geteilten Landes plastisch: von den 1920er Jahren bis zur Nachwende. Die Bewohner kommen und gehen – der Architekt, der Tuchfabrikant, die Schriftstellerin und das Mädchen –, aber manche Dinge bleiben sich gleich: der Tau auf der Türklinke am Morgen, die klirrenden Glasscheiben der Tür, das Seufzen der Treppenstufen. Und auch der Gärtner bleibt über Generationen hinweg derselbe, schweigsam und undurchdringlich. Wie durch einen Zauber in der Landschaft verwurzelt. »Heimsuchung« von Jenny Erpenbeck, Eichborn, Frankfurt a.M. 2008, 192 S., € 17,95

worte  45

»Ich will nicht Mr Pink sein«

12 Euro bestellen unter www.kulturgespenster.de


review

die verklÄrung des gewÖhnlichen Kunst am Leben bei PieranGelo maSet

review

sTumPfer winkel, eTruskische sÄule und leichT enTZÜndliches gas William Blakes »Eine Insel im Mond« entfacht ein Feuerwerk der Absurdität

text: annika schmidt

text: ronald klein

Scheiße wird in Pierangelo Masets Roman »Laura oder die Tücken der Kunst« zu Gold und eine Vernissage zur Persiflage, wenn sich die Galeristin Laura Vermeer betrunken auf eine Engelsskulptur übergibt und die Deklaration zur Performance »Angel’s Vomit« stante pede folgt. Auf die Frage des Philosophen Arthur C. Danto, was ein rotes Viereck zu Kunst mache, lautet in dieser Narration also die kulturpessimistische Antwort: Kunst wird alles, was der Markt, die »Fickbruderschaft« der Sammler, Galeristen und Kunstkritiker dazu erklärt. Maset, selbst Allround-Künstler, literarisiert und kritisiert hier jedoch nicht Kunst-Institutionen, um ex negativo andere Theorie zu propagieren. Nur augenzwinkernd werden Links zum auch als Wissenschaftler tätigen Maset wie das Benennen einer Figur nach der »Hyde«-Bewegung – deren Manifest Maset in der Zeitschrift Kultur & Gespenster publizierte – gesetzt. Die karikierte Kunstszene ist nur Szenenbild für den Roman um Laura und ihre sozialen Verstrickungen. Hierfür sind Film, Musik, Performance, Malerei, Installation und Literatur dann auch form- und sprachgebend. So »erinnern« Liebkosungen an »barocke Bilder«, eine Figur gleicht »Scheherazade und Molly Bloom in derselben Spiegelung« und über einen Ort heißt es: »Reste von kleinen Feuern und verwesender Unrat lockten düstere Visionen hervor: eine Zeit nach der Apokalypse, in der alles im Chaos versunken ist und die wenigen Überlebenden ihr verwahrlostes Dasein in aufgegebenen Gebäuden fristen. Auch dieser Film war bereits gedreht.« So verschiebt Maset kunstvoll Metaphern der Kunst und die Kunst selbst als Metapher ins Gewöhnliche – das Leben einer jungen Frau. Und dies spiegelt wiederum Kunst und Zeitgeist der 1980er bis heute fragmentarisch zurück »wie in einem Kino, in dem ein minimalistischer Film läuft, der die Aufmerksamkeit auf kleinste Veränderungen in der Zeit lenkt.«

Der 1757 in London geborene William Blake arbeitete als Zeichner, Maler, Kupferstecher und Autor und kolorierte seine aufwendig hergestellten Bücher, die in Kleinstauflagen erschienen, selbst. Blake galt als Visionär, der mit seinen progressiven Auffassungen das England des 18. Jahrhunderts irritierte. So negierte er nicht nur die Auffassung von der Ungleichheit der menschlichen Rassen, sondern kritisierte ebenso die Benachteiligung der Frauen. Im institutionalisierten christlichen Glauben sah er eine Geißel der Menschheit, die Priester als Hüter einer pervertierten Religion. Der Weg zu Gott könne nur über die Kunst erfolgen. Blakes Bedeutung erschloss sich erst im 20. Jahrhundert. In Großbritannien längst im Schulunterricht angekommen, förderte in Deutschland erst Jim Jarmuschs Meisterwerk »Dead Man« die breitere Rezeption des englischen Multi-Genies. Nach Kai Grehns großartiger Übersetzung von »The Marriage of Heaven and Hell« (1998), einem der bekannteren Werke, liegt mit »Eine Insel im Mond« pünktlich zum 250. Geburtstag Blakes die Veröffentlichung eines bisher weitgehend unbekannten Fragments vor. Der Prosa-Text, der auch lyrische Einsprengsel enthält, entfacht ein Feuerwerk der Absurdität. Die Protagonisten heißen unter anderem Leicht entzündliches Gas, Stumpfer Winkel oder Etruskische Säule und entspinnen ein philosophisches Streitgespräch. Die humoristische Seite Blakes spielte in der bisherigen Rezeption eine untergeordnete Rolle. So gilt auch als unklar, ob der plötzlich abbrechende Text überhaupt je veröffentlicht werden sollte. Die zweisprachige Ausgabe enthält ein Nachwort des Übersetzers, der die (ursprünglich antike) Tradition des Textes erläutert: »Bevorzugter Gegenstand der Menippeischen Satire ist die Verspottung jenes Dünkels, den die Kyniker den Akademie-Philosophen und ihren diversen Schulen unterstellten, bzw. die Parodie des philosophischen Diskurses überhaupt.«

»Laura oder die Tücken der Kunst« von Pierangelo Maset, Kookbooks, Idstein 2007, 255 S., € 19,90

»Eine Insel im Mond (Fragment)« von William Blake, aus dem Englischen von Gernot Krämer und Jan Weinert, mit einem Nachwort von Gernot Krämer und Illustrationen von Horst Hussel, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007, 130 Seiten, € 16,80

nur auf der durchreise

schÖnheiT sTaTT schlÜsselkomPeTenZ

Die letzte freie Handlung: Hamid SkiFs »Geografie der Angst«

Das zweisprachige Bilderbuch »Wann kommt Mama?« erzählt eine schöne, prächtig illustrierte Geschichte und macht neugierig auf Korea

text: astrid hackel

text: patrick küppers

Die Kunst, auch noch in der hoffnungslosesten Situation über sich selbst lachen zu können, beherrschen nur wenige. Hamid Skifs namenloser Held ist so einer. In seiner Ausweglosigkeit tut er eines Tages etwas Absurdes. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und bittet das alte Pärchen: »Kommen Sie, kommen Sie doch herein. Sie haben nichts zu fürchten. Ich bin nur auf der Durchreise«. Es hatte sich in letzter Zeit immer öfter vor der Tür herumgedrückt, horchend und flüsternd, während sich die Schlinge um seinen Hals immer fester zog. Brillant erzählt, vermischen sich in Skifs »Geografie der Angst«, Verzweiflung, Hass und Poesie mit Liebe, Weisheit und Witz. Der Ich-Erzähler, ein in die Illegalität Gezwungener, hält sich seit vier Jahren in einer der vielen europäischen Großstädte versteckt: in der leerstehenden Wohnung eines Mietshauses. Nicht das geringste Geräusch darf er versuchen – die Nachbarn könnten Verdacht schöpfen. Vor die Tür zu gehen – inzwischen viel zu gefährlich. Michel, Lebensretter und Folterknecht, ist er machtlos ausgeliefert. Während die Razzien und Denunziationen auf der Straße zunehmen, erfindet er in seinem winzigen Unterschlupf Geschichten über seinen Schlepper, über Drogendealer und Hehler, schreibt Liebesbriefe an imaginäre Geliebte und beobachtet durch die Dachluke ein paar Leute von gegenüber: die Frau an der Schreibmaschine, die Alte mit dem Hund, das sich zoffende Paar. Auch sie sind Material für seine Geschichten gegen die Langeweile, den Hunger und den Schmerz, halten einen inneren Monolog in Gang, der nicht abreißen darf. Wie der Lebensfaden, der nicht nur über die Länge des Lebens, sondern auch über Glück und Unglück entscheidet. Wenn er reißt, was dann: Tod, Wahnsinn, oder eben eine zur Kurzschlusshandlung degradierte Geste wie die, einfach »vor die Leute zu treten und ihnen zu sagen, dass ich sie liebe«.

Schlüsselkompetenzen erwerben, fit sein für die Zukunft, so vulgärdarwinistisch schallt es dieser Tage von überall her. Manche Eltern springen darauf an und meinen, ihren Kindern schon im Vorschulalter mehrere Fremdsprachen zumuten zu müssen. Gleichwohl wachsen diese Kinder in eine Welt hinein, die in ihrer globalen Kommunikation und der Verfügbarkeit zahlreicher Kulturen einen ungeheuren Reichtum bietet. Umso erfreulicher ist es also, wenn Kinderbücher wie »Wann kommt Mama?« außer dass sie eine schöne Geschichte erzählen, auch neugierig auf das ferne Korea und seine Sprache machen. Der Autor Lee Tae-Jun beschrieb schon 1938 einen kleinen Jungen, der an einer Tramstation in Seoul auf seine Mutter wartet. Es ist kalt, der Junge bekommt eine rote Nase, die Straßenbahnen fahren vorüber und immer wieder fragt er »Wann kommt Mama?«. Der Zeichner Kim Dong-Seong hat diese in ihrer tiefen Schlichtheit zeit- und ortlose Geschichte neu illustriert. Der reduzierte und präzise Strich, mit dem er die wartenden Menschen und die Häuser einfängt, bildet zu den koreanischen Schriftzeichen in diesem durchgehend zweisprachigen Buch eine große ästhetische Harmonie. Auf drei Doppelseiten, die ohne Text bleiben, kontrastiert er die nur mit Kohle gezeichneten Wartenden mit impressionistisch-farbigen Szenerien. Mal ist es so, als führe die Tram über den lichtdurchfluteten Meeresgrund, mal scheint sie durch den Himmel heranzuschweben. Schließlich fällt dichter Schnee, für die Koreaner ein Zeichen für Glück und die Hoffnung, in der auch der Junge nicht getrogen wird. In einem Nachwort gibt der Übersetzer Andreas Schirmer eine bemerkenswert klare und verständliche Einführung in das koreanische Schriftsystem. Mehr zum Glück nicht. Mit Grammatiken und Vokabeln wird man die Kinder früh genug traktieren. Die Welt, die ihnen gehört, sollen sie in ihrer Schönheit, ihrem vielschichtigen Reichtum kennen lernen. Bücher wie »Wann kommt Mama?« sind dazu ein Weg.

»Geografie der Angst« von Hamid Skif, aus dem Französischen von Andreas Münzner, Edition Nautilus, Hamburg 2007, 158 S., € 16,00

»Wann kommt Mama? Ein Bilderbuch aus Korea.« von Lee Tae-Jun und Kim Dong-Seong, Nord-Süd-Verlag, Zürich 2007, 40 S., € 13,80

SEITE 83 > 46  worte

Goon t S verlo worte  47


review

text: jochen werner

eklektische schatten

ToTgesagTe leBen lÄnger tanja BoGuSZ begibt sich in ihrer Studie »Institution und Utopie« auf soziologische Spurensuche, um den Erfolg der Berliner Volksbühne zu ergründen text: kerstin roose foto: tilman junge

Erfolg und Volksbühne – das sind zwei Begriffe, die gegenwärtig bestenfalls antonymisch zu denken sind. Zumindest wenn man den feuilletonistischen Ergüssen der Presse Glauben schenken will. Fast scheint es in der schreibenden Zunft eine stille Übereinkunft zu geben, dem Haus und seinen Inszenierungen ein sehendes Auge sowie eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung zu verweigern. So sagen die Kritiken momentan zwar viel über ihre Verfasser aus, wenig hingegen über die Aufführungen im Speziellen oder die künstlerische Entwicklung dieses Theaters im Allgemeinen. Erfrischend wissenschaftlich nimmt sich dem gegenüber Tanja Bogusz’ umfangreiche Studie »Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne« aus. Fernab aller geschmäcklerischen Werturteile unternimmt sie den Versuch, den Erfolg der Volksbühne seit der Intendanzübernahme von Frank Castorf aus soziologischer Perspektive zu ergründen. Dieser, so ihre

48  worte

These, beruhe vor allem »auf der gelungenen institutionellen Verknüpfung von Abweichungsprinzipien.« Mit Hilfe eines bemerkenswerten Methoden- und Materialkorpus, welches kultursoziologische Theorien mit Zeitgeschichte und Feldforschung verknüpft, wird die Volksbühne dabei allerdings nur als ein Modell genutzt, mit dessen Darstellung ein »Beitrag zu einer vergleichenden Strukturanalyse der soziokulturellen Grundlagenforschung in Ost- und Westdeutschland« geleistet werden soll. Zweifelsohne lässt insbesondere der anspruchsvolle theoretische Teil der Studie die Lektüre zu einer intellektuellen Herausforderung werden, die dem Leser einiges an Vorkenntnissen, Konzentrationsfähigkeit und Zeit abverlangt. Auch wenn sich ein reines Lesevergnügen daher nicht immer einstellen mag – im Angesicht der geleisteten Tiefenschärfe lohnt es sich, diese Herausforderung dennoch anzunehmen. »Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne« von Tanja Bogusz, transcript Verlag, Bielefeld 2007, 354 Seiten, 32,80 €

Das vielleicht größte Kompliment an das Werk des Mario Bava stammt von Tim Burton, ebenfalls einem großen Morbiden und Verwandtem im Geiste. Unzählige Male, so Burton, habe er dessen Klassiker »La Maschera del demonio« gesehen, doch auf die Frage nach der Geschichte des Filmes wisse er noch immer keine Antwort: »That’s what I love about Bava: I can’t remember one single story.« Ein wahres Denkmal für den großen Schwarzromantiker des italienischen Kinos stellt der 1.128 farbige Seiten umfassende, großformatige Band mario Bava: all tHe ColorS oF tHe dark des amerikanischen Filmjournalisten Tim Lucas zweifelsohne dar. 32 Jahre arbeitete Lucas an dem Buch, das mit unglaublicher Detailverliebtheit nicht nur ausführlich das Werk Bavas analysiert, sondern darüber hinaus einen kenntnisreichen und umfassenden Streifzug durch das europäische Kino der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternimmt. Mit einem Preis von $ 290,00 (für Kunden aus Übersee) ein definitives Liebhaberstück, verbirgt sich hinter diesem monumentalen Wälzer doch weit mehr als nur ein Filmbuch: Es ist ein Dokument tiefer Liebe zum Kino selbst und zu einem seiner bedeutendsten Regisseure, und es ist das Lebenswerk seines Verfassers. Chapeau, Mister Lucas! – Von Bava zu bhava, dem emotionalen Ausdruck im indischen Kino, scheint der Sprung zunächst mindestens ebenso groß wie der vom großen, doch notorisch unterschätzten Mario zu Shah Rukh Khan, jenem göttergleich angehimmelten Star des indischen Kinos. Weitaus schmaler in jeder Hinsicht allerdings tritt kinG oF BollYWood von Anupama Chopra an – leider bleibt die stilistisch arg limitierte Schreibe der Autorin allzu oft im Anekdotischen stecken, und im großen Ganzen prallt ihr Blick an jenem Schutzpanzer aus Legenden ab, den Khan um sich geschmiedet hat. Ein Fanbuch für Bravo-Leser(innen), nicht mehr. Etwas mehr Tiefgang hätte auch ZeiCHen und Wunder gut zu Gesicht gestanden, in dem Josef Schnelle und Rüdiger Suchsland das Kino von Zhang Yimou und Wong Kar-Wai untersuchen. Tatsächlich dienen die beiden großen Filmemacher jedoch eher als loser roter Faden für einen etwas wirren

Zettelkasten zum neueren chinesischen Kino. Da man aber den Autoren die Leidenschaft für ihre Gegenstände jederzeit abkauft, bleibt ihr Buch – die erste deutschsprachige Veröffentlichung zu beiden Regisseuren – doch eine anregende Lektüre. Mangel an Tiefgang lässt sich Georg Seeßlens david lYnCH und Seine Filme, jüngst in der 6. Auflage erschienen, sicher nicht vorwerfen. In diesem längst zum Standardwerk avancierten Buch schlägt Seeßlen weite, assoziative Bögen und deutet das Gesamtwerk des enigmatischen Künstlers als die »magische Autobiographie eines nicht zu Ende geborenen Mannes«. Weitaus heterogener als das Werk Lynchs erscheint das Schaffen von luiS BuÑuel, dem die diesjährige Berlinale ihre Retrospektive widmete. Der begleitende Katalog trägt neben Aufsätzen zu einzelnen Motiven im Werk des Spaniers auch zeitgenössische Rezensionen zu allen Regiearbeiten zusammen – insbesondere im Falle jener weniger bekannten kommerziellen, im mexikanischen Exil entstanden Arbeiten der 1940er und 50er Jahre von höchstem Interesse. Über das Schaffen eines einzelnen Künstlers hinaus geht ein akademischer Sammelband, der das Kino selbst zwischen Wort und FleiSCH und also zwischen Diskurs und Affekt zu verorten sucht. Das ist manchmal furios, hin und wieder arg theoretisch und funktioniert stets dann am besten, wenn die Beitragenden (auch mit Unterstützung auf der beiliegenden CD inkludierter Filmausschnitte) nah an ihren Gegenständen bleiben. »Mario Bava: All the Colors of the Dark« von Tim Lucas, Video Watchdog, Cincinnati, OH 2007, 1.128 S., $ 250,00 (USA), $ 290,00 (Übersee) »King of Bollywood. Shah Rukh Khan und die Welt des indischen Kinos« von Anupama Chopra, Rapid Eye Movies, Köln 2008, 336 S., € 19,90 »Zeichen und Wunder. Das Kino von Zhang Yimou und Wong Kar-Wai« von Josef Schnelle und Rüdiger Suchsland, Schüren, Marburg 2008, 203 S., € 19,90 »David Lynch und seine Filme« von Georg Seeßlen, 6., erweiterte und überarbeitete Auflage, Schüren, Marburg 2007, 288 S., € 19,90 »Luis Buñuel. Essays, Daten, Dokumente« von der Deutschen Kinemathek (Hrsg.), Bertz + Fischer, 184 S., € 22,90 »Wort und Fleisch. Kino zwischen Text und Körper« von Sabine Nessel u.a. (Hrsg.), Bertz + Fischer, 158 S., € 19,90

worte  49


bilder

bilder

Ist der ›Titanic-Konsum‹ vielleicht auch so etwas wie eine Übung im Loslassen? Übungen im Untergehen: SCHIFFE VERSENKEN! Seite 52

