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Drei-Generationen-Reise nach Billed
Heide Kallert
Ein lang gehegter Plan konnte im Sommer 2022 ausgeführt werden: die Drei-Generationen-Reise nach Billed. Der Wunsch war von den Enkeln, damals 15 und 13 Jahre alt, ausgegangen. Nachdem sie im Sommer 2019 mit ihren Eltern zum ersten Mal in Billed waren, stand für sie fest: Wir möchten wieder dorthin; dann sollen Oma und Opa Schütz dabei sein, sollen uns zeigen und erzählen, wie und wo sie in Billed aufgewachsen sind, wie ihre Familien und sie selbst dort gelebt haben.
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Nach zwei Jahren Pandemie erschien es uns allen als etwas sehr Besonderes, als neun Mitglieder der Familie sich – aus verschiedenen Gegenden Deutschlands mit der Bahn durch Österreich und Ungarn angereist – in den letzten Juli-Tagen 2022 in Temesvar zusammenfanden. Vier Tage verbrachten wir in dieser Stadt, die sich darauf vorbereitet, 2023 Europäische Kulturhauptstadt zu werden, anschließend reisten wir für drei Tage nach Billed.
Jede der neun Personen wird die Tage ein wenig anders erlebt und unterschiedliche Eindrücke mitgenommen haben. Das wird verständlich, wenn mit bedacht wird, was die Einzelnen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Ort Billed verbindet. Die Großeltern, die bei ihrer Ausreise erwachsen waren und eine eigene Familie gegründet hatten, freuten sich über den Wunsch der Enkel, doch erfüllte sie ein wenig skeptische Erwartung, was sie würden zeigen können; wieviel von dem, das ihre Eltern und ihre Vorfahren geschaffen haben, noch wieder zu erkennen ist und was sich wie verändert hat. Ihre Tochter und ihr Sohn hatten in einem prägenden frühen Alter mehrere Jahre in Billed gelebt, waren nach einer Grundschulzeit in Temesvar mit den Eltern ausgereist und im Westen Deutschlands erwachsen geworden; sie waren gespannt, welche Erinnerungen lebendig werden; der Ehemann der Tochter, ohne biographischen Bezug zum Banat, aber seit vielen Jahren eingelebt in die Familie und ihre Geschichte, nahm intensiven Anteil daran. Die Enkel, zwei jugendliche Kinder der Tochter und ihr etwas jüngerer Cousin, näherten sich offen und neugierig allem, was sie über das Leben ihrer Großeltern und ihrer Eltern in diesem fremden Land erfahren. Die Mit-Großmutter und Autorin dieses Textes hatte zwei Motive, an der Reise teilzunehmen: Ich kam mit Kindheitsbildern aus ländlicher Gegend „Westpreußens“, heute in Polen gelegen, und der Flucht am Ende des 2. Weltkriegs, ich kannte das Verlassen einer Kindheitsheimat; vor allem hatte ich den intensiven Wunsch, jetzt Billed kennen zu lernen, nachdem ich in 25 Jahren (seit dem Beginn der Verbindung unserer Familien) viel von diesem Ort und vom Banat gehört und „Schwowisch“ zu verstehen gelernt habe.
Monate vor der Reise waren die Gästezimmer im Billeder Heimathaus von Roswitha und Adam Csonti gebucht worden, dort fanden wir alle angenehme Unterkunft. Der Ort für unsere Mahlzeiten und lange Gespräche war die gemütliche, schattige Laube im Garten. Von dort brachen wir meist dreimal am Tag – vormittags, nachmittags und abends – je nach Lust und Befinden in unterschiedlicher Zusammensetzung zu langen Spaziergängen durch den Ort auf; einen Nachmittag verbrachten wir in der Aus-
Begegnungen stellung zur Geschichte im Heimathaus. Eher langsamen Schrittes, weil überall Erinnerungen wach wurden, mitgeteilt und aufgenommen werden wollten, durchwanderten wir die Straßen, die in gleichmäßigem Schachbrettmuster den Ort ganz gerade von Ost nach West und von Nord nach Süd durchziehen, so wie sie zu Zeiten der Besiedlung im 18. Jahrhundert geplant wurden. Die Straßen sind gesäumt von Obstbäumen, die willkommenen Schatten boten; die Mirabellen waren voll reif, lagen am Boden, daneben viele noch nicht ganz reife Pflaumen. Nur ein Bruchteil davon werde heutzutage geerntet und verarbeitet.
