Greenpeace Switzerland Magazin 2/2011 DE

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— Rainbow ­Warrior III steht vor dem ersten Einsatz  S. 48 g reen peace MEMBER 20 11, Nr. 2

Dossier: Energiewende  ab S. 10 Biobaumwolle aus Indien und Afrika S. 40 Sojaproduktion zerstört Regenwälder S. 44 Das Jahr des Waldes S. 28, 38, 54


Editorial — Mit der Katastrophe von Fukushima hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Die Welt ist dabei, eine andere zu werden nach diesem 3/11 für die Atomkraft. Bei Redaktionsschluss Mitte April wird die Ökologie gerade neu erfunden. Dieser Elan soll andauern, fordern wir – und machen unser Greenpeace-Magazin neu. Sie halten die erste Ausgabe dieser neuen Zeit in den Händen. Der Umweltschutz ist auch ohne japanische Kernschmelze im Umbruch, sogar im satten ehemaligen Pionierland Schweiz. Der Gedanke der Ökologie verbreitet sich rasant. Grün wird zu einer dominanten Farbe in der so trendsen­ siblen Werbung – und wie grün sind all die Blätter, die einer nachhaltigen Lebensweise auf ihren Seiten immer mehr Platz einräumen. Greenpeace bleibt natürlich grün. Und werbefrei. Nicht nur die Ökologie, auch die Kommunikation wird umgekrempelt. Im Internet entstehen Bewegungen. Auch Greenpeace informiert, inspiriert, mobilisiert über alle digitalen Kanäle. Zugleich erwacht der Wunsch nach Distanz und Reflexion. Nach einem Heft, das man lange mit sich herumtragen kann. Es will sich queren Gedanken und fremden Blickwinkeln öffnen. Auch deshalb soll unser Magazin kontroverser werden. Im vorliegenden Heft spielt die Wirtschaft eine grosse Rolle. Wir geben Menschen das Wort, die mit Umweltschutz Geld verdienen wollen, wie Urs Studer, Rabtherm-Gründer, der eine Abwasser-Wärmetauschtechnologie entwickelte. Aber wir spüren auch dem Begriff der Verantwortung nach, wie Susan Boos in ihrem Essay. Bei der vorletzten grossen Katastrophe, der Ölpest nach der Explosion der «Deepwater Horizon», zeigte sich noch deutlich, wie Ökonomie und Ökologie an verschiedenen Stricken zogen. Die Klimadebatte leidet unter diesem Antagonismus. Die Bedrohlichkeit von Fukushima wirkt da ganz anders: Die Fronten brechen auf, und im Gegensatz zu Tschernobyl vor 25 Jahren sind Forschung und Wirtschaft so weit, Wege in eine erneuerbare Zukunft zu zeigen. Wir freuen uns, genau in diesem Moment mit einem neuen Magazin aufzuwarten und die Reflexion offen und unab­ hängig mitzugestalten. Neue Autoren sind zu uns gestossen. Und die Grafiker der Agentur Hubertus haben unseren ­Inhalten eine aufregende Form gegeben. Nun hoffen wir, dass nicht Katastrophen, sondern Ideen in Zukunft die Inhalte bestimmen werden. Die Redaktion


In Aktion

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Greenpeace geht WeltWeit aufs Ganze

Atomaufsicht — Die ­organisierte Nachsicht

Dossier: Energiewende

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WOZ-Chefredaktorin Susan Boos verdeutlicht in einem Essay, wie die Atomaufsichtsbehörde mit Ihrer Verantwortung umgeht

Pioniere für die Umwelt

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Ökostrom hat die Nase vorn

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Die dritte Chance der Schweiz

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Biobaumwolle-Produzent Hohmann: ethik und Business sind kein Widerspruch

Dieses Schiff ist ein Sonderling

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Der Weg von der Idee zum Produkt: Drei zukunftsweisende ­Unternehmer im Dienst der Energieeffizienz Eine Behauptung, die nur stimmt, wenn für alle Anbieter die ­gleichen Regeln gelten

Inhalt

Kampagnenleiter Kaspar Schuler über zwei verpasste ­Gelegenheiten zur Abkehr von der Atomenergie Interview

RW III

2011 — Jahr des Waldes Die Bäume und wir Lorenzo Pellegrini – Ein Leben im Wald Greenpeace stoppt Holzschlag in Finnland

Foto-Essay Fliessendes Gift in China

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Landwirtschaft «Haguhans aus Brasilien, das ist doch absurd»

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Die Karte In Kürze Interview mit der «Sonnenfrau» Öko-Rätsel

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Impressum Greenpeace Member 2/2011 Herausgeberin/Redaktionsadresse Greenpeace Schweiz Heinrichstrasse 147, Postfach, 8031 Zürich Telefon 044 447 41 41, Fax 044 447 41 99 www.greenpeace.ch — Postkonto 80-6222-8 Redaktionsteam: Tanja Keller (Leitung), Matthias Wyssmann, Jonas Scheu, Roland Falk Gestaltung: Hubertus Design Druck: Swissprinters, St. Gallen Papier Umschlag: Rebello Recycling matt 150 gm 2 Papier Inhalt: Ultralux semigloss UWS 70 gm 2 Druckauflage: d 128 500, f 22 000 Erscheinungsweise: viermal jährlich Das Magazin Greenpeace geht an alle ­M itglieder ­( Jahresbeitrag ab Fr. 72.–). Es kann Meinungen enthalten, die nicht mit offiziellen Greenpeace-­Positionen ­übereinstimmen. Cover: © Oliver Tjaden / Greenpeace

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Die Dreckschleuder muss weg Greenpeace-Aktivisten fordern mit ­einem riesigen Transparent die Schliessung des Kohlekraftwerks im Hafen von Bridgeport (USA), das jährlich eine Million Tonnen Kohlendioxid freisetzt. Altlast

F o t o : © G r een p eac e



Beklemmendes Spektakel Vor dem 25. Tschernobyl-Gedenktag simulieren brasilianische Greenpeace-Aktivisten einen GAU und fordern die Nationale Bank fĂźr wirtschafliche und soziale Entwicklung auf, keine neuen AKW mehr zu finanzieren. Tschernobyl-Gedenktag

F o t o : Š I vo G o n za l ez / G r e e np e ac e



Keine Scheu vor kalten Güssen In bewegter See hängt ein Greenpeace-Aktivist an der ­Ankerkette eines tai­wanesischen Fischtrawlers. Die Behörden sollen so aufgefordert werden, Firmen zu überprüfen, die gegen Fangbestimmungen verstossen. Zitterpartie

F o t o : © Pau l H i l t o n / G r ee np e ac e


Widerstand mit friedlichen Mitteln Greenpeace-Aktivisten ketten sich trotz grosser Polizeipräsenz an Bahngeleise, um einen Castor-Transport mit 1100 Tonnen radioaktivem Material zu stoppen, der vom franzÜsischen La Hague ins deutsche Gorleben unterwegs ist. Staatsmacht


Foto: Š Martin S t o r z / G r een p eac e


Atomaufsicht — Die o ­ rganisierte ­Nachsicht

Energiewende

Von Susan Boos* Hans Wanner war ein unbekannter Mann. Dann kam der 11. März, die Erde bebte in Japan, ein Tsunami überrollte Fukushima und liess die Welt zusehen, wie ein Atomkraftwerk ausser Kontrolle gerät. Wanner ist Direktor des Eid­ genössischen Nuklearsicherheitsinspektorates (Ensi). Man könnte diese Institution auch als AKW-Polizei der Schweiz bezeichnen – früher hiess sie Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen HSK. Hans Wanner trägt dabei ­eine Verantwortung, über die er in letzter Konsequenz lieber nicht nachdenken möchte. Die Schweiz ist nicht Fukushima, ein Super-GAU kann hier nicht passieren, lässt Wanner immer wieder verlauten, und vermutlich glaubt er das auch. Wenn nicht, müsste er sich ja vorstellen, was geschehen müsste, wenn Mühleberg ausser Kontrolle geriete und Bern zu evakuieren wäre. In den letzten Jahren hat sich kaum jemand fürs Ensi interessiert. Es ging vor allem um die geplanten neuen Reaktoren, und diesbezüglich verlief die Debatte schwammig und ruhig. Die alten Meiler waren so gut wie vergessen. Es ist die Aufgabe des Ensi, auch sie im Auge zu behalten. Doch das Ensi benimmt sich nicht wie die Polizei, sondern wie eine nachsichtige Mutter, die mit viel Geduld ihre widerspenstigen Zöglinge zu erziehen versucht. In Japan ging es offensichtlich nicht anders zu. Inzwischen ist bekannt, dass das Energie­ unternehmen Tepco, das Fukushima betreibt, den dortigen Aufsichtsbehörden noch kurz vor dem Erdbeben frisierte Unterlagen geschickt hatte. Wichtige Tests bezüglich Notstromgeneratoren oder Notpumpen hatte Tepco gar nicht durchgeführt. Die Aufsichtsbehörden intervenierten und baten Tepco, bis im Juni einen neuen Bericht abzuliefern – das war zu viel Geduld. Fukushima ist gleich gebaut wie Mühleberg und etwa gleich alt. Was der Tsunami in Japan war, könnte hierzulande der Wohlensee sein: Auch da droht eine Flutwelle das AKW zu überschwemmen, wenn nach einem Erdbeben der Damm brechen sollte. Zudem weist Mühleberg Risse im Kernmantel auf. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Hans Wanner windet sich, wenn er zu er­ klären versucht, warum Mühleberg nicht sofort vom Netz muss. Er sagte in einem Interview: «Für eine sofortige Abschaltung braucht es ­eine akute Gefahr.» Das haben sich die Atomaufsichtsbehörden in Japan vermutlich auch gesagt. Das Ensi führt eine lange Mängelliste, die alle AKW betrifft. Und immer wieder räumt das Ensi den Betreibern grosszügige Fristen ein, um die Mängel zu beheben. An Mühleberg lässt sich das gut illustrieren – obwohl es bei Beznau vermutlich nicht besser ausschaut. Aber in Mühleberg gibt es eine Handvoll Leute, die sich seit Jahren beharrlich gegen das AKW wehren und enorm viel wissen über den Altreaktor. Fassungslos waren die Mühleberg-Gegner­ Innen, als das AKW kurz vor Weihnachten 2009 vom Departement für Umwelt, Verkehr, ­Energie und Kommunikation (Uvek) eine «unbe­fristete Betriebsbewilligung» erhielt. Die atomkritische Organisation Fokus Anti-Atom warnte damals: «Gut möglich, dass bei einem heftigen Erdbeben die Kühlleitungen abreissen, der Kernmantel nicht dicht hält, die Brenn­ stäbe ­freigelegt werden und es zur gefürchteten Kernschmelze kommt.» Damals war zu lesen: «Dann geschähe, was sich niemand vorstellen will: ein Super-GAU. Bis zu drei Millionen ­Menschen müssten ein neues Zuhause suchen.» Vor einem Jahr glaubten viele, das sei ein überzeichnetes Schreckensszenario. Die Atomaufsichtsbehörde wusste es schon lange besser. Sie schrieb 2007 in einer Stel­ lungnahme: «Das im Rahmen der Nachweise für den Langzeitbetrieb vom KKM [Kernkraftwerk Mühleberg] eingereichte und hier bewertete Konzept der Klammervorrichtung kann von der HSK nicht als endgültige Instandsetzung des Kernmantels anerkannt werden.» Sie formulierte auch ihre Forderungen, fügte dann aber an: «Das Kernkraftwerk Mühleberg hat der HSK bis am 31. Dezember 2010 ein überarbeitetes ­Instandhaltungskonzept für den rissbehafteten Kernmantel einzureichen.»

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Fo to: Š Greenp eac e

Atomaufsicht


Energiewende

Bis heute ist nichts geschehen, obwohl das Ensi seit vier Jahren weiss, wie heikel die Geschichte ist. Die Behörde hat extra in Deutschland ein Gutachten zu dieser Angelegenheit in Auftrag gegeben. Dieses blieb aber unter Verschluss. Die Mühleberg-GegnerInnen mussten sich das Recht erklagen, einen Blick hinein­ werfen zu dürfen. Es wurde ihnen aber gerichtlich verboten, aus dem Gutachten zu zitieren. Inzwischen sind die wesentlichen Punkte trotzdem publik geworden. Die Gutachter halten die Risse und die Zuganker, mit denen der Kernmantel angeblich geflickt wurde, für höchst ­problematisch. Das Ökoinstitut Darmstadt hat das Gutachten inzwischen auch gelesen und ­befindet: «Zusammenfassend ist es unverständlich, weshalb HSK/Ensi den Betrieb des KKM trotz der eindeutig negativen Bewertung der Zugankerkonstruktion durch den TÜV weiterhin zulässt.» Das Ensi ignoriert also das eigene Gutachten, um das AKW nicht abstellen zu müssen. Das Uvek hätte es in der Hand, einzuschreiten. Doch das Departement schiebt seine Verantwortung seit je gern ans Ensi ab. Dieses hat all die Jahre nie ernsthaft interveniert – wie soll es nun plötzlich einen Kurswechsel rechtfertigen? Woher soll es den Mut nehmen, den AKWBetreibern zu befehlen: Abstellen, sichern und erst dann weiterfahren!? Jeder Polizist würde das bei einem Velofahrer tun, dessen Bremsen nicht funktionieren. Doch in der Atomwelt regiert Nachsicht: Weil keine «akute Gefahr» ­besteht, dreht man sich weiter fröhlich im Kreis und schiebt die Verantwortung reihum weiter. Die AKW-Betreiber und die HSK/Ensi-Leute haben schon lange miteinander zu tun. Man kennt sich und weiss, dass die andern ordentlich arbeiten. Früher sassen mehrere HSK-Leute im Nuklearforum, wie die Lobbyorganisation der Atomwirtschaft heisst. Seit die Mitgliederliste an die Öffentlichkeit gelangt ist, sind offiziell keine HSK/Ensi-Leute mehr beim Nuklearforum gemeldet. Das Problem ist aber nicht behoben: Die Ensi-Geschäftsleitung wird vom Ensi-Rat angestellt. Der Rat amtet als Aufsichtsgremium des Nuklearinspektorats und wird von Peter Hufschmied präsidiert. Hufschmied ist ein tüchtiger Mann und geschäftet erfolgreich mit den BKW. Sein Tropenhaus in Frutigen, ein Erlebnispark im Berner Oberland, lässt er sich von der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) sponsern. Die BKW betreiben Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

das AKW Mühleberg und die Nagra wird ebenfalls vom Ensi überwacht. Zudem sitzt HorstMichael Prasser im Ensi-Rat, dessen Lehrstuhl an der Universität Zürich von den Schweizer AKW-Betreibern finanziert wird. Das alles ist illegal, denn im Ensi-Gesetz steht unmissverständlich: «Die Mitglieder des Ensi-Rates dürfen weder eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben noch ein eidgenössisches oder kantonales Amt bekleiden, welche geeignet sind, ihre Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.» Der Bundesrat müsste intervenieren. Er hätte zudem die Leute gar nicht einstellen dürfen, denn er wählt die Mitglieder des Rates. Womit das Problem offenkundig wird: Bundesrätin ­Doris Leuthard, heute fürs Uvek zuständig, war früher auch Mitglied des Nuklearforums und gilt als Gefolgsfrau der Atomwirtschaft. Der Klüngel ist kaum durchschaubar, auch die Lobby im Parlament ist eklatant: 98 von 246 ParlamentarierInnen sind Mitglieder der Aktion für eine vernünftige Energiepolitik (Aves), die sich für die AKW-Industrie stark macht. Economiesuisse spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle. Urs Rellstab, der bis vor Kurzem beim Wirtschaftsdachverband für die Energiekampagne zuständig war, hat zur PR-Firma Burson-Marsteller gewechselt, wo die Geschäftsstelle des Nuklearforums unter­ge­bracht ist und mit viel Geld eine mächtige AKW-PR-Maschine betrieben wird. Im Economie­suisse-Vorstand sitzen Kurt Rohrbach, Chef der BKW (AKW Mühleberg), sowie Heinz Karrer, Chef der Axpo (AKW Beznau I/II). Das ist der Filz und die Macht, gegen die das Ensi antreten müsste, wenn es den Mut hätte. Was tun? In Deutschland zum Beispiel ist die Aufsicht über die AKW weniger zentralistisch ­organisiert. Die Behörden lassen AKW-­Gut­ achten systematisch von unabhängigen Insti­ tutionen verfassen. So konkurrenzieren sich TÜV Nord, TÜV Süd oder das Ökoinstitut. Das ­Resultat: Klarere, schärfere Gutachten. Und vor allem: Weniger Kungelei, eine offenere Debatte, mehr Sicherheit. Das bringt am Ende eine ­Anti-AKW-Bewegung hervor, die sehr gut informiert, stark und erfolgreich ist. * Redaktorin WOZ, Die Wochenzeitung

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Clevere ­Unternehmer und ihre ­ Erfindungen

Pioniere für die Umwelt

Die Innovation entsteht an der Peripherie Die Energieversorgung der Zukunft ist nicht nur ­erneuerbar — sie ist auch dezentral. Strom und Wärme sollen dort produziert werden, wo sie ­gebraucht werden. Zehntausend Solardächer statt ein Grosskraftwerk! Ob neue Technologien zur Nutzung der Abwärme in den Kanalisationen oder der Fliesskraft unserer Bäche — ein Blick in die Landschaft der Energiepioniere zeigt: Die wirkliche ­Innovation setzt auf den Endverbraucher, auf übersichtliche Kollektive wie Firmen und Wohnbau­ genossenschaften, allenfalls auf Gemeinden und ­regionale Netzwerke. Das wirtschaftliche und ­ökologische Potenzial entfaltet sich dann, wenn diese genialischen Erfindungen im Provinzformat in grosser Zahl zur Anwendung kommen. Darauf hoffen unzählige KMU und Tüftler. Immer wieder fehlt es ihnen aber an Investi­ tionen. Das Geld fliesst strudelfreier in gigantische Energieprojekte — lesen Sie dazu unseren Artikel auf Seite 18. Da lassen sich fette Innovationspakete schnüren. Die Energieriesen bleiben ihren Geschäftsmodellen treu und kontrollieren die gros­­ sen Linien der Versorgung, die «Strom­highways». Sie verdienen an den gewaltigen Energiemengen, die sie — dem höheren Preis folgend — hin und her leiten. Ihnen ist nicht an dezentralen Konzepten gelegen. Es heisst, in Sachen Ökotechnologie sei die Schweiz von der Spitze ins Feld zurückgefallen. Das Land spielt im Energiecasino lieber die Karte der Gross- und Pumpspeicherkraftwerke — und wird in Sachen Erneuerbare zur Provinz. Aber die wahre Innovation passiert an der Peripherie. In­ sofern hat der Halbschatten der Provinz auch seine Vorteile. Es wird nun aber Zeit, den Tüftlern — ­einige von ihnen haben wir in diesem Heft port­ rätiert — Geld zu geben, damit sie wirklich loslegen können. Von den klassischen Geldgebern ist wohl nichts zu erwarten. Aber die Hoffnung ist berechtigt, dass statt wenigen grossen viele kleine ­Investoren eines neuen Typs künftig den Ton ­angeben. Bekanntlich folgten auf die Dinosaurier kleinere, agilere Lebensformen. –red.