Die Momente der reinen Schönheit, die sich dem bloß pragmatischen Gebrauchswert verweigern, sind es, die wahrhaft große Kunst ausmachen, und Sirks Werk zählt zu den kostbarsten Schätzen der Kinogeschichte. Von der Artifizialität bei DOUGLAS SIRK Seite 56

52 54 56 57 58 60 61

Eis Zeit Raum Patricia Highsmith Douglas Sirk Janne Lehtinen Dirk Schwieger »Don Jon« Marc Hempel

reviews 62 white cubes 63 Todd Haynes Joel und Ethan Coen 64 Hugo Verlinde Hans-Jürgen Syberberg 65 Benjamin Wolberg 66 Alan Moore Paul Thomas Anderson 67 framerate


Schiffe versenken! Warum wir Bibliotheken ins Eis bauen und die Titanic lassen wo sie ist

Warum Jack stirbt, Kate überlebt – und das jedes Weihnachten im Fernsehen! James Camerons Film »Titanic« (1997), dessen Plot sehr stark an der deutschen Titanicverfilmung von 1943 orientiert ist, spielt mit den Bildern des realen Objektes Titanic. Das fiktive Forschungsschiff »Keldysch« und der Roboter »Snoopdog« sind mit den realen Vehikeln, die die dokumentarischen Bilder vom Wrack lieferten, identisch. Dieses Spiel mit der Grenze des Fiktiven hat sich auch auf den Rezeptionsakt ausgewirkt: Das Publikum weigert sich standhaft, von Jack und Rose zu sprechen; nein, die Namen Kate und Leo werden wie Beschwörungsformeln benutzt, um die Grenze noch mehr zu verwischen, um etwas von der kathartischen Kraft des Unterganges in unser Wohnzimmer zu holen. Richard Curtis’ Film »Love Actually« (2005) erhebt »Titanic« gar zum Therapeutikum: Ein unglücklich verliebter Junge braucht »Kate und Leo«, um die Welt zu ertragen. Eigentlich mögen wir den Untergang: Neben dem Schiff gehen auch immer der Stolz oder das Vorurteil oder die soziale Schranke, die der Liebe im Wege steht, unter – und 1997 endlich auch der männ-

Von jeher hat sich das metaphorische Potenzial der Titanic tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit eingeprägt und hat Dichter, Künstler, Regisseure gleichermaßen inspiriert. text, interview: sabine lenore müller fotos: diana magens / alfred-wegener-institut für polar- und meeresforschung

Dim moon-eyed fishes near Gaze at the gilded gear And query: »What does this vaingloriousness down here?« thomas hardy

Warum können wir sie nicht ruhen lassen in den Tiefen des Atlantik? Oder sie bergen und so den Mythos begraben? Wir wollen doch die Bildermaschine der westlichen Phantasie nicht eines ihrer stärksten Motoren berauben! Der Untergang der Titanic: Forscher behaupten, sie zu bergen, wäre das sichere Ende der fragilen Stahlkonstruktion, die unter den veränderten Verhältnissen zu einem Schrotthaufen zusammenfiele. Das erinnert an Žižeks Ausführungen zum Phantasma: Jean Cocteau filmte einen Tintenfisch unter Wasser, ein majestätisches Wesen, das an Land gezogen nur noch ein Klumpen Schleim sei. Denn die sublime Qualität eines Objektes gehöre nicht zu dessen innerer Natur: »Sie ist nur ein Effekt des Ortes, den das Objekt im Raum des Phantasmas einnimmt«. Die Interdependenz von Raum und Objekt für die Funktionalität von Phantasmen wird nirgendwo so deutlich wie am Beispiel der Titanic, die, seit es uns die Technik erlaubt, als Geisterschiff vor den Kameras auftaucht und ansonsten unsichtbar am Meeresgrund das Überleben ihrer Bilder sichert. Sofort wurde das Ereignis als Sinnbild verstan52  bilder

den: Der Drang des Empire nach Bestätigung der eigenen Überlegenheit scheitert, Fortschrittsgläubigkeit, rigide soziale Stratifizierung, Konsum- und Luxusgesellschaft – alles am Grunde des Ozeans: Zu kleines Ruder für zu großes Schiff, nicht genug Raum auf den Rettungsbooten für alle, keine Zeit für Ideen. Der symbolische Samenstau des 19. Jahrhunderts ergießt sich in die kalte Unbegreiflichkeit. Von jeher hat sich das metaphorische Potenzial der Titanic tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit eingeprägt und hat Dichter, Künstler, Regisseure gleichermaßen inspiriert. In einem ewigen ›Fort-Da‹-Spiel ziehen diese sie ins Licht der Medien, nur um sie wieder verschwinden zu lassen. Solange die Titanic am Meeresgrund liegt, wird sie die kollektive Imagination heimsuchen und in eine Endlosschleife des Untergangs zwingen: Wir hängen einfach zu sehr an ihr. Buddhistische Mönche, die in wochenlanger Akribie Sandmandalas streuen, zerstören diese Werke rituell, um so symbolisch das Leid, hervorgerufen durch das Haften des Menschen an seinen Werken, seinem Streben, zu beenden. Ist der ›Titanic-Konsum‹ vielleicht auch so etwas wie eine Übung im Loslassen? Oder ist es eher ein zwanghaft wiederholtes ›Wiesel-Verstecken‹? Wer die GeschlechtsaktParallele für zu weit hergeholt hält, sei auf Thomas Hardy verwiesen, der schon 1912 in seinem Gedicht auf die Titanic, »The Convergence of the Twain«, von der Anbahnung einer Paarung spricht: Ein Schiff, dessen Form erigiert, um mit dem Eisberg als »Zwillingshälften eines August Events« fortan in einer Geschichte kollidiert zu überleben.

liche Held. Als der millionenschwere Diamant mit einer wegwerfenden Geste in den Ozean sinkt, löst sich mit ihm symbolisch die Verhaftung an die Materie. Aber will man das Phänomen Titanic verstehen, so muss man sicherlich bei dem »Mahnmal in der Tiefe« beginnen: »[…] es ist wahr, dass das Objekt verloren ist, aber gerade in diesem Verlust wird es allgegenwärtig: Sein Platz im Raum des Phantasmas, der das Begehren des Subjektes reguliert, ist definitiv errichtet.« Aha, deshalb also stecken Menschen Fahnen auf den Mond, schicken Krempel ins All oder bauen Bibliotheken ins Eis. Das komische Potenzial dieser steinzeitlichen Annäherungsversuche ist offensichtlich. Wer soll in der Einöde unsere Gegenstände würdigen? Die Antwort darauf bietet ungewollt komisch das Titelfoto der im letzten Jahr erschienenen DVD »Eis Zeit Raum / Bibliothek im Eis«. Ne-

ben einem quadratischen grünen Container mitten im Eis, der, so klärt die Dokumentation von Maria Anna Tappeiner und Reinhard Wulf auf, eine Bibliothek beinhaltet, steht interessiert ein potenzieller Nutzer. Natürlich sind die 1000 gespendeten und handsignierten Bände namhafter Künstler und Wissenschaftler für die Forscher auf der deutschen Forschungsstation Neumayer des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung im nördlichen Weddellmeer gedacht. Nun haben die Verbannten der Klimaparanoia Marxens Kapital auf dem obersten Regal des beheizten Containers – bei der Geschwindigkeit des Abschmelzens der Pole, allerdings, bleibt zu vermuten, dass sich die Pinguine bald über eine Nistmöglichkeit freuen werden. Übungen im Untergehen Die Medien verkünden globales Tauwetter. Der Zeitraum vom 1. März 2007 bis zum 1. März 2009 wurde zum Polarjahr erklärt, um auch die Bewusstseinspegel steigen zu lassen. Der Kunstfilm »Eis Zeit Raum« von Lutz Fritsch ist in diesem Zusammenhang eine echte Entdeckung: Ein Schiffsbug schiebt sich durchs Eismeer und bringt Schollen in Bewegung. Die Kamera verharrt bewegungslos, fokussiert nur das Eis – das sich bewegende Wasser – aber von wo aus? Ist sie an Deck befestigt, oder unter Wasser? Schauen wir herauf oder hinab? Die zwanzigminütige Fahrt durchs Blaue wird aber zunehmend beklemmender, das eintönige Rauschen, die sich schwerfällig herumwälzenden Schollen – ziehen sie sich schon über uns hinweg? Das Auge spielt mit dieser Unschärfe und gewöhnt sich so an den Untergang in der Retrospektive, an das Hingegebensein. Die Idee, mit dem Eis auch alte Standpunkte schmelzen zu lassen, hat auch die nordirische Künstlerin Rita Duffy dazu inspiriert, unter dem Titel »Thawing« ein Mega-Event für 2012, den 100. Geburtstag des Titanicunglücks, auf die Beine zu stellen: Sie will einen Eisberg in die Bucht vor Belfast ziehen, in die Nähe jenes Hafens, in dem einst die Titanic gebaut wurde. Langsam wird er schmelzen, und mit ihm hoffentlich auch vieles, von dem wir glauben, dass wir es sein und tun müssten. Literatur: »Sublimierung und der Fall des Objekts« von Slavoj Žižek, in: Ders. (Hrsg.): »Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock«. Wien: Turia & Kant 1992, S. 183-190 »Eis Zeit Raum« von Lutz Fritsch & »Bibliothek im Eis« von Maria Anna Tappeiner und Reinhard Wulf, auf DVD erhältlich (Absolut Medien/Al!ve)

bilder  53


Wer ist Tom Ripley? PatriCia HiGHSmitH’

berühmte Romanfigur hat an Aktualität nichts eingebüßt. Ein Überblick über die filmischen Inkarnationen des talentierten Mr. Ripley

text: patrick küppers

Tom Ripley ist ein Niemand. Ohne Geld, Arbeit und Perspektive lässt er sich von dem Unternehmer Herbert Greenleaf dazu überreden, nach Italien zu fahren. Dort soll er Dickie, den Sohn Greenleafs, dazu überreden, sein Bohème-Leben aufzugeben und nach New York zurückzukehren. Diesen Auftrag erledigt Ripley eher ungenügend: Er tötet Dickie, um sich der Identität und des Geldes des blasierten Erben zu bemächtigen. Für Ripley ist es die Chance, sein verhasstes und gescheitertes Niemand-Ich abzustreifen und das Leben eines kunstsinnigen Müßiggängers zu führen, von dem er meint, es stehe ihm zu. In diesem problematischen Anspruch liegt der entscheidende Punkt für das literarische Phänomen vom Talented Mr. Ripley. Geschaffen hatte es 1955 die amerikanische Autorin Patricia Highsmith, die bis 1991 noch vier wei-

Tom Ripley – das bedeutet Dissidenz gegenüber einer Leistungsgesellschaft, die längst nicht jedem eine Chance gibt. tere Ripley-Romane vorlegte. Die Wende hin zur ästhetizistischen Unmoral geschieht, als Ripley bemerkt, dass sein anfängliches Werben um die Freundschaft Dickies vergeblich ist, dass er, versucht er es im Guten, stets ein Niemand bleiben wird. Die Wende vollzieht sich in einem an Baudelaire gemahnenden choc: »For an instance, the wordless shock ... seemed more for him than he could bear ... He felt surrounded by strangeness, by hostility.« In Reaktion auf die als fremd und feindlich empfundene Umwelt wird Ripley ohne große Bedenken zum Mörder und Fälscher, um an sich zu nehmen, was das Leben ihm sonst vorent54  bilder

hält. Später muss Tom die Identität Dickies abgeben und bequemt sich wieder zurück in den Ripley. Allerdings ist das nun ein neuer ›Tom Ripley‹ – einer, den Tom als eine Kunstfigur neu erfunden hat. Patricia Highsmith erarbeitete in den »Ripley«-Romanen eine hochinteressante und provokante Studie zur Subjekt- und Identitätsfrage der Moderne. Ihrem zunächst extrem unsicheren und gespaltenen Helden gelingt es erst durch die Überwindung aller moralischen Schranken und durch eine Selbststilisierung als Kunstfigur, zu einem bewussten und handelnden Subjekt zu werden. Ripley als Ästhetizist & Spieler Inzwischen fünfmal hat das Kino versucht, diesem Phänomen ein Gesicht zu geben, und meist führten diese Versuche zu gelungenen Filmen. Lediglich Matt Damon, der Unbegabteste unter den bisherigen Ripley-Darstellern, scheiterte in einer missratenen Adaptation des ersten Buches durch Anthony Minghella (»The Talented Mr. Ripley«, 1999). Statt in eine provokante Identitätsfindung treibt Minghella seinen gequält grimassierenden Hauptdarsteller immer weiter in einen Identitätsverlust, bis der leerlaufende Film endlich abbricht. Alain Delon dagegen weiß in einer früheren Verfilmung des gleichen Stoffes (»Plein soleil« / »Nur die Sonne war Zeuge«, 1959) zu überzeugen, wenn auch der Regisseur René Clément der RipleyFigur einiges von ihrer Schärfe nimmt durch ein Ende mit Zeigefinger und eine etwas aufgesetzte Liebesgeschichte zwischen Ripley und Marge, der Freundin Dickies. Der Ästhetizismus Ripleys manifestiert sich in den Büchern nicht zuletzt in seiner latenten Asexualität. Gegenüber der burschikosen Körperlichkeit Marges zum Beispiel empfindet er anfangs Abneigung und schließlich – zur Kunstfigur geworden – Ekel. Sehr gelungen sind dagegen zwei Filme, die sich des dritten Bandes der Ripley-Reihe, »Ripley’s Game« (1974), angenommen haben. Hier haben wir es mit

In dieser Perspektive wird der ebenso problematische wie talentierte Mr. Ripley noch sehr lange aktuell bleiben. Solange eben, bis die Welt eine bessere ist. einem wesentlich älteren Ripley zu tun, der sich als Sammler und Händler ganz seiner Kunstleidenschaft hingeben kann, wenn er dabei auch vor rabiaten Methoden nicht zurückschreckt. Wim Wenders inszenierte ihn dabei als völlig undurchsichtigen »Amerikanischen Freund« (1977), der den kranken Bilderrahmer Jonathan so manipuliert, dass er zum Auftragskiller wird. Dennis Hopper mimt dabei sehr glaubhaft einen autonomen Stegreif-Philosophen, dessen Weltbezug in durchtriebenen Spielen besteht. Der Film konzentriert sich allerdings auf den als Jonathan glänzend agierenden Bruno Ganz. John Malkovich dagegen läge es fern, sich in der brillanten Adaptation durch Liliana Cavani (»Ripley’s Game«, 2002) dergestalt an den Rand spielen zu lassen. Von der ersten bis zur letzten Minute dominiert er diesen Film und gibt einen derart überzeugenden Ripley als listig-arroganten Ästhetizisten, dass weitere Adaptationen des sehr spannenden Stoffes vorerst kaum vorstellbar erscheinen. Eine Lücke wird geschlossen Entsprechend tat Roger Spottiswoode gut daran, sich am zweiten Roman (1970) zu versuchen, zumal so filmisch eine Lücke geschlossen werden konnte. Er geht allerdings in »Ripley Under Ground« (2005) gegenüber der Buchhandlung noch einen Schritt zurück und zeigt uns zu Beginn einen zwar durchtriebenen, aber noch keineswegs etablierten Ripley, wie wir ihn etwa zum Ende des ersten

Buches sehen. Ferner webt Spottiswoode in den Plot um gefälschte Bilder und einen toten Künstler, von dem behauptet wird, er sei noch am Leben, eine Liebesgeschichte zwischen Ripley und seiner späteren Frau Heloise ein. Diese Geschichte spart Highsmith völlig aus und setzt dem Leser zu Beginn des zweiten Buches einen bereits verheirateten und in einer Villa bei Paris residierenden Ripley vor. Diese Freiheit sei dem Regisseur aber belassen, fügt sich die Liebesgeschichte doch sehr elegant ein und spielt Jacinda Barrett den Part der Heloise doch so bezaubernd, dass man ihr gerne oft dabei zusieht. Ripley wirkt als Liebender natürlich körperlicher und attraktiver, als man das nach den Büchern erwarten sollte. Barry Pepper aber relativiert in seiner Darstellung des Ripley diese menschlichen Züge durch eine pointierte, fast diabolische Boshaftigkeit. Damit ist »Ripley Under Ground« eine gelungene Neukomposition der literarischen Vorlage und wenn man im Anschluss den schönen Film Cavanis einlegt, wird der Abend nicht misslingen. Umso weniger, als beide Filme in der Gegenwart spielen. Darin erweist sich auch die Aktualität ihres Stoffes. Tom Ripley – das bedeutet Dissidenz gegenüber einer Leistungsgesellschaft, die längst nicht jedem eine Chance gibt. Ripley erkennt im moralischen Code dieser Gesellschaft ein Mittel, eine ungerechte Ordnung aufrechtzuerhalten. Um diese Ungerechtigkeit aufzubrechen, unterläuft, negiert Ripley die Moral. In dieser Perspektive wird der ebenso problematische wie talentierte Mr. Ripley noch sehr lange aktuell bleiben. Solange eben, bis die Welt eine bessere ist. »Nur die Sonne war Zeuge«, »Der amerikanische Freund« (beide Arthaus/Kinowelt), »Der talentierte Mr. Ripley« (Kinowelt), »Ripley’s Game« (Warner Bros.), »Ripley Under Ground« (ufa/Universum) sind alle auf DVD erhältlich

bilder  55


Die glatte Oberfläche des Offensichtlichen

All this Useless Beauty Warum uns die Artifizialität der Filme von douGlaS Sirk im Innersten berührt

text: jochen werner fotos: koch media home entertainment

»Ich habe sechs Filme von Douglas Sirk gesehen. Es waren die schönsten der Welt dabei.« rainer werner fassbinder

Diese Häuser sind Grabstätten. Daran zumindest besteht kein Zweifel: Das Hohelied des suburbanen Konservatismus hat Douglas Sirk in seinen Filmen niemals gesungen, auch wenn er sich zum Schein den Konventionen des Hollywood-Melodrams seiner Zeit fügte. Seine Zeit, das waren die 1950er Jahre, und da war ein Ausbruch aus dem rigiden Regelwerk des erstarrten Studiosystems noch schier undenkbar – zumal für einen Auftragsregisseur, wie Sirk einer war. Und überhaupt, die Freiheit des Künstlers – das mochte man einem Fabrikanten von tearjerkers, Tränenziehern, meist auf der Basis kitschiger Groschenromane, nicht zugestehen. Dass es Douglas Sirk dennoch gelungen ist, in seinen besten Filmen große Kunst zu schaffen, das ist also überhaupt nicht hoch genug zu bewerten. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts Dabei ist es beinahe schon als ein Wunder zu betrachten (und letztlich wohl einer ungeheuren schöpferischen Energie zu verdanken), dass es der Regisseur, bereits in den späteren Jahren seiner Karriere, überhaupt noch zu diesen Hauptwerken gebracht hat. Die Geschichte des Douglas Sirk ist nämlich auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus europäischer, zumal: deutscher, Perspektive. Anno 1897 als Hans Detlef Sierck in Hamburg geboren, reüssierte er zunächst bei der Ufa des Dritten Reiches mit einer Reihe erfolgreicher Revuefilme und schließlich den Melodramen »Zu neuen Ufern« und »La Habanera« (beide 1937). Sie sollten auch seine letzten Filme in Deutschland sein; nach der Denunziation durch seine Ex-Gattin wurde der in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheiratete Sierck ins Exil gezwungen. Sein Weg führte ihn schließlich, wie so viele andere emigrierte Künstler jener Tage, nach Hollywood. Doch der Broterwerb in der Traumfabrik erwies sich zunächst als wenig glamourös: Auf einen Douglas Sirk – so sein amerikanisiertes Pseudonym – hatte hier niemand gewartet. So tat der herausragende Stilist und Handwer56  bilder

ker, was er konnte – und das schien so ziemlich alles zu sein. Vom US-Debüt mit dem Propagandafilm »Hitler’s Madman« (1943) über Komödien, Musicals, Kostüm- und Abenteuerfilme bis hin zu films noires reicht Sirks Bilanz jener Dekade, bevor er mit »All I Desire« (1953) sein melodramatisches Spätwerk einleitete.

