MSZ: Reader zu Klassenbewusstsein

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SCHULUNGSTEXTE DES MARXISTISCHEN STUDIENZIRKELS

Klasseninteressen, Klassenbewusstsein, revolution채re F체hrung

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Klasseninteressen - Klassenbewusstsein

Inhaltsverzeichnis Einleitung..........................................................................................................................................................4 Karl Marx/Friedrich Engels.....................................................................................................................................6 Manifest der Kommunistischen Partei...........................................................................................................6 I. Bourgeois und Proletarier........................................................................................................................6 W.I. Lenin....................................................................................................................................................................8 Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung.........................................................................................8 Kapitel 2 a Der Beginn des spontanen Aufschwungs............................................................................8 (Stuttgart 1902)...................................................................................................................................................8 Georg Lukacs..........................................................................................................................................................11 Lenin – Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken ..................................................................11 (Wien, 1924)......................................................................................................................................................11 III. Die führende Partei des Proletariats.................................................................................................11 Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse (Frey-Gruppe)...............................................................19 Schulungshandbuch, Straßburg 1947............................................................................................................19 II. DIE KLASSENINTERESSEN.................................................................................................................19

Herausgegeben von der GRUPPE KLASSENKAMPF Wien 2010 Kontakt: gruppe.klassenkampf@gmail.com www.klassenkampf.net 3


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein

Einleitung Die Frage der Klasseninteressen und des Klassenbewusstseins sind spätestens seit dem Ausbruch der jüngsten weltweiten Krise des Kapitalismus im Sommer 2007 wieder stärker auf die Tagesordnung gesetzt worden. Warum treibt die offensichtliche Unfähigkeit des kapitalistischen Systems die proletarischen Massen nicht zu spontaner Revolte und später weiter zu geplanter Revolution? Warum können weltweit reaktionäre, bis hin zu halbfaschistischen, Demagogen, Werktätigen einreden, dass ihre Kolleginnen und Kollegen, die aus anderen Ländern kommen, die Hauptbedrohung sind und nicht die Herren der Banken und Konzerne? Die Frage des proletarischen Bewusstseins, des Sich-selbst-als-Klasse-bewusst-werdens der Ausgebeuteten begleitet die marxistische ArbeiterInnenbewegung von ihren Anfängen an. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (Text 1) haben Marx und Engels 1847/48 beschrieben, wie sich (schematisch) die Konstituierung des Proletariats zur Klasse für sich vollzieht. Was aber sind nun die Interessen des Proletariats? Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass diese Frage durchaus unterschiedlich beantwortet werden kann. Mit dem zunehmenden Wachstum der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Parteien bildeten sich ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts konservative Strömungen innerhalb der ArbeiterInnenorganisationen heraus, die – unter dem Druck der feindlichen bürgerlichen Gesellschaft, in der dies Organisationen agierten – das Proletariat an die bestehende Ordnung binden wollten, für die Reform statt Revolution, „Humanisierung“ statt Beseitigung der Ausbeutung zur Hauptaufgabe wurde. In der 2. Internationale führten die deutschen „Linken“ - Luxemburg, Liebknecht, Mehring, Zetkin – einen entschiedenen Kampf gegen diesen „Reformismus“, oder allgemeiner: Revisionismus. In Russland war es der bolschewistische Flügel der revolutionären Bewegung, der den Kampf aufnahm. In unmittelbarer Auseinandersetzung mit den „Ökonomisten“, die dem Proletariat ausschließlich den Kampf um wirtschaftliche Forderungen zugestanden, entwickelte Lenin sein Konzept einer revolutionären Kaderpartei. In seinem berühmten Buch „Was tun?“ (1902) beschäftigte er sich unter anderem mit der Frage des Klassenbewusstseins (Text 2) – der Voraussetzung für den Aufbau einer revolutionären Klassenführung. Der ungarische Marxist Georg Lukacs fasste 1924, nach dem Tode Lenins, in sehr konzentrierter Form einige Positionen Lenins zusammen (Text 3). Sie zeigen sehr deutlich, dass die Frage des Klassenbewusstseins keine psychologische oder philosophische Marotte, sondern ein wesentlicher Eckpfeiler in den taktischen und strategischen Überlegungen des Parteiaufbaus ist. Der letzte Text stammt aus einer umfangreichen Reihe von Schulungsmaterialien des linksoppositionellen „Kampfbundes für die Befreiung der Arbeiterklasse“. Die Vorläufer des Kampfbundes waren bereits Ende der 20er Jahr in der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs entstanden und wegen Linksabweichung ausgeschlossen worden. Sein Haupttheoretiker, Josef Frey, war führendes Mitglied des Wiener Arbeiter- und Soldatenrates 1918/19, Redakteur der ArbeiterZeitung und später, nach dem formellen Übertritt von der Soziademokratie zur KPDÖ, der „Roten 4