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Von Therese Marty Fotos von Nicolas Fojtu

Nie aufhören zu denken. Schritt für Schritt voran­ gehen. Den Glauben nicht verlieren. Das sind drei ­Credos von Unternehmern, die im Dienst der Energie­ effizienz viel Zeit, Energie und Geld investieren. Greenpeace hat die Erfinder ­besucht und erfahren: Der Weg von der Idee bis zum Produkt ist lang und ­bedeutet Knochenarbeit. Eine Abwasserleitung in Winterthur Wülflingen. Eng und dreckig ist es in der Kanalisation. Trotz­ dem steigen regelmässig Besucher durchs enge Loch, um sich in der Unterwelt umzusehen. Grund des Interesses: Das durchschnittlich 25 Grad warme Abwasser der nahen Überbau­ ungen wird durch den Einsatz von Wärmetauschern als Energiequelle genutzt. Die gewonnene Wärme wird in die Häuser zurückgeführt, umweltfreundlich und effizient. 1996 wurden in Zürich die ersten Wärmetauscher in die Ka­ nalisation eingebaut. Mittlerweile sind 42 solche Anlagen in Betrieb und 300 weitere in Bearbeitung – in 18 Ländern Europas, zudem in Nordamerika und Asien. Das bedeutet den Durchbruch für die Rabtherm genannte Technologie, die sich für Industrie- wie Wohnbauten ab 16 Wohnungen eignet und in ökonomischer wie ökologischer Hinsicht überzeugt.

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Energiewende

Die Entwicklung kostete Zeit. Vor 20 Jahren war es, als Urs Studer auf dem Heimweg in ­Zürich Höngg vor einem der dampfenden Gullys stehenblieb. «Das sind ja wahre Kraftwerke da unten», notierte sich der Maschineningenieur ­auf einem Notizblock, den er stets bei sich trägt, um Geistesblitze festhalten zu können. Die Idee, Abwasserwärme zu nutzen, liess den Inhaber eines erfolgreichen Ingenieurbüros nicht mehr los. Denn Studers Devise lautet: «Wenn ich ­einen Einfall habe, heisst das, dass ich ihn auch umsetzen kann.» So einfach war das jedoch nicht damals, als Öl noch billig und Energieeffizienz kein dring­ liches Thema war. «Die ersten zehn Jahre kam ich nur schleppend voran und investierte sehr viel Zeit, Energie und Geld», sagt Studer – nicht klagend, sondern mit leuchtenden Augen, Feuer und Enthusiasmus versprühend. Wie kann die Wärme genutzt werden? Lohnt sich das überhaupt? Welche Materialien eignen sich? Wem gehört das Abwasser? Wo finde ich meine Kunden? Unzählige Dinge gab es zu bedenken, zu bereden, zu berechnen, zu klären. Um sich der Verwirklichung seiner Idee voll und ganz widmen zu können, verkaufte Studer sein Ingenieurbüro und nahm das Unverständnis von Kol­ legen sowie kritische Bemerkungen und finan­­­­ zielle Einbussen in Kauf. Rückhalt gab ihm seine Ehefrau. «Sie hat stets an mich geglaubt, sonst hätte ich das nicht geschafft.» In den USA hat Studer viel gelernt Am Ende hat es funktioniert. Und weil Studer einer ist, der immer weiterdenkt und sich unaufhörlich Fragen stellt, wurde das mittlerweile patentierte Rabtherm-System immer besser und effizienter. Kam der Tüftler bei einem Thema nicht weiter, suchte er ungeniert Hilfe bei anderen. «Es gibt immer jemanden, der etwas weiss, das mir nützen kann», hat ihn die Er­ fahrung gelehrt. Und heute, mit dem Internet, sei es einfach, Knowhow zusammenzutragen. Dank neuen, innovativen Lösungen wurde die Leistungsfähigkeit des Rabtherm-Systems um über 40 Prozent erhöht. Studer fand beispielsweise heraus, wie die Wärmeleistung durch die Verhinderung des Biofilms auf dem Wasser um über 30 Prozent erhöht werden kann. Und er veranlasste den weltgrössten Stahlhersteller Arcelor-Mittal zur Entwicklung eines Chromstahls mit 80 Prozent verbesserter Wärmeleit­ Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

fähigkeit. Dank ständiger Verbesserung rechnet sich eine Anlage nun bereits nach zwei bis fünf Jahren – die Lebensdauer der Wärmetauscher beträgt 50, jene des Gesamtsystems 25 Jahre. Studer ist keiner, der sich nach solchen Erfolgen zurücklehnt. Unermüdlich ist er mit den Unterlagen von Rabtherm im Gepäck und innovativen Lösungen im Kopf auf dem Globus ­unterwegs, sucht neue Projekte, besucht Kunden, spricht mit Produzenten, diskutiert mit Experten. Das Resultat seiner Aktivitäten manifestiert sich in Stapeln akribisch geordneter Mäppchen, die sich auf und um den Schreibtisch türmen. Mittendrin erinnert ein Wimpel mit Sternenbanner an die Zeit, als der junge Maschineningenieur in den USA arbeitete, bevor er Entwicklungsleiter bei Luwa und Konzernleitungsmitglied bei Sulzer wurde. In den Staaten habe er sich wohl gefühlt und viel gelernt. Als Projektleiter für technische Systeme der Apollo-Weltraumkapseln war er von Wissenschaftlern und Pionieren umgeben und schätzte es, dass «permanent Neues erfunden und realisiert wurde». Aus Amerika kennt er die Theorie, dass jeder Mensch im Leben drei Chancen erhalte. Studer liess die erste sausen: «Vor vielen Jahren entwickelte ich ein Kapselsystem für Kaffee­ maschinen. Wer weiss, was wäre, wenn ich das weiterverfolgt hätte …» Die zweite Chance packte er: Sein Rabtherm-System hat Erfolg. Bleibt Nummer drei. «Es braucht viel Durchhaltevermögen, um eine neue Idee umzusetzen», sinniert Studer und spricht von den Hürden, die insbesondere bei alternativen Projekten überwunden werden müssen. «Es gibt aber noch viel Potenzial, um zumindest einen Teil des Bedarfs aus erneuerbaren Energien zu gewinnen.» Ob er selber eine neue Idee verfolgt? «Wer weiss», schmunzelt er – spruchreif sei die Sache noch nicht. So viel aber verrät er: «Sie hat mit Energieeffizienz zu tun.» Drei Männer, viel Knowhow, eine Passion Eingebettet zwischen den Flumserbergen und den Churfirsten richten sich hoch über dem Boden wie transparente Flügel wirkende Sonnensegel dem Licht entgegen. 320 Solarpanels sind, gestützt durch Seilbahnmasten, beweglich an zwei Seilen montiert. Eine solche Tragseilkonstruktion ist einzigartig. Die am 1. März 2010 in Betrieb genommene Fotovoltaikanlage liefert pro Jahr 90 000 Kilowattstunden Strom, was

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Foto : © Green peac e / Foj tu

Pioniere für die Umwelt Hanspeter Ackermann, R ­ oland Bartholet, Arthur Buechel (v.l.): Das Trio ist die treibende Kraft der F ­ irma Solar Wings AG.


toren zu suchen – doch da kam uns die Finanzkrise dazwischen.» Das bedeutet, dass Solar Wings noch Geld für den Geschäftsaufbau sucht. Ganz ohne Unterstützung standen die drei Partner jedoch nicht da. Im St. Galler Rheintal kennt man sich und arbeitet zusammen. Die Firma Flumroc, die ebenfalls auf erneuerbare Energien setzt, liess auf ihrem Logistikareal die eingangs beschriebene Anlage bauen. Und ein den Bedarf von 30 Haushalten deckt. Nach der vierter Mann kam ins Spiel: Hanspeter Ackerfür dieses Jahr geplanten Erweiterung werden mann, Geschäftsführer der Flumroc-Tochter jährlich 135 000 Kilowattstunden produziert. Pamag Engineering, tüftelte, rechnete und konSo wird auf dem Lagergelände des Stein­ struierte. Er leistete seinen Beitrag dazu, dass wol­leproduzenten Flumroc in Flums erfolgreich die Anlage – optimal montiert, verstrebt und ausumgesetzt, was findige Köpfe erdacht haben. gerichtet – über den blauen Paketstapeln mit Drei Spezialisten sind es, die zur Weiterentwick- Flumroc-Dämmstoffen wertvollen Solarstrom lung und Vermarktung ihrer Erfindung – des produziert. «Problemlos und weitgehend war­seilbasierten Montagesystems – die Firma Solar tungsfrei», wie Ackermann betont. Wings AG gegründet haben: Franz Baum­ «Strom soll möglichst da produziert werden, gartner, Professor für Alternativenergie an der wo er gebraucht wird», lautet die Philosophie Zürcher Hochschule für Angewandte Wissender drei Besitzer von Solar Wings. Mit ihren Foto­ schaften (ZHAW) in Winterthur, der Liechtenvoltaikanlagen wollen sie dazu beitragen. Dass steiner Arthur Buechel, Elektroingenieur mit dies mit der bewährten, robusten und leicht rückMBA, sowie Roland Bartholet, Verwaltungsrats- baubaren Seilbahntechnologie gelingen wird, präsident des gleichnamigen Flumser Maschidavon sind die Pioniere überzeugt. «Ein entscheinenbauunternehmens mit über 50-jähriger Seil- dender Vorteil ist, dass man bei unserem Sysbahntradition. tem die Fläche unter der Anlage für andere ZweDrei Männer, viel Knowhow, eine Passion: cke nutzen kann», sagt Buechel. Ein weiterer die Fotovoltaik. «Das ist eine faszinierende Pluspunkt ist der vergleichsweise geringe MateTechnologie mit nur einem Nachteil: Sie ist noch rialeinsatz. «Wir rechnen damit, dass unsere relativ teuer», erklärt Buechel. Denn während ­Anlagen insbesondere in Wohn- und Indus­ Kosten und Effizienz der Solarmodule laufend triegebieten zum Einsatz kommen werden – sei optimiert worden sind, habe man die Lösungen dies für Parkplätze oder Lagerflächen.» Also für die Montage vernachlässigt. So werden dort, wo die Energie benötigt wird. ­«insbesondere in Solarparks Montagesysteme Die Möglichkeit, einen nachhaltigen Beitrag eingesetzt, die sehr viel Material wie Aluminifür die Umwelt zu leisten, ist für Buechel «ein um, Beton oder Stahl erfordern und entsprewunderbares Gefühl». Für die Solarenergie chend teuer sind». Und um die Solarmodule sieht er grosses Potenzial. Entscheidend sei, die nach dem Sonnenstand auszurichten, würden ­Kosten in den Griff zu bekommen. «Da gibt es zahlreiche Antriebseinheiten benötigt, «was noch einiges zu tun, zumal vor allem die Speinebst Kosten zusätzlichen Wartungsaufwand chertechnik noch nicht befriedigend ist.» Das sei mit sich bringt». aber eine Frage der Zeit, denn: «Es gibt viele Buechel, Baumgartner und Bartholet waverheissungsvolle Lösungsansätze, die man jetzt ren überzeugt: «Hier kann man mit Technologie vorantreiben muss. Man sollte einfach jenen und Innovation sehr schnell sehr viel ändern.» Leuten, die Lösungen präsentieren, mehr Gehör Nach den ersten Sitzungen im Jahr 2007 ging es schenken als solchen, die immer nur über Pro­ zügig voran. Auf den Prototyp im Frühling 2008 bleme sprechen.» Als erfahrener Unternehmer folgte im Dezember das erste Versuchsprojekt weiss der Liechtensteiner, was es braucht, um in Deutschland und im Februar 2010 die Anlage mit unkonventionellen Ideen und Produkten in Flums. Nur: So ganz nach Drehbuch lief es erfolgreich zu sein: «Der Weg besteht aus vielen nicht. Buechel: «Geplant war, nach der Realisiekleinen Schritten – so kommt man langsam, rung des ersten Projekts zunächst nach Inves­ aber sicher zum Ziel.»

Energiewende

«Es gibt viele verheissungsvolle Lösungs­­­an­sätze, die man jetzt ­voran­treiben muss»

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f o t o s : © G r een peac e / F o j t u

Pioniere für die Umwelt

Urs Studer: «Es braucht viel Durchhaltevermögen, um eine neue Idee umzusetzen»

Turbinen mit hohem Wirkungsgrad Einer, der noch auf den Durchbruch wartet, ist Hasan Isik, von Beruf Erfinder. Der Türke in der Ostschweiz hat in seinem Leben schon einiges patentieren lassen – eine Zahnbürste mit Licht etwa. Oder ein Toilettenbelüftungssystem, das 90 Prozent Energie einspart. Die Spezialität des Autodidakten jedoch sind Turbinen. Dass Isik etwas davon versteht, wird offensichtlich, wenn er abwechselnd zeichnend und gestikulierend seine jüngste Erfindung erklärt. «Es h ­ andelt sich um eine Turbine zur Energie­gewinnung in Fliessgewässern, die an unterschiedliche Einsatz­ bedingungen angepasst werden kann und einen vergleichsweise hohen Wirkungsgrad ermöglicht.» Dieser werde erreicht, «weil die einzelnen Schaufeln am Turbinenrad gelenkig an­ geordnet sind, was die Reibung und damit den Energieverlust verringert.» Akribisch erklärt der 44-Jährige, wie und weshalb aufblasbare Elemente die Effizienz der Turbine erhöhen und welche individuellen Lösungen möglich sind. «Eine gute Idee», das habe man ihm überall bestätigt, wo er mit seiner Erfindung vorstellig geworden sei. Bei der ETH wie der Zürcher Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur, beim Energiedepartement seines Wohnkantons wie bei weiteren Fachstellen hat der Findige um Unterstützung angefragt – und sie in fachlicher Hinsicht auch erhalten. «Forscher und Spezialisten zeigten sich von meiner Erfindung überzeugt.» Isiks Turbine ist zum Patent angemeldet. Was noch fehlt, ist ein Prototyp, damit die nötigen Messungen gemacht werden können. Doch um einen solchen herzustellen, fehlt dem mittellosen Erfinder das Geld. Unermüdlich kämpft der Tüftler aus Istanbul für die Realisierung seiner Idee. Er, der vor fünf Jahren eigens seiner Turbine wegen in die flussreiche Schweiz gekommen ist, hat sich das einfacher vorgestellt. Kein Geld und (noch) ­keine Investoren, die gewillt sind, seiner Turbine eine Chance zu geben – etwas zermürbend sei das schon, sagt Isik. Nichts hindere ihn aber daran, weiter an sich zu glauben und sein Projekt weiterzuentwickeln. «Wissen Sie», sagt er und tippt an seine Stirn, «es hört nicht auf zu denken hier drin. Nie.»

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Ökostrom hat die Nase vorn — wenn für alle die gleichen Regeln gelten Von Marc Gusewski

Energiewende

Die gesetzliche Ausgestaltung der Schweizer Stromver­ sorgung begünstigt ­ein­seitig die Strom­mono­pol­isten. In dieser Situation sind unabhängige Ökostrom­produzenten und Energie­pioniere auf sich selbst ­ange­wiesen — ­ und die ­dezentrale Energiewende bleibt in weiter Ferne. Wie Mahnfinger recken sich die vier bis zu 92 Meter hohen Hardau-Hochhäuser in Zürich in den Himmel. Wer den Zürcher Hauptbahnhof ansteuert, kennt die Bauten. Es ist die grösste Wohnsiedlung der Stadt und ihr grösster Energieverbraucher nach dem Stadtspital Triemli. Seit 1990 sorgen zwei hocheffiziente, dezentrale Kleinkraftwerke für Strom und Wärme – sie sollen, vorgeblich aus Altersgründen, demontiert werden. Statt­des­sen plant der Stadtrat eine vergleichsweise klimafreundliche, aber dennoch Strom fressende Grosswärmepumpe. Die Situation ist symptomatisch: Rein rechnerisch würde durch die gleichzeitige Ausnutzung von Erdgas für Strom und Wärme, wie in der Hardau, schweizweit mehr Elektri­zität erzeugt, als das Atomkraftwerk Leibstadt abgibt. Stattdessen stagniert der Anteil der so genannten Wärmekraftkopplung, wie sie bisher in der Hardau genutzt wurde. Die Signale von der dezentralen Energieprojekt-Front sind durchzogen: In Sachen Energieeffizienz verharren wir gemäss der im März veröffentlichten WKK-Statistik 2009 des Bundesamts für Energie seit Ende der 90er Jahre auf gleichem Niveau. Nur in Kehrichtverbrennungsanlagen wurde mehr Strom erzeugt. In Sachen erneuerbare Energien (Sonne, Wind, Bio­masse) werden im Vergleich zu 1990 rund 850 Millionen Kilowattstunden Strom zusätzlich erzeugt: die Hälfte dessen, was etwa die Stadt Basel pro Jahr benötigt. Das scheint viel, ist aber wenig: In der gleichen Zeit nahm der Landesverbrauch um das Zwölffache bzw. um rund 10 Milliarden Kilowattstunden zu. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Nach der Atomkatastrophe in Fukushima liegt der Fokus der energiepolitischen Diskussion von Bundesrat, Bundesämtern und Politik auf grossen Gaskraftwerken. Tauchen irgendwo dezentrale Lösungen auf? Fehlan­zeige, auch in der bundesrätlichen «Vier-Säulen-Politik» von 2007: Energieeffizienz, Erneuer­bare, Grosskraftwerke und Energieaussenpolitik, worunter der Bundesrat auch die Beschaffung von Erdgas versteht. Die aktuellen Stromtarife sind verzerrt «Trotz teilweise richtigen Schritten des Bundes fehlt es an fairen Rahmenbedingungen für die Wirtschaftlichkeit der umweltfreundlichen Stromerzeugung und für Energieeffizienz», sagt Andreas Appenzeller, Geschäftsleiter der in Liestal niedergelassenen Ökostrom-Pionierin ADEV Energiegenossenschaft. Mit den Finanzen klappte es dagegen: «Am Geld kann es nicht liegen, es wäre eigentlich genug da.» Die ADEV ist einer der wenigen landesweit agierenden unabhängigen Ökostromerzeuger. 1985 wurde sie vom Ökozentrum Langenbruck, von Energieplanern und Energiepolitikern gegründet. Sie betreibt dezentral Kleinkraftwerke in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich. Rund 15 Millionen Franken Eigenkapital wurden im Publikum platziert. Erzeugt werden etwa 14 Millionen Kilowattstunden Ökostrom im Wert von rund 4 Millionen Franken pro Jahr. Ein Problem für Investoren ist der aktuelle Marktpreis für Strom, der die Ausschüttungs­ höhe der so genannten Kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) mitbestimmt, die es seit 2009 gibt. Wenn der Strompreis sinkt, fällt die