Der finnische Künstler janne leHtinen inszeniert in seinen Fotografien subtile Ungereimtheiten

Imitations of Life text: michael krause foto: janne lehtinen

»Skies above in flaming colour / Without love, they’re so much duller / A forced creation / An imitation of life« earl grant

Als ›Imitationen‹ des wahren Lebens sind auch Douglas Sirks Filme in ihrer konsequenten Artifizialität stets erkennbar – egal, ob die kontrastreichen Licht- und Schattenspiele in der frühen und mittleren Schaffensphase oder die in prachtvollem Technicolor von der Leinwand strahlenden Extravaganzen in Sirks Spätwerk. Gemeinsam ist all diesen Filmen das sorgfältige, äußerst bewusste Arrangement jeder einzelnen Einstellung und eine Schönheit, die schier die Leinwand zu sprengen scheint. Die verschneite Zauberwelt in »All that Heaven Allows« (1955) – die im Sturm verwehten Herbstblätter in »Written on the Wind« (1956) – der funkelnde Juwelenregen im Vorspann von »Imitation of Life« (1959). Sirks Filme schleudern ihre Schönheit mit vollen Händen in die Welt hinaus und bewahren dabei ihre Leichtigkeit, ohne ins Banale abzugleiten, und ihre Wärme, ohne nur sentimental zu sein. Ihre Schönheit vertraut auf die ihr eigene, immanente Kraft, macht sich nicht zum bloßen Rädchen im Getriebe einer Maschine zur Sinnmanufaktur und wächst eben darum so weit über ihre Wurzeln im Kunsthandwerk hinaus. All this useless beauty – die Momente der reinen Schönheit, die sich dem bloß pragmatischen Gebrauchswert verweigern, sind es, die wahrhaft große Kunst ausmachen, und Douglas Sirks Werk zählt zu den kostbarsten Schätzen der Kinogeschichte. Zuletzt sind im Rahmen der »Douglas Sirk Collection« die Filme »All meine Sehnsucht«, »Es gibt immer ein Morgen« und »Der letzte Akkord« erschienen (Koch Media Home Entertainment)

SEITE 83 >

Goon t S verlo

Da das Wesentliche an einer Falle ist, dass man sie nicht bemerkt, ehe man darin gefangen ist, hat es meist etwas Lustvoll-Unbehagliches, sich trotzdem dorthin zu begeben, wo solche ausgelegt sind. Janne Lehtinens Fotografieband »The Descendants« (dt: Die Nachfahren) ist eine Einladung, die Falle der Fotografie und ihr komplexes Verhältnis zum Wort und zur Wirklichkeit zu erleben. Wie im Leben sind auch die Falltüren in Lehtinens Werk nicht leicht zu entdecken. Denn die Gewohnheiten, die den Umgang mit Fotografien bestimmen, sind hartnäckig. Mit »The Descendants« liegt bereits der zweite Fotoband des Finnen in Deutschland vor. Für sein erstes, 2005 erschienenes Buch mit Fotografien, die ihn bei Flugversuchen mit absurden, selbstgebauten Flugapparaturen zeigen, hat der 1970 geborene Künstler den deutschen Fotobuchpreis gewonnen. In »The Descendants« agiert Lehtinen nun mit weitaus weniger auffälligen Gesten. Doch der schlichte Einband täuscht.

des Fluchs von Lehtiskylä, dem Heimatort des Künstlers, zu reflektieren. Nach diesem Volksglauben sei dort allen Männern der frühe Untergang vorherbestimmt. Der Künstler habe nun die Orte seiner Kindheit fotografiert, um die Gefährlichkeit eines solchen Mythos zu beleuchten und letztlich wieder zur Authentizität, zur Befreiung von den Mythen, zu gelangen. Neben den zwischen 1998 und 2004 entstandenen, schön komponierten und inszenierten Farbfotografien, die den größten Teil der Serie ausmachen, finden sich auch historische Schwarzweiß-Aufnahmen, die vermutlich dem Familienarchiv entstammen. Von den Erinnerungen des Künstlers auf diese Weise gerahmt, sollen die Fotografien den Texten stumm folgen, um die Jugend des Künstlers präsent zu machen. Doch die Fotografien folgen nicht. Stattdessen wecken sie Zweifel an der Richtigkeit der Geschichten, die sie bebildern sollen. Wenn Lehtinen lethargisch-absurd in der finnischen Kleinstadtkulisse herumsteht und mal gedankenverloren, mal wild in die Kamera glotzt, dann hängt der heilige Ernst des Therapeutischen in der Luft. Im Spiel mit diesen aus der Malerei bekannten Gesten der Depression, geistigen Abwesenheit, Melancholie steckt ein humorvoll-anarchisches Potenzial, das nicht nur den Volksglauben vom Fluch von Lehtiskylä ins Wanken bringt. Einmal aufmerksam geworden, fallen weitere Ungereimtheiten, i.e. logische Probleme, ins Auge, und die glatte Oberfläche des Offensichtlichen beginnt sich zu kräuseln. Was bedeutet es für die Autorität der Geschichte, des Künstlers und nicht zuletzt des Professors, wenn das Foto, das jenes Autowrack zeigt, in dem Lehtinen und sein Bruder einen lebensbedrohlichen Unfall hatten, aus dem Jahr 1968 stammt, der Künstler aber erst 1970 geboren wurde? »The Descendants« ist ein verblüffendes Buch, das einen spielerisch bis in die tiefsten und spannendsten (Ab-)Gründe der Fotografie, der Worte und damit zur Kunst führt. »The Descendants« von Janne Lehtinen, Vorwort von Jan Kaila, Text von Oiva Lehtinen, Janne Lehtinen, Juha Lehtinen, Hatje Cantz, Ostfildern 2007, 80 S., € 39,80

Die Befreiung von Mythen Worum es geht, ist vermeintlich schnell erklärt. Der Einfachheit und Autorität wegen macht das ein Professor der finnischen Akademie der Künste in einem kurzen Vorwort deutlich. Was wir da in der Hand halten, das sei ein autobiografisches, zutiefst humanistisches, ja sogar therapeutisches Werk, in dem es Lehtinen darum gehe, seine Jugend vor dem Hintergrund bilder  57


Faking the Books Die Dokumentation von dirk SCHWieGers Tokyoblog »Moresukine« erscheint in Buchform text, interview: mareike wöhler illustrationen: dirk schwieger

Echtes Leder ist es dann doch nicht geworden. Aber das schwarze Imitat aus Papier, das vorgibt die lederne Hülle eines Moleskine- (japanisch sprich: Mores[u]kine-) Skizzenbuchs zu sein, in dem der 1978 in Frankfurt am Main geborene Zeichner Dirk Schwieger seine Tokyoter Erlebnisse festhielt, trifft es noch besser: Es bricht – samt eisblauer Papierbanderole als abnehmbares Cover – das edle Äußere des vorgeblichen Klassikers in charmanter Nicht-Perfektion aufs Massenmedium Comic herunter, selbst wenn der Preis derselbe bleibt. Das Innere ist von Kopistentum jedoch weit entfernt: »What a fun idea«, kommentierte Neil Gaiman in seinem Blog Schwiegers dort geschickt verlinktes Konzept, sich während des Aufenthalts in Tokyo von Januar bis Juli 2006 von den Lesern seines englischsprachigen Blogs eine wöchentliche Aufgabe stellen zu lassen, die er in der Reihenfolge des Eingangs und ungeachtet persönlicher Vorlieben erfüllen musste. Von einem aufzusuchenden Ort, dem Treff mit einer Person bis hin zu einem interessanten Thema konnte das alles Erdenkliche sein. Kaum des Japanischen mächtig, gibt Schwieger-san so in 24 Aufträgen auf zumeist je zwei Doppelseiten kurze Einblicke in den gleichgeschalteten, banalen oder extrem differenzierten Tokyoter Alltag – von Popkultur und Vergnügung (Para Para Trance Dance, Achterbahn) über Religion (Tempelbesuch), Natur (Erdbeben), Kulturtechnik (Origami) und Lebensmitteln (Dosenkaffee) bis hin zu Gender. Das Erlebte schwankt dabei zwischen Vertrautem und Fremdem, z.B. beim Überschreiten gewohnter Nahrungsgrenzen, wenn Schwieger in einem parallelgeschalteten Auftrag nicht nur Sushi, sondern auch Natto (schimmelig riechende Sojabohnen, die wie Spinnennetze kleben) essen muss. Das Ekelpendant für einen Japaner – und auch für Schwieger – wäre übrigens Lakritze. Während das mittlerweile gängige Comicgenre der Reisereportage, wie Craig Thompsons »Tagebuch einer Reise« oder Guy Delisles »Pjöngjang«, den individuellen Zeichner-Blick aufs Unbekannte präsentiert, setzt sich Schwieger mit den Japan-Assoziationen Anderer auseinander. Die Idee war es, sich in Selbstaufgabe und japanischer Zurückhaltung zu üben und so des westlichen Subjekts verlustig zu gehen. Schwieger versteht sich »als eine Art Avatar aus Fleisch und Blut, der von seinen Lesern [ferngesteuert wie in einem Abenteuer-Videospiel] durch die virtuelle Realität des heutigen Tokyos navigiert wird«.

58  bilder

Digital Neverwhere »The fact that ›Moresukine‹ takes shape on the internet is very otaku, with all the virtual communication around it happening in digital neverwhere.« Obwohl Schwieger keinen Manga-Stil, sondern mit Kreuzschraffuren einen ›westlichen‹ Zeichenstil pflegte, um nicht aufgesetzt zu wirken und seine Sozialisation nicht zu verleugnen, nahm er das – westlichem Künstlerklischee entsprechende – Moleskine-Buch doch als eine Art Behälter, dessen einzige Begrenzung die abgerundeten Ecken und das Format sind. Außer im Auftrag ›Kapselhotel‹, der sich hauptsächlich in (dem Ausblick aus dessen Miniaturzimmern gleichenden) Kapselpanels abspielt, variiert Schwieger Seitenaufteilung, Rhythmus und Form jeder Episode gehörig. Diese offene Art des Comics passt zu japanischen Manga mit ihrem »nur ansatzweise vorgegebenen Rahmen«, bei denen »nicht der Gegenstand als solcher, sondern seine Leistung in Relationen – zwischen Leser und character, zwischen Leser und Leser usw.« – zählt. »Die Manga-Kultur hat historisch eine Form des Comics hervorgebracht, die Vernetzungen entgegenkommt.« Jaqueline Berndt

»Die Idee war es, sich in Selbstaufgabe und japanischer Zurückhaltung zu üben und so des westlichen Subjekts verlustig zu gehen.« Schwiegers Blog hatte nach zahlreichen Postings rege interessierte Leser und zuletzt 30.000 Besucher pro Monat. Solch eine Relation zwischen Produzent und den mitproduzierenden Auftraggebern aus aller Welt nebst dem hierdurch eröffneten Interaktionsraum lässt sich kaum in ein Buch übertragen. Auch weil er die Trennung in anerkannte, materialisierte und schlechte Netzcomics nicht mochte, war Schwieger anfangs von einer Printausgabe nicht überzeugt, die er mittlerweile jedoch als Dokumentation eines flüchtigen Phänomens sieht. Als Zusatz und Anlass für den Leser, sich weiter im Netz umzuschauen, erteilte er zehn internationalen Webcomic-Machern im April 2007 selbst den Auftrag, in ihrer Stadt einen Japaner ausfindig zu machen, mit ihm ein Gespräch zu führen und das Bemerkenswerte der Begegnung zu zeichnen. Die lustigen, skurrilen Ergebnisse finden sich nun mit einer Kurzpräsentation des jeweiligen Zeichners – von James Kochalka (USA) über 18Metzger (D) bis hin zu Monsieur Le Chien (FR) – auf 38 Seiten im Anhang von »Moresukine«. Durch die Weitergabe der Aufgabenstellung an mehrere Blogleser bzw. Zeichner umgeht Schwieger geschickt die klischeehafte Monolithisierung ›Japans‹ als auch ›der Japaner‹. So klappt es auch mit der transkulturellen Kommunikation: 2008 soll »Moresukine« vom Radiosender Tokyo FM auf Japanisch ins Web gestellt und auf Englisch gedruckt werden.

Seine persönlichste Aussage – neben dem hier verschwiegenen peinlichsten Erlebnis – im fünften Auftrag, doch bitte ›das Geilste‹ am Leben in Japan zu beschreiben, bleibt denn auch eine Leerstelle: Anstatt mit einer Top-Ten-Liste anzukommen, schildert er seine fröhliche Verwirrung, bei der ihm die Worte ausgehen und selbst sein sonstiger Umgang mit Text und Bild nicht mehr gilt: »Letztendlich hat aber der Autor mehr Mitspracherecht als der Zeichner, der sich sonst im Spaß bestimmter Bilder verlieren würde, ohne den Leser im Blick zu haben.« People Not Seen Für sein aktuelles, höchst vielversprechendes Projekt »People Not Seen«, eine Comicreportage über die Elfen auf Island, führte Schwieger 2002/03 vor Ort über 60 Interviews auf Englisch mit in näherem oder fernerem Elfenkontakt stehenden Isländern, die er jetzt auswertet und voraussichtlich in drei Bänden auf 150-200 Seiten verarbeitet. Wie dokumentiert man etwas im Comic, das unsichtbar und somit undokumentierbar ist? Schwieger, der hier »ein Netz aus Zeitgeschichte und Fantasy« – mit Elfen und Phantomufos in derselben Story – weben möchte und damit dem Elfenforscher Wolfgang Müller und (in der Lesart Dietmar Daths) Jules Verne nahe steht, wählt mit dem Scherenschnitt eine vorgeblich parteilose Darstellungsform des ihm Berichteten, die der Geschichte zugleich etwas traumhaft Schönes verleiht und die unterschiedlichen Elfenschilderungen der Augenzeugen neutralisiert. Die norwegische Künstlerin Sissel Tolaas, die – ebenfalls unsichtbare – Gerüche erforscht, meint, als Künstlerin habe sie das Privileg, jedem Beruf ihrer Wahl nachgehen zu können. Schwieger nimmt dieses Privileg als (an der UdK Berlin in Bildender Kunst bei Georg Baselitz und Daniel Richter ausgebildeter) Comic-Künstler, wie er sich bezeichnet, als Herausforderung an und ist bei der Wahl seiner Konzeption ernst, ohne elitär zu wirken. Mal ist er Langzeit-Alltagsbeobachter (in der auf 13 Hefte angelegten Novelle »Ineinander«), mal dokumentierender Ethnologe, mal macht er mit Superhelden (»Die Prekären 4«, in: »Mamba«) auf um sich greifende soziale Missstände aufmerksam. Er tut dies mit der ihm eigenen randständigen Art der Betrachtung, die selbst Bekanntem etwas abgewinnt, was erstaunt und den Comic jenseits eines Selbsterfahrungsberichts stellt, wozu er sonst gerne genutzt wird. Mit diesem Blick über den eigenen Tellerrand ist er zwar nicht mehr allein, aber doch so besonders, dass er zu den interessantesten deutschen Zeichnern zählt, selbst wenn seine bekannteren Kollegen mitunter fluffiger zeichnen. Diese Stärke hat auch die Jury erkannt, die ihm (eine Woche vor der Geburt seines Sohnes) auf der Frankfurter Buchmesse den Berndt Pfarr-Sondermann als Newcomer 2007 verlieh. »Moresukine« von Dirk Schwieger, Reprodukt, Berlin 2007, € 16,00 »Ineinander #1-5« von Dirk Schwieger, Frankfurt am Main, eigen verlag, € 2,99, zu beziehen über www.eigen-heim.com. Dort kann man auch das Intro zu »People Not Seen« herunterladen Schwieger wird im Rahmen des Frankfurter Filmfestivals Nippon Connection am 05.04. sowie der Dresdner Comicausstellung »Kopfkino« am 18.04. aus »Moresukine« lesen

bilder  59


Fiat Jux! Die Comic-Serie »Donjon« zeigt, wie aus einem schmucken Witz ein ganzer Kosmos wird text: robert wenrich

Vor acht Jahren, noch vor der letzten Jahrtausendwende also, tritt eine augenscheinlich harmlose, wenngleich urkomische Fantasy-Parodie auf den Markt: »Donjon«, nach dem französischen Wort für Bergfried. Als heitere Abenteuersammlung um die Ente Herbert, den Drachen Marvin und den Wärter und Burgherrn Hyazinth hebt die Serie damals an. Doch die Autoren, der schon berühmte Lewis Trondheim und sein rasch an Bekanntheit zulegender Co-Autor Joann Sfar, verlieben und verbeißen sich in ihre Idee. Heute, viele Einzelbände später, ist »Donjon« zu einem großen Bildroman ausgewachsen, der epochenübergreifend die vom großen Gebäude ausstrahlenden Schicksale nachzeichnet. Zwischen nouveau roman und graphic novel Grob ist die Handlung in drei Zeit- und Erzählebenen angelegt: Im »Morgengrauen«, also den Bänden ab Nummer – 99, erfährt man vom Ursprung des Donjons und der Jugend des Wärters. Eine Mantel-und-Degen-Welt mit einschlägigen Stadtabenteuern. Aber verglichen mit Hyazinths Fecht- und Balzspielen sind die Geschehnisse aus der »Abenddämmerung« ab Band 100 ein anderes Kaliber: Nicht nur wird dort vom Niedergang des Donjons erzählt, nein, die reiche Fabel der späteren Bände ist, dass der Erdboden selbst zersprengt wird, und im Orbit um den nackten Magmaleib fürderhin unzählige kleine Inselchen schweben. Gemeinsam mit den klaren Zeichnungen eine wunderschöne Allegorie auf unsere Gegenwart. Nun spannt sich dazwischen der große Roman auf: Im »Zenith«, den eigentlichen Hauptbänden ab Nummer 1, lernt man Herbert als Apfelliebhaber mit Defiziten in Kampfsport und Betriebswirtschaft kennen. Hundert Bände später ist er der dunkle Herr geworden, der über eine Rüstungsindustrie sondergleichen verfügt und so mächtig ist, dass er die Erde am Drehen hindert. Sein einstiger Kumpan wurde ein blinder Drachenmönch, der, eigentlich zum Sterben entschlossen, vom Schicksal in Form einer Reinkarnation seiner selbst berufen wird, den einstigen Freund 60  bilder

zu bekehren. Weil vor allem Trondheim mit der Serie eine unvergleichliche Produktivität entwickelt, entstehen pro Jahr etwa vier Bände; es tut sich also ein überreicher Figurenschatz auf, der zahlreiche Querverweise zulässt. Wenn Amerikaner die graphic novel als Terminus bemühen, handelt es sich selten tatsächlich um eine novel; oft sind es nur bombastische Kurzgeschichten, z.B. Destillate eines Superhelden. »Donjon« dagegen ist so ein richtiger Roman, in dem Motive über lange Strecken entwickelt, verworfen oder wieder eingeführt werden; in dem sich lange, vielseitige Deutungskomplexe ergeben. Ein Glücks-, aber kein Einzelfall der franko-belgischen Literatur.