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein Fahne“. Während des Austrofaschismus und den Jahren der Hitler-Herrschaft kämpften die österreichischen Linksoppositionellen, die in drei Organisationen gespalten waren, teilweise in geeinsamen Initiativen gegen den Faschismus. Nach 1945 schlossen sich die „Trotzkisten“ im KarlLiebknecht-Bund zusammen, obwohl die Kampfbund-Mitglieder sowohl der seinerzeitigen Gründung der IV. Internationale und etlichen Grundpositionen Trotzkis ablehnend gegenüberstanden. Wie schon während der Illegalität unter dem Faschismus setzte Frey auf eine gründliche Schulungsarbeit. Der Text über „Klasseninteressen“ dürfte aus seiner Feder stammen, trotz einiger antiquierter Formulierungen scheint uns dieser Text aber nach wie vor sehr aktuell und erfrischend zu sein. Wien, Herbst 2010 Paul Mazurka, für den MSZ

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Klasseninteressen - Klassenbewusstsein

Karl Marx/Friedrich Engels

Manifest der Kommunistischen Partei

I. Bourgeois und Proletarier Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz. Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Bourgeois, der sie direkt ausbeutet. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, die suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wiederzuerringen. Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über das Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse. Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie, die zur Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke das ganze Proletariat in Bewegung setzen muß und es einstweilen noch kann. Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also noch nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird, ist ein Sieg der Bourgeoisie. Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie immer mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Emeuten aus. Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist 6


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande. Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interesse der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So die Zehnstundenbill in England. Die Kollisionen der alten Gesellschaft überhaupt fördern mannigfach den Entwicklungsgang des Proletariats. Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder. In allen diesen Kämpfen sieht sie sich genötigt, an das Proletariat zu appellieren, seine Hülfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen. Sie selbst führt also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d.h. Waffen gegen sich selbst, zu. Es werden ferner, wie wir sahen, durch den Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Auch sie führen dem Proletariat eine Masse Bildungselemente zu. In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben. Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.

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Klasseninteressen - Klassenbewusstsein

W.I. Lenin

Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung

Kapitel 2 a Der Beginn des spontanen Aufschwungs (Stuttgart 1902) Wir haben im vorhergehenden Kapitel hervorgehoben, daß die gebildete russische Jugend um die Mitte der neunziger Jahre von einer allgemeinen Begeisterung für die Theorie des Marxismus erfaßt war. Einen ebenso allgemeinen Charakter hatten um ungefähr dieselbe Zeit, nach dem berühmten Petersburger Industriekrieg von 1896, die Arbeiterstreiks angenommen. Ihre Ausbreitung über ganz Rußland zeugte deutlich von der Tiefe der neu einsetzenden Volksbewegung, und wenn man schon vom „spontanen Element“ reden will, so wird man natürlich vor allem gerade diese Streikbewegung als spontan kennzeichnen müssen. Aber es gibt Spontaneität und Spontaneität. Streiks gab es in Rußland auch in den siebziger und in den sechziger Jahren (ja sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), und sie waren begleitet von „spontaner“ Maschinenstürmerei u.dgl. Verglichen mit diesen „Rebellionen“ kann man die Streiks der neunziger Jahre sogar als „bewußt“ bezeichnen – so bedeutend ist der Schritt vorwärts, den die Arbeiterbewegung in dieser Zeit getan hat. Dies zeigt uns, daß das „spontane Element“ eigentlich nichts anderes darstellt als die Keimform der Bewußtheit. Auch die primitiven Rebellionen brachten schon ein gewisses Erwachen des Bewußtseins zum Ausdruck: die Arbeiter verloren den uralten Glauben an die Unerschütterlichkeit der sie unterdrückenden Ordnung, sie begannen die Notwendigkeit einer kollektiven Abwehr ... ich will