Ökostrom

Entschädigung für Ökostrom gering aus. Im schlimmsten Fall muss der Betreiber mit einem Loch in der Kasse rechnen. Unter Beobachtern ist klar, dass die aktuellen Tarife verzerrt sind. Zum einen haben die Verbraucher in den letzten 10 bis 15 Jahren für – vorsichtig geschätzt – 8 bis 10 Milliarden Schweizer Franken Investitionen der Elektrizitätsbranche über den Strompreis unfreiwillig vorzeitig abbezahlt («vergoldete Staumauern»), darunter auch das Atomkraftwerk Leibstadt. Der Effekt: Diese produzieren so billig wie nie. Zusätzlich haben die Stromversorger in der gleichen Zeitperiode 15 bis 20 Milliarden Franken an stillen Reserven angelegt. Damit finanzieren die Altmonopolisten neue Projekte. Diese Situation hat es noch nie gegeben, dass eine Generation Stromverbraucher gleichzeitig für die zu teuren Kraftwerke der Vergangenheit bezahlt, für ihren aktuellen Betrieb und für die künftigen Investitionen. Darauf machen etwa die industriellen Grossverbraucher in der Schweiz aufmerksam, die seit langem in ihren Augen ungerechtfertigt hohe Stromtarife bekämpfen, sowie der Schweizerische Gewerbeverband. Entscheidend ist, dass für alle gleiche Spielregeln gelten. Die Erfahrungen der Stromgenossenschaft Greenpeace Energy in Hamburg, die sich den offenen deutschen Strommarkt zur Förderung der erneuerbaren dezentralen Energie zunutze macht, bestätigen dies. So sagt Martin Schaefer, ihr Pressesprecher: «Es geht aufwärts, seit die Politik die Rahmenbedingungen für alle Akteure gleich gesetzt hat.» Gemäss einer Studie von Mitte April sind «Wind und Wasser schon heute billiger als Kohle und Atom». Das Schweizer Stromversorgungsgesetz (StromVG) von 2009 begünstigt durchwegs die Teilmonopolisten und die grossen Elektrizitätserzeuger – indem die Kantone den bisherigen Inhabern wettbewerbsfrei Stromnetzgebiete und Nutzungskonzessionen zuschanzen, indem nur Kraftwerkbesitzer die Grundkosten für den Netzbetrieb auf ihre Käufer abwälzen können, und indem die Verteilkosten fast beliebig aufgeblasen werden können und der eidgenössische Strommarktregulator nur in krassen Fällen eingreifen darf. Andreas Appenzeller von der ­Liestaler ADEV Energiegenossenschaft: «Gegen die Grossen hätten wir nur eine Chance, wenn für alle die gleichen Spielregeln gelten würMagazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

den.» Berechnungen der ADEV ­zeigen, dass unter fairen Bedingungen ein regelrechter Boom für unabhängige Ökostroman­bieter einsetzen müsste. Politik versagt bei der Energiewende Rolf Wüstenhagen vom Institut für Wirtschaft und Ökologie an der Hochschule St. Gallen unterstützt die Vermutungen der ADEV, warum es die kleinen Umweltfreundlichen gegen die grossen Riskanten so schwer haben. Wenn Energieversorger Kraftwerkprojekte vergleichen, würden als Massstab oft die Gesteh­ ungskosten als Renditemass gewählt: «Hier der vermeintlich günstige Strom aus Atomkraft und Kohle, dort die ‹teuren› erneuerbaren Energien.» Das heisst, die Akzente in der Energie­­­ politik müssen in Zukunft neu gesetzt werden. Wie, darauf gibt eine im letzten Jahr im Auftrag von Greenpeace, Energie-Stiftung, WWF, Pro Natura sowie von den Kantonen Basel-Stadt, Genf und dem Berner Energieversorger EWB vorgelegte Studie Auskunft («Stromeffizienz und erneuerbare Energien – wirtschaftliche Alternativen zu Grosskraftwerken»). Unterm Strich wird das Versagen der Politik für die Verhinderung der Energiewende verantwortlich gemacht. «Der Kern einer Strategie zur Förderung von Stromeffizienz und erneuerbaren Energien sind eine Stromlenkungsabgabe, die die Konkurrenzfähigkeit von Stromeffizienz und erneuerbaren Energien so weit erhöht, dass diese Ansätze am Markt den Durchbruch schaffen.» An diesem Punkt scheitern seit Jahrzehnten alle politischen Vorstösse in Richtung Energiewende. Dass der Bundesrat letzten Dezember das Strommonopol für die bisherigen Inhaber um ein weiteres Jahr verlängerte und weitere Verlängerungen in Aussicht stellte, kann nur eins bedeuten: Hocheffiziente Wärmekraftkopplungen wie in Zürich-Hardau ­werden abgerissen und mehr Wärmepumpen installiert. Energiepioniere und Ökostrom­ erzeuger haben nur geringe Chancen, mit den etablierten Anbietern zu konkurrieren. Dabei hat die auf erneuerbare Energien spezialisierte Bank Sarasin beobachtet: «Im Jahr 2008 wurde in Europa und den USA mehr ­Energie aus erneuerbaren als aus konventionellen Quellen installiert.» Würden für alle gleiche Regeln gelten, wäre klar, wer im Rennen um die Stromerzeugung der Zukunft vorne liegt.

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Fo t o : © Klaus Ró zsa / E x -P r ess Fot o: © L üth y&L ederge rb er /i m ag o p re ss. c o m

Energiewende Aktionen des Widerstands: Im Januar 1969 wurde nach einem Unfall im Versuchsreaktor Lucens protestiert, am 2. Juli 1977 in Däniken ­gegen das AKW Gösgen. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Die dritte Chance der Schweiz

Die dritte Chance der Schweiz

Von Kaspar Schuler Greenpeace-Kampagnenleiter Klima & Energie

Der erste Unfall geschah in einem dilettantisch konstruierten Schweizer Kernreaktor. Der zweite wegen der sowjetischen Planwirtschaft. Der dritte traf das hoch industrialisierte Japan. Er wäre das aktuelle Zeichen zum Umdenken. Wann macht die Schweiz den Schritt in eine sichere Energieversorgung? Kaspar Schuler beschreibt, wie er den blockierten Weg ­dorthin seit 33 Jahren ­erlebt hat und was Greenpeace fordert. Die erste Chance: 21. Januar 1969 In einer Felskaverne bei Lucens in der Nähe von Yverdon wird der erste Schweizer Kernreaktor in Betrieb genommen, entwickelt und gebaut von einem einheimischen Konsortium aus Indus­trie, Kantonen und Gemeinden. Schon nach ­wenigen Stunden Betriebszeit gerät er ­ausser Kontrolle: Ein durchgeschmolzener Brennstab entzündet sich. Das Personal wird evakuiert, die Kaverne für Jahrzehnte versiegelt. Der Traum vom «Schweizer Reaktor» ist ausgeträumt. Der Untersuchungsbericht wird erst zehn Jahre später abgeliefert. Alle darin enthaltenen Erklärungsversuche scheitern an unauflösbaren Widersprüchen. In Betrieb genommen werden der Siedewasserreaktor in Mühleberg und die Druckwasserreaktoren Beznau I und II. Bis 1984 folgen die AKW Gösgen und Leibstadt. Im September 1978, also vor 33 Jahren, veröffentlichen einige der hellsten energiepolitischen Köpfe des Landes* das Buch «Jenseits der Sachzwänge», einen «Beitrag der Umweltorganisationen zur schweizerischen Gesamtenergie­ konzeption». Sie entwickeln darin eine fundierte Sicht auf eine ökologische Energieversorgung der Schweiz, die Alternativen zeigt zu einem unMagazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

beschränkt wachsenden Energieverbrauch: «Anstatt die Energieproduktion durch den Bau von zentralisierten Grossanlagen anzuheizen, lassen sich energiesparende Technologien fördern, wie beispielsweise verstärkte Wärme­ dämmung in Gebäuden. Sparen und echte Substitution können als zwei sich ergänzende Komponenten einer umfassenden Strategie des rationellen Einsatzes von Energie betrachtet werden, wobei sich Sparen auf den quantitativen und Substituieren auf den qualitativen Aspekt der Energie bezieht.» Die Massnahmen, die zur Umsetzung vorgesehen sind, heissen Energiesteuer und Energiefonds. Dessen Mittel «werden zweckgebunden für zielgerechte Energieforschung und Entwicklung, für effiziente Energiesparmassnahmen sowie für die Förderung ­neuer Energietechniken und inländischer regenerierbarer Energien eingesetzt.» Ich bin zwanzig Jahre alt, als ich dieses Buch kaufe und mir ob der Komplexität der Energiepolitik den Kopf zerbreche. Später verhallen solche vorausschauende Stimmen. Die Internationale Energieagentur rüffelt die Schweiz s­ ogar offiziell für ihre fortgesetzte Energie­ver­schwendung und die fehlende Lenkung. Mir dämmert, in welch schwer zu ver­ ändernden Parametern sich die Schweizer Energiepolitik bewegt.

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Energiewende

Die zweite Chance: 26. April 1986 Der Reaktor im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert. Mehrere zehntausend Liquidatoren sterben, die radioaktive Wolke wird aufgrund des Graphitbrands hoch in die Luft getragen und über das bis heute schwer darunter leidende Weissrussland nach Westeuropa verfrachtet. Im besorgten Deutschland wird am Bodensee das junge Gemüse untergepflügt. Am anderen Ufer, in der Schweiz, wird beschwichtigt. Heute könnte ich mich ohrfeigen, dass ich in jenen sonnigen Tagen um den 26. April mit meinem vierjährigen Sohn und seinem zweijährigen Bruder im Sandkasten gespielt habe! In der hiesigen Energiepolitik bewegt sich wieder nichts. Die Stromwirtschaft propagiert rund ein Dutzend neue Pumpspeicherseen in den Schweizer Alpen, da Europa «die Batteriefunktion der Schweizer Wasserkraft» unbedingt benötige. Faktisch geht es schon damals um die Umwandlung überschüssiger Atomkraft. Die Bevölkerung lässt sich vom Bundesrat und vom Parlament einlullen und stimmt 1990 einzig dem Atomkraftmoratorium zu. Der Atomausstieg wird abgelehnt. 2003 wird auch die Verlängerung des AKW-Moratoriums verworfen. Die Konzerne Axpo und BKW sowie die Atel – die spätere Alpiq – wittern Morgenluft: Ab Sommer 2008 planen sie drei neue «Ersatz-AKW» – mit ­verdreifachter Leistung.

Die dritte Chance: 11. März 2011 Das Atomkraftwerk Fukushima I / Daiichi wird nach einem Seebeben von einem Tsunami ­überflutet. Als ich am Morgen danach mit Greenpeace-MitarbeiterInnen telefoniere und mit meiner Partnerin über Sonntagsarbeit spreche, beginnt meine siebenjährige Tochter zu ­schreiben und hält mir das Blatt vor die Nase: TELE­FON­KONFERENZ NEIN. BÜRO GO NEIN. Sie hat – wie so viele andere Kinder rund um die Welt – während Wochen keine Chance mit ihrem Appell. Doch auch 1986, als Greenpeace in der Schweiz gerade mal zwei Jahre alt war, war das wohl nicht anders. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Die Geschichte wiederholt sich. Es ist deshalb Zeit, sich die aktuell wichtigsten Fragen zu stellen: Verlieren wir die energiepolitische ­Diskussion erneut? Gut möglich. In diesen Tagen, anlässlich der energiepolitischen Sondersession des Parlaments, muss Bundesrätin Leuthard im Namen der Regierung Farbe bekennen. Vor etwa drei Jahren erwiderte sie mir echauffiert, dass Tschernobyl mit den Atomkraftwerken in der Schweiz nicht zu vergleichen sei und die Sowjetunion nicht mit der Schweiz: «Das wissen Sie genau!» Die AKW Fukushima I und Mühleberg sind typengleich. Japan wie auch die Schweiz sind hoch entwickelte Industrieländer. Hat Frau Leuthard dazugelernt? Absehbar ist, dass sie statt neue AKW nun Gaskraftwerke propagiert – Hauptsache, es sind Grosskraftwerke, die weiterhin die Effizienzbemühungen behindern und eine dezentrale Energieproduktion torpedieren. Im Anschluss an den Bundesrat muss Mitte Juni das Parlament zu vierzig atompolitischen Vorstössen und den beiden Motionen Grunder und Schmidt Stellung beziehen. Diese fordern explizit den Ausstieg aus der Atomenergie. Schauen Sie genau hin, wer wie stimmt – im Herbst sind Wahlen. Hat die Stromwirtschaft hinzugelernt? Kaum. Heinz Karrer, der smarteste CEO aller hiesigen Atomstromkonzerne, scheint zwar unmittelbar nach Beginn der Katastrophe verunsichert und sinniert öffentlich, ob ein ­genereller Verzicht auf neue AKW das Richtige für Axpo wäre. Doch Anfang April schreibt er uns bereits wieder im alten Stil: «Aufgrund der derzeitigen Lage ist es allerdings verfrüht, um energiepolitische Entscheidungen von grösserer Tragweite zu treffen.» Alpiq-Chef Giovanni Leonardi stösst ins gleiche Horn und deklariert, dass er selber nicht handeln will: «Frau Bundesrätin Leuthard hat mit der Sistierung der Rahmenbewilligungsgesuche das richtige und der Lage angemessene Zeichen gesetzt. (...) Das letzte Wort hat das Schweizer Volk.» Bei den BKW ist Unternehmensleiter Kurt Rohrbach gegenüber Greenpeace bereits am 29. März sicher, dass das Kernkraftwerk Mühleberg (KKM) trotz seiner Risse im Kernmantel keine

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berechnet. Was es dazu vorab braucht, ist ein Ausbau der Stromnetze – regional mit so genannten Smart Grids und kontinental mit Hochspannungs-Gleichstromübertragungsleitungen. Eine solche, echt nachhaltige Energieversorgung haben die energiepolitischen Vordenker bereits 1978 vorgeschlagen. Heute kann sie ­berechnet und umgesetzt werden. Wie damals sind die zwei wichtigsten politischen Massnahmen eine Energielenkungsabgabe und die gezielte Förderung der erneuerbaren, dezentralen Energieproduktion. Inzwischen kennt auch die Schweiz eine Kostendeckende Einspeisever­ gütung (KEV). Die Energielenkungsabgabe dagegen fehlt immer noch. Der Blick über 40 Jahre zurück gibt keinen gravierenden Probleme hat: «Eine erste Bewer- Grund zur Euphorie. Dennoch setze ich alles auf tung durch die Spezialisten der BKW und der die heutige, dritte Chance der Schweiz. Es könnte zuständigen Behörden zeigte, dass aufgrund der unsere Letzte sein im Land mit den weltweit älEreignisse in Fukushima keine betrieblichen testen Atomkraftwerken. Meine Tochter müsste Sofortmassnahmen für das KKM erforderlich mir beim GAU in Mühleberg keine Forderungen sind. Es ist auf die standortspezifischen Gefah- mehr unter die Nase halten. Ich bliebe bei ihr. * Es waren dies: Samuel Mauch (Projektleiter), renpotenziale ausgelegt und verfügt über umTheo Ginsburg, Elmar Ledergerber, Heribert Rausch, fangreiche Sicherheitssysteme.

Die dritte Chance der Schweiz

Nach dem Bundesrat muss Mitte Juni das Parlament zu 40 atompolitischen Vor­ stössen und den Motionen Grunder und Schmidt Stellung beziehen. ­Diese fordern den Ausstieg aus der Kern­ energie. Schauen Sie hin, wer wie stimmt — im Herbst sind Wahlen.

Sind die energiewirtschaftlichen ­Voraussetzungen anders? Eindeutig. Als Erste in der energiepolitischen Diskussion hat Greenpeace Schweiz ­zusammen mit anderen Umweltorganisationen Mitte Mai fundierte Berechnungen für einen Atomausstieg innert 15 bis 25 Jahren vorgelegt. Das Ergebnis spricht Bände: Dank der techno­ logischen Entwicklung ist eine ökologisch tragbare, das Klima schützende Stromversorgung auf den Hauptpfeilern Wasserkraft, Solarenergie, Geothermie, Biomasse und Windenergie möglich, und zwar in Kombination mit den weiterhin unausgeschöpften Möglichkeiten der Energieeffizienz. Grosse Gaskraftwerke braucht es nicht. Den Ausstiegszeitpunkt 2035 meistern wir ausschliesslich über die Inlandproduktion. Soll der Ausstieg schneller erfolgen – zum Beispiel bis 2025 – kommen wir nicht um Importe herum, beispielsweise von Windenergie. Ein solcher Stromimport bedeutet keine einseitige Abhängigkeit, denn mit den lukrativen Schweizer Pumpspeicherseen ist und bleibt die Schweiz unverzichtbar im europäischen Stromverbund. Ganz Europa kann sich bis 2050 ohne Kohle- und Atomkraft versorgen, wie eine zu Jahresbeginn erschienene Studie von Greenpeace International Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

­ erner Geissberger, Walter Ott, Heidi Ramseier und W Elsie Wyss.

Schwerpunkte der Greenpeace-Arbeit nach Fukushima Der GAU in Fukushima lässt uns das Engagement für den Atomausstieg intensivieren und neu ­ausrichten. Ein nationales Referendum gegen den Bau neuer Atomkraftwerke — wie für 2013 vorge­ sehen — ist hoffentlich nicht mehr nötig. An die Stromkonzerne Axpo, Alpiq und BKW richten wir die Forderung nach einem definitiven Rückzug ihrer Rahmenbewilligungsgesuche für zurzeit noch zwei neue AKW. Eine Sistierung reicht nicht. An das Ensi (Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat) und den Bundesrat richten wir die Forderung, das AKW Mühleberg umgehend ausser Betrieb zu nehmen und es so schnell wie ­möglich stillzulegen. Von Bundesrat und Parlament erwarten wir ­bereits in der Sommersession eine Neuausrichtung der Schweizer Energiepolitik. Eine sichere, ­dezentrale und erneuerbare Stromversorgung stärkt ­unsere Volkswirtschaft in allen Regionen — im Gegensatz zum Bau neuer AKW. Ab Herbst gehen wir mit einer attraktiven mobilen Energie-Ausstellung auf Schweizer Tournee.

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Die Suche nac

Sichere Depots für hochradioa

Finnland

Die Karte

1977 \ 1710 \ Granit

Finnland will das weltweit erste Endlager für hoch­ radioaktiven Abfall eröffnen. 2012 soll der Bauantrag für Olkiluoto gestellt werden. Geplanter Einlagerungsbeginn ist 2020. Ähnlich wie in Schweden gibt es allerdings ungeklärte Fragen.

USA 1960 \ 58 490 \ Tuff bzw. unklar

In den USA ist die End­ lagerfrage de facto wieder offen. Nach jahrzehntelanger ­Erkundung hat Präsident Obama das Projekt Yucca Mountain 2009 wegen ­Sicherheitsbedenken auf Eis gelegt. Nun sucht eine ­Expertenkommission neue ­Lösungen für das Atom­ müllproblem.

Deutschland 1971 \ 10 630 \ Salz

Als einziger möglicher Standort wird der Salzstock Gorleben erkundet. Von Beginn an gab es Zweifel an seiner Eignung. Die Politik hofft trotzdem auf ein Endlager ab 2035.

58 490 t a\b\c a Betriebsstart des ersten kommerziellen Reaktors b Abgebrannte Bren­nelemente in Tonnen Schwermetall c Favorisiertes Wirts­gestein

Schweiz 1969 \ 1440 \ Ton

Status der Endlager-Suche Standort festgelegt Standort wird/wurde erkundet Forschung im Untertagelabor

20 000 t

Drei Regionen an der deutschen Grenze sollen bis 2023 ergebnisoffen verglichen werden. Unabhängig davon wird im Untertagelabor Mont Terri bereits jetzt Opalinuston untersucht.