Eskapismus in der Zwangsjacke Marc Hempels »Gregory« verhandelt Todessehnsucht und den Segen der Ignoranz text: zuzanna jakubowski illustration: marc henkel

Der alltägliche Wahnsinn

Gregory hat einen Wasserkopf, eine Zwangsjacke und die großmäulige Ratte Herman Vermin zum besten Freund. Er sagt nicht viel (das macht Herman für ihn), und wenn, dann sagt er »Ub«, »Gub« und »Kie Kie«. Oder »Ik Gregory«. Die meiste Zeit verbringt er in einer kleinen Zelle in einer viktorianisch anmutenden Klapsmühle, unerwünschte Abwechslung bieten überforderte Therapeutinnen, LucaBrasi-artige Wärter, die Sozialarbeiter vom »Ein Haustier für Alle«-Programm und völlig kaputte Pflegefamilien. Gregorys wirkliche Freunde aber sind besagte Ratte, Wendell die Maus, das Fenster, der Abfluss, die Tür, der Boden, die Wände, die Glühbirne, und ab und zu ein Käfer oder ein Blatt. Und Gregory ist glücklich. Gregory ist auf eine Nicht-Glücksbärchi-Art niedlich. In seiner kargen Zelle bekommen Kleinigkeiten epische Ausmaße: Schreianfälle, im Kreis rennen, Käse in der Hose herumtragen, ein großer Knall vorm vergitterten Fenster, die eigenen Arme. Da braucht es schon Heman Vermin, um der Geschichte transzendente Bedeutung zu verleihen. Dieser nämlich wird zerquetscht, erschlagen, aufgefressen, und immer immer immer wiedergeboren. Als Ratte. Was soll uns das sagen? Schließlich wird er gar zum Schöpfer persönlich beordert, um das Problem zu besprechen. Er soll eine höhere Existenzform anstreben, seine Realität selbst gestalten. Und Herman gestaltet: Er wird als Frettchen wiedergeboren, ja eigentlich als »gewaltige Frettchenpfote«, denn er steckt fatal im Abfluss fest.

Marc Hempel hat nach eigenen Angaben diesen grotesken und überhaupt nicht politisch korrekten Comic Ende der 1980er Jahre erschaffen, um der ausbeuterischen Auftragsarbeit an zweitklassigen Zeichentrickserien zu entkommen: »Gregory war ein Depot für meine angestauten Ängste und Unsicherheiten, allerdings gemäßigt durch kindliche Freude und Unbekümmertheit.« Was ursprünglich nur ein Ventil für unterdrückte Ängste war, bescherte dem Zeichner bald Popularität und Nominierungen für den Eisner Award. Seither hat er mit Neil Gaiman an »Sandman: Die Gütigen« zusammengearbeitet und weitere despotische Figuren, wie in der experimentelle Comic-Sitcom »Tug & Buster«, ins Leben gerufen. »Gregory« ist immer dann am stärksten, wenn Hempel sein Artwork in den Vordergrund stellt: Von cartoonistischen Bildabfolgen über gothic anmutende Schattenschnitte bis hin zu wilden Panelsprüngen – die Welt des kleinen Irren ist bestimmt vom Detail. Während Vermin, nun wieder in Rattengestalt, sein Versagen bei Dr. Zygmunt Fraud verarbeitet, erlebt Gregory neben Kleinstabenteuern (uuuh… eine Kakerlake!) Kontakte mit der Außenwelt, die dämmern lassen, dass die eigentlich Verrückten die Menschen außerhalb seiner ungepolsterten Zellenwände sind. Neben dieser etwas abgenutzten Erkenntnis bietet »Gregory« aber eine funktionale Alternative zu Urschreitherapie, das kuschelige Gefühl, mit dem alltäglichen Wahnsinn nicht ganz allein gelassen zu sein und endlich auch die Gewissheit darüber, dass es okay ist, schon mal Angst vor seinen Händen zu bekommen.

Könige des Comic-Dschungels Es ist ja so: Wir Deutschen schauen neidisch über den Rhein, die Brisanz und Kraft des Comics scheinen wir, wie anfangs auch die der Fotografie, übersehen zu haben. Der Comicmarkt Brüssel/Paris spuckt pro Dekade mindestens ein Großwerk aus, das neben und mittels aller technischen Brillanz den Zeitgeist formidabel bannen kann. Man denke nur an »Tintin«; an »Asterix«, ein Koloss von Zeitgeschichte; an »Blueberry«, die orgiastische Freiheitsund Seelenreise der 1970er; an »XIII«, einen Polit-Thriller, wie ihn nur die späten 1980er Jahre schreiben konnten; und nun an »Donjon«, ein bezauberndes Stück Ironie mit Tarantino-Dialogen. Schon jetzt lässt sich erahnen, welchen Stellenwert die Serie dereinst einnähme, wenn man sie nur mit dem gleichen Elan und der gleichen Qualität fortsetzen könnte. Das ganze Erbe Goscinnys und Uderzos werden Sfar und Trondheim zwar nicht antreten können, wenngleich es überraschend viele Gemeinsamkeiten gibt; die Zeiten haben sich einfach geändert – trotzdem gelten sie schon jetzt als Könige des Comic-Dschungels, düngen die nachwachsende Generation von Jungautoren und begeistern mit ihrem Werk Kinder und Kritiker. In den besseren Librairien findet man die Serie ebenso wie im Intermarché, gerade neben der Kasse; denn zum »Donjon«, heißt es da, führen mindestens so viele Wege, wie es »Donjon«-Bände gibt, also 32. »Donjon« erschien zunächst bei Carlsen, nun fortlaufend bei Reprodukt. Als Einstieg in die Serie empfiehlt sich der Hauptstrang »Zenith« ab Band 1

»Gregory 1: Ich Gregory!«und »Gregory 2: Obenei!« von Marc Hempel, Cross Cult, Asperg 2007, 191 S., € 19,80

bilder  61


white cubes text: eileen seifert

review

... but it ain’t me, Babe! Dem Regisseur todd HaYneS gelingt es mit seiner Filmbiografie »I’m Not There«, die rätselhafte Person Bob Dylans nachzuzeichnen, ohne jedoch die verschwommenen Konturen Dylans in klare Linien zu drängen text: vera hölscher fotos: tobis film

Anton Henning, Portrait No. 236, 2007, Courtesy: the Artist and Arndt & Partner Berlin/Zürich

Alle zwei Jahre wieder. Und dabei immer dieselben Fragen: Wo wird sie stattfinden? Was ist das Konzept? Während 2006 in Anlehnung an Steinbecks Roman unverbindlich »Von Mäusen und Menschen« erzählt wurde, wirbt die 5. Berlin Biennale besonders mit ihrer ›unbegrenzten Öffnungszeit‹ und damit der Lossagung vom charakteristischen Biennale-Format hin zu einer Freiheit, die wohl strategisch auf ein Berlin als Ausnahmestadt der unendlichen Möglichkeiten reagiert. Unter dem verheißungsvollen Banner »Mes nuits sont plus belles que vos jours« werden so jenem nachtschwärmenden Publikum Cocktails aus Konzerten, Performances, Vorlesungen, Exkursionen und Filmvorführungen gereicht werden, die die täglichen Ausstellungen an drei verschiedenen Orten (Kunstwerke, Neue Nationalgalerie, Brachgelände entlang der ehemaligen Mauer zwischen Mitte und Kreuzberg) erweitern. Analog zu gewählten Orten in Ost und West soll dabei der geschichtliche Diskurs der einst geteilten Stadt thematisiert werden. Über das unverbrauchte Berlin – kurz nach der Maueröffnung – hätte CHriStine Hill wohl einiges zu erzählen. Die New Yorker Künstlerin, die Anfang der 1990er hier lebte, bediente sich für ihre Projekte eben der alten Industriegelände im Osten, der Geschäftsauflösungen und bei den Hausbesetzern. Inspiriert vom sozialistischen Ideen-Überbleibsel des VEB gründete sie unter dem Pseudonym Artslut die »Volksboutique«. Das Konzept – die Künstlerin in verschiedenen Dienst leistenden Rollen, bestimmt von Ökonomie und Markt – und den interaktiven, kommunikativen Gedanken, der den Betrachter sowohl zum Kunden als auch zum Teil des Kunstwerks werden lässt, verfolgt sie dabei bis heute. »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde« ist nur eines der bis heute gültigen simpel-wahrhaftigen Wortspielereien des multiplen Talents (Komiker, Kabarettist, Autor, Filmemacher) Karl Valentin. Dem »Wortzerklauberer« (so Alfred Kerr) und »Sprach-Anarchisten«, der mit seinem dialektischen Humor schon Zeitgenossen wie Brecht und Tucholsky überzeugte, ist jetzt, 50 Jahre nach seinem Tod, eine umfassende 62  bilder

Ausstellung im Martin-Gropius-Bau gewidmet. Unter dem Titel »karl valentin – FilmPionier und medienHandWerker« wird das Werk des »ersten deutschsprachigen Pop-Künstlers des 20. Jahrhunderts« gezeigt. In einer zeitgenössischen, hochglanzästhetischen Popwelt – und damit sind nicht nur die Aktbilder Madonnas gemeint – ist die französische Fotografin Bettina rHeimS unterwegs. Bekannt ist sie für ihre provokant-erotische Inszenierung des weiblichen Körpers und für das Zelebrieren / Pervertieren von Bildstrategien des Glamourhaften. Dabei wimmelt es nur so von erstarrten Posen, gelangweilten Gesten und gleichmacherischer Attitüde – eben von medialen Stereotypen –, die bewusst mit dem Klischee der Frau als Verführerin spielen. Unter der Titel gebenden Frage »Can You Find Happiness?«, die im Angesichte so polierter Mädchenleiber durchaus berechtigt scheint, sind 95 Bilder aus acht Serien zu sehen. Jemand sagte einmal, über Musik zu schreiben sei so, wie zu Architektur zu tanzen. Nun kann dies bei Bedarf auch mal an anderer Stelle im Magazin besprochen werden. Doch verhält es sich in der Kunstkritik sehr oft so, dass die passenden Worte fehlen, obwohl das zu Bezeichnende wenigstens sichtbar ist. Roberta Smith, Kritikerin der New York Times, beschrieb die Bilder von anton HenninG einmal so: »Die neoexpressionistischen Leinwände dieses jungen Berliner Künstlers, großformatige Collagen und Zeichnungen zeigen eine versierte Mischung unterschiedlicher Stile: Julian Schnabel, George Condo, Joseph Beuys und Cy Twombly, dazu eine Prise Picasso zur Abrundung des Ganzen.« Um nicht noch mehr unnötigen Senf darauf zu tun, heute und hier ganz knapp formuliert: Hingehen. Ansehen. 5. Berlin-Biennale, diverse Veranstaltungsorte, Berlin, 5.4. – 15.6.2008 Christine Hill, Galerie Eigen+Art, Berlin, 15.3. bis 19.4.2008 »Karl Valentin. Filmpionier und Medienhandwerker«, Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 21.4.2008 »Bettina Rheims: Can You Find Happiness?«, c/o Berlin, Berlin, 8.3. – 11.5.2008 Anton Henning, Galerie Arndt & Partner, Berlin, 4.3. bis 19.4.2008

Bob Dylan ist ein bisher ungelöstes Rätsel. Dass es jedoch möglich ist, dieses Rätsel zusammen zu setzen, die unergründliche Aura, den undurchschaubaren Charakter und den wechselhaften Lebensweg dieses Ausnahmekünstlers zu rekonstruieren, zeigt nun Todd Haynes eindrucksvoll mit seiner Biografie »I’m Not There«. Doch bringt er die Einzelteile Dylans nicht in eine streng chronologische, aufklärende Ordnung, sondern entzieht sich vielmehr den konventionellen Regeln der Biografie, verzichtet auf erzählerische Kontinuität und verwendet ganz im Sinne Bob Dylans seine eigene filmische Grammatik und Syntax. Die vielseitige Persönlichkeit Dylans verdeutlicht er

dadurch, dass er ihn von mehreren Schauspielern verkörpern lässt, welche jeweils Dylans verschiedene Gesichter in seinen unterschiedlichen Lebens- und Schaffensphasen darstellen. So findet man Bob Dylan in farblich an Intensität überquellenden Sequenzen als jungen, seine Identität suchenden Woodie Guthrie (Marcus Carl Franklin) und vor der Enttarnung fliehenden Billy the Kid (Richard Gere) wieder, erfährt vom schwarz-weiß gefilmten Arthur Rimbaud (Ben Whishaw) bei einer Anhörung in Form von DylanZitaten etwas über dessen poetisches Talent, wird anhand der Figuren von Robbie Clarke (Heath Ledger) und dem grobkörnig aufgenommenen Jack Rollins (Christian Bale) der sukzessiven Charakterentwicklung Dylans ins Egozentrische gewahr und nimmt in Form von Jude Quinn (Cate Blanchett) Teil an Dylans exzessiver Zeit als gefeierter Star. Währenddessen ist der Film gespickt mit ironisch-geistreichen Dialogen und Wort-Jonglagen, die der sprachlichen Komplexität von Dylans Liedtexten Rechnung tragen. Und während man sich am Ende verwirrt fragt, was hier Spekulation und was Tatsache ist, wie man die Person Bob Dylan anhand des Gesehenen nun verstehen soll, hat Haynes längst gezeigt, dass Dylan nicht nur ein Rätsel ist – er bleibt eines. »I’m Not There« von Todd Haynes, ab 28.02.2008 im Kino (Tobis Film)

Auswege ad extremis Mit »No Country for Old Men« melden sich die Coen-BrÜder eindrucksvoll zurück text: patrick küppers foto: universal pictures

»Du warst in Vietnam?« – »Ja.« – »Ich war auch in Vietnam.« – »Na und? Sind wir deshalb jetzt Kumpels?« Dem neuen Film der Gebrüder Coen liegt nicht viel an amerikanischen Befindlichkeiten. Der auf dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy basierende »No Country for Old Men« macht, was lakonische Narration, Konzentration auf Nebenfiguren und Gewalt als Stilmittel betrifft, zahlreiche Anleihen an den Italowestern, jener Dekonstruktion amerikanischer Mythen schlechthin. Eine gute Idee, denn es entstand ein herausragender Film. Haupthandlung und Hauptfigur entpuppen sich rasch als falsche Fährte: Ein Held (Josh Brolin), der in der texanischen Wüste einen Haufen toter Mexikaner und eine Menge Drogen entdeckt, nimmt sich als Souvenir einen Koffer voller Geld mit, worauf ganze Bataillone Schießwütiger ihn durch das mexikanische Grenzgebiet hetzen – Plot und Protagonist bleiben bewusst konventionell und daher unmarkiert. Die wirklichen Hauptfiguren sind der alternde Polizist Ed Bell

und der Killer Anton Chigurh. In einer Serie von sorgfältig ausgearbeiteten Szenen entfalten deren Darsteller Tommy Lee Jones und Javier Bardem ein intensives Spiel von höchster schauspielerischer Brillanz, wie man es in großen Produktionen nur sehr selten geboten bekommt. Beide suchen Auswege aus einer absurden Welt, in der sich alle Kommunikation in Nonsense-Dialogen über den Ladentisch erschöpft. Bell versucht Dinge von Bedeutung zu sagen, macht sich damit aber lächerlich. Chigurh dagegen bricht das sinnlose Geplapper, indem er es als Frage um Leben und Tod ad extremis führt. Als ob erst hier wieder Sinn und Würde zu finden wären. »No Country for Old Men« von Ethan & Joel Coen, im Kino (Universal Pictures)

bilder  63


review

HuGo verlinde, die Schönheit der

Mathematik und die Mathematik der Schönheit text: jochen werner foto: lowave

Das Erste, was bei der Betrachtung der Filme, Installationen und Animationen von Hugo Verlinde ins Auge fällt, ist ihre überwältigende Schönheit. Lichtpunkte erstrahlen und verlöschen wieder, Linien scheinen einander zu umtanzen, ein Gespür für Unendlichkeit bricht sich Bahn. Doch besonders werden Verlindes Werke erst dadurch, dass sie über diesen schieren Ästhetizismus hinausreichen durch ihre Verwurzelung im ganz Konkreten. Der französische Künstler nämlich ist im Grunde Mathematiker, die Grundlage seiner Werke bilden per Computercode visualisierte Gleichungen und Kurven. Somit geht es Verlinde letztlich darum, immaterielle Prozesse und Gesetze sichtbar zu machen, die unter der Oberfläche des Wahrnehm-