Bei den Häusern, in denen die Großeltern als Kinder oder nahe Verwandte früher lebten, blieben wir lange stehen und schauten, was von außen zu erkennen war; angesichts der wirklichen Orte und durch die ausführlichen Erzählungen wurden Arbeit und Wirtschaften der Erwachsenen, frühe Mitarbeit der einstigen Kinder, auch Spiel und kindliche Streiche, die nicht selten empfindliche Strafen nach sich zogen, lebendig. Manchmal gab es wegen der langen Zeit, die inzwischen vergangen ist, unterschiedliche Meinungen, wer von den Bekannten und Verwandten wo gewohnt und was sich dort genau zugetragen hatte. Auf mich wirkte der Ort an diesen sonnigen, heißen Sommertagen freundlich, auch wenn manche Häuser verfallen sind und viele Anwesen nur ahnen lassen, mit wieviel Sorgfalt sie einst gepflegt und mit schmiedeeisernen Toren und Zäunen geschmückt waren. Die Kirchen, einige - nicht alle - Schulen und das Kulturhaus stehen noch am selben Ort, auch von dem dort Erlebten gibt es viel zu erzählen. Die Enkel und auch ich waren beeindruckt, wie fließend sich die Großeltern mit manchen der heutigen Hauseigentümer in deren Sprache unterhalten konnten; das hatten sie in der Schule und im Beruf gelernt, aber in den Jahren in Deutschland seither kaum nutzen können. Die meist jungen Besitzer gaben bereitwillig Auskunft, wie und mit welchen Baustoffen sie die Häuser in viel Eigenarbeit modernisieren wollen. Nur wenige Menschen im Ort leben ganz von der eigenen Landwirtschaft, einen der Höfe mit großen Feldern und vielen Tieren durften wir uns von innen ansehen.
Die Sprachkenntnisse der Großeltern waren besonders wichtig, als Kontakt mit dem Billeder Gesundheitswesen nötig wurde, denn ein Mitglied unserer „Reisegruppe“ litt mehrere Tage lang unter immer quälenderer schmerzhafter Verstopfung. Billed hat einen ärztlichen Notdienst, der nachts und bis morgens früh um 8 Uhr erreichbar ist und aufgesucht werden kann. Die Ärztin gab beruhigende Auskunft, das Leiden könne am Klima- und Ernährungswechsel liegen, komme bei Besuchern Rumäniens öfter vor, müsse aber unbedingt behandelt werden; sie verschrieb Medikamente, die in den Apotheken des Ortes dank der erwähnten Sprachkenntnisse nach mehreren Besuchen zu bekommen waren und die das Übel zum Glück bis zum nächsten Tag zum Verschwinden brachten.
Soweit es ihre Zeit erlaubte, setzten sich Adam und Rowitha Csonti zu uns in die Laube, berichteten über das Leben und die Lebensverhältnisse im heutigen Billed. Der soziale Dienst „Essen auf Rädern“ bestimmt jeden Vormittag; zwei Mitarbeiterinnen aus dem Ort kochen mit Roswitha 40 Mahlzeiten, die dann in mit Namen beschrifteten „Henkelmännern“ mit dem Fahrrad zu bedürftigen alten Menschen gebracht werden, wobei zugleich das Gefäß vom Vortag abgeholt und mit zurück-
gebracht wird – ein gut funktionierendes und für die Betroffenen sehr hilfreiches System.
Als wir vor der Rückreise nach Temeswar eine Stunde am Bahnhof in Billed verbrachten, weil für unseren Zug eine längere Verspätung angesagt war, konnten wir einen Wirtschaftsbetrieb, der wahrscheinlich Arbeitsplätze für Menschen aus Billed bietet, bei der Arbeit beobachten. Zu dem Betrieb gehören hoch aufragende Silos, wie sie zahlreich in der Umgebung zu sehen sind; hier stehen sie nah bei den Gleisen. Ein Güterzug wurde mittels einer großen Schütte mit Getreide aus einem der Silos beladen. Unsere Wartezeit wurde angenehm und ein wenig erheiternd unterbrochen, als wir bemerkten, dass ungefähr alle fünf Minuten der Lokomotivführer den Zug um eine Wagenlänge vorwärtsbewegte, um den nächsten leeren Wagen in die richtige Position zu bringen, so dass wieder eine Portion Getreide niederprasseln konnte. Erst im Rückblick wurde uns ganz bewusst, welche Voraussetzungen diese Reise mit ihren aufwändigen Vorbereitungen und dem schwierigen Zeitmanagement bei allen Beteiligten ermöglicht hatten: Jedem und jeder einzelnen lag viel daran, die frühere Heimat der Großeltern und Eltern wiederzusehen oder neu kennenzulernen und sich mit der Geschichte und dem Wandel von Billed und dem Banat auseinanderzusetzen; wir wussten aber auch, dass das Zeitfenster für dieses Unternehmen wegen des Alters der Enkel und der Großeltern begrenzt ist. Eine Reisegruppe in dieser Zusammensetzung wurde möglich durch den engen Zusammenhalt, der diese wie viele Familien der Banater Schwaben auszeichnet, in dem sie sich nicht abschließen, sondern sich für hinzukommende Mitglieder und für andere Sicht- und Lebensweisen, vor allem der jüngeren Generationen, öffnen. Erfüllt von wieder erweckten Erinnerungen und neuen Eindrücken verließen wir Billed; das gemeinsam Erlebte hat uns enger verbunden und wird lange nachwirken.