10 000 t

Keine Endlagersuche Länder ohne AKW

1000 t abgebrannte Bren­nelemente; 1 mm = 1000 t


ch Endlagern

aktiven Müll bleiben eine Utopie.

Russland 1954 \ 13 940 \ Granit

I ll ust ratio n: © Ji ll Mat tes

Abgebrannte Brennelemente lagern überwiegend im sibirischen Atomkomplex Majak. Voruntersuchungen für ein Endlager gibt es unter anderem auf der KolaHalbinsel. Über ein Untertagelabor soll 2015 entschieden werden.


Noch immer gibt es kein finales Depot für hoch­ radioaktiven Atommüll. Einer der Hauptgründe, weshalb keine neuen AKW mehr gebaut werden ­sollten.

Amerika

Europa

Kanada

Frankreich

Schweden

1962 \ 35 410 \ Granit

1959 \ 30 990 \ Ton

1972 \ 4800 \ Granit

Im Untertagelabor Bure wird Ton auf seine Eignung als Wirtsgestein untersucht. Pläne für ein Labor in Granit scheiterten am Widerstand der Bevölkerung. Vieles deutet darauf hin, dass Bure ab 2025 zum Endlagerstandort wird.

Schweden möchte «Anfang der 2020er-Jahre» ein Endlager in Forsmark in Betrieb nehmen. Die Bauarbeiten sollen 2015 beginnen und 2070 abgeschlossen sein. Es gibt allerdings noch offene Fragen zur Einlagerungstechnik.

Grossbritannien

Spanien

1956 \ 26 320 \ unklar

1986 \ 4550 \ Salz, Ton und Granit

Kanada legt derzeit das Untertagelabor Whiteshell in Pinawa still, wo jahrzehntelang Granit untersucht wurde. Bei der Suche nach einem Endlager setzt Ottawa auf freiwillige Gemeinden. Es soll in einer Region stehen, in der Atomkraft genutzt wird.

Argentinien 1974 \ 3370 \ unklar

Abgebrannte Brennelemente lagern an den AKWs.

Brasilien 1982 \ 420 \ unklar

Die Karte

Abgebrannte Brennelemente lagern an den AKWs.

Mexiko 1989 \ 420 \ unklar

Abgebrannte Brennelemente lagern an den AKWs.

1982 entschied sich die Regierung für 50 Jahre Zwischenlagerung. Bei der Endlagersuche setzt London auf freiwillige Gemeinden. Drei sind zu Gesprächen bereit. Schottland plant einen Sonderweg mit oberflächennaher Lagerung.

Ukraine 1977 \ 5950 \ unklar

Die Ukraine will ihren Atommüll für mindestens 50 Jahre zwischenlagern.

Die Entscheidung über ein mögliches tiefengeologisches Endlager wurde aufgrund der langsamen internationalen Standortsuche verschoben. Hochradioaktiver Atommüll soll für die kommenden Jahrzehnte in ein zentrales Zwischenlager. Acht freiwillige Gemeinden sind als Standorte im Rennen. Ihnen winken Millionenzahlungen.

Belgien 1974 \ 2920 \ Ton

Das Untertagelabor in Mol heisst HADES (High Activity Disposal Experimental Site). Mit einem Endlager wird nicht vor 2080 gerechnet.

Tschechien 1985 \ 910 \ unklar

Tschechien will 2015 drei Standortkandidaten für ein Endlager auswählen. In Betrieb wäre dieses frühestens 2065. Zugleich hofft Prag auf eine internationale Lösung.

a\b\c a Betriebsstart des ersten kommerziellen Reaktors b Abgebrannte Bren­nelemente in Tonnen Schwermetall c Favorisiertes Wirts­gestein

Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Asien Slowakei

Niederlande

Japan

Iran

1972 \ 840 \ unklar

1969 \ 410 \ Salz oder Ton

1966 \ 21 760 \ Granit

ab Ende 2011 \ 0 \ unklar

Die Slowakei lagert ihren Atommüll an den AKW. Sie hat mit der Endlagersuche begonnen, hofft aber auf eine internationale Lösung.

Ungarn 1983 \ 1010 \ Ton

Ungarn untersucht derzeit eine Tonformation nahe Pécs für ein Untertagelabor. Baubeginn ist frühestens 2020.

Bulgarien 1974 \ 1740 \ unklar

Bulgarien lässt abgebrannte Brennstäbe zum Teil in Russland wiederaufbereiten oder lagert sie provisorisch. Was langfristig mit dem Atommüll geschehen soll, ist unklar.

Rumänien 1996 \ 1090 \ unklar

Rumänien lagert abgebrannte Brennelemente zunächst an den AKW-Standorten und nach zehn Jahren in einem zentralen Zwischenlager. Es gibt Voruntersuchungen für ein mögliches Endlager.

Armenien 1976 \ 300 \ unklar

Bis zum Zerfall der UdSSR nahm Russland den Atommüll zurück. Jetzt lagert er am Kraftwerk.

Die Niederlande haben die Entsorgungsfrage 100 Jahre aufgeschoben. Das Zwischen­lager Habog in Vlissingen soll bis 2103 in Betrieb sein.

Japan will 2035 ein Endlager in Betrieb nehmen und setzt bei der Suche auf freiwillige Gemeinden. Derzeit sind Untertagelabors in Mizunami (Granit) und Horonobe (Sedimentgestein) im Bau.

Slowenien

Südkorea

1981 \ 240 \ unklar

Vor 2050 ist nicht mit einem Endlager zu rechnen. Slowenien hofft parallel zur eigenen Suche auf eine internationale Lösung.

Südkorea will 2016 ein ­zentrales Zwischenlager ein­ weihen.

Indien

Italien

1969 \ 4450 \ unklar

1963 \ 1070 \ unklar

Italien ist nach der Tschernobyl-Katastrophe 1990 aus der Atomkraft ausgestiegen und plant jetzt den Wiedereinstieg. Der Atommüll lagert an den abgeschalteten AKW oder ist noch zur Wiederaufbereitung im Ausland. Erste Endlagerpläne sind am Protest der Bevölkerung gescheitert.

Es gibt ein Forschungsprogramm zur Endlagerung.

1991 \ 3060 \ Granit

China untersucht drei mögliche Endlagerstandorte in der Wüste Gobi. In 10 Jahren soll eine Entscheidung fallen. Ein Endlager gibt es nicht vor 2050.

1978 \ 3210 \ unklar

Litauen hat das letzte seiner beiden AKW 2009 auf Geheiss der EU vom Netz genommen. Das Land plant, seinen Atommüll erst einmal 50 Jahre zwischen­ zulagern.

Der von China beanspruchte Inselstaat lagert abgebrannte Brennelemente an den AKW-Standorten. Nach Angaben des nationalen Energieversorgers laufen Vorerkundungen für ein Endlager. Angesichts der Ein-ChinaPolitik Pekings gibt es ­al­lerdings auch Befürworter einer Entsorgung in der Volksrepublik.

Pakistan 1972 \ 190 \ unklar

Abgebrannte Brennelemente lagern an den AKW.

Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Kasachstan 1973 \ 10 \ unklar

Kasachstan hat sein letztes Atomkraftwerk 1999 abgeschaltet, plant allerdings den Wiedereinstieg. Das Land prüft, ob es ein Gesetz zur Endlagerung erlassen soll.

Afrika Südafrika

China

Taiwan

Litauen 1983 \ 1380 \ unklar

1977 \ 10 730 \ unklar

Die abgebrannten Brenn­ stäbe sollen an Russland zurückgehen.

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1984 \ 530 \ unklar

Abgebrannte Brennelemente lagern an den AKW. Quellen: IAEA; Nuclear Energy Agency (OECD), World ­Nuclear Associa­tion, ­natio­nale ­Be­hörden. Berechnung der Abfall­ mengen: Österreichisches Ökologie-Institut für das Greenpeace- ­Magazin Deutschland.


Die Bäume und wir Der Anthropologe Jeremy Narby schreibt, wie Wälder den Menschen geformt haben. Und umgekehrt. Und warum hiesige so viel ärmer sind als die der Tropen.

2011 — Jahr des Waldes

Von Jeremy Narby Jeremy Narby wurde bekannt mit einer Forschungsarbeit in den Wäldern des Amazonas, die unter dem Titel «Die kosmische Schlange» 1995 in Genf erschienen ist und einen erstaunlichen Zusammenhang schafft zwi­schen dem modernen westlichen und dem uralten schamanischen Wissen um das Grundprinzip des Lebens – um das, was wir in unseren Breiten mit DNS oder Genetik zu umschreiben versuchen. Der Anthropologe hat zwei Jahre bei den Ashaninka-Indianern gelebt und ihren Umgang mit den natür­ lichen Ressourcen studiert. Bald kam die Schamanendroge Ayahuasca ins Spiel, und die klassische Feldforschung erlebte eine unerwartete Wendung. Unser Gespräch im letzten März handelte aber nicht von Halluzi­nationen, sondern von Bäumen – 2011 ist das UNO-Jahr der Wälder. Narby lebt in einem alten Haus mit einem parkähnlichen Garten, in den er aber nicht viel Zeit zu investieren scheint. Egal, was er an Gartenkunst ­realisieren würde – verglichen mit dem tropischen Urwald im peruanischen Amazonasgebiet schiene es lächerlich. Davon handelt auch ein Teil seines Berichts: von der «armseligen» Biodiversität des 10 000 Jahre jungen ­europäischen Waldes gegenüber jener des hundert Millionen Jahre alten Regenwaldes. Erstmals betrat ich den tropischen Urwald in Peru, im Tal von Pichis. Ich war begleitet von zwei Ashaninka-Indianern. Wir folgten der Schneise der Holzfäller und ihrer Bulldozer. Dann endete die Piste. Was mir beim Eintritt in den Regenwald als Erstes den Atem ­verschlug, war die Grösse der Bäume. Ich musste sofort an die Kathe­­ drale von Rheims denken, aber ich stand in einer Kathedrale aus Pflanzen: die Höhe der Decke aus Baumwipfeln, die kühle Temperatur, die eigenartige Akustik, durch welche die Waldgeräusche gleichzeitig reflektiert und geschluckt wurden … Damals sprach ich noch vom «Dschungel» und erwartete etwas Schreckliches. In Wirklichkeit umfing mich sofort eine schöne, hypnotische Stimmung. Ich war ­erleichtert, dass es nicht mehr so heiss und grell war wie «draussen». Ich öffnete die Augen und war hingerissen von der grenzenlosen ­Vielfalt der Natur. Es war, als befände ich mich in einem impressionistischen Gemälde. Keine Pflanze glich einer anderen. Ich befand mich, wie ich herausfinden sollte, im Epizentrum der Biodiversität: Auf einer einzigen Hektare gab es 330 Baumarten. Das war mehr als auf dem gesamten europäischen Kontinent. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Die Bäume und wir

Die Paläontologen sagen, dass der Jura vor 150 Millionen Jahren den Bahamas glich, mit Stränden aus feinem Sand und Tempera­­ turen um dreissig Grad. Eine gute alte Zeit! Der Jura lag auf der heutigen Breite Marokkos, am Meer, und die Vegetation bestand aus primitiven Nadelbäumen. Die Biosphäre ist in einem ständigen Wandel: Die Kontinente driften, das Klima erwärmt sich oder kühlt ab, die Arten kommen und gehen. Da war noch nicht einmal eine Ahnung eines menschenähnlichen Wesens. Wir Menschen gehören zu den Primaten, einer Ordnung der ­Säugetiere, die sich dem Leben in den Bäumen angepasst hatte. Die ersten bekannten Primaten hatten die Grösse eines kleinen Eich­ hörnchens und lebten vor ungefähr 55 Millionen Jahren. In jenen ­Zeiten waren die Dinosaurier schon verschwunden und die Erde war warm und feucht und mit riesigen Wäldern bedeckt. Es lebten auch andere Säugetiere auf dem Boden, und einige wurden gross und gefährlich. Aber in den Baumwipfeln übernahmen die Primaten die Herrschaft. Die Bäume schützten sie vor den Gefahren am Boden und ernährten sie. Im Lauf der Zeit passten sie ihren Körper dem Leben in den Bäumen an: Sie entwickelten ein vertikales Rückgrat, das lang und biegsam ist; Schulterblätter für eine weite Öffnung der Arme; verlängerte Gliedmassen, bewegliche Gelenke und an den Händen drehbare Daumen; lange und sensible Finger, die schnell und präzise nach Ästen greifen können; und Nägel statt Krallen, was eine grössere Sensibilität erlaubt. Primaten haben ihre Augen auf der Vorderseite statt auf der Seite des Kopfes, sodass sie Reliefs präzise abschätzen können: Für Tiere, die von Ast zu Ast springen, ist es nötig, Distanzen genau zu erfassen. So hat sich unsere dreidimensionale Sicht entwickelt. Ein Vierbeiner am Boden bewegt sich in zwei, ein Primat in drei Dimensionen. Auf Bäumen zu leben, ist komplexer und gefährlicher, es schärft die Sinne und macht wachsam. Deshalb haben Primaten im Vergleich zu ihrem Körper grosse Gehirne. Die ersten menschenähnlichen Affen sind vor etwa 25 Millionen Jahren in Afrika aufgetaucht. Einige von ihnen fingen an, sich unterhalb der Äste fortzubewegen, an den Armen hängend, mit dem Körper in der Vertikalen. Das war der Beginn des Gangs auf zwei Beinen. Als Afrika einige Millionen Jahre später austrocknete und die feuchten Wälder der Savanne Platz machten, wagten sich gewisse Primaten auf den Boden. Die Anfänge des aufrechten Gangs bleiben mysteriös. Aber es waren die ersten Schritte, die uns von den Bäumen entfernten. Alle heutigen Primaten wie Gorillas und Bonobos können auf zwei Füssen gehen. Die grossen Tiere lebten am Boden: Hyänen, Löwen und Säbelzahntiger. Da war es nützlich, auf Bäume klettern zu können. Die ­ersten Arten des Homo kletterten noch immer auf Bäume, um FrüchMagazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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2011 — Jahr des Waldes

te zu pflücken, Honig zu sammeln oder Schutz zu suchen. Und die Bäume blieben wichtig im Alltag für die Herstellung von Waffen und Werkzeugen. Eine der menschlichen Eigenarten ist das Feuermachen: Das Holz der Bäume wärmt uns seit unseren Anfängen. Dann, vor 200 000 Jahren, durchtrennte der moderne Mensch, Homo sapiens sapiens, die Nabelschnur, die ihn mit den Bäumen verband. Er fand neue Möglichkeiten, sich zu ernähren und zu schützen. Erst vor 500 bis 600 Generationen haben wir angefangen, Bäume durch eigene Kulturen zu ersetzen. Indem wir Landwirte wurden, entwickelten wir uns zu Baumjägern. Vor 20 000 Jahren gab es hier in der Schweiz keine Wälder. Es herrschte die letzte grosse Eiszeit. An bestimmten Stellen des hie­ sigen Hochplateaus lag eine 300 Meter dicke Eisschicht. Es gab sehr wenige Bäume. Die eisfreien Orte waren Mammutsteppen: kalt, ­trocken, von Gras bedeckt, mit einigen Wäldchen aus Zwergbirken. Das Eis in Europa fing erst vor 16 000 Jahren an zu schmelzen. Nach und nach kehrten die Laubbäume, die Bäume mit fallendem Laub, aus ihrem Exil im Mittleren Osten zurück und breiteten sich nach Norden aus. Dank der Klimaerwärmung wuchsen die heutigen Wälder heran. Zunächst kamen die mediterranen Olivenbäume und Eichen zurück, dann Wacholder, Weiden und Birken. Die Laubbäume rückten mit einer Geschwindigkeit von rund einem Kilometer im Jahr nach Norden vor, vom Mittelmeer bis nach Skandinavien. Der hiesige Wald ist also sehr jung, nicht mehr als 10 000 Jahre alt. Im Vergleich dazu wurde die Entwicklung des Amazonaswaldes seit mindestens 65 Millionen Jahren nicht mehr durch Eiszeiten oder andere traumatische Ereignisse unterbrochen. Im Amazonasgebiet hat die stupende Vielfalt des Lebens mindestens 6000-mal mehr Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Wer also den Wald wirklich verstehen will, muss sich mit dem Tropenwald vertraut machen. Vor 10 000 Jahren erzeugte der junge Wald in Europa Böden, die sich für die Landwirtschaft und die Viehzucht eigneten. Das ­gefallene Laub verwandelte sich in Humus. Vor 8000 Jahren stand ­alles bereit, und der europäische Wald glich dem heutigen. Dann ­kamen vor etwa 7000 Jahren die ackerbauenden Völker aus dem Orient und begannen mit Steinäxten zu entwalden. Dieser Prozess wurde durch die Erfindung von Metalläxten vor 4000 Jahren beschleunigt. Die unerbittliche Entwaldung Europas hat sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Das englische forest (Wald) kommt vom lateinischen foris, was ­aussen heisst, ausserhalb der menschlichen Welt. Die europäischen Sprachen trennen das Menschliche von der Natur und insbesondere vom Wald. Von der Kultur wird erwartet, dass sie uns von der Natur unterscheidet. Aber der erste Sinn des Wortes «Kultur» ist das «Tun, die Erde zu bebauen». Davon zeugt der Begriff der «Agrikultur». Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Die Bäume und wir

Und man kann den Boden nicht bebauen, ohne ihn zuvor gerodet zu haben. Kultur setzt also Abholzung voraus: Wir haben unsere Ge­ sell­schaften und Kulturen in Opposition zu den Bäumen gebaut. Das lateinische Wort für Wald ist übrigens silva, das in vielen Sprachen, auch in französisch, dem Wort wild zugrunde liegt (sauvage, savage, ital. selvatico). Aber das Leben ist voller Paradoxe, und die Menschen haben die Bäume angebetet, während sie sie geschlagen haben. Die Bäume stehen im Mittelpunkt unzähliger Kosmologien: Man betrachte nur die Genesis, Kapitel 2 und 3, oder den Baum des Lebens, des Wissens um Gut und Böse in der Mitte des Gartens Eden: Seine Früchte öffneten die Augen der ersten Menschen und erlaubten es ihnen, das Leben wie Götter zu betrachten. Weil ein Baum Wurzeln hat, die in den Boden eintauchen, und Äste, die in den Himmel reichen, ist er das universale Symbol für den Austausch zwischen Erde und Himmel. Tatsächlich ist der Baum der Welt ein Synonym für die Achse der Welt (axis mundi): Die kosmische Kette der Kelten zeigt das ebenso wie die Esche Yggdrasil in Skandinavien, der Olivenbaum im islamischen Orient und der Baum von Bodhi, unter dem Buddha Erleuchtung erlangte. Die Bäume verlieren ihre Blätter und verwerten sie wieder. Sie symbolisieren den Kreis von Leben und Tod. Bäume haben ein langes Leben: Die meisten überdauern Jahrhunderte, einige leben länger als tausend Jahre und erlangen sogar eine Form der Unsterblichkeit über die Triebe, die sie setzen. Die Bäume befehlen die Zeit. Die Mehrzahl der Bäume sind keine Einzelgänger, sondern siedeln in Kolonien. Aber ihre Knospen sind sozusagen eigenständige Pflanzen. Man kann einen Baum teilen, ohne dass er stirbt, was im Widerspruch steht zum Konzept des Individuums. Der Baum ist ein zwiespältiges, ein zugleich einzelnes und kollektives Wesen. Von allen Lebewesen sind die Bäume die grössten, die schwersten, die am längsten leben und sich – obwohl am Boden festgemacht – den Wolken am meisten nähern. Wir pflegen eine Hassliebe zu den Bäumen. In junger Zeit haben wir begonnen, sie in kontinentalen Dimensionen umzulegen – ­während wir fortfuhren, sie zu verehren. Darin steckt eine vater- oder muttermörderische Komponente. Der Homo sapiens hat erst seine Nabelschnur zu den Bäumen zerschnitten, dann schnitt er die Bäume selbst ab. Glücklicherweise ist es noch nicht zu spät und wir haben noch nicht alle Bäume des Planeten gefällt. Die Bäume haben uns ­geformt. Und sie erneuern die Luft, die wir atmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir ohne sie nicht auskommen und dass eine Welt ohne Bäume eine Welt ohne uns wäre.