Unser eigenes Märchen kitSCH-Welten, die einmal staatstragend waren: Von Ludwig II. bis Hitler mit Hans Jürgen Syberberg text: jochen werner fotos: filmgalerie 451

baren wirken. Doch begnügt er sich nicht mit einer bloßen Visualisierung; zunächst schaltet er immer neue Ebenen hinzu und formt die so entstehenden Bewegungsabläufe wie Skulpturen auf der zweidimensionalen Fläche des Bildschirms. In einem letzten Schritt schließlich projiziert er diese geschichteten, hochkomplexen Animationen auf dreidimensionale, oftmals erneut bewegte Oberflächen und überführt sie so wieder in eine ganz buchstäblich greifbare Materialität. In diesem unendlichen Spielen und Spiegeln der Dimensionen ineinander und wieder nach Außen offenbaren Verlindes Filme ihre Einflüsse nicht nur im oftmals kargen Minimalismus der geometrischen Skulptur, sondern auch im frühromantischen Gedanken des Gesamtkunstwerks. »Cosmogonies. Plastique de l’immateriel« von Hugo Verlinde, auf DVD erhältlich (lowave)

Hitler müsse man nicht mit Auschwitzstatistiken und der Soziologie seiner Wirtschaft bekämpfen, sondern mit Wagner und Mozart, so ein heftig umstrittener Ausspruch des Filmemachers Hans Jürgen Syberberg. Unter anderem von Susan Sontag und Michel Foucault gefeiert, wurde Syberberg jedoch in der Heimat nie als Prophet betrachtet, sondern eher als wirrer, mystisch verbrämter Schwätzer abgetan. Gesehen wurden und werden seine Filme meist nicht unvoreingenommen und überhaupt recht selten, was auch durch ihre monumentale Länge bedingt sein mag: So bringt es seine »Deutsche Trilogie« in ihrer Gesamtheit immerhin auf gute zwölf Stunden, von denen allein sieben dem GröFaZ gewidmet sind. Der Weg jedoch, der zu »Hitler – Ein Film aus Deutschland« (1977) führt, birgt durchaus Überraschungen, führt er doch über Ludwig II. und – Karl May! »Ich bin mein eigenes Märchen«, legt Syberberg dem Wildwest-Phantasten und Utopisten in den Mund, und dieser Maxime folgt im Grunde sein ganzer Entwurf einer zutiefst irrationalen, mythologisch verwurzelten und metaphysisch aufgeladenen Über-Kunst. Alles darin dreht sich letztlich nicht um einen historischen Hitler, sondern um den Hitler in uns, der in Syberbergs Modell nicht als dämonischer Abszess der Historie verteufelt und abgelegt werden kann, sondern, eher als Apotheose verstanden, in vielfacher Weise in der deutschen Geistesgeschichte verhakt war und ist. Das künstlerische Projekt Syberbergs ist das einer »Entsühnung durch Kunst«, und das ist zutiefst problematisch. Zu seinem Werk mag man stehen, wie man will, die Auseinandersetzung damit nicht nur als Zeitdokument scheint unumgänglich. Und die ist nun Dank der DVD-Edition von Filmgalerie 451 wieder möglich.

Temporär gültig Benjamin WolBerG manifestiert mit seinem Street Art Guide das breite Spektrum der Akteure in Berlin text: jens pacholsky foto: benjamin wolberg

Es ist eigentlich unmöglich, was Benjamin Wolberg versucht. Mit seinem Bildband »Urban Illustration Berlin« legt er einen Reiseführer vor, der inklusive einer Stadtkarte die Sightseeing-Tour durch den Street-Art-Dschungel Berlins leiten soll. Dabei ist keine andere Kunstform – neben Graffiti – so vergänglich wie die der Cut-Outs, Poster, Schablonen, Marker und Aufkleber, welche seit Jahren die Hauptstadt zu einem einzigen öffentlichen Kunstraum transformieren. Das Konservieren der Arbeiten ist dabei eigentlich als Gegenpol zum Street-Art-Gedanken zu verstehen. Diese ist meist ein kurzweiliger Kommentar, oft im Kontext mit anderen Werken anderer Künstler entstanden. Am offensichtlichsten zeigt sich dies in der Antwort der Akteure von Fuck Your Crew auf eine Interviewanfrage Wolbergs: »Tja… was sollen wir sagen? Es ist schmeichelhaft, wenn unsere Arbeiten in Büchern veröffentlicht werden […]. Trotzdem war und ist das nicht die Motivation, etwas auf der Straße zu hinterlassen. Letztlich hält einen das ganze Gerede ja nur davon ab, etwas zu machen.« Nicht alle Künstler bleiben bei dem Berliner so wortkarg, verweisen aber doch lieber direkt auf ihr Schaffen, das Wolberg über den Zeitraum von sechs Jahren mit seiner Kamera festhielt. Mit über 500 Fotos der Arbeiten von mehr als 27 internationalen Aktivisten legt der Fotograf und Designer überhaupt eine in ihrer Vielfalt verblüffende Werkschau der Street Art Berlins vor, die nicht nur dokumentiert, sondern gleichzeitig auf die Straßen treibt, um die Tatorte zu entdecken – falls sie denn noch da sind … »Urban Illustration Berlin« von Benjamin Wolberg, Gingko Press, Corte Madera 2007, 360 S., € 24,90

SEITE 83 >

Goon t S verlo

MAGAZIN FÜR BILDGESTALTUNG #02 SCHWERPUNKT MUSIK

»Ludwig: Requiem für einen jungfräulichen König«, »Karl May« und »Hitler – Ein Film aus Deutschland« von Hans Jürgen Syberberg, auf DVD erhältlich (Filmgalerie 451)

64  bilder

zeichnung: heiko müller

Malen nach Zahlen

review

WWW.JITTER-MAGAZIN.DE bilder  65


review

text: jochen werner

framerate

Moore than this Comic-Großmeister alan moore kann mehr als andere, eigentlich text: robert wenrich illustration: ryan benjamin

Jim Lee war einer der Sieben, die Anfang der 1990er Jahre vom übermächtigen Marvel-Konzern abbrachen und sich mit ihrem neu gegründeten Verlag Image Comics als neue Größe im Geschäft etablieren konnten. Jeder der Designer führte unterm Image-Dach sein eigenes Imprint. Lees war Wildstorm, eine seiner ersten Serien dort die »WildC.A.T.S.«. Der Plot: In der Galaxie herrscht Krieg. Die gottgleichen Kherubim gegen die parasitären Daemoniten. Ein Trupp der Kherubim muss eines Tages auf der Erde notlanden. Sie finden heraus, dass auch ihre Feinde schon auf dem blauen Planeten aktiv sind und gründen die WildC.A.T.S. als Schutzmacht. Dass diese Serie in den letzten Wehen des kalten Krieges geboren wurde und teilweise auch dort spielt, überrascht wohl niemanden. Genau dort setzt Alan Moore in seiner Bearbeitung der Serie an. Er erkennt die Fabel und führt sie fort: Das Rumpfteam der WildC.A.T.S. lässt er heim nach Khera reisen, wo sie leidvoll erkennen, dass der für sie existenzielle Krieg lange vorbei ist. Bald wähnen sich alle wieder in ihren alten Strukturen heimisch. Doch die sind selten as they seem: Korruption, Intrigen, Ghettos und Fremdenhass verhindern ihre Resozialisierung. Das Paradies Khera ist auf ewig verloren; sie kehren zur Erde zurück. Eigentlich interessant, doch Moore bleibt hinter seinen Standards zurück; der Text ist schleppend, der Plot keucht unter vielen Klischees. Ob das an der Vorlage liegt, mögen Sammler entscheiden. Insgesamt weist der Band zwar für junge Leser eine solide Qualität auf, jedoch werden von Moore verwöhnte Leser gut und gerne zu anderem greifen. Von Alan Moore erschien auf Englisch soeben die lang erwartete Fortsetzung seiner »League of Extraordinary Gentlemen: Black Dossier«. »WildC.A.T.S 1: Heimkehr nach Khera« von Alan Moore, Panini, Nettetal-Kaldenkirchen 2008, 212 S., € 19,95

Selbstbildnis als Michael Cimino Schlamm, Blut und Öl: Ein dunkler Gründungsmythos in Paul tHomaS anderSons »There Will Be Blood« text: jochen werner foto: melinda sue gordon © by paramount vantage

Das heutige Amerika – und damit die westliche Welt, wie wir sie kennen – ist errichtet auf dem Fundament von Schlamm, Schmutz und Gier. Der Untergrund, in den es in mühseliger Handarbeit gegraben wurde, ist von Blut durchtränkt; der Motor, der es befeuert, durch Öl genährt. Das schwarze Gold, das noch James Dean in George Stevens’ »Giant« den Regentanz des Kapitalismus zelebrieren ließ, hat P.T. Anderson ins Herz seines fünften Kinofilms gesetzt. Darin erzählt er über mehrere Dekaden die Geschichte von Daniel Plainview (Daniel Day-Lewis) und dessen Aufstieg vom einsam nach Silber schürfenden Glückssucher zum millionenschweren, wieder einsamen Öl-Tycoon. »There Will Be Blood« ist nicht nur ein großer, so analytisch scharfer wie wuchtiger Film, der all den auf ihn angestimmten Lobeshymnen gerecht wird. Es ist ein Film, der Geduld fordert und diese reich belohnt; ein Film, der mit jeder Minute seiner 160-minütigen Laufzeit immer besser wird und der an seinem Höhepunkt einfach zu Ende ist. Darüber hinaus ist es der wohl mutigste, konsequenteste und künstlerisch integerste Versuch, die dunkle Seite des amerikanischen Gründungsmythos in einer Hollywood-Erzählung zu fassen seit 1980 und »Heaven’s Gate«. Mit diesem fast vierstündigen Monumentalwestern, irgendwie bis heute unvollendet und dennoch eines der größten Werke des amerikanischen Kinos überhaupt, setzte Michael Cimino einst den Schlusspunkt unter New Hollywood, das in der Folge von Spielberg, Lucas & Co. und ihrem Blockbuster-Kino ermordet wurde. Es hat beinahe drei Jahrzehnte gedauert, bis es wieder einen Film wie »There Will Be Blood« hervorbringen konnte. Nun ist er da, und das ist schön, denn Filme dieser Art sind es, die uns weiter ans Kino und die Aura seiner Leinwände und flackernden Projektoren glauben lassen. »There Will Be Blood« von Paul Thomas Anderson, seit 14.02.2008 im Kino (Walt Disney)

66  bilder

Im Bereich der Filmdistribution ereignet sich dieser Tage eine bedeutende Verschiebung: Wo der Ort des Cinéasten einst das Lichtspielhaus war, wird er heute zunehmend vor den TV-Schirm oder ins Heimkino getrieben – nicht etwa im Zuge der bis dato vergeblich heraufbeschworenen, noch immer nicht angebrochenen video on demand-Ära. Vielmehr ist diese Fluchtbewegung Reaktion auf die Tatsache, dass originelles und relevantes Kino heute fast ausschließlich noch auf dem DTV-Markt (direct to video) zu finden ist, während die Kinosäle oft nur Blockbuster und Kunstgewerbe beherbergen. Zu den aufregendsten Entdeckungen gehört zweifelsohne tHe Heart iS deCeitFul aBove all tHinGS (i-on), die zweite Regiearbeit der Schauspielerin Asia Argento. Ihre Adaption der vorgeblich autobiographischen Short Stories des jüngst enttarnten literarischen Phantoms J.T. LeRoy inszeniert sie als kompromisslosen Höllentrip durch White Trash America, der eher an die Hysterie Zulawskis gemahnt denn an die Zärtlichkeit eines Larry Clark. Jeglicher Vergleich versagt am nicht weniger radikalen Werk des Ungarn György Pálfi. Dieser strukturiert seinen drei Generationen umspannenden taXidermia (i-on) nach den drei grundlegenden Trieben des Menschen: Libido, Ernährung und – Tod. Am Ende der bildgewaltigen, tiefschwarzen Groteske steht die Eigen-Apotheose des letzten der drei männlichen Protagonisten zum Kunstwerk und der Preis, den er dafür zu zahlen hat – denn Unsterblichkeit heißt schließlich immer auch Leblosigkeit. Quicklebendig hingegen ist mit art oF revenGe (Splendid) das zuletzt eher stagnierende koreanische Kino. Dabei gelingt Regisseur Choi Yang-Il (alias Yoichi Sai) stilistisch schier Unglaubliches: Sein Film ist im Grunde narrativ schlicht, aber äußerst komplex aufgefächert; ebenso exzessiv blutig wie elegisch, poppig und doch seltsam zärtlich. Ein emotional wuchtiger Schlag in die Magengrube, der noch lange spürbar bleibt. Neben Neuentdeckungen bietet der DTV-Markt auch Wiederbegegnungen mit alten Helden: Mit eiSkalt (e-m-s) legt Michele Soavi, einst die große Hoffnung des italienischen Splatterkinos, seine erst fünfte Regiearbeit vor. Die Ad-

aption von Massimo Carlottos Noir-Roman »Arrivederci Amore, Ciao« scheint auf den ersten Blick Neuland, doch die 1980er-Jahre-Ästhetik gemahnt an seinen frühen Giallo »Deliria«. An sein Meisterwerk »Dellamorte Dellamore« vermag er eher nicht anzuknüpfen, aber Soavi bleibt ein stilistisch famoser Filmemacher. Verlässlich vital präsentiert sich seit längerem das Bewegungskino als ActionB-Movie, das dieser Tage mit einem neuen Hauptwerk prunken kann. Shimon Dotans diamond doGS (Koch Media) mit dem jüngst auch als Regisseur überzeugenden Dolph Lundgren funktioniert deshalb so hervorragend, weil er sich jedem Wechsel in Tonfall und Stimmung völlig hingibt: mal fiebrig, dann stoisch, hier hektisch, dort melancholisch und stets im richtigen Moment kaltschnäuzig. Mit sorgfältiger Kamera und durchdachter Lichtdramaturgie inszeniert, ist Dotans Film stets ganz und gar gegenwärtig, und das macht ihn nicht nur zu einem guten, sondern zu einem großartigen Actionfilm. Auf eine andere Art gegenwärtig ist tHe laSt Winter (Sunfilm) von Larry Fessenden, der vom Klimawandel und dem Schmelzen der Polkappen erzählt – allerdings nicht als dröger Lehrfilm, sondern als apokalyptisch-bildgewaltiger Öko-Horror. Damit belegt er, wie relevant der Horrorfilm, als kritische Instanz in den Diskursen seiner Zeit begriffen, sein kann. Ein interessantes Gegenbild zu Fessendens great white nothingness zeichnet schließlich der treffend betitelte, so minimalistische wie hochspannende BlaCk Water (Legend): Drei Menschen in einem Baum und ein Krokodil unten im Wasser, mehr braucht es hier nicht zum schweißtreibenden Schocker. Anders als der ähnlich konzipierte, aber flossenlahme Haithriller »Open Water« jedoch flirtet die Inszenierung von David Nerlich und Andrew Traucki immer genug mit der Exploitation, um filmisch zu bleiben. Im Zentrum steht die undurchdringliche Oberfläche des spiegelnden Wassers, die stets nur den Blick des Betrachters zurückwirft – so, wie es auch jeder gute Horrorfilm tut.

bilder  67


VIDEOSPIEL SPEZIAL Natürlich sind Videospiele Pop. Warum auch nicht? Sie verlangen dem Novizen ebenso viel Studium ab, generieren eine eigene Sprache, ihr individuelles cut-up, und sie wandeln auf der Grenze zwischen Massenmarkt und eingeweihter Spezialdisziplin. Wenn es im Strom der verlorenen Metatexte überhaupt ein Medium gibt, das den Blick auf die Welt bestimmt, ein Ding, nach dem die Vielzahl der Geschichtsschreibungen die aktuelle Epoche benennen könnte, dann ist es der Computer. Und wenn der Monitor das neue Tor zur Welt ist, dann sind Videospiele der Eingang in die Unterwelt. Den Matratzengrüften entstiegen, aus Indien heimgekehrt, die grüne Bierflasche neben dem Rechner, finden wir in den Neonlichtern der Live Arcades den neuen Weltbürger, den »ludischen Cyborg«.

MOTION CAPTURING THE ZEITGEIST Ein Streifzug durch die Welt der videoSPiele: Erzählweisen, Welthaltigkeit text, interviews: dan gorenstein

Es ist an der Zeit Videospiele aus dem Bereich des Fachjornalismus herauszuholen. Ohne dabei ins Fahrwasser von Killerspiel- oder Verrohungsdebatten zu geraten. Ohne den größtenteils nutzungsorientierten Ansätzen der Pädagogik zu folgen. Es ist an der Zeit Videospiele zu durchdenken, sich zu informieren. Als lebendiges kulturelles Phänomen haben die Spiele schon längst die ihnen zugewiesenen Orte verlassen und sind, wie all die anderen kunstaffinen Medien vor ihnen auch, in die weite Welt der allgemeinen Rezeption aufgebrochen. Wer bereit ist, ihnen zu folgen, wird sie dort finden, wo er sie nicht vermuten würde, zum Beispiel an der Universität. So wurde etwa Ende letzten Jahres an der Universität Potsdam ein Forschungsnetzwerk für Videospiele gegründet, welches sämtliche Bemühungen einzelner Forschungsdisziplinen im Bereich Videospiele bündeln und damit der Komplexität dieses Mediums gerecht werden soll. Dieter Mersch, Professor der Medienwissenschaft in Potsdam und Mitherausgeber von »Game Over?!«, der ersten Veröffentlichung des Netzwerkes, erläutert: »Das ›Forschungsnetzwerk Videospiele‹ an einer Universität in Deutschland ist ein Novum. Gewiss gibt es private Initia68  zeichen

tiven, auch im Rahmen informeller Forschungsverbünde; uns geht es aber um die Etablierung der Computerspielforschung im akademischen Kontext. Zum einen geht es dabei darum, die verschiedenen Forschungen an der Universität Potsdam, die an unterschiedlichen Fachbereichen und Fakultäten schon geschehen, zusammenzuführen und in einen produktiven Dialog zu bringen. Dazu gehört die Informatik, die sich seit langem schon mit dem Prinzip ›Spielen‹ und – von einem mathematischen Standpunkt aus – mit ›Spiele spielen‹ beschäftigt, dazu gehört die Psychologie, die empirische Aggressionsforschungen anhand von Videospielen auf der Grundlage von DFG Förderungen betreibt, dazu gehört auch die Medienwissenschaft, die ebenfalls ein DFG, Projekt zur Frage der Medialität des Computerspiels hat. Im näheren Umkreis sind im Forschungsnetzwerk zudem noch das Medienrecht, das Interface-Design usw. integriert. Ziel des Netzwerkes ist ein ›Zentrum für Computerspielforschung‹ mit internationaler Ausstrahlung in Potsdam zu gründen, um dieses junge Medium möglichst interdisziplinär und von den unterschiedlichsten Frageseiten her zu untersuchen.«

Gefühlte Entscheidungen

Cut-scene gegen gameplay

Dass es die Videospiele an die Uni geschafft haben, ist nicht nur ein sicheres Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung, es eröffnet auch dem Nachdenken über die Spiele im Allgemeinen eine Reihe neuer Möglichkeiten. Sie können kulturgeschichtlich verortet werden, strukturell durchdrungen und medientheoretisch eingeordnet. »Das Neue am Computerspiel«, erklärt Mersch, »ist die Verbindung von Visualität und Interaktivität auf der Basis einer entscheidungslogisch organisierten Spielstruktur, die für den Spieler erlaubt, Spielzug um Spielzug sein eigenes Narrativ zu erzeugen. Trotz gewisser Ähnlichkeit impliziert das die entscheidende strukturelle Differenz zum Film und anderen audiovisuellen Medien.« Die Entscheidung, oder vielmehr die gefühlte Entscheidung, ist das wesentliche Merkmal von Videospielen. Egal wie unbegrenzt sich die Spielwelt geben mag, letztlich hat der Spieler nur die Freiheit, das Spiel entweder zu Ende zu bringen oder sich in ihm umzusehen. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, dass Videospiele erzählen. Sie tun es nur nicht auf die gleiche Weise wie Literatur oder Film, sondern auf ihre Weise, im Vollzug.

Momentan befinden sich die Spiele und ihre Produzenten in dem Irrglauben, ein gutes Computerspiel müsse mit einem Actionblockbuster konkurrieren können und zwar auf dessen Terrain. Die Spiele werden von so genannten cut-scenes unterbrochen, die in typischer Filmmanier die Story voranbringen und an deren Ende der Spieler wieder in das Spiel gespuckt wird, nur um auf die nächste cutscene hinzuarbeiten. In mittlerweile sieben Konsolengenerationen haben sich Grafiker und Designer so nahe an das goldene Kalb Fotorealismus herangearbeitet, dass sie darüber aus den Augen verloren haben von wo aus sie eigentlich aufgebrochen sind. Es mag zwar eine gute Sache sein, dass man nun all den Aliens und Dämonen, die den üblichen Cast eines Computerspiels stellen, in High Def auf die Fresse geben kann, aber bis auf wenige Ausnahmen sind von derartigen Kreaturen bevölkerte Geschichten selten das Zelluloid wert, auf dem sie eingebrannt sind. Zudem besteht die Leistung des Actionkinos (wenn es denn überhaupt eine gibt) darin, dem Zuschauer glaubhaft zu machen das, Gesehene sei tatsächlich so an der Kamera vorbeigerauscht, und dazu bedient es sich nicht selten der Mittel, die für das Computerspiel das täglich Brot sind. zeichen  69


VIDEOSPIEL SPEZIAL

Breaking a game: trickjumping, kiting und snaking

Egal wie unbegrenzt sich die Spielwelt geben mag, letztlich hat der Spieler nur die Freiheit, das Spiel entweder zu Ende zu bringen oder sich in ihm umzusehen. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, dass Videospiele erzählen. Sie tun es nur nicht auf die gleiche Weise wie Literatur oder Film, sondern auf ihre Weise, im Vollzug. Das eigentliche Fleisch aber, um noch ein wenig in der Lebensmittelmetaphorik zu bleiben, ist das gameplay. Ein seltsamer Begriff, mit dem kein anderes Medium aufwarten kann, schließlich gibt es weder den bookread noch den filmview. Gameplay beschreibt, grob gesagt, den Zugriff des Spielers auf das Spiel, also die Steuerung, die Interaktion mit etwaigen Gegnern, ›Kamera‹-führung etc. Dieser Begriff zeugt von der aktiven Natur des Computerspiels, dessen erfolgreiche Rezeption maßgeblich von der Beteiligung des Spielers abhängt. Wenn Zuschauer und Handlungsträger nämlich in eins fallen, ist es von immenser Bedeutung, wie sich die Interaktion mit dem Spiel anfühlt. Vor allem wird hier der Spielcharakter der Videospiele deutlich, das gameplay beinhaltet alle Regeln, des jeweiligen Computerspiels. Gleichzeitig rückt das gameplay das Computerspiel in die Nähe des Sports, denn es impliziert Fairness. Aussagen über die Welt »Die Computerspielindustrie gleicht einem schwarzen Loch: Sie saugt all das Geröll auf, das seit zwei Jahrtausenden durch die Kulturgeschichte fliegt, und spuckt es in digitalen Paralleluniversen wieder aus.« schreibt Andreas Rosenfelder in seinem jüngst erschienenen Buch »Digitale Paradiese«. Das ›Production Design‹ ist neben der Rahmenhandlung das Erste, was einem einfällt, wenn es darum geht, Videospiele auf Welthaltigkeit zu untersuchen. Vom Aussehen der Spielfigur über die Repräsentation irgendwelcher Waffen bis hin zu den Gebäuden, in denen die Handlung stattfindet, verweist alles auf sein Pendant in der Realität. Immerhin ist es ein Unterschied, ob man römische Legionen im Spiel »Rome: Total War« befehligt oder mit Horden von Zerklings gegen die Terraner im Science-Fiction-Spiel »Starcraft« zieht. Das historische Setting des erstgenannten Spiels mag zwar noch einen gewissen Rahmen vorgeben, trotzdem muss ab einem gewissen Grad mit der historischen Genauigkeit gebrochen werden, um das Spiel spielbar zu halten, und dies wirkt sich auch auf den look des Spiels aus. Mit »Starcraft« ist es dann schon nicht mehr so einfach. Das Design ergibt sich aus einem Konglomerat sämtlicher Science Fiction Motive, gepaart mit Staats- und Militärgefügen unterschiedlichster Epochen (auf die ja schon die Science-Fiction abhebt) und zusätzlich klaut es in der Benennung der unterschiedlichen Einheiten scheinbar wahllos Namen aus 70  zeichen

Wenn ein Horrorspiel wie »Resident Evil« den Charakter entweder rennen oder schießen lässt, steigert das nicht nur die Intensität der Begegnungen zwischen Spieler und Zombie, es impliziert obendrein auch noch einen Gemütszustand, ein emotionales Feld.

Und dann gibt es die Momente in denen ein Spiel zerbrochen wird. Wenn die Spieler eine Lücke in den Regeln (also im gameplay) finden und dort den Keil hineintreiben. »Es gibt Spiele oder Umgangsweisen mit Spielen, die aus akademischer Sicht besonders interessant sind«, sagt Christine Hanke, ebenfalls Herausgeberin von »Game Over!?« und Dozentin für Medienwissenschaft an der Uni Potsdam, »Trickjumping etwa wäre so eine medientheoretisch hoch interessante Verwendungsweise von Games, denn die Spieler nutzen diese gewissermaßen nicht regelkonform, sie enteignen sie – und dies scheint für eine wachsende Community der Trickjumper ähnlich interessant zu sein wie für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Computerspiel.« Ob man unter Ausnutzung kleiner Ungereimtheiten in der Steuerung eines Ego-Shooters durch die Levels fliegt (trickjumping), bösartige Drachen bei »World of Warcraft« in friedliebende Städte lockt (kiting) oder auch gerade Strecken in »Mario Kart« zickzackförmig fährt, um auf unwahrscheinliche Geschwindigkeiten zu kommen (snaking), es gibt eine Reihe von Dingen, die vom Hersteller nicht vorgesehen sind die man in einem Spiel machen kann. So werden die Spiele aus ihrem Kontext gerissen und in einen anderen hineinverpflanzt, Genregrenzen werden überschritten, denn schließlich führt der sicherste Weg der Welt in die Spiele über den Spieler. Momentan wächst die erste echte Generation von »ludischen Cyborgs« heran, wie sie Mark Butler in seinem Buch »Wold you like to play a game?« nennt. Für sie werden die Spiele keine Fremdkörper sein, eine Kindheit ohne Videospiele wird für sie ebenso undenkbar sein, wie für uns eine Kindheit ohne Fernsehen. Diese Generation wird keine zu erschließende Zielgruppe sein wie die berüchtigten grey gamers (also alte Leute, die man erst für die neuen Spiele begeistern muss). Schon jetzt kann man nicht mehr eindeutig sagen wie weit das kollektive Bewusstsein von den Spielen geprägt ist, inwieweit sich unsere Wahrnehmung von der Welt schon an den Videospielen orientiert. Es wird zwar noch eine Weile dauern bis an der Uni die ersten Seminare zum Frühwerk Hideo Kojimas angeboten oder die ersten »Deconstructing Mario«-Aufsätze erscheinen werden, aber wir sind auf dem Weg dahin. Das vollständige Interview, noch mehr zum Thema Videospiele und schöne Reviews auf www.goon-magazin.de

sämtlichen Mythen der Weltgeschichte. Dieses Patchwork ist typisch für Videospiele. Aber auch mit dem gameplay lassen sich Aussagen über die Welt treffen. Eine Aufbausimulation wie »Sim City« beispielsweise ist nämlich keine einfache Übersetzung der Städteplanung ins Computerspiel, sondern trifft eine Auswahl unter den in der Stadtplanung zu berücksichtigenden Faktoren und setzt damit Akzente auf bestimmte Aspekte, während es andere außer Acht lässt. Oder wenn ein Horrorspiel wie »Resident Evil« den Charakter entweder rennen oder schießen lässt, steigert das nicht nur die Intensität der Begegnungen zwischen Spieler und Zombie, es impliziert obendrein auch noch einen Gemütszustand, ein emotionales Feld. zeichen  71


VIDEOSPIEL SPEZIAL

WER WILL DAS LESEN? videoSPieljournaliSmuS zwischen

Web und Print, Punkten und Publishern, Selbsterfahrung und Aktualitätswahn text: zuzanna jakubowski

Der Spieljournalismus erlebt gerade eine Durststrecke. Nach der Einstellung der [ple:] im Juli 2006 verschwand ein Jahr später auch die deutsche Übersetzung der britischen Edge unangekündigt vom Markt. Nicht nur der traditionelle Kulturjournalismus leidet unter der Expansion der so genannten neuen Medien, leiden muss auch das keine 30 Jahre alte Genre des Videospieljournalismus. Durch seine Nähe zur Industrie scheinbar abgesichert, konkurriert diese Spezialdisziplin mit Webzines und Blogs um die Gunst der Leser und Gamer, und dabei immer auch: um die Aufmerksamkeit der Geldgeber. Die Überbebilderung von Magazinen mit screenshots kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihre ursprünglichen Aufgabenbereiche als Informationsquelle zu neuesten Entwicklungen eingebüßt haben: Das Web mit seinen multimedialen Möglichkeiten –Trailer, Videorezensionen, interaktive Foren – läuft ihnen in fast jedem Bereich, angefangen bei der Aktualität bis hin zum Kostenpunkt, den Rang ab. Allein schon aus schierem Überlebenswillen also müsste sich das Printmedium neu erfinden, neue Wege beschreiten, ganz banal: etwas ändern. In den Fallstricken der Kaufberatung Leider sind es gerade die unkonventionelleren Mags, die hier das Handtuch werfen mussten. Aber auch ihre natürlichen Feinde, die Onlinemagazine, können ins Trudeln geraten, wenn sie sich zu weit aus dem Fenster lehnen, wie jüngst ein Zusammenstoß von Kritik und Konzern zeigte: Was passiert mit der journalistischen Glaubwürdigkeit, wenn eine prominente amerikanische Website wie GameSpot, die durch kritische Berichterstattung über den Shooter »Kane & Lynch« beim Publisher Eidos in Ungnade gefallen war, keinen anderen Ausweg sieht als sich vom Übeltäter – dem Rezensenten, nicht etwa dem Konzern – zu trennen? Auch wenn GameSpot jeglichen Zusammenhang zwischen der – im business nicht ungewöhnlichen – Beschwerde des Publishers über die Bewer72  zeichen

tung ihres Produkts und der Entlassung des langjährigen Spieljournalisten Jeff Gerstmann bestreiten und das auch auf ihrer Seite scheinbar plausibel machen, so ist es längst kein Geschäftsgeheimnis mehr, dass die Hersteller von Videospielen Rezensionsexemplare und vor allem Anzeigengelder auch mal von Besprechungen und ihrem Tenor abhängig machen. Die kommerzielle Empfehlungsnatur des Videospieljournalismus macht’s möglich. Die konsumbestimmte Natur des Gaming macht den traditionellen Spieljournalismus zu einer recht konservativen Angelegenheit. Die durchschnittliche Rezension ordnet das Spiel nach Genre und Ähnlichkeit zu existierenden Spielen ein, bewertet die Aufmachung und den zu erwartenden kommerziellen Erfolg. Steuerung und Grafik stehen bei fast allen Bewertungen größerer Erscheinungen immer noch im Mittelpunkt, obwohl die sich ankündigende Normalisierung von wahnwitzigen NextGen-Grafiken ihnen schon bald Bedeutungslosigkeit verleihen wird. Die notorische Bewertung von Spielen nach einem in Einzelkategorien aufgedröselten Punktesystem überschattet jeden noch so differenzierten Text, erstickt jede überkontextuelle Kritik im Keim und degradiert Spieljournalismus zu Kaufberatung. And finally: The New Games Journalism In einem Anfall von zu gleichen Teilen Frustration und Euphorie verfasste der amerikanische Spielkritiker Kieron Gillen 2004 sein Manifest »The New Games Journalism«. Eine online verfügbare Streitschrift, die den Gaming-Journalismus auffordert, sich damit zu beschäftigen, warum wir überhaupt spielen und wie wir mit dem Spiel interagieren, anstatt Konsumanleitungen zu produzieren, die mit den demographischen Entwicklungen in der Spielergemeinschaft nichts mehr zu tun haben. Er fordert einen Spieljournalismus, der eher narrativ als methodisch vorgehen soll. »NGJ« – liebevoll nach dem Gonzo-Journalismus Tom Wolfes und Hunter S. Thompsons benannt – soll Videospiele von pubertären Klischees befreien und auf ein Niveau mit Popmusik und Film heben. Die Strategien hier sind ähnlich: subjektive und emotionale Berichter-

Artikel, die im Geiste des »NGJ« verfasst werden, versuchen die metaphorische und kontextuelle Bedeutung des Spiels in einem geöffneten Referenzrahmen für eine Leserschaft von erwachsenen Gamern und Popkulturinteressierten zu erschließen.

nen heraus zu reflektieren (so z.B. Ian Shanahans »Bow Nigger«, www.alwaysblack.com, 2004, und »Possessing Barbie«, britische PCGamer, 2004). Interessanter wird es, wenn die Komponente sozialer Interaktion entfällt und das Spiel allein in das Blickfeld rückt. Tim Rogers »Dreaming in an Empty Room« (www.insertcredit.com, 2002) zum Beispiel vergleicht »Metal Gear Solid 2« mit den Romanen Haruki Murakamis und hält dabei ein eindringliches Plädoyer für den postmodernen, den uneindeutigen, den unauflösbaren Charakter zeitgenössischer Erzählungen – in der Literatur wie im Spiel. »NGJ« findet zwar hauptsächlich noch auf Websites und in Blogs statt, aber Erleuchtung ist hierzulande und in Übersee auch einigen Print-Magazinen zuteil geworden: Man beginnt zu begreifen, dass Spieljournalismus mit den Spielern als Rezipienten und nicht nur mit den Spielen als bewert- und verkaufbaren Produkten zu tun hat und der Reflextion darüber Seiten zur Verfügung zu stellen. Magazine wie die britische Edge und die deutsche Gee bilden den Stoßtrupp am Kiosk, aber auch kleinere Indiemagazine wie die deutsche Retro und die amerikanische Gamersquarter ziehen mit Wii-mote und Federkiel in den Kampf gegen die üblichen Berufskrankheiten. Die Gee hat ihr Punktesystem sogar radikal abgeschafft, und die Edge, Vorreiter in Sachen gehaltvolle Artikel, ersetzt schon mal alle Wertungen durch Fragezeichen. Spiele ähneln nicht nur anderen Spielen Artikel, die im Geiste des »NGJ« verfasst werden, versuchen die metaphorische und kontextuelle Bedeutung des Spiels in einem geöffneten Referenzrahmen für eine Leserschaft von erwachsenen Gamern und Popkulturinteressierten zu erschließen. Dabei entsteht ein journalistischer Mehrwert, der tatsächlich in der Lage wäre dem multimedialen Potenzial von Webzines etwas entgegenzuhalten: journalistische Qualität. Ob nun feuilletonistisch die condition humaine beim Rezensieren mitbesprochen wird, oder Analogien zu anderen (pop)kulturellen Produkten hergestellt werden: Artikel über Videospiele müssen anfangen, ihren langjährigen Referenzrahmen zu durchbrechen. Leider bilden solche Texte immer noch die Ausnahme. Dabei könnten sie dem gebeutelten und erpressten Printjournalismus den rettenden Strohalm bieten. Zum Weiterlesen: Interviews mit Redakteuren von Gee, Retro und Gamers Quarter auf www.goon-magazin.de

stattung, die das »Ich« in den Vordergrund stellt, literarische Stilmittel und popkulturelle Referenzen en masse. Viele Beispiele solcher Artikel finden sich für MultiplayerRollenspiele (MMORPGS) oder grafische Chatrooms: Das inhärente narrative und dialogische Potential virtueller Begegnungen bietet sich an, um Implikationen von inzeichen  73