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Fliessendes Gift China intensiviert seine Industrialisierung ohne Rücksicht auf ­Verluste. Eine Auswirkung: Wo früher Wasser war, findet man ­vielerorts nur noch eine krank machende Brühe. Fotos von Lu Guang

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Ein Greenpeace-Kampagnenmitglied entnimmt einem verdreckten Fluss bei Dadun in der Stadt Xintang Wasserproben. Die Gegend ist stark belastet mit Schadstoffen aus der hier vorherrschenden Textilindustrie. Greenpeace hat die Auswirkungen der Kontaminierung auf die Bevölkerung dokumentiert. 2 Aus dem Fluss bei Yanglingang wird garantiert nichts Gesundes geangelt: Die Fischer der Gegend sind umgeben von sanierungsbedürftiger Schwerindustrie. 3 Ein Kanal der Stadt Gurao in der Provinz Shantou ist derart zugemüllt, dass tie­risches Leben darin praktisch unmöglich ist. Die Menschen sind weitum gefährdet. 4 Schülerinnen in Gurao radeln nach Hause und haben trotz vorgehaltener Hand keine Chance, sich gegen den Smog zu schützen. 5 Die Papiermühle am Yangtse bei Yanglingang ist das grosse Ärgernis der lokalen Fischer: Die Netze sind ständig von schleimigem Abfall verkleistert.

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Gesundes Wasser wird zur Mangelware, besonders in China und Südostasien, wo die oft schlecht kontrollierte Industrie ­fatale Folgen für Mensch und ­Umwelt bewirkt. Eine internatio­ nale Greenpeace-Studie do­kumentiert, wie Flüsse mit ihren ­Anwohnern zugrunde gehen, wenn das Malheur nicht gestoppt wird. In üblem Zustand ist etwa der Yangtse-Fluss in China. In ­seinem Umfeld leben 400 Millionen Men­schen und hier sind auch die Hälfte aller ­Fabriken des Landes ange­siedelt. Die gemessene Schadstoffkonzentration wirkt sich bis in die Ostchinesische See aus. Die Einwohner vieler Dörfer sind krank, sie leiden an Krebs. Was den ­Menschen in fast 500 inof­fi ziell regis­trierten «Krebsdörfern» ­zusetzt, ist noch nicht erforscht – giftige Chemikalien aus Fabriken mit «Dreck­produktion» sind sehr wahrscheinlich. Die Studie dokumentiert auch Fälle von Dreckproduktion aus dem Norden, die dem ­Süden zu denken geben sollten. Umweltsa­ nierungen kosten oft ein Hun­dertfaches dessen, was die Dreckproduktion eingebracht hat. Und vielerorts fehlt das Geld. Fazit der Studie: Wo kein Gift ist, entsteht kein Schaden. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Die Studie «Hidden Consequences of Water ­Pollution» (Die unsicht­baren Folgen von Wasserverschmutzung) ist der Auftakt der weltweiten, sorgfältig recherchierten Greenpeace-Kampagne für sauberes Wasser. Unter www.greenpeace.org finden Sie die englische Online-Version mit Fotos und Interviews betroffener Menschen.


Im tiefen Tann verwurzelt

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Aufgezeichnet von Sarah Chevalier

Lorenzo Pellegrini durchstreift seit mehr als 50 ­Jahren die Wälder im Vallée de Joux und kennt das ­beste Holz für Instrumentenbauer. Die Bäume erzählen ihm mehr als die Menschen.

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«Mit fünf lernte ich, für das Bügeleisen meiner Mutter Holzkohle zu machen. Später war ich bis sieben ­Monate im Jahr in den Wäldern der Abruzzen unterwegs, um Holz zu schlagen. Mit dem Material fer­tigte ich Holzschuhe, das schlechtere verkaufte ich als Brennmaterial. Ich hatte mir eine Hütte gebaut, aus eigener Kraft, fünf Gehstunden vom nächsten Dorf entfernt. Auch heute arbeite ich nur mit der Axt, ­habe wie beim Holzen keine moderne Technik zur Verfügung. Bäume fällt man im Winter, wenn der Saft nied­rig steht, und immer dann, wenn der Mond abnimmt. Jeden Baum lasse ich im Wald liegen, bis die Feuchtigkeit raus ist. Würde das Holz in dieser Zeit blau, wäre das ein Zeichen von Schimmel. Gute Stücke für den Instrumentenbau lagert man nach dem Trocknen bis 20 Jahre. Seit 50 Jahren lebe ich im Jura, räume die Wälder auf, lichte sie aus, wenn die Stämme zu dicht stehen. Ich bin meist allein unterwegs, ­höre oft tagelang nur, was mir die Natur sagt. Wenn ich Rinde, Äste und Wurzeln betrachte, weiss ich sofort, was ein perfekter Baum ist. In unserer Gegend im Jura gibt es Bäume mit sehr trockenem Kern. Wasser ist rar, oft sind die Wurzeln bis 100 Meter lang, um in den Kalk­ böden an genügend Feuchtigkeit zu kommen. Dieses Holz, das pro Jahr höchstens um Kopfgrösse wachsen sollte, eignet sich gut für Geigen und ­Gi­tarren. Allerdings sollten die Stämme möglichst wenig Verästelungen aufweisen. Mein Respekt vor den Bäumen ist gross. Im letzten November brachten wir einen zu Boden, der sicher 800 Jahre alt war. Was ist dagegen ­unser Leben? Für Bäume gelten völlig andere Zeitbegriffe. Je älter sie werden, desto mehr verfeinert sich ihre Struktur. Um die Jahresringe ­erkennen zu können, braucht man irgendwann eine Lupe. Ich und die Bäume – das ist eine ­Einheit, die ich nie missen möchte. Der Wald ist mein Zuhause, meine Welt.» Über den Waldmenschen ­Pellegrini ist von Anne-­ Lise Vullioud das Buch «Der Baumpflücker» sowie eine DVD ­erschienen (auf Französisch). Beides ­zusammen kann für 79 Franken bei der Autorin bestellt werden: info@annelisevullioud.ch.

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Inmitten von hochragenden Bäumen fühlt sich Lorenzo Pellegrini zu Hause.


«Das ist doch mein Leben!» Mit Patrick Hohmann, Gründer des Biotextilpioniers Remei, sprach Hannes Grassegger

Landwirtschaft

Ein Visionär ist er, aber kein Träumer. Der Remei-Patron Patrick Hohmann gilt als ethischer Entrepreneur, ­einer, für den sich Bio und Business nicht gegenseitig ausschliessen.

Er ist ein «Textiler» der alten Schule. Ein «­Pa­tron», dessen Sohn in der eigenen Firma arbeitet. Doch 1990, nach Jahrzehnten in der konventionellen Textilindustrie, nach einer Kindheit als Sohn eines Textilhändler in Ägypten und im Sudan, begann der Unternehmer Patrick Hohmann etwas, wofür er damals ausgelacht wurde. Hohmann wurde grün. Sehr sogar. Seit 2005 produziert sein Betrieb nur noch Bioware. Ein hartes Geschäft, voller Tücken, Betrüger, Preisschwankungen. Doch Hohmann liebt das Ringen. Man müsse Werte haben in diesem Geschäft, sagt der Firmengründer, der mittlerweile an Partizipation glaubt und eine ganz eigene Unternehmensethik entwickelt hat. Hannes Grassegger: Sie verrieten mir kürzlich bei einer Besichtigung Ihrer Biobaumwoll­ felder in Indien, dass sich der Anbau finan­ ziell kaum mehr lohne. Doch Sie hätten ein Versprechen gegeben, spürten Verant­ wortung. Wurde aus dem Geschäftsmann ein Visionär? Patrick Hohmann: Auch als reiner Geschäftsmann war ich Visionär. Ich wollte viel verdienen, Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Karriere machen. Aber wie das Leben so spielt: Man begegnet Menschen, hat Familie, Kinder. Mit fortlaufendem Alter gehen die Augen immer weiter auf. Mit 40 Jahren dachte ich: Diese Wirtschaftsform, die ich bisher erlebt habe, ist doch einfach Unfug. Ich sah, wie die Textil­ industrie sich änderte. Da wollte ich einen ­Ser­viceanbieter gründen, der allen nützt. Wie viele Menschen arbeiten im Produk­ tionsnetzwerk, das Remei betreut? Es sind 54 Betriebe, die wir koordinieren, und damit etwa achtzig- bis hunderttausend Menschen. Ursprünglich war Remei ein konventionel­ ler Betrieb. Wie kamen Sie auf Bio? Da lag eine Werbung des WWF auf meinem Tisch, in der für handgepflückte Baumwolle ­geworben wurde. Etwa 1990. Das suggerierte, handgepflückt sei etwas Gutes. Was auch ­stimmte, weil nicht durch Entlaubungsmittel ge­ erntet wurde. Ich sagte mir aber: Wenn schon, dann richtig! Eigentlich war das Pflücken von Hand nur in Amerika etwas Besonderes. Siebzig Prozent der Baumwolle wurden ja handgepflückt. Ich ging etwas später zu meinen Spinnereien in Indien und fragte meine Zulieferer, woher denn eigentlich ihre Baumwolle komme. «Von weit her.» Da fragte ich: «Warum nicht von hier, vor der Haustür? Warum nehmen wir nicht Bio?» Ich wurde erst einmal ausgelacht. Damals gab es noch keine Bio-Bewegung. Neun Monate später stellte ich die gleiche Frage dem Spinner der Maikaal-Spinnerei. Und der sagte: «Lass uns das machen.» Hinter Remei stehen Sie. Sie sagten einmal, Sie seien ein Patron. Ihr Unternehmen scheint kein revolutionäres Modell zu sein. Fast alle Mitarbeiter sind beteiligt (hält ein Aktionärsregister hoch). Ein Unternehmen mit Namenaktien! Habe ich wirklich Patron gesagt? Nun, ich führe relativ breit, versuche, ein guter Patron zu sein, und frage meine Mitarbeiter. Ich koordiniere ein Führungsteam mit sechs Leuten. Mit mir und meinem Sohn sind nur zwei Männer in der Führungsetage. Ein guter Patron? Was sind denn Ihre unter­ nehmerischen Werte? Ich möchte Qualität und Preisgerechtigkeit. Qualität heisst, wirklich das Beste aus dem ­Produkt herauszuholen. Preisgerechtigkeit heisst, so zu arbeiten, dass jeder, der am Geschäft beteiligt ist, sich auch damit entwickeln kann

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«Das ist doch mein Leben!»

Patrick Hohmann mit indischen Feldarbeitern: «Der Bioanbau bedeutet ­ungeheures Ringen. Das Vorspielen von Einfachheit — das macht die Gentechnik». und seinen Teil kriegt. Nicht einer sehr viel und der andere sehr wenig. Wenn man wie ich mit Tausenden Partnern zusammenarbeitet, kann man das nicht eins zu eins lösen, sondern muss Regeln aufstellen. Darin liegt die Schwierigkeit: Regeln so auf­ zustellen, die Mitarbeiter so zu sensibilisieren, dass sie diese Regeln anwenden wollen. Das ist der Schlüssel. Dass ich eine Unternehmung schaffen möchte, in der diese Regeln lebendig, in Bewegung bleiben. Wir überlegen uns bei Zahlen in den Bilanzen: Wie wirkt sich unser Handeln auf die Bauern aus? Sie denken für andere mit? Ja! Für Farmer und für Endkunden. Sie sagen, Ihre heutige Unternehmensethik besteht darin, für Zulieferer wie Abnehmer so nützlich zu werden, dass Remei e ­ inen Wert darstellt und nicht nur Kosten. Ich glaube nicht, dass Ethik und Wirtschaft sich widersprechen. Die unethische Wirtschaft läuft aus dem Ruder. Die ethische Wirtschaft balanciert aus. Zu ethisch ist nicht wirtschaftlich. Zu unethisch ist nur noch wirtschaftlich. Die Balance, die man zwischen Angebot und NachMagazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

frage schaffen muss, ist etwas Verbindendes, Wertschaffendes. Daraus soll der Ertrag unserer Firma kommen. Der Nutzen unseres Unter­ nehmens für die Kunden besteht darin, dass die Partner etwas mitnehmen können. Sie experimentieren mit biodynamischen Methoden. Was bedeutet Ihnen Anthropo­ sophismus? Im Anthroposophismus fand ich Gedanken, die eine überkulturelle Zusammenarbeit ermög­ lichen. Etwa, dass jeder frei ist, seiner Denk­ welt zu folgen. Und jeder ist dem Anderen zugewandt, es hat keinen Sinn, Wirtschaft nur für sich zu machen, sondern es ist immer auch für den Anderen. Drittens: Vor dem Gesetz ist jeder gleich, es gibt Regeln, die für alle gelten. Hält man sich daran, kann man weltweit wirtschaften, ohne zu unterdrücken oder Regeln aufzuzwängen. Wir bieten Biodynamisch als Option, zwingen das aber den Bauern nicht auf. 2009 begann eine Krise in der BiocottonBranche. Zu allem Unglück traf Sie auch noch ein schwerer gesundheitlicher Rück­ schlag. Wie fanden Sie die Kraft, wieder in die Firma zurückzukehren?

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Fo t o : © b i o R e / B ö t hli n g Foto: © bioRe / B öthl in g

Landwirtschaft

Baumwollernte im indischen Kasrawad: «Ich glaube nicht, dass Ethik und Wirtschaft sich widersprechen. Die unethische Wirtschaft läuft aus dem Ruder, die ethische balanciert aus.»

Alles ist Handarbeit: «Ich kann mir mein Leben nicht ­vorstellen ohne dieses Ringen um Bio oder eigentlich noch um viel mehr — um eine soziale Wirtschaft. Werte sind eminent wichtig.» Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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«Das ist doch mein Leben!»

Das ist doch mein Leben! Ich kann es mir nicht vorstellen ohne dieses Ringen um Bio oder eigentlich noch um viel mehr: um eine soziale Wirtschaft. Ich will das hinkriegen, wirtschaftlich und nachhaltig zu arbeiten. Ich möchte, auch wenn das nicht immer möglich scheint, dass die Menschen, die mit mir zusammen­gearbeitet haben, einen Vorteil aus dieser Zusammen­arbeit ziehen können. Ich habe gesehen, das ist noch nicht fertig. Das muss auf viel breitere Schultern, auf viel mehr Menschen, nicht einfach auf einen Patron gestellt werden. Diese Ideen des partizipativen Zusammenarbeitens, das müssen wir wirklich noch weitertragen, das muss Formen finden über eine lange Kette, so dass der Bauer bis zum Retailer durchkommt. Das alte, horizontale Wettbewerbs­modell Weber gegen Weber ist tot. Wie wichtig ist es, an seinen Werten ­festzuhalten, wenn man in der Biobranche arbeitet? Ich glaube, Werte sind eminent wichtig. Wenn es um Werte, um Glauben geht, wie kann dann Kritik an Bio – etwa aus den ­Medien – eine produktive Rolle ein­ nehmen? Ich bin kein Besserwisser. Und ich habe manchmal Mühe mit Kritik. Aber ich nehme das auf und denke immer: Es könnte etwas dran sein. Kritik wird bei uns hoch angesehen. Wir versuchen, sie für unsere Performance zu ­nutzen. So war das auch, als 2010 Berichte über gentechbelastete Bioware erschienen. Darauf haben wir unser Kontrollsystem noch mal verschärft. Und wir haben festgestellt: Wir müssen noch viel besser werden, um Gentech die Stirn bieten zu können. Sie haben in Ihrem Jahresbericht bereits 2009 auf schwere Unregelmässigkeiten ­hingewiesen. So ehrlich wie bei Hohmann war Bio vordem nie. Was hat es Ihnen ge­ bracht? Es ist mir wurscht, was die anderen dazu sagen. Wer die Wahrheit sagt, muss sich nachher nicht daran erinnern, was er gesagt hat. Der Bioanbau ist keine einfache Sache. Er bedeutet ungeheures Ringen. Das Vorspielen von Einfachheit, das macht die Gentechnik. Das ist nicht lebendig. Wenn man lebendig arbeitet, hat man Widerstände. Wenn man will, dass der Andere teilnehmen kann, muss man ihm die Wahrheit erzählen. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Nun hat Remei – vielleicht aufgrund ihrer aufwendigen Gentechkontrollen – Tausende Farmer verloren. Nehmen Sie die Gentech­ nik vielleicht zu ernst? Die Gentechnik kann man gar nicht zu ernst nehmen. Sie ist empirisch gedachter Anbau. Zuerst kam die grüne Revolution, dann gab es zu viele Unkräuter. Man vernichtete sie und damit starben die nützlichen Insekten aus. Also musste man die Pflanzen spritzen. Dann haben sich die Schädlinge unter den Blättern verteilt. Dann musste man die ganze Pflanze vergiften. Gentech: Es gibt keine Ruhe in diesem System. Auch sozial nicht: Erst haben sich die Bauern mit uns entschuldet. Dann kehrten sie zur Gentechnik zurück – und haben wieder Schulden. Wir müssen die Balance finden. Das geht nicht, indem man ganze Flächen vergiftet. Wir müssen anders denken! Bioanbau setzt Kräfte ins richtige Verhältnis zueinander. Ich bin zu alt, um noch an die Gentechnik glauben zu können. Ich sehe zu viele Widersprüchlichkeiten darin. Sie haben geringere Profite durch den Mehraufwand, den Sie für die ethischen Praktiken in Kauf nehmen. Es geht uns gut, vor allem wenn ich mich mit anderen Textilunternehmen vergleiche. Wir sind in sehr schwarzen Zahlen. Doch es geht nicht nur um Profit. Profit ist nur eine Notwendigkeit. Wir müssen gut verdienen, um sozial zu sein. Wir wollen gut verdienen und haben da unsere Ziele, aber wir wollen mehr. Der Textilhersteller Remei aus Rotkreuz nahe ­Luzern ist ein klingender Name in der Biotextilwelt. Rund 7000 Farmer in Indien und Tansania ­produzieren Baumwolle im Auftrag von Remei, der sich als Netzwerkmanager versteht. Durch ein vielstufiges Produktionssystem gelangen RemeiKleider schliesslich in die Regale von ­Monoprix, Coop und Mammut. Auch Greenpeace setzt auf Remei.

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Landwirtschaft

«Haguhans aus Brasilien, das ist doch absurd»

futter ist Soja, das in immer grösseren Mengen importiert wird. Dass das problematisch ist, war mir schon aus der Landwirtschafts­schule bekannt. Allerdings hielt ich bisher einen Verzicht auf Kraftfutter für wirtschaftlich nicht machbar. Ist reine Grasfütterung ein Konzept, das bei Bauern in Vergessenheit geraten ist? Ja. Der Einsatz von Kraftfutter ist seit einiMit Martin Aebi sprach ­ gen Jahren Standard. Die meisten Bauern Claudio De Boni ­wollen primär eine hohe Milchleistung pro Kuh erzielen. Das ist in den Köpfen drin und erschwert den Umstieg auf Grasfütterung. Wenn die durchschnittliche Milchmenge pro Kuh sinkt, wird man schräg angeschaut. Mein Ziel ist es, möglichst viel Milch pro Hektare Land zu produzieren. Das ist eine sinnvollere Messeinheit, die aber momentan leider noch nicht ho­noriert wird. Welches sind denn die grössten Hindernisse bei der Umstellung? So eine Umstellung gelingt nicht von heute auf morgen. Das Schwierigste ist der fehlende Erfahrungsaustausch. Es gibt fast keine gesicherten Werte aus der Praxis darüber, wie man mit Kraftfutter hochgezüchtete Kühe wieder auf eine lokale Fütterung umstellen kann. Anderseits ist es schwierig einzuschätzen, welche Rassen wie auf die Futterumstellung reagieren und wie viel Milch sie dann noch geben. Das ist aber entMartin Aebi (35) und seine Frau Gudrun (30) kommen aus einer Bauernfamilie und haben drei scheidend, denn als fünfköpfige Bauernfamilie muss man genau kalkulieren. Grasmilch müsste Kinder. Im hügeligen Emmental halten sie ­Kühe und Schweine. Die Kühe wollen sie dieses also sicher mehr kosten als konventionell Jahr auf Grasfütterung umstellen, denn Soja­ mit Kraftfutter hergestellte Milch. Qualität hat importe aus Übersee für Futtermittel sind ökolo- ihren Preis. gisch und sozial problematisch. Einfach sei die Wie gross sind die mengenmässigen Umstellung in der Praxis jedoch nicht. Einbussen in der Milchproduktion nach der Umstellung? Greenpeace: Martin Aebi, Sie halten Wir rechnen damit, dass unsere Kühe im 16 Kühe. Was fressen die und wie viel Milch Schnitt 20 bis 25 Prozent weniger Milch geben geben sie? werden. Ob wir diesen Minderertrag mit den Martin Aebi: Im Sommer grasen die Kühe Einsparungen beim Futtermittelkauf kompensie­ auf der Weide. Im Winter fressen sie Heu und ren können, ist fraglich. Denn mehr Heu pro­ Kraftfutter. Eine Kuh gibt etwa 6000 Liter Milch duzieren bedeutet auch mehr Aufwand. Ausserpro Jahr, wobei die Menge von der Rasse abhän- dem muss man die Zucht umstellen, sowohl was die Kreuzung der Rassen als auch was den gig ist. Wir könnten vom Platz her 19 K ­ ühe halten, erreichen unser Milchlieferrecht aber schon Rhythmus der Geburten angeht. Vieles ist ­un­berechenbar, aber immerhin arbeiten wir mit mit 16. der Natur. Künftig wollen Sie Ihren Kühen möglichst Sie gehen mit der Umstellung freiwillig ein nur noch Gras verfüttern. Wieso das? Risiko ein. Ist die Sorge um die ökologischen Ausschlaggebend war ein «Kassensturz»und sozialen Konsequenzen der Soja­ Beitrag über den Schweizer Kraftfutterimport aus Übersee. Ein wichtiger Bestandteil von Kraft- produktion in Übersee Ihr einziger Antrieb?

Der Anbau von Soja in den Produzentenländern ist alles andere als nachhaltig: Monokulturen, hoher Pestizid­einsatz, Biodiversitätsverluste, Bodenerosion, Gewässer­verschmutzung und die direkte Konkurrenz zur Ernährung der lokalen Bevölkerung sind die tragischen Folgen.

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Fo t o : © G r een peac e / S c heu

Haguhans aus Brasilien

Nein. Ich verspreche mir damit auch eine bessere Gesundheit der Kühe. Zudem ist erwiesen, dass Milch aus Grasfütterung bessere Nährwerte aufweist als konventionell produzierte Milch. Schliesslich ist die Grasfütterung auch schlicht sinnvoll: Kühe sind Wiederkäuer, und wir können Milch mit Futter aus unserer Um­ge­ bung produzieren. Wir stellen in unserer Ge­ nossenschaftskäserei Emmentaler und andere lokale Spezialitäten her, zum Beispiel Raclette oder einen feinen, würzigen Käse mit dem ­Namen «Haguhans». Das ist eine Figur aus Gotthelfs «Ueli der Knecht». Haguhans aus Brasilien, das ist doch absurd. Während des Interviews mit Martin Aebi bekam die Kuh Helga ihr drittes Kalb. Aebis suchten einen ­Namen, der mit H beginnt, und entschieden sich für Hina — ein Tipp von Greenpeace, denn so heisst ­unsere Bildredaktorin, die gerade Mutterschaftsurlaub geniesst.

Hintergründe und Ausblicke Wir Schweizer konsumieren zu viel Fleisch, Milchprodukte und Eier. Dafür ist ein grosser Nutztierbestand nötig, was zu überdüngten Böden und ­Gewässern, zu einem Verlust der Pflanzen- und Tiervielfalt sowie zu Treibhausgasemissionen führt. Es braucht fast noch einmal die gesamte Acker­ fläche der Schweiz (275 000 ha) im Ausland, um den Futtermittelbedarf von Kühen, Schweinen und Hühnern zu decken. Mittlerweile importieren wir rund 300 000 Tonnen Soja pro Jahr, also etwa 800 Tonnen pro Tag. Gemäss Statistik hat sich die Menge seit 1990 verzehnfacht! Ein Greenpeace-Bericht deckt auf, weshalb immer mehr Soja verfüttert wird und wie die Importmenge reduziert werden könnte. So haben die Ausdehnung der Milch- und Geflügelproduktion, die leistungssteigernde Optimierung der Nutztierfütterung, sinkende Importpreise und das 2001 ­erlassene Tiermehlverbot zu einem wachsenden Sojafutterberg geführt. Aber auch finanzielle ­Anreize, wie zum Beispiel die Verkäsungszulage oder die hohen Tierbeiträge, wirken sich auf die verfütterte Sojamenge aus. Geschätzte 41% der importierten Soja wird an Milchkühe, Kälber und Rinder verfüttert (29% an Schweine, 26% an Ge­ flügel). Kühe könnten ihren Nährstoffbedarf aber praktisch vollständig aus einheimischem Weidegras, aus Heu und Gras-Silage decken. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Soja wird vor allem an Kühe verfüttert, die auf eine hohe Milchleistung hin gezüchtet werden. In der Rindviehfütterung liegt damit das grösste Potenzial zur Reduktion von Importsoja — zum Beispiel mit einer konsequenten Ausrichtung auf die ­einheimische Raufutterbasis: Wiesen und Weiden. Das ist gut für die Umwelt, zudem ist es tiergerecht und vermindert die Überproduktion von Milch und Fleisch. Darüber hinaus weisen Milch und Fleisch von Tieren, die nur mit Wiesenfutter ernährt werden, höhere Gehalte an mehrfach ungesät­ tigten Fettsäuren auf. Greenpeace fordert deshalb eine an die lokalen Verhältnisse angepasste Milch- und Fleischproduktion. Zudem müssen auf politischer Ebene Anreize für eine ökologischere Rindviehfütterung geschaffen werden. Und der Markt muss bereit sein, diese ­Produkte zu fördern. Während Bioproduzenten ­bereits reduzierte Mengen Kraftfutter an Kühe verfüttern, bemüht sich auch die Label-Organi­ sation IP-­Suisse um die Einführung von Grasmilch aus grasbasierter Fütterung. Greenpeace ­begrüsst solche Initiativen und setzt sich dafür ein, dass eine ­möglichst kraftfutterfreie Rindviehfütterung wieder zum Standard wird. Greenpeace-Bericht zum Downloaden unter: greenpeace.ch/soja

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Überraschende Fakten

Nach Ansicht der Wissenschaftler hat das Leben in den Weltmeeren vor rund drei Milliarden Jahren begonnen. Die durchschnittliche Ozeantiefe beträgt etwa 3,7 Kilometer. Der Marianen­graben ist die tiefste Senke der Weltmeere. Sein tiefster Punkt liegt mehr als 11 Kilometer unter der Meeres­ober­fläche. Der Mount Everest (8847 m) ist nicht der höchste Berg der Erde. Diese Ehre fällt dem Mauna Kea auf Hawaii zu: Vom Meeresboden aus ragt er 10 200 Meter in die Höhe. Tintenfische haben drei Herzen. Der Blauwal ist das grösste Tier auf der Erde und übertrifft jeden einstigen Dinosaurier. Sein Herz ist so gross wie ein VW Käfer. An Geschichten über Meeresschlangen ist vielleicht doch etwas dran: Die Wesen waren aber keine Ungeheuer, sondern sehr seltene Fische. Anlass zu Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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I ll ust rat io n: © Gi sbert La nge / www.gree npeac e- maga zin . de

Horrorstorys gaben wahrscheinlich Sichtungen von Exemplaren des Riemenfischs (Regalectus glesne), des mit bis zu 15 Metern Länge grössten Knochenfischs der Weltmeere. Der Druck am tiefsten Punkt des Meeresgrundes entspricht demjenigen von 50 aufeinandergeschichteten Jumbo-Jets auf einen liegenden Menschen. Obwohl Korallenriffe nur 0,5% des Meeresbodens bedecken, sind mehr als 90% aller Meeresarten direkt oder indirekt von ihnen abhängig. Die Antarktis umfasst gleich viel Eis wie der Atlantische Ozean Wasser. 90% unserer Bestände von grossen Raubfischen sind verschwunden. Der Begriff «Arktis» (von Arktos) stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Bär.


Dieses ­Schiff ist ein Sonderling Die Geburt der Rainbow Warrior III in ihrer Werft Von Thomas Jucker

Flotte

Üblicherweise zerschmettert die Taufpatin eine Champagner­ flasche am Rumpf. Dann wird das Schiff zu ­Wasser gelassen und läuft zu seiner ersten Seereise aus. Die Rainbow Warrior III aber hat ihre Jungfernfahrt schon hinter sich, obwohl sie noch längst nicht fertig gebaut ist. Und das ist nur eine von vielen Besonderheiten des faszinierenden neuen Greenpeace-Flaggschiffs.

Das Modell der Rainbow Warrior III im Empfangsraum der Fassmer-Werft ist nicht zu übersehen. Der grün lackierte Rumpf mit dem auf­ gemalten Regenbogen, die fünf schneeweissen Segel und die ungewöhnliche Silhouette ziehen den Blick magisch an: Das neue GreenpeaceSchiff ist schon heute ein Star. Dabei hat die Werft viel grössere und teurere Schiffe gebaut, von denen sie ebenfalls Miniaturen besitzt. Doch die J­ uwelen unter Glas stehen in den hinteren Korridoren des Unternehmens. Fassmer ist eine vielseitige Werft. Sie baut Fähren, Vermessungs- und Forschungsschiffe, Rettungskreuzer, Luxusyachten und HochseePatrouillenschiffe für Militär, Zoll und Küstenwachen; komplizierte Konstruktionen für spe­ zifische Aufgaben. In den Hallen an der Weser zwischen Bremerhaven und Bremen werden auch Rettungsboote hergestellt und Flügel und Verkleidungen für Offshore-Windkraftanlagen. «Wir liegen im Zeitplan», sagt Uwe Lampe (52), einer der Projektleiter von Fassmer und verantwortlich für den Bau der Rainbow Warrior III. «Das Schiff wird in der zweiten Junihälfte eingewassert.» Danach soll es während sechs Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Wochen für die «Pier-Erprobung» vor der Werft am Quai liegen: In dieser hektischen Zeit testen die Ingenieure die Systeme und die Handwerker vollenden die Ausbauarbeiten. Gleichzeitig werden die riesigen Masten aufs Deck gestellt und die Segel mit ihren Rollanlagen eingebaut. Mitte September folgt eine zweiwöchige Erprobung auf dem Meer. Genau genommen wird dies die zweite Seereise der Rainbow Warrior III sein. Das Schiff war schon im vergangenen November zwei Tage auf dem Meer. Damals wurde der stählerne Rumpf von einem Schlepper von Polen nach Bremerhaven und die Weser hinauf zur FassmerWerft gezogen. Die rund 1100 Kilometer legte der Schleppverband in fünfzig Stunden zurück. Viel schneller wird auch das fertige Schiff nicht sein. Die Rainbow Warrior wog damals erst 320 Tonnen und bestand lediglich aus dem Stahlkasko, also den Teilen von Rumpf, Deck und Aufbauten, die aus Stahl sind: ein unfertiges Schiff, nur geschützt von der roten Grundierung. Der Bau des Kaskos in der Maritim-Werft in Gdansk – einem Unternehmen, das sonst Containerschiffe baut – dauerte ein halbes Jahr. Als

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P lä ne: © Fassmer / Dij kstra & Pa rt ners

Rainbow Warrior III Die Rainbow Warrior III verfügt unter anderem über 30 Kojen, einen Helikopterlandeplatz, ein kleines Spital und einen Raum für ­Abfalltrennung.


verschiedenartige Schlauchboote, die mit Kränen blitzschnell gewassert werden können. Die Liste der Spezialitäten ist lang: modernste Kommu­nikationssysteme, mit denen Medien mitten auf dem Ozean mit Bildern belie­fert werden können, ein Kampagnenbüro und ein Konferenzraum für 50 Personen, ein kleines Hospital, die ungewöhnliche Takelage und der elektrische Antrieb der Welle. Dazu kommen ein Stauraum für Schweissflaschen sowie Werkstätten für Reparaturen an Schiff, Beibooten und Motoren. In einem Raum für die Abfalltrennung stehen zwei Müllpressen sowie ein Gerät, das Glasflaschen zerkleinert. Die RW III, wie sie auch genannt wird, ist ein richtiges Segelschiff und nicht bloss – wie ihre Vorgängerinnen – ein Fischkutter, dem Greenpeace das Segeln beigebracht hat. Die neue RainErstes schnitt ein computergesteuerter Plasma- bow Warrior, so hoffen die Seeleute bei Greencutter Hunderte von Teilen aus sechs bis fünfpeace, wird neun Zehntel ihrer Fahrten unter zig Millimeter dicken Stahlplatten. Dann wurden Segel bewältigen und den Motor nur bei Flaute die Stücke zu acht Sektionen zusammengeoder Notfällen einsetzen. Das Schiff wird ein schweisst. Und schliesslich setzten die Schiffbau- exzel­lenter Segler sein – dafür bürgt der Name er diese vorfabrizierten Teile zu einem Rumpf seines holländischen Designers: Gerard Dijkstra mit Kiel, Deck und Teilen der Aufbauten zusam- & ­Partners haben viele weltberühmte Segelmen. yachten gezeichnet. Um gute Segeleigenschaften zu erzielen, Die Vorarbeit dauerte ein Jahr verfügt die Rainbow Warrior III über einen aero­ Die Arbeit der Fassmer-Werft hatte schon dynamischen Kiel, der dem Rumpf einen Tiefviel früher begonnen. Gerd Leipold, damals gang von 5,1 Meter verleiht. Der wird mit 44 TonExe­cutive Director von Greenpeace Internatio- nen Blei gefüllt, die das Schiff aufrecht halten nal, hatte den Bauvertrag am 2. Juli 2009 unter- und den Druck der 1290 Quadratmeter Segelfläzeichnet, worauf sich die Ingenieure sofort an che ausgleichen. die Arbeit machten. Die Zeichnungen des holAuch das Blei steht auf der langen To-doländischen Yachtdesigners Gerard Dijkstra, der Liste, die bis zum Stapellauf abgearbeitet werdie Rainbow Warrior III entwarf und entwickelden muss. Es wird in 1630 Barren à 27 Kilote, mussten in Computerprogramme übertragen gramm von Hand in den Kiel gehievt. Im Kiel werden, die später die Schneidmaschine steuerklafft deshalb an einer Seite eine grosse Öfften. Die Ingenieure errechneten die Dicke jedes nung. Erst wenn das Blei eingefüllt ist, wird der Bestandteils samt der zu erwartenden BelasKielkasten zugeschweisst und mit Druckluft tung. Fast ein Jahr dauerte die minutiöse Vorar- auf Dichtigkeit geprüft. Dass in Segelschiffen beit, bei der jede Hydraulikleitung, jedes Strom- Blei verwendet wird, liegt an seiner Dichte und kabel, jede Wasserleitung sowie die Bestandtei- daran, dass Segelboote wie Stehaufmännchen le des Maschinenraums und der Takelage auf ­einen tiefen Schwerpunkt brauchen. Beton etwa den Bildschirmen Gestalt annahmen. Auch die kommt als Ballast nicht in Frage: Er braucht zu dreissig Kojen, die Tische, die Toiletten und viel Platz. Ein Kubikmeter wiegt 2,4 Tonnen, die ­Küche wurden ins virtuelle Schiff ein­gebaut. wogegen ein Kubikmeter Stahl bereits 7,9 TonDie Rainbow Warrior III ist ein kompliziernen schwer ist. tes Schiff. Nur wenige andere verfügen über Ein Kubikmeter Blei dagegen wiegt 11,3 einen Helikopterlandeplatz, was einen 3000­Tonnen! Das Metall wird deshalb als Ballast beLiter-Tank für Flugbenzin nötig macht. Und auf vorzugt, obwohl es sehr teuer ist. Bei einem kaum einem anderen Schiff findet man so viele Kielgewicht von 44 Tonnen läppern sich Kosten

Flotte

Die Rainbow Warrior III verfügt über ­Abwassertanks, deren 60 000 Liter in den Häfen abgepumpt werden können.

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Gigantisches Puzzle: Die Rumpfteile wurden in der Maritim-Werft im polnischen Gdansk gefertigt. Der Rohbau wog 320 Tonnen.

Foto : © O li ver Tja den / Gre enpe ace

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Flotte

von 150 000 Franken zusammen. Blei ist ein Schwermetall, also giftig. Greenpeace nimmt das in Kauf. Blei kann dafür im Gegensatz zu Beton und anderen Ballastmaterialien fast endlos wiederverwertet werden. Das Schiff erhält einen Green Passport Damit sind wir bei einer weiteren Spezialität der Rainbow Warrior III: Greenpeace will, dass sein Flaggschiff das umweltfreundlichste seiner Art wird. Das hat seinen Preis und stellte den Innovationsgeist der Schiffbauer zusätzlich auf die Probe. Die RW III verfügt über Abwassertanks, deren 60 000 Liter in den Häfen abgepumpt werden können. Grau- (Abwasch- und Duschwasser) und Schwarzwasser (Fäkalien) werden in einer Bordanlage vorgeklärt, ­damit sie im Notfall auf dem offenen Meer ent­sorgt werden können. Weitere Tanks fassen bis zu 2700 Liter Altöl sowie 3500 Liter Wasser aus der Bilge, dem tiefsten Punkt des Schiffsinnern. Dort sammeln sich nebst Kondenswasser auch andere Flüssigkeiten, die an Bord auslaufen. Das Schiff wird einen Green Passport beziehungsweise einen Environmental Passport ­erhalten. So jedenfalls bezeichnete man bis vor kurzem die IHM-Richtlinien (Inventory of ­Hazardous Materials), die heute gültigen Normen des Germanischen Lloyd, der Klassifizierungsgesellschaft für Schiffe. Jeder Bestandteil des Schiffes wird in Tabellen erfasst, die seine Charakteristiken bezüglich neun ozonschädlicher Substanzen sowie neun Schwermetallen verzeichnen. Die Idee ist, dass man beim späteren Verschrotten genau weiss, was wie rezyklierbar ist und wo sich das Material befindet. Diese IHM-Erfassung ist eine Sisyphusarbeit, denn während Gase wie das ozonschädliche Halon heute leicht ersetzbar sind, finden sich Schwermetalle auch in elektronischen Bestandteilen wie Transistoren und Dioden. Und ­Elektronik gibt es auf einem Spezialschiff von 58 Metern Länge fast überall. Uwe Lampe, der zurückhaltende Projektleiter, seufzt leise: «Wir haben 160 Zulieferer und müssen von allen ­genaue Aufstellungen über die Substanzen in ihren Produkten anfordern.» Wer die Halle betritt, in der die Rainbow Warrior III entsteht, wird von der Grösse des Schiffes fast erschlagen: Es wirkt gigantisch und füllt den Raum fast vollständig aus. Der Tiefgang von über fünf Metern verstärkt den EinMagazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Die RWIII, wie sie auch ­genannt wird, ist ein ­richtiges Segelschiff und nicht bloss — wie ihre ­Vorgängerinnen — ein Fisch­kutter, dem ­Greenpeace das ­Segeln ­beigebracht hat.

druck der Grösse noch. Die Wasserlinie, also jene Ebene, über der ein schwimmendes Schiff aus dem Wasser ragt, liegt zurzeit in über sechs Metern Höhe, weil Rumpf und Kiel auf den Roll­ gestellen der Slipwagen stehen, auf denen das Schiff in die Halle gefahren wurde. Besucher klettern neben dem Schiff Stockwerk um Stockwerk das Gerüst hoch und fühlen sich wie Ameisen. Beim Gang über das geräu­ mige Deck stimmen dann die Proportionen wieder. Hier ist eine stählerne, seefeste Tür, dort die von einer massiven Reling eingefasste Fläche, auf der später die Beiboote verstaut werden. Beim Steuerhaus sind die Fensteröffnungen noch nicht ausgeschnitten, damit sich das Aluminium bei den Schweissarbeiten nicht verzieht. Der Blick über das Seitendeck zum Bug offenbart schon deutlich den Charakter des Schiffes. Wer die Augen leicht zukneift, ahnt die riesigen ­Segel an den Masten und glaubt zu spüren, wie es sich eines Tages leicht neigen wird unter dem Druck der 50 Meter hohen Takelage. Man könnte lange auf dem Deck stehen, die vielen Details betrachten und die Stimmung aufnehmen. Doch es ist 12 Uhr und Uwe Lampe folgt seinen Schiffbauern zum Mittagessen. Ein letzter Blick fällt auf das glänzende Modell im Empfangsraum der Werft. Durch die geöff­ nete Glastüre weht eisige Luft. Grauer Himmel, schneidender Wind. Noch ist das Meer nicht in Sicht.

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Bis auf 5 Millionen Franken ist das Geld beisammen! ­Vielen Menschen ist das Segelschiff, das zurzeit im Bau ist, bereits ans Herz gewachsen. Sie wollen Teil der Rainbow Warrior III werden und mit uns Geschichte schreiben. Anlässlich der Herbst-Sammelaktion hatten wir eine ­Aufnahme im Spenden­reglement für drei Monate ­beschlossen, obwohl das Reglement vorgibt, projektbezogene Spenden erst ab 10 000 Franken zu akzeptieren. Manche Menschen entschieden sich für 5 Franken, ­andere für 250 000, je nach Möglichkeit. Jeder Beitrag ist wichtig — und die Gründe zum Spenden sind so verschieden wie die Menschen. Eine Spenderin zum Beispiel ­verzichtete auf einen Diamantring, den sie vom Ehemann zum 25. Hochzeitstag bekommen sollte. Den Wert des Ringes spendete sie Greenpeace. Bei anderen war es der Reiz, zukunftsträchtige meeresökologische Technologie zu ermöglichen, mit der sich Mass­stäbe für die Seefahrt setzen lassen. Andere wiederum fasziniert das Green-

peace-Schiff als Symbol für Hoffnung und Umweltgerechtigkeit, ob es nun die Rainbow Warrior I, II oder III ist. Und nicht wenige ­entschieden sich für eine Spende, weil ein schnelleres Greenpeace-Schiff mehr Schutz für die Meere und ihre Biodiversität bedeutet. Etliche Medien boten uns auch kostenlose oder günstige Werbemöglichkeiten. Wir schätzen die Unterstützung unserer Schweizer Spenderinnen und Spender und werden ihnen nach dem Stapellauf im Herbst 2011 gerne von den ersten Erfolgen unserer neuen Öko-Kämpferin erzählen. Spenden über 5000 Franken für die Rainbow Warrior III wollten wir an dieser Stelle ursprünglich mit Namen verdanken, aber die Mehrzahl der Spenderinnen und Spender wünschten explizit, nicht erwähnt zu ­werden. Somit verzichten wir auf Einzelnennungen und danken auf diese Weise all denen, die den Bau der RW III speziell grosszügig unterstützt haben.

Fo to : © Ol iv er T ja den / Green peace

Vielen Dank! Mit der Hilfe zahlreicher Schweizer Spender­innen und Spender kann Greenpeace Schweiz 1,4 Millionen Franken zur neuen Rainbow Warrior III beitragen, zur neuen Heldin der Meere. Vergangenen Herbst machten uns die Kosten für den Bau unseres neuen Flaggschiffs RW III noch ratlos. Zu den 30 Millionen Gesamtkosten fehlten 17,5 Millionen: ein schwindel­er­regen­der Betrag, auch für eine inter­nationale Organisation mit eigener Flotte. Der Aufruf an unsere Spenderinnen und Spender — in der Schweiz und in der Welt — hat ein kleines Wunder bewirkt.


Die Kettensägen schweigen

In seiner Verzweiflung wandte sich der ­ entierzüchter an Greenpeace. Bei nächtlichen R Tem­peraturen von bis zu –30°C wurde im Früh­ jahr 2005 ein «Forest Rescue Camp» im hohen ­Norden errichtet und bezogen. Die Aktivisten Von Lisa Begere liefen mit den Sami durch den verschneiten Wald, hängten Schilder mit der Aufschrift: «Achtung! Wichtiger Wald für die Rentierwirtschaft!» auf und nutzten Hundeschlitten, um den Wald zu vermessen. Nicht alle Dorfbewohner waren ­begeistert – neben den Hirten leben auch Holzfäller in der Region. Sie errichteten ein «Anti-­Terror-Camp». Bäume wurden gefällt und angezündet, die Feuersirenen liefen in der Nacht und die Aktivisten wurden mit Schneemobilen eingekreist. Kalevi Paadar aus Nellim lebt wie seine VorfahDoch Greenpeace blieb und nahm Kontakt ren von der Rentierzucht. Der Hirte gehört den zu Unternehmen auf, die an der Rodung be­ Sami an, dem indigenen Volk Finnlands. Er teiligt sind. Nach dem Besuch des Geschäftsfühstreift mit seinem Schneemobil auf den Spuren rers von Stora Enso, einer Papierfirma, blieb der Rentiere durch die Wälder Lapplands. In der Forstbetrieb dem Wald fern. Das Camp wurden langen, dunklen Wintern ernähren sich sei- de abgebaut. ne Rentiere von Bartflechten, die nur an Ästen Kurze Zeit später waren die Motorsägen der teilweise jahrhundertealten Bäume wachsen. wieder zu hören. Paadar klagte beim Amtsge500 Kilo Flechten liefert ein Hektar Urwald, richt in Ivalo gegen den finnischen Staat und nur fünf Kilo ein bewirtschafteter Forst. nach Beratung mit Greenpeace auch beim UNFinnland trägt mittlerweile nur noch drei Menschenrechtsrat. «Die Abholzung beeinProzent zum Restbestand des europäischen trächtigt die Rentierhaltung und bedroht so die Urwaldes bei. Die fortschreitende Entstehung Kultur der Sami», lautete deren Einschätzung. von eintönigen Forstplantagen ist der Grund Auf Empfehlung der UNO liess die Forstbehörde für die Bedrohung Hunderter Tier- und Pflanzen- ihre Arbeit rund um Nellim vorerst ruhen. arten. In den Forsten fehlt es an Totholz, dem Greenpeace blieb weiterhin am Ball – unter ande­Lebensraum vieler Nützlinge und Zeichen für rem mit gross angelegten Protestaktionen im einen lebendigen Wald. Bereits kleinere Kahl­Hafen von Lübeck, wo Frachter finnisches Papier schläge zerstören den Urwald – zuerst suk­zessive, nach Deutschland brachten. dann unwiederbringlich. Durch die rauen BeHeute sind 1500 Quadratkilometer Urwald dingungen in der polaren Region wächst die Vevor den Kettensägen der Papierindustrie dauergetation dort extrem langsam – was einmal haft geschützt. Der langjährige Einsatz von ­abgeholzt ist, kann nicht wieder aufgebaut Greenpeace im Verbund mit den Sami hat sich ­werden. Obwohl sich die finnische Papier- und gelohnt. Ein entsprechender Vertrag wurde im Holzindustrie als nachhaltig bezeichnet, opfert Dezember 2010 in Helsinki unterzeichnet. sie die letzten Reste des Urwalds für Zeit­ Die genaue Kartografierung lokalisiert den schriften und Verpackungsmaterial. schützenswerten Wald, in dem in den nächsten Jahrelang hat Paadar gegen die brummen20 Jahren auf Holzschlag verzichtet wird. den Motorsägen in seinem Wald gekämpft. In ­Davon, dass der Holzschlag danach wieder aufden Siebzigerjahren begann der staatseigene genommen wird, geht keine der Parteien aus. finnische Forstbetrieb Metsähallitus im grossen Stil zu roden und das Gebiet der Sami dadurch Jahr für Jahr zu verkleinern. Paadar sah das Über­ leben der Rentiere gefährdet und begann mit dem Forstbetrieb zu verhandeln, der jedoch stets weitere Gebiete einforderte.

2011 — Jahr des Waldes

Greenpeace hat den Kampf um die Erhaltung eines ­Urwaldgebietes in Lappland gewonnen. Für die Ren­ tierzüchter der Sami ist das überlebenswichtig.

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Fot o: Š Mat t i S ne ll man / Greenp eac e


Viele Bio-fische sind falsch ernährte ­Häftlinge Von Bruno Heinzer — Bio-Shrimps aus Bang­ ladesh, Bio-Pangasius aus Vietnam, Bio-Forelle aus Schweizer Zucht …

In Kürze

Bio, Bio, Bio. Die Auswahl für umweltbewusste Fischkonsumenten ist mittlerweile gross. Ob das hoch gelobte Label auch bei Fischen wirklich Nachhaltigkeit und artgerechte Tierhaltung garantiert, lässt sich aber nicht so einfach bestätigen. Bio-Fisch ist freilich die bessere Wahl als Fisch aus industriellem Fang oder aus unkontrollierter Aquakultur. Aber jeder Bio-Fisch lebt letztlich in «Käfighaltung» und wird künstlich gemästet. Das trägt zwar dazu bei, jenen Kon­ sumenten eine Alternative zu bieten, die keinen überfischten Fisch essen möchten. Bio-Zucht schont zerstörte Lebensräume und gestörte Kreisläufe. Aber tiergerecht ist sie selten. Anders gesagt: Bio-Kühe und Bio-Hühner bekommen Auslauf, Bio-Fische nicht.

Leider erhält echt nachhaltige Zucht wie die jahrhundertealte asiatische Teichwirtschaft mit Pflanzen fressenden Fischen und Enten in überschwemmten Reisfeldern kein Bio-Label. Ebenso wenig wie in natürlicher Umgebung lebende Wildfische aus gesunden, nachhaltig genutzten Beständen. So ist beispielsweise pazifischer Wildlachs aus staatlich kontrolliertem Fang in Alaska norwegischem Bio-Zuchtlachs vorzuziehen. Ökologisch und tierschützerisch gesehen schlagen Felche und Egli aus dem ­Zürich- oder Zugersee eine «Bio-Forelle» aus der Zucht im Steinbecken. Fazit: Manchmal ist der Wildfang bestimmter Fische beim Einkauf die beste Wahl. Da heisst es also ganz genau hinschauen. Der Green­ peace-Fischführer kann dabei helfen. Es gibt ihn nun auch als iPhone-App. Da heisst es dann klipp und klar: Bio hin oder her, Hände weg von Raubfischen aus Zucht wie Lachs, Forelle, Egli, Zander oder Wolfsbarsch. Lachs gehört nur auf den Tisch, wenn er aus Alaska kommt. Und nachhaltig geniesst, wer sich Süsswasser-Raubfische aus hiesigen Seen gönnt. Den Fischratgeber können Sie downloaden oder als App installieren: www.greenpeace.ch/app.

Die meistverkauften Zuchtfische Lachs und Forelle sind räuberische Einzelgänger und Wanderer. Auch wenn die so genannte Besatzdichte (Tiere pro Wasservolumen) bei der BioZucht etwas tiefer liegt, ist sie doch immer noch weit entfernt von einer artgerechten Tierhaltung. Bei Raubfischen in Gefangenschaft wird die Ernährung immer ein Problem bleiben. ­Etwas besser geeignet sind Pflanzen- und Allesfresser wie Karpfen und Pangasius. Auch Shrimps sind keine Käfigtiere. Eingepfercht pflanzen sie sich nicht mehr fort. Bei Bio-Zucht leben die Shrimps in den Mangrovenwäldern, bewahren diese und es wird auf Zu­ fütterung verzichtet. Erstes Ziel sollte nämlich sein, die natürlichen Habitate und Lebenszyklen zu erhalten. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Il lustrati one n: © G re enpeace / S. Scha dwink el

Fischzucht


Muttenz

Bewusster Einkauf

I llustration: © C o d echeck .inf o

Das Handy zeigt, wo man Zulangen darf

Seelachs und andere Arten sind über­fischt. Die Gratis-App auf iPhone oder Android zeigt, ­welcher Fisch nicht auf den Tisch gehört. Codecheck.info bietet aber auch Produktinfor­ mationen zu anderen Lebens­mitteln. Ein Strichcode-Scan mit der Handykamera, und schon erscheinen die Informationen zum Fischprodukt auf dem Display. Auch wer den Einkauf übers Internet auf www.codecheck.info prüfen will, wird optimal ins Bild gesetzt. Die Plattform verfügt im deutschen Sprachraum über die grösste unabhängige Produktedatenbank (über 90 000 Produkte) und wird von einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Zürich betrieben. Das junge Team verlässt sich auf Expertisen von unabhängigen Gesundheits-, Konsumentenschutz- und Umweltorganisationen sowie auf eine Community, die selber Produkte erfasst, bewertet und Daten prüft. Das Konzept stösst auf Anerkennung und wurde international schon mehrmals ausgezeichnet. Die App ist für iPhone und Android erhältlich. Die Fischinformationen liefern Experten von Greenpeace Schweiz. Codecheck bietet auch Informationen zu Palmöl, weil dafür riesige Flächen des indonesischen Urwaldes gerodet und Tausende von Tierarten gefährdet werden. Das dabei freigesetzte CO2 setzt dem Weltklima zu. Bereits plant ­Codecheck weitere Produktinformationen für einen bewussten Konsum. Codecheck bringt mehr Transparenz in den Markt und fördert damit Qualitätsprodukte, denn was nicht gekauft wird, verschwindet aus den Regalen. www.codecheck.info

Neue Allianz gegen ­Chemiemüll

16 Organisationen, Parteien und Verbände beider Basel setzen sich neu als Allianz Deponien Muttenz (ADM) dafür ein, dass die Chemiemülldeponien in Muttenz BL sicher saniert werden und das Trinkwasser in einem mehrstufigen Verfahren aufbereitet wird. Alle Ar­beiten sollen unter neusten technologi­schen Aspekten definitiv erledigt und die Kosten von Novartis, Syngenta, Clariant und BASF übernommen werden. Vorbild ist das jurassische Collectif Bonfol (CB), das seit elf Jahren die Sanierung der Chemiemülldeponie Bonfol begleitet. In der ADM sind die SP, die Grünen und die Gewerkschaft Unia vertreten. Nebst Greenpeace waren an der Gründung auch der WWF, das Aktionskomitee Chemiemüll weg! sowie der VCS dabei.

GreenLeaks

Aufklärer und ­Frühwarner

Missstände in den Bereichen Umwelt, Klima und Verbraucherschutz aufdecken – das ist der Zweck der Onlineplattform GreenLeaks, die im Januar in Berlin ans Netz gegangen ist. Journalisten, Juristen und Aktivisten haben sich ­dafür zu einer Gruppe um den australischen Dokumentarfilmer Scott Millwood vereint. Im Brennpunkt sollen nicht bloss illegale Aktionen im Emissionshandel oder Umweltsünden von Grosskonzernen stehen, sondern auch fragwürdige Praktiken im lokalen Bereich. Die GreenLeaks-Betreiber verstehen sich aber – anders die Leute hinter WikiLeaks – nicht als Ankläger von Firmen und Regierungen, sondern eher als Partner, die früh auf Probleme hinweisen. Auf diese Weise sollen Verantwortliche früh genug Abhilfe schaffen und Katas­ trophen wie etwa die im Golf von Mexiko verhindern können. GreenLeaks will an allen gemeldeten Fällen dranbleiben, bis gehandelt wird. Die Betreiber erstellen derzeit einen sicheren elektronischen Briefkasten, über den Informationen anonym auf die Plattform geschickt werden können.

www.greenleaks.org Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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UBS

Buchtipp

© WALD E

+ G RAF V er lag / I l l u s trationen Rob ert C r u m b

Die Bank will ­sauberes Palmöl

In Kürze

Leitfaden für zivilen Ungehorsam

Frech, witzig und endlich auf Deutsch erhältlich ist das Buch «Die Monkey Wrench Gang», das 1975 auf Englisch auf den Markt kam. Die Story dreht sich um eine Gruppe freakiger Ökoaktivisten, die den zivilen Ungehorsam und – der guten Sache zuliebe – den Umgang mit Sprengstoff üben. Illustriert wurde der Band, den Greenpeace trotz ihrer gewaltfreien Philosophie empfiehlt, vom Kultzeichner Robert Crumb. Erhältlich im Verlag Walde+ Graf: www.waldegraf.ch Buchtipp

Kritik am W ­ achstumswahn

Für eine radikale Abkehr von der Wachstumsideologie plädiert das bewährte Autorenteam Urs Gasche und Hans­peter Guggenbühl im neuen Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn». Das zur Religion er­ hobene Wirtschaftswachstum zerstört nicht nur die Natur, sondern lässt sich in den Industriestaaten nur noch durch eine «Verschuldungsorgie» aufrechterhalten. Die Autoren analysieren jedoch nicht nur kompetent die Absurdität von Energieverschleiss und modernem Finanzkapitalismus, sondern schlagen auch eine ganze Reihe von Lösungen vor, die aus der Wachstumssackgasse herausführen. Zu bestellen unter: www.rueggerverlag.ch

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Welche Richtlinien gelten für die UBS bei Geschäften im Palmöl- und Forstsektor? Das war die Kernfrage einer Greenpeace-Kampagne, die im Dezember begann. Der Grund war, dass die UBS mit umstrittenen Firmen wie jenen der indonesischen Sinar-Mas-Gruppe Geschäfte im Palmöl- und Zellstoffsektor macht. Beide Produktionen tragen massiv zur Zerstörung des indone­ sischen Urwalds bei. Die Bank hat nun kürzlich ein Papier publiziert, in dem sie ankündigt, die Beziehungen zu Klienten mit fragwürdigen Aktivitäten überdenken zu wollen: ein wichtiger und richtiger Schritt. Solange keine vollständigen Richtlinien vorliegen, fehlt Anlegern aber die Möglichkeit, einzuschätzen, wie entschieden sich die Bank bei Umwelt- und Menschenrechtsproblemen verhält. Wichtig ­wäre, dass Akteure aus dem Finanz­ sektor vermehrt Verantwortung über­ nehmen würden im Kampf gegen ­Klima- und Umweltzerstörung. Soziale und ökologische Komponenten fehlen bisher weitgehend in ihrem System. Greenpeace fordert die UBS und an­ dere Finanzinstitute auf, die internen Richtlinien zu heiklen Palmöl- und Forstgeschäften offenzulegen.

Rrrevolve

Web-Tipp für grüne Schnäppchenjäger

Viele Alltagsprodukte sind mittlerweile zwar grün, aber oft noch grottenhässlich. Dieses Image korrigieren die ­Verantwortlichen des Online-Shops www.rrrevolve.ch mit vielen witzigen und nützlichen Produkten für Haushalt, Beruf und Hobby. Zu haben sind etwa hölzerne Armbanduhren, der aus Zeitungen gefertigte Papierkorb «News» oder eine Solarladehülle fürs iPhone. Logisch, dass man im Angebot auch weniger Verrücktes wie etwa ein Badesalz findet. Alles ist ökologisch unbedenklich und steht unter der Devise «Fair Trade». Ein Eldorado für grüne Schnäppchenjäger.


I llustration: Sonj a Bürgi

Klimacamp

Selbst kreierte ­ Miniwelt

Zum dritten Mal bietet die Organisation Klimacamp Schweiz Naturinteres­sierten die Möglichkeit, auf einem Feld eine nachhaltige Welt entstehen zu ­lassen. In diversen thematischen und methodischen Workshops werden vom 29. Juli bis 7. August Wissen, Bewegung und Action geboten und Enga­gement vermittelt. Das Camp steht im Bündnerland und bietet Platz für deutsch und französisch Sprechende. Die Teilnahme ist bis auf einen kostendeckenden Beitrag für die Verpflegung gratis. Interessierte werden unter www.klimacamp.ch mit Detail­ informationen versorgt. Bergwald

Einsatz für ­ Hobby-Holzer

Die Stiftung Bergwaldprojekt ruft zu einer Woche freiwilliger Waldarbeit auf. Dabei sein können Frauen und Männer zwischen 18 und 88 Jahren. Gearbeitet wird nach neuzeitlichen Forststandards, nach eigenen Fähigkeiten und in einem selbst gewählten Tempo. Für Interessierte, die mit Gleichgesinnten Hand anlegen möchten, sind noch ­Plätze frei.

Details erfahren Sie unter www.bergwaldprojekt.org oder unter Telefon 081 650 40 40. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

Walfang

Die Branche steht vor dem Aus

Das japanische Ministerium für Landwirtschaft, Wald und Fischerei hat die Walfangsaison in der Antarktis in diesem Jahr frühzeitig beendet. Die Flotten wurden in die Häfen zurückbeordert. Greenpeace-Informanten melden, dieser Rückzug mit nur der halben üblichen Fangmenge sei von Anfang an geplant gewesen, weil die Kühlhäuser von Walfleisch überquellen: Rund 5000 Tonnen haben sich angehäuft, denn die Nachfrage sinkt – und droht die Branche in den Ruin zu treiben. Greenpeace hat im letzten Jahrzehnt immer wieder

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auf die Korruption in diesem Geschäft hingewiesen. Zwei Informanten entdeckten vor etwa drei Jahren, dass etliches Fleisch an Beamte und Schiffs­ besatzungen verkauft wurde. Die beiden wurden inhaftiert und ­selber des Diebstahls bezichtigt. Ihnen droht trotz Berufung ein Jahr Gefängnis. Greenpeace kämpft jedoch un­verdrossen weiter für ein generelles Walfangverbot. Immer wieder mit Teil­erfolgen: Die für den Fang in Japan verantwortliche Agentur ging bereits gegen Mitarbeiter vor, die der Crew von Trawlern gratis Walfleisch abgegeben und damit gegen den eigenen Ethik-Kodex verstossen hatten.

Indonesien

Umdenken der ­Waldvernichter?

Die indonesische Palmöl-Lieferantin Sinar Mas und ihre Tochter Golden ­Agri Resources (GAR) zerstören für ­ihre Produktion nachweislich Torflandschaften und roden Regenwald, um Plantagen zu errichten. Greenpeace hat in den letzten drei Jahren grosse ­Firmen wie Unilever, Nestlé, Kraft und Burger King dazu gebracht, ihre direkten Verträge mit GAR, der weltweit zweitgrössten Palmölproduzentin, zu kündigen. Zuvor hatte Greenpeace in einer grossen, internationalen Kam­pagne die Machenschaften des Konzerns transparent gemacht und die ­Verbindungen mit grossen Nahrungsmittelherstellern aufgedeckt. Golden Agri Resources hat ­angekündigt, keine «High Carbon Storage»-Wälder mehr zu roden, die viel CO2 speichern. Geschont werden auch Torflandschaften, die ­seltenen Tierarten wie dem Orang-Utan als ­Habitat dienen und für den Klimaschutz wesentlich sind. ­Zudem werden künftig die Rechte der lokalen und der indi­ genen Bevölkerung respektiert. Golden Agri Resources will mit der Organisa­ tion The Forest Trust (TFT) sicherstellen, dass die Vorhaben auch Realität werden. Greenpeace wird die Entwicklung sorgfältig verfolgen in der Hoffnung, dass die indonesische ­Regierung die neuen Massstäbe in der ganzen Palmöl- und Forstindustrie durchsetzen wird. Nötig wäre ein Moratorium, das jede weitere Expansion ­verhindert.


«Wir müssen den ­Leuten auf der ­Pelle bleiben»

Was sie mit ihrem bescheidenen Lebensstil seit Jahrzehnten an Energie spart, bündelt Elsy Zulliger doppelt in ihrem Wesen: Die bald 90-Jährige ist wortstark und ihr Wissen so aktuell, als stünde sie noch mitten in ihrer Zeit als Verfechterin von Stromsparen und erneuerbaren Energien. Wenn es in den nächsten Jahren darum geht, für eine Zukunft ohne Atomkraft zu kämpfen, möchte sie noch einmal dabei sein.

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I ll ust rat io n: © Rahe l A rno ld

Interview

Mit Elsy Zulliger sprach Franziska Rosemund


«Wir müssen den ­Leuten auf der P ­ elle bleiben»

Frau Zulliger, Sie könnten Ihren Lebensabend geniessen und sich mit beschaulicheren Dingen als Energiefragen befassen. Stattdessen füllen Sie noch heute Briefkästen mit Infomaterial. Was treibt Sie an? Es fällt mir schwer, dass ich nur noch das machen kann! Denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass eine Energieversorgung möglich ist, ohne natürliche Ressourcen zu plündern. Eine ohne gefährliche Atomkraftwerke, die Generationen von Menschen strahlenden Müll hinterlassen. Sie haben zusammen mit der Stiftung SonneSchweiz schon vor 30 Jahren Stromsparen und den Umstieg auf erneuerbare Energien propagiert. Warum ist die Wende bis heute nicht eingetreten? Das Hauptproblem ist die Bequemlichkeit des Menschen: dieser hartnäckige Unwille, bei sich selbst zu beginnen. ­Dabei wäre es so einfach für jede und jeden, im eigenen Alltag Strom zu sparen! Hinzu kommt, dass die Gefahren der ­Atomtechnologie immer mehr in Vergessenheit geraten. Was braucht es, damit der Mensch aus seiner Trägheit erwacht? Leider würde wohl nur eine neue AKW-Katastrophe die Leute wirklich aufrütteln… Nützen würde aber sicher auch, wenn es bei uns einmal zu einer Stromrationierung käme. Dann würden plötzlich alle den Deckel auf die Pfanne setzen beim Wasserkochen und manche halbleere Wäschetrommel würde nicht angeworfen. Einen Zwang zum Stromsparen könnte ja die Politik mit Vorschriften bewirken. Die Politiker wollen das gar nicht! Die Mehrheit steht ja unter dem Einfluss der Wirtschaft, die den Umstieg aus ­Eigeninteressen verhindern will. Darum haben wir bis heute keine wirklich strengen Vorschriften für Elektrogeräte und die erneuerbaren Energien werden nur halbherzig gefördert. Die menschliche Natur gibt Ihnen wenig Hoffnung. Und auch Ihr Vertrauen in die Politik ist nicht sehr gross. Woher nehmen Sie dennoch Ihre Zuversicht? Ich freue mich über die vielen privaten Initiativen, die es heute im Bereich der neuen erneuerbaren Energien gibt. ­Denken Sie nur an die riesige Solaranlage in Melchnau, die Strom für 65 Haushalte produziert. Oder an den Pfingstmarsch im vergangenen Jahr – dass der zustande kam, hat mich ­positiv überrascht. Am meisten Hoffnung geben mir die jungen Leute, um deren Zukunft es ja schliesslich geht. Wenn sie in der Schule noch mehr Wissen zu den Möglichkeiten der erneuerbaren Energien vermittelt bekommen und merken, dass neue Atomkraftwerke der komplett falsche Weg sind, kann das viel bewirken. Wir müssen unbedingt immer wieder mit den Jungen reden! Ihr energiearmer Lebensstil ist absolut bescheiden. Die Mehrheit des Volks hat eine andere Lebensrealität. Was raten Sie einem Durchschnittsmenschen, der etwas zur Energiewende beitragen möchte? Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Die «Sonnenfrau» aus Thunstetten Elsy Zulliger — in ihrem Berufsleben war sie Putzfrau — machte sich in den Sieb­zigerjahren einen Namen als engagierte Gegnerin des von der Bernischen Kraftwerke AG ­geplanten Atomkraftwerks in ­Graben BE. Als Mitglied der Bewegung «SonneSchweiz» betreute sie während Jahren Informationsstände und warb mit Ausstellungen und Kursen für Solar­en­ergie. Sie verzichtet seit vielen Jahren auf ein Telefon, das Bügeleisen braucht sie so gut wie nie und ihr Kühlschrank ist nicht in Betrieb. Vor 30 Jahren ­montierte Elsy auf ihrem Dach eine ­Solaranlage, die ihr seither das Warmwasser liefert. Die bald 90-Jährige heizt bis heute mit Holz. Elsy Zulliger mischt sich weiterhin ein: Sie verteilte vor der Berner ­Abstimmung zum AKW Mühleberg Info­material zu den ­Problemen der Atomkraft und stellt in ­ihrer ­Wohngemeinde Thunstetten BE ­un­bequeme Fragen zur lokalen Energiepolitik.


Interview

Zuallererst müssten viel mehr Leute begreifen, dass ­ escheidenheit glücklicher macht als Überfluss: Je weniger B man hat, desto zufriedener ist man. Und je zufriedener man ist, desto weniger braucht man und führt so ein gesünderes, glücklicheres Leben. Dieses hehre Ziel ist nur schwer zu erreichen in einer Zeit, die auf Konsum ausgerichtet ist und in der immer mehr elektronische Geräte zur Verfügung stehen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn jeder und jede sich bei einem neuen Gerät überlegte, ob er oder sie es wirklich braucht. Und wenn ja, ob es das sparsamste Modell ist. Dieses sollte man dann bitte mit gesundem Menschenverstand ein­ setzen. In rund zwei Jahren findet die für die Schweizer Energie­ wende entscheidende Abstimmung statt, ob im Land neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen. Was raten Sie den Leuten, die sich heute aktiv gegen solche einsetzen? Hartnäckigkeit und Ausdauer! Ich habe damals gewisse Briefkästen zwei, drei Mal mit Infomaterial bedient, bis ich merkte, dass die Leute wirklich kapiert hatten, worum es geht. Heute können dank moderner Kommunikation zwar mehr Leute mit mehr Information erreicht werden. Dennoch bleibt es das Wichtigste, immer wieder schlagende Argumente zu liefern. Würden auf allen Schweizer Dächern Solaranlagen installiert, könnte jede Gemeinde sich selber mit Strom versorgen und sogar noch welchen verkaufen – so etwas Einleuchtendes wird haften bleiben. Wagen Sie eine Prognose für den Abstimmungsausgang? Wir können es schaffen. Dafür müssen wir den Leuten aber auf der Pelle bleiben und weiter aufzeigen, dass alles wirklich funktioniert ohne neue Atomkraftwerke. Wenn es der Herrgott zulässt, werde ich bei dieser Arbeit auch noch einmal mithelfen! Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde vor der nuklearen Katastrophe von Fukushima geführt und berücksichtigt nicht die letzten politischen Entwicklungen in der AKW-Diskussion.

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WO EIN WILLE IST… Der neue Greenpeace-Testament-Ratgeber und das Notizheft «Meine Wünsche» können helfen, den Nachlass und den ­eigenen Willen klarer zu regeln. Seit über 18 Jahren gibt Greenpeace Rat, wenn Personen sich überlegen oder gar entscheiden, Greenpeace im Testament zu bedenken. Wem steht ein Pflichtteil zu? Wie bedenkt man eine Organisation wie Greenpeace? Was genau ist die freie Quote? Antworten findet man im neuen Testament-Ratgeber, der aufzeigt, wie man ein Testament schreiben und ändern kann, wo man es aufbewahren sollte und wie man den Willensvollstrecker bestimmen kann. Zudem erfahren die Leserinnen und Leser, was Legate an Greenpeace bewirken können. Das Notizheft «Meine Wünsche» hingegen ist ein praktischer Wegweiser, der dem Verfasser und seinen Liebsten hilft, all die kleinen Dinge zu regeln, die dereinst geregelt werden müssen. So kann man etwa festlegen, was mit dem Haustier geschehen soll, wer die Familienfotos erhält, welche Konten gekündigt werden müssen und mit welcher Musik die Trauerfeier gestaltet werden soll. Das Notizheft ist natürlich kein Ersatz für ein rechtsgültiges Testament, sondern eine nützliche Ergänzung. Beide Publikationen sind ab Juni 2011 gratis bei Greenpeace erhältlich. Interessenten melden sich bitte bei Claudia Steiger, Telefonnummer 044 447 41 79 (Mo bis Fr jeweils zwischen 9 und 13 Uhr), oder E-Mail: claudia.steiger@ch.greenpeace.org.

Von Muriel Bonnardin Wethmar, Zuständige für Erbschaften


digitale LeiChinas explodierende tung (Abk.) Textilindustrie führt Herrenu.a. zu Wasser... schossrock

Welches Land möchte weltweit das erste Atomendlager eröffnen?

VerkehrsClub der Schweiz (Abk.)

Stadt in Ägypten

Nachtvogel

8

Platz, Stelle

Schulleistungsstudie der OECD (Abk.)

1

Bankleitzahl (Abk.)

elf (französisch)

altröm. Kaiser

18

unbestimmtes Zahlwort

schweiz. AltSchaugriechisch spieler und Arktis Mönch † (Arktos) (Kassian)

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9

OnlinePlattform, die Missstände im Umweltbereich aufdeckt

7

englischer Dramenkönig

ungekocht

2. Sohn Noahs

transparentes Fotobild

5

boliv. Währung (Abk.)

Ort westlich von Chur

unverfälscht

Nilotenstamm im Sudan

grösstes UnterwasserLebewesen der Erde

flüssiges Fett

Windstoss

11 Hut (englisch)

13

4

nordische Hirschart

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10

2 Zufluss der Aare Tennisverband (Abk.)

Europastrasse (Abk.)

chem. Zeichen für Wolfram

weibliche Ziege

6

Ort in Graubünden

Kurve

Kanton und Stadt

15

Angelteil

16 spanischer weiblicher Pluralartikel Stadt im Kanton St. Gallen

Vornehmtuer römischer Liebesgott

griech. Vorsilbe für gegen Berg im Kanton Wallis

importiertes Kraftfutter für CH-Nutztiere

Salinenort im Kanton Waadt

Gesetzessammlung Südwind am Gardasee

Hecke, Zaun Nichtfachmann

nordruss. Halbinsel

Berg in Jordanien

Währungsunion (Abk.)

griech. neu Folge weiter Flüge

Bundesgericht (Abk.)

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Flächenmass (Abk.) Auf welcher Insel liegt der weltweit höchste Berg (vom Meeresboden aus gemessen)?

schriftliche Prüfung

3

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Abkürzung für: rechts

Kantonsbewohner

lat. Name d. Aargaus

2

Osteuropäerin

Schritt (engl.)

Ort bei Sitten

1

Trank der Götter

1103693

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Gewinnen Sie ein Greenpeace-T-Shirt und setzen Sie ein Zeichen gegen neue Atomkraftwerke! Senden Sie das ­Lösungswort Mitte Juni per E-Mail an redaktion@greenpeace.ch oder per Post an Greenpeace Schweiz, Redaktion Magazin, Stichwort Öko-Rätsel, Postfach, 8031 Zürich. Das Datum des Poststempels resp. das Empfangsdatum des E-Mails ist massgebend. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt. Magazin Greenpeace Nr. 2 — 201 1

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Il l ustrati o n: © www.gr een p eac e- magazi n. de

Rätsel

rundes Spielund Sportgerät

Golfschlag auf dem Grün


Foto : © C hristi an Å sl und / Green peac e


AZB 8015 Zürich

Plakate und Kleber dieses Logos können Sie bestellen unter: www.akwnein.ch/aktiv.html

— Jahresbericht 2010 Was wir erreicht haben. Wie Ihr Beitrag wirkt. Alle Fakten, alle Zahlen. Mit Hintergründen und Berichten zu unseren Kampagnen und Aktivitäten. Der multimediale Greenpeace-Jahresbericht ist jetzt online. www.greenpeace.ch/jahresbericht


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