VIDEOSPIEL SPEZIAL

in diesen Welten gibt es kein Verweilen, es gibt nur headshots oder game over. Aber dies den Spielen anzukreiden hieße, ein wesentliches Merkmal jeder Kunst zu verkennen: Kunst ist immer eine Gegenbewegung, ihre bloße Existenz ein Statement gegen das Bestehende. Dabei ist es egal, dass die durchschnittliche Story eines Computerspiels meist unterirdischer ist als die eines beliebigen C-Movies – beim Geschichtenerzählen sind die Spiele, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch längst nicht angekommen, ein Computerspiel erzählt sich im Vollzug. Das beste Beispiel hierfür ist der Ego-Shooter. Optische Räume – die Schönheit in »Crysis«

ICH IST EIN ANDERER KÄMPFER Die virtuellen rÄume sind Schlachtfelder, durchmessen mit Pistole und Schwert text: dan gorenstein

Es heißt, die Welt werde immer kleiner, die weißen Flecken seien von den Karten getilgt. Dabei hat uns doch schon Zenon beigebracht, dass der gemessene Raum niemals kleiner wird, sondern stets nur größer. In den Falten der gestauchten Welt finden wir nicht nur Zenons in der Luft hängenden Pfeil, Hamlets berühmtes Nussschalenkönigreich oder Murakamis Zahnstocher der Unsterblichkeit, sondern auch Länder, Welten und ganze Galaxien zwischen Siliziumatomen. Wer in früheren Zeiten geneigt war, die skalierte Welt und ihre Tristesse zu verlassen, und sei es auch nur für ein paar Stunden, der vertiefte sich in die exotischen Paradiese der Romane oder klemmte seinen von der Realität verschlissenen Körper in die dunklen Grotten der Kinosäle. Diese Orte der geistigen Weggetretenheit sind unsere Rettung vor dem gekerbten und sich stetig weiter kerbenden und faltenden Raum. Es scheint so, als sei die 74  zeichen

Erzeugung dieser Fluchträume nichts weiter als eine Reaktion unseres geistigen Immunsystems: Je tiefer wir uns in die Erde bohren, je weiter wir sie aushöhlen, desto luftiger werden die Gegenfantasien. Digitale Opiumhöhlen und ihre brutalen Bewohner Mittlerweile gibt es neue Räume, die uns die Aufteilung und Vermessung der Welt beschert hat; die digitalen Opiumhöhlen des Computerzeitalters: die Videospiele. Archaische Schlachtfelder, auf denen sich Soldaten, Söldner und Killer herumtreiben. Der Raum im Computerspiel ist voller Widrigkeiten; es ist fast so, als würde sich in diesen Parallelwelten die Menschheitsgeschichte noch einmal vollziehen, als wären die Spieler und ihre Marionetten noch im Begriff, den Naturzustand zu überwinden. Die Bewegung im virtuellen Raum findet immer in Bezug auf Etwas statt; nur, wer sich am Leben erhält (und also andere tötet), sichert seine Existenz, sein Fortkommen. Denn

Von den Höllenkorridoren in »Doom« bis zum durchmilitarisierten Inselparadies von »Crysis« – der First-PersonShooter ist das Genre, das die grafischen und spielerischen Innovationen vorantreibt. Weil der Spieler geradezu hinter die Hornhaut seines Avatars implementiert ist und gleichzeitig in den Fluchtpunkt der Landschaft gezogen wird, anhand der ins Bild ragenden Waffe ins virtuelle Fleisch seines Gegners will, fordert das Genre immer mehr Realismus, mehr Tiefe und immer bessere Grafik von den Produzenten. Stück für Stück kriecht die Immersion immer tiefer in den Spieler hinein, der Raum vor dem Bildschirm soll in absolute Vergessenheit geraten. Die programmierten Paintballgelände umfassen ganze Städte; Inseln, angefüllt mit Mauern, Fahrzeugen und Telegrafenmasten, die allesamt vollkommen glaubwürdig mit dem Spieler interagieren. Also: zerstört werden können. Und während wir an berstenden Mauern vorbeihechten und hinter zerschossenen Autos Deckung suchen, schleicht sich etwas Unerwartetes auf die Kampfplätze: Schönheit. Plötzlich sind es nicht mehr die uns in den Wäldern auflauernden feindlichen Soldaten, denen wir die meiste Beachtung schenken, sondern der Wald selbst. Die Blatt für Blatt aufgebauten Baumkronen, das Moos auf den in der Gegend herumliegenden Findlingen, all das ringt uns ein Erstaunen ab, eine Genugtuung, die nur das Computerspiel uns geben kann. Die Tatsache, dass wir uns durch diese Landschaften bewegen können und dürfen, erfüllt uns mit Stolz. Es gibt Spiele, die mit solch einer grafischen Finesse ausgestattet sind, dass noch Jahre ins Land ziehen werden, bis man sie auf bezahlbaren Rechnern in voller Pracht wird spielen können. »Crysis«, zum Beispiel: Die laue Story und das für einen modernen Shooter typische gameplay werden völlig nebensächlich, wenn man von der schieren Erhabenheit der Landschaften durchströmt wird. Haptische Räume – Passanten und Kletterpartien in »Assassin’s Creed« Der Shooter ist generell durch den Blick bestimmt; Wände sind Deckung, der Horizont das Fadenkreuz, der Spieler und sein Avatar fallen in eins. Es gibt aber auch noch andere Räume im Computerspiel, die sich mit der Detailverliebtheit des Shooters das messen können. Solche, die

sich nicht nur durch ihre Zerstörbarkeit auszeichnen und die auch nicht mit dem Vektor einer Schusswaffe durchmessen werden: die Räume eines Action-Adventures. Das typische Tötungsinstrument dieses Genres ist nicht die Pistole, sondern das Schwert, und auch wenn das Ergebnis ein ähnliches ist – nämlich tote Polygonhaufen –, so ist doch der Weg dorthin ein gänzlich anderer. Schwerter implizieren Kontakt, sodass der erfolgreiche Kampf nicht mehr von Position und Distanz der Kontrahenten abhängt. In den Spielen dieses Genres ist der Avatar der Andere: Wir mögen ihm über die Schulter schauen, doch die Tatsache, dass wir ihn von außen betrachten, stört die Identifikation. Action-Adventures ziehen die vierte Wand des Zuschauens wieder hoch, ebenda, wo sie der Shooter eingerissen hat. Das beste Beispiel hierfür ist Ubisofts »Assassin’s Creed«: Wir schreiben das Jahr 1191, und der Assassine Altaïr durchstreift das Heilige Land auf der Suche nach seinen Zielen. Im Dickicht der Städte Damaskus, Akkon und Jerusalem sucht er nach Informationen, beschattet

Die Bewegung im virtuellen Raum findet immer in Bezug auf Etwas statt; nur, wer sich am Leben erhält (und also andere tötet), sichert seine Existenz, sein Fortkommen. seine zukünftigen Opfer und flüchtet nach ausgeführtem Auftrag über die Dächer. Die Städte sind gewaltig, überfüllt mit Bürgern und Wachen, Händlern und Handlangern. Der Mord kann nur dann verübt werden, wenn es Altaïr gelingt, sich unauffällig in den Fluss der Stadt zu integrieren, sich in die Menschenmassen zu schmiegen. Die Flucht gelingt nur demjenigen, der sich die Straßenverläufe der jeweiligen Stadt einprägt. Das Action-Adventure produziert Räume, in denen man sich an Wände drückt und in denen man jedes Steinchen kennen muss. Räume, in denen jeder Riss eine Stufe sein kann und jeder Passant ein Hindernis. Das Computerspiel erzeugt zweckgebundene, optische und haptische Räume, und wie in der materiellen Welt hängt auch in den Räumen der Spiele die ›Eroberung‹ an den Militärs. Doch die erschlossenen Räume werden schon bald von friedlicheren Bewohnern besiedelt werden, das Soziale wird Einzug halten in die virtuellen Welten, der Naturzustand wird überwunden werden. Dann wird auch eine virtuelle Wand nur eine Wand sein und der Passant der andere Spieler. Wir werden Schlange stehen nach virtuellen Waffenscheinen und in virtuellen Naherholungsgebieten gelangweilt ein paar Schüsse oder Schwerthiebe miteinander austauschen.

zeichen  75


VIDEOSPIEL SPEZIAL

WO IST NOCH PLATZ IM REGAL? Zum Verständnis und der Verortung von Computerspielen text: robert wenrich

Stetig sind die Absatzzahlen von Computerspielen in den letzten Jahren gestiegen, haben die der vermeintlich übermächtigen Filmindustrie schon längst überflügelt. Derart brummende Geschäfte erfordern eigentlich eine ebenso brummende intellektuelle Beschäftigung, nur bereitet den vielen Intellektuellen Probleme: Was sind und wo sind Spiele zu verorten? Gleichzeitig verlassen die jüngst erst eingezäunten und gerade verstandenen Filme, Serien und zuletzt sogar das tägliche Fernsehen ihre Domänen, und rücken über Tauschbörsen, Streaming-Angebote usw. als profane Dateien ebenfalls auf die Festplatten. Die feierlichen Tage der Bildheizung als Instanz des Wohnzimmers sind somit gezählt; unsichere Zeiten also.

Computerspiele verhalten sich zur Fließbildkunst wie das Drama zur Literatur; bilden mit ihrem narrativen und dramaturgischen Anteil eine darstellende Kunst. Dagegen helfen normalerweise erweiterte Blickwinkel und die Prägung neuer Begriffe. Filme und ähnliche »Bilderzählungen« sollte man vielleicht nicht so stark getrennt von den Spielen sehen, ähnlich sind sie ja. Zusätzlich zu den notwendigen erzählenden Elementen aber bieten Spiele dem Spieler noch ein dramaturgisches Potenzial an: Der Spieler entwickelt gemäß der Grundrisse der Designer und Programmierer je nach Freiheitsgrad seine mal kleine, mal große Rolle. Denkt man an die Literatur und das Verhältnis zwischen Prosa und Drama, könnte man vereinfacht Filme usw., also »Bilderzählungen«, und Computerspiele als Ausformungen des gleichen 76  zeichen

Mediums, eine »Flimmerkasten-« oder »Fließbildkunst«, verstehen. Als Merksatz: Computerspiele verhalten sich zur Fließbildkunst wie das Drama zur Literatur; bilden mit ihrem narrativen und dramaturgischen Anteil eine darstellende Kunst. Ein Wiedersehen mit Herrn Autor Mit der Narration und der dramaturgischen Auffrischung durch den Spieler tritt aber ein Problem in die Sache: Denn wo es um Narrationsplattformen geht, ist ein gewisser Herr Autor nicht fern. Den hat man im letzten Jahrhundert begraben – wohl etwas verfrüht. Die Autorentätigkeit ist aber allen virtual-reality-Unken zum Trotz noch immer vonnöten. Genau darin liegt auch ein Hauptgrund, warum die Computerspiele als Kunstobjekt nicht so stark ins Bewusstsein der Menschen eingetreten sind, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Zum einen sind sie Kinderkram! Das bildgewaltige Material und die rohe Fantasie, die seit den 1990ern auf unsere Hirne trifft, mag Omas und Menschen, die so sind wie Omas, verstören. Das ändert sich aber; die Industrie schläft nie und hat für jede Alters- und Sozialschicht mittlerweile maßgeschneiderte Digitaldramen entwickelt. Zum anderen, und das ist der angesprochene, viel wichtigere Punkt, ist die Autorenposition bisher eher schlecht als recht besetzt worden. Denkt man wieder an den Film und seine Anfänge, so waren es oft Grenzgänger, Maler, Fotografen, Bühnenregisseure, die grandiose Einzelleistungen vollbrachten. Erst langsam nahm deren Wirkkreis ab und der große Markt übernahm die Kunstproduktion (inklusive Nischenbildung). Heute gibt es ein je nach Sichtweise gesundes oder ungesundes Verhältnis von Industriestreifen und Kunstfilm. Bei den Spielen dagegen, wenn es am Anfang noch Autoren-Spiele gab, die von Reflexion und Fantasie zeugten, sieht

es schauerlich aus. Die frühe Vielfalt des hundertjährigen Films haben die Spiele selten aufgewiesen; natürlich ist das den technischen Anforderungen der Produktion geschuldet. Trotzdem sind viele Spiele schlecht und oft langweilig. Wer durch Guido Knopp und die Journaille vom Spiegel nicht schon vollkommen hitlerisiert ist, darf gerne den Panzer besteigen und Europa retten. Oder im Weltraum Großreiche züchten. Einschlägige Settings. Aber auch bei den Spielmechanismen selbst geschieht zu wenig. Konzepte wie »Thief« oder »Dune 2«, die ein neues Genre einführen, sind selten. Die existierenden Ausnahmen sind grandiose Fingerzeige, zu was diese junge Kunst überhaupt in der Lage wäre. Wie in jedem Kunstmetier werden zwar immer die gleichen Fabeln erzählt, nur werden im Film und auf der Bühne diese Fabeln eindeutig häufiger neu belebt und gedeutet. Im eher technokratischen Spiele-Biz geht es zu oft um Grafik und die Fortsetzung wirtschaftlich erfolgreicher Konzepte, zu selten glänzt die Autorenleistung. Heute sieht man Tendenzen, dass sich das ändern könnte. Neue Märkte, neue Spieler Und nicht nur das: Zum ersten Mal seit 20 Jahren verändert sich zudem die Spielerlandschaft. Alles Gesagte trifft nunmehr nur auf eine Sparte der Computerspiele zu. Denn was wir als Computerspiel identifizieren, wird zwar weiterhin das Spielerpublikum begeistern, wohl aber ein Randmarkt bleiben. Für diese Verrückten, die ihr normales Leben gerne auf Supermarkt und Sessel beschränken, gibt es alles bis zur Vollvernetzung mit einem Ganzkörperspiel z.B. »World of Warcraft«. Allen anderen, den Nichtspielern, stehen casual games ins Haus. Kurze, knackige, zielgruppenorientierte, eingängige Spiele; auf Basis von Flash, Shockwave oder Java beispielsweise;

also systemunabhängig, page-embedded, abgelöst von Zeit und Raum im Internet flottierend. Die über Werbetechniken, wo immer sie gespielt werden, den Firmen Geld in die Kassen spülen. Für »Starcraft 2«, einem major hit der nächsten Jahre, wird man in heiligem Ernst viele Nachmittage aufwenden müssen. Casual games verlangen nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, selbst die Omas oder sture Bürohengste werden eine Partie Dame spielen können. Verständlicherweise sind die wirtschaftlichen Prognosen glänzend. Das ursprüngliche Computerspiel wird dann jedoch noch klarer als heute als Kunstwerk beäugt werden können, als Spezialistentitel, der eine eigene Kritik mit eigener Historie benötigt. Gesucht sind also findige Archivare und leere Regale! Die Flucht auf die Bühne Die Flucht aus der Welt, als die Computerspiele oft und despektierlich abgetan werden, ist vielmehr eine Flucht auf die Bühne. Das Spielen ist eine Kunst des Machens. Bewegt wird im Spiel nur, was angefasst wird; insofern steht es auch in keiner Konkurrenz zu anderen »Zuschau«Künsten – Entwarnung für die Filmspießer! Spielt man, bekommt man nur selten die Schönheit und Geschlossenheit eines Spieldesigns mit, sei es Code oder Bild – aber setzt man sich nur dazu, verhält sich das Spiel wie ein Film. Auf einmal gelten andere Maßstäbe. Will man also Computerspiele wirklich begreifen, sollte man, anstatt große Reden aus der Position des Betrachters zu schwingen, eher die Nähe zur Dramentheorie, wenn nicht sogar zur Schauspieltheorie selbst suchen; auch Musiker-Innenwelten sind erwünscht. Denn neben allen technischen, kinematografischen Aspekten des Spiels, sind es vor allem die Mechanismen der Planung und Hingabe, die das Erlebnis und damit den Wert ausmachen.

zeichen  77


VIDEOSPIEL SPEZIAL

UND WENN ICH SAGE, SPRING … Was SuPer mario für Nintendo bedeutet, wofür er steht und warum wir über seine Persönlichkeit eigentlich nichts zu wissen brauchen text: bernd weintraub

Wenn es um Mario geht, darf Nintendo sich keine Fehler erlauben. Der etwas stämmige und trotzdem erstaunlich agile Klempner, der im Kopf seines Schöpfers Shigeru Miyamoto unter dem Namen Jumpman herangereift ist, steht wie kein anderes Firmenmaskottchen für den Erfolg

review und Misserfolg von Nintendo. Zu jeder Konsole gibt es das passende Mariospiel, so dass die Qualität des Spiels gleichzeitig auch eine Aussage über die Zukunft und Gegenwart der Konsole trifft. Gesunde Konsolen produzieren gesunde Mariospiele. Und in der harten Welt des Gamebusiness ist Innovation das Synonym für Gesundheit. »Super Mario 64« für das N64 hat das Jump’n’Run-Genre revolutioniert, während der GameCube-Nachfolger »Super Mario Sunshine« nichts dergleichen getan hat. Dementsprechend gilt der GameCube als schwachbrüstig. Mit der Wii hat Nintendo sich nun erneut neu erfunden, und mit »Super Mario Galaxy« erblickt rund ein Jahr nach dem Verkaufsstart der Konsole ein gesundes Mariospiel das Licht der Welt. Auf seinen absoluten Kern reduziert, ist jedes Mariospiel ein Manifest der Bewegung und der Freiheit. Schon »Super Mario Bros.« hat das Computerspiel aus dem Gefängnis des einzelnen Bildschirms befreit, und »Super Mario Bros. 3« hat mit der Linearität der Levels gebrochen. »It’s a-me, Mario!« Es ist schon erstaunlich, dass ein Charakter wie Mario dem Spieler überhaupt die Möglichkeit zur Identifikation bietet. Genau genommen ist er nämlich nichts weiter als ein ewiger MacGuffin, bloßer Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfe des Spielers in der Welt hinter dem Bildschirm. Denn eine Persönlichkeit scheint Mario nicht zu haben, und wohl deshalb wird er auch niemals müde, dem Spieler immer wieder seine Existenz ins Gedächtnis zu rufen: »It’s a-me, Mario!« Im Videospiel jedoch funktioniert Identifikation eben gerade nicht über Charakter, sondern über Kontrolle. Je unkomplizierter das Kontrollschema, desto problemloser kann sich der Spieler von der Außenwelt verabschieden und sich ganz dem Spiel hingeben. Wenn Videospiele überhaupt die Möglichkeit haben, eigenständige Aussagen zu treffen, dann tun sie dies in Form von gameplay oder mechanics. Die flüssigen Bewegungsabläufe von Mario sind sein Markenzeichen, und mit dem Sprung in die Dreidimensionalität kam die freie ›Kamera‹ dazu. Mit jedem neuen Mariospiel hat sich Marios Welt konstant erweitert. Die Herausforderung für die Entwickler bestand immer darin, die Unkompliziertheit der Mario’schen Bewegungsabläufe auf die sich erweiternde Welt zu applizieren. Die Tatsache, dass dies bei den meisten Mariospielen gelungen ist, macht Marios große Stärke aus. Mario ist in gewisser Weise Nintendos Qualitätssiegel: Wann immer er in einem Spiel auftaucht, steht er für eine einfache, durchdachte Steuerung, intuitives Leveldesign und vor allem die Freude am Spiel. Und es gibt neben dem Jump’n’Run noch unzählige Genres, die der Klempner mit seiner Präsenz beglückt hat: Rennspiele, fast jede gängige Sportart, Prügelspiele, you name it. »Super Mario Galaxy« jedenfalls ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Nintendo zu alter Form zurückgefunden hat, und dementsprechend darf die Wii auf eine strahlende Zukunft hoffen.

78  zeichen

klÖTZchen auf klÖTZchen »The Sims« auf Japanisch

fahren, fahren, fahren Der lange Weg um die Ecke. Nicht alles, was man besitzt, kann man auch beherrschen: Fahren lernen mit »Project Gotham Racing 4« text: dan gorenstein bild: microsoft game studios

Ab einem gewissen Punkt sind Autos nicht mehr Vehikel, sondern Spielsachen. Teure Geschwindigkeitsproduzenten, die man, wenn man sie sich denn überhaupt leisten kann, nur auf sehr wenigen Straßen dieser Welt tatsächlich ans Limit treiben kann. Doch zur Kompensation dieses Geld- und Platzproblems hat sich bereits mit Entwicklung der ersten grafikbasierenden Spiele das Genre der Rennspiele herausgebildet. Diese unterteilen sich grob in »Rennspiele, bei denen ich gewinne, weil ich besonders gut um die Kurve komme« und »Rennspiele, bei denen ich gewinne, weil ich den vor mir mit einer Rakete abschieße«. Simulations und funracer. Und obwohl man bei »Project Gotham Racing 4« kein Waffenarsenal zur Verfügung hat, versucht dieses Spiel, die Mitte zwischen den beiden Extremen zu finden. Je gewagter man bei angezogener Handbremse um die Kurven rutscht, desto mehr kudos. Man soll sich aus dem Fenster lehnen, die virtuelle Gefahrlosigkeit lieben lernen. Für den Rennspiellaien wird es zwar keinen Unterschied machen, denn der wird sich weiterhin mit lästigen Haarnadelkurven und verkeilten Lenkrädern rumplagen müssen. Wer aber über dieses Stadium hinauskommt, wird nicht mehr darauf verzichten können, mit einem Lamborghini Murciélago R-GT oder einer Kawasaki Ninja ZX-14 bei über 200 Stundenkilometern durch die Straßen von St. Petersburg oder New York zu heizen, dazu TV on the Radios »Wolf Like Me« aus den Boxen dröhnen zu lassen und mit jeder Kurve ein weiteres kleines Stückchen Strecke von seiner Bestzeit abzuschleifen.

text: zuzanna jakubowski bilder: ea

Es gibt viel zu tun, packen wir’s an: Häuser bauen, Bäume pflanzen, Möbel designen, Muster sammeln, Bewohner bespaßen – bis das heruntergekommene Städtchen wieder einem zufriedenen Pleasantville gleicht. Und im Gegensatz zu bisherigen »Sims«-Titeln ohne den üblichen Realismus, ohne Rechnungen, ohne Unkraut und ohne Tod. Ja, es ist ihnen diesmal schon äußerlich anzusehen: Kindlich, klein und rund wie H.G. Wells’ Eloi kommen sie daher, quietschen vor Vergnügen und klatschen in die Hände. Ihr Kauderwelsch (Simish) verträgt sich wunderbar mit dem Nintendo Sprachstamm – der schon so bezaubernde Sprachen wie die Lingua »Animal Crossing« – ein schnelles hintereinanderhermurmeln der einzelnen Buchstaben in verschiedenen Tonlagen, hervorgebracht hat. Die Wii-Variante von »My Sims« ist ein zuckersüßes Bauklötzchenparadies: Alles kann nach eigenen Wünschen selbst erschaffen werden, bemalt, eingerichtet. Alles? Zwar kann man seinen Avatar mit Kostümen und Accessoires und die dazugehörige Umgebung mit Requisiten und selbst zusammengesteckten Möbeln personalisieren, dennoch überschreitet das Spiel leider nie so recht die Grenze zu user generated content. Formen und Farben bleiben vorgeschrieben, auch wenn man außerhalb des Bauplans kreieren kann. Der fehlende Online-Modus verhindert, was beim Kulttitel »Animal Crossing« den Ansporn ausmacht: Andere Sims in ihren Städten besuchen und in der eigenen Stadt empfangen. EA hat hier versucht, den Playmobil-Charakter der Sims durch Lego zu ersetzen. Herausgekommen ist immerhin Duplo. »My Sims«, für Nintendo Wii und DS erhältlich (Electronic Arts)

»Project Gotham Racing 4«, für XboX 360 erhältlich (Microsoft Game Studios)

zeichen  79


review

genealogie der superhelden

Aufstieg und Fall in der Stadt New York

lÄufer von B4 ins geBirge

Über New York, die ewigen Dachkämpfe und vor allem die Teenage Mutant Ninja Turtles

»advanCe WarS: dark ConFliCt«.

Postapokalyptisches Schach für den Nintendo DS

text: mitja harloff bilder: nintendo

Fans von Strategie-Spielen lassen sich grob in zwei Lager unterteilen: Die einen präferieren Spiele, die ihre Komplexität aus einem einfachen Set an Regeln und dem Fehlen von Glück ziehen. Die berühmtesten Vertreter dieser Art Spiele sind Schach oder das in den letzten Jahren auch in unseren Breitengraden immer populärer werdende Go. Die anderen erfreuen sich an Spielen, die ihre Komplexität, nun ja, aus ihrer Komplexität gewinnen. Sie spielen War Games wie beispielsweise »Napoleonic Wars«, die bis hin zu der Berücksichtigung des Wetters eine immense Vielzahl an Variablen implementieren, letztendlich aber doch durch Würfelwürfe entschieden werden. »Advance Wars: Dark Conflict« für den Nintendo DS bewegt sich in einer angenehmen Mitte zwischen diesen beiden Polen. In einer postapokalyptischen Welt muss der Spieler seine Truppen auf dem Boden, in der Luft und zu See geschickt manövrieren, um Städte und Fabriken zu erobern und die gegnerischen Armeen besiegen zu können. Da das Spiel rundenbasiert ist, hat man genug Zeit, seine Züge optimal zu planen und auch das Glück spielt dabei keine Rolle: Die Einheiten treffen sich automatisch, nur der Schaden, den sie verursachen, hängt von einer Art komplexerem Schere-Stein-Papier-Mechanismus ab, den man aber schnell verinnerlicht. Neben dem obligatorischen Story-Modus sorgt gerade die Möglichkeit, mit bis zu drei weiteren Spielern über die kabellose Verbindung des DS oder das Netz spielen zu können für eine lang anhaltende Motivation. »Advance Wars: Dark Conflict«, für Nintendo DS erhältlich (Nintendo)

ÉTernuer Pour la liBerTÉ Papier & Buntstift statt Pixel & Polygon: Matt Hammills Independent-Game »GeSundHeit!« setzt auf Handarbeit text: jochen werner bild: matt hanmill

Pillenwerfende Freßmaschinen irren durch kaum goldfischglasgroße Labyrinthe, auf der Flucht vor den Gespenstern der Freiheit. Ein italienisch- und auch sonst eher stämmiger Klempner aus Brooklyn befreit eine Prinzessin aus den Fängen böser Schildkröten in einem Pilzkönigreich. Und nicht zuletzt: Langweilige Menschen spielen langweilige Leben in virtuellen Welten nach, die ihre eigene bis auf das letzte Pixel exakt zu kopieren suchen. Große Videospielklassiker basieren nicht selten auf einigermaßen merkwürdig anmutenden Ideen. Warum nicht einmal ein allergiekrankes Schwein, das per ›Niesen‹ und ›Weglaufen‹ fiese, rotzfressende Monster in bissige Fischfallen lockt? Das dachte sich wohl auch der kanadische Kunststudent Matt Hammill, der prompt zu Papier und Buntstiften griff, um diese grandios bekloppte Idee auf den Computerscreen zu bringen. Moment mal: Papier und Buntstifte? Richtig, denn das bis dato zwölf Level umfassende, als Demoversion kostenlos zu habende Spiel mit dem treffenden Titel »Gesundheit!« betrachtet nicht nur die aufwendigen Erzählweisen und hypergetunten High-Tech-Engines unserer Tage als überflüssigen Schnickschnack, sondern erkennt die Pixel und Polygone selbst, auf deren Basis die Gameswelt errichtet ist, als Irrweg. Alles hier ist handgezeichnet, liebevoll und unglaublich niedlich, und weil auch das knifflige und immer durchdachte gameplay nicht hinter der bezaubernden Ästhetik zurücksteht, schlägt »Gesundheit!« derzeit auch völlig zu Recht einigermaßen hohe Wellen in der Independent-Gameszene. »Gesundheit!« von Matt Hammill, als zwölf Level umfassende Demoversion kostenlos downloadbar. Eine kommerzielle Version des Spiels erscheint irgendwann, vielleicht auch nie. www.underwaterbase.com

80  zeichen

text: dan gorenstein bilder: eastman & laird

Old Shit, new Shit

Sobald man ground level New York verlässt, beginnen die Legenden. Diese Stadt ist Schauplatz und Produzent moderner Mythen, Heimat unzähliger Superhelden und letztlich selbst Fiktion. Pilgerort nie stattfindender Künstlerkarrieren, ein pulsierendes und waberndes Atlantis, Schmelztiegel der kollektiven westlichen Phantasien und Phantasmagorien. Anything goes in New York. Und gleichzeitig ist New York auch eine Stadt voller Ahnungsloser. Menschen, die tagein, tagaus durch ihre Straßen wandern und nie etwas anderes in ihrem Leben sehen werden als ihre Wohnung, das Büro und den Supermarkt. So will es der Comickodex. Das Außergewöhnliche findet auf Häuserdächern, in geheimen Labors oder in der Kanalisation statt, dort werden die Ahnungslosen verteidigt, die Kämpfe ausgetragen. Dort wird jedes Mal aufs Neue der status quo wiederhergestellt, während die Unwissenden nicht einmal gewahr wurden, dass er jemals in Gefahr war. Die Protagonisten verschwinden anschließend in der Nacht oder in der Kanalisation.

In ihren Anfängen aber – und der geneigte Comicleser weiß, dass die Anfänge fast immer das Wichtigste sind – waren die Turtles noch rau, die Zeichnungen noch ebenso kantig wie die des Vorbildes Miller. Es herrschte viel mehr Ruhe in den Comics, ganze Seiten waren mit Bewegungsabläufen gefüllt. Es gibt Fans der ersten Stunde, die diesen Turtles nachtrauern. Die meisten aber kennen die Schildkröten gar nicht so. Die kennen Rocksteady, Bebop und Frank Zander, Cowabunga und Bananenpizza. Doch inzwischen ist auch diese weitaus bekanntere Mutation in der Versenkung verschwunden. Es folgten weitere, bekannte und erfolglose; die endgültige Mutation aber steht noch aus, und so lange es New York gibt, werden sich in seinen geistigen Abwasserkanälen die Teenage Mutant Ninja Turtles herumtreiben.

Hinein, hindurch und darüber hinaus Die wohl bekanntesten New Yorker Ikonen des Verschwindens in der Kanalisation sind die Teenage Mutant Ninja Turtles. Vier mutierte Schildkröten, nach den größten Malern der Renaissance benannt, von ihrem Rattensensai Splinter in den arkanen Kampf- und Schleichkünsten Japans ausgebildet. Auf den Dächern New Yorks schwingen sie Katana, Sai, Bo und Nunchaku gegen alles, was sich der imaginativ beschleunigte Comiczeichnergeist am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts so ausdenken konnte und kann. Ursprünglich als one-shot Persiflage auf Frank Millers »Ronin« und den damit einsetzenden Samurai- und Ninjawahn der Amerikaner gedacht, haben die Turtles die beiden Spötter Kevin Eastman und Peter Laird in kürzester Zeit zu Millionären gemacht. Aufstieg und Niedergang der Turtles erfolgten dabei nahezu zeitgleich: Eastman und Laird fanden sich plötzlich als Verwalter eines millionenschweren Merchandise-Imperiums wieder, immer neue Zeichner und Texter wurden herangeholt, um die Comicserie am Laufen zu halten, Kinofilme produziert, Vanilla Ice für einen Turtlesrap angeheuert, eine Zeichentrickserie konzipiert und umgesetzt, die Turtles darüber immer kindgerechter gemacht – und was übrig blieb, ist die Erinnerung an einen Hype, für die meisten nicht mehr als ein Stück Kindheit. zeichen  81


kolumne text: robert wenrich

Goon t S o l r e v

Viel Spaß!

Wir haben es, Ihr bekommt es!

Die goon Magazin Verlosung für die Pause zwischen den Heften. WIE KOMME ICH DA RAN? schicke einfach eine email mit deinem Namen, Adresse und dem jeweiligen stichwort an tombola@goon-magazin.de

Wie schön war die Jugend: Wenn ich am Abend vom Rechner aufstand und Bilanz zog, waren grob gesagt: meist alle glücklich und befreit, einige wenige tot, und in den Schränken stapelten sich die Pokale. Meine Erzfeinde lagen am Boden; LeChuck hat es sogar zerrissen, mehrmals. Bowser ging es da ähnlich. Ich hatte alles besiegt, erobert, überwunden, gewonnen und erlegt, und noch bis zum Abendbrot hielt ich mich gleichermaßen für das Mastermind, den Topmanager und Übergeneral. Wenn dann beim Zähneputzen sich doch noch einer von diesen bunten Geistern hinterrücks anschlich, hab ich noch kurz ne Pille geschmissen und bald war alles wieder clean und bettfertig. Damals gab es soviel zu tun und zu soviel zu entdecken, in allen Ecken ein Geheimnis, und auf allen Wegen das Glück. Ja, das gebe ich zu: Ich war zufrieden, ein zufriedener König der Computerspiele: Playboy, der Erste. Das war damals. Allerdings muss ich irgendwie die Revolution verpennt haben – so wie Louis Seize – denn der feudale Prunk von einst ist, schau ich mich jetzt um, long gone. Als profaner Citoyen suche ich heute krampfhaft nach einem letzten warmen Plätzchen zwischen all den Supraleitern; einem Platz für meinen leider noch nicht überflüssigen Leib. Denn während man früher noch gemächlich Laufbahnen verfolgte oder den überschaubaren bürgerlichen Aufstieg vollzog, ist mir als Mensch am Rechner heute alles nur ein trister Steinbruch. Allerorten hack ich blöde rum, setz da an und dort ab, muss mich hier nur kurz befleißen und mich dessen bemächtigen, gerade dies Projekt anschieben, das andere abbremsen, jenes nur überwachen und das da auf jeden Fall ignorieren, um am Ende nur nirgendwo zu viel gebraucht zu werden, aber immer wieder überall alarmiert einspringen zu können, sobald Not am Mann wäre. Wohl bin ich älter dabei geworden, erwachsen leider nicht. Ich spiele noch immer den ganzen Tag, ob im Bü82  kolumne

ro oder Café; nur hechte ich nicht mehr von Plattform zu Plattform. Im Alter wird man wählerischer, und als Bürger spießiger. Nur ein einziges serious game blieb mir auf der Platte, das ich spiele Tag und Nacht: Das MMORPG des Westens, die Karriere. Ein ideosynkratischer Genremix zwischen Selbstdisziplin und Massensog, in dem ich einen mächtigen Avatar, klug und hübsch, wie ich selbst nicht bin, wohl aber sein will, durch einen magischen Wald voller Möglichkeiten steuere. Fast wäre es wie damals, als Achtjähriger vor dem Rechner im schokoladenbeschmierten Schlafanzug, nur dass ich anstelle der einst so geliebten Elfenarmeen heute mit consulting.doc und PHP_todo.doc in die Pitchschlacht ziehe. Und wenn ich eben noch Rohstoffketten bei den »Siedlern« analysierte, werte ich jetzt Konzeptpapiere und Investmentpläne aus; den Unterschied und Wechsel muss man wahrscheinlich akademisch beleuchten! In ruhigen Stunden erkläre ich mir das alles so: Das spekulative Zeitalter, darin wir leben, macht aus mir Nutzer meine eigene Selbstanlage mit karger Profitaussicht. Punkt. Wenn sich um vier Uhr in der Frühe immer noch kein mot juste gefunden hat, an dem der Intendant geradezu anbeißen muss, oder wenn ich webdesignend noch den letzten Feind anrufe, ob der sich nicht mit Photoshop auskennt, weiß ich, dass ich schon längst nicht mehr vor, sondern im Kasten sitze. Ein Blick ins Emailsilo genügt. Als Opfer der Kettenbriefe, süchtig nach Erektionsmitteln und bildungsfernen Frauen aus Osteuropa, kurz vor dem Abschluss eines Millionendeals, hoffnungslos in die Freiheit verliebt und dennoch halbtags gebückt vor einem Klapprechner, in der Sitzposition »Manchester«, stehe ich – wie es in Gedichten heißt: Traum der Früheren – vor meiner eigenen Karriere, mit meiner geilen Karrieremaschine und spiele, so viel Pathos sei verziehen, wahrscheinlich bis zum großen game over, das Spiel mit dem dunklen Krokodil. Wenn das so ist, wünsche ich einstweilen allen in ähnlicher Lage: Viel Spaß!

Naketano Jaki t-shirt (gr. s) | naketano

»Lieblingsteil« Koen Mortier Ex Drummer

Autechre Quaristice

dvd | legend films

»Give the drummer some«

cd | warp records

»Fraktal-Acid«

Benjamin Wolberg Urban Illustration Berlin

Douglas Sirk Douglas Sirk Collection 3 dvd box | koch media

»Melodramie«

buch | gingko press

Lee Tae-Jun & Kim Dong-Seong Wann kommt Mama

»Angemalt und aufgeklebt«

roman | nord-südverlag zürich

»Nicht die Mama«

Die Gewinner werden ausgelost und von uns benachrichtigt. Mehrfache Einsendungen gelten nicht, jeder Mitspieler kann sich nur auf ein Verlosungsexemplar bewerben.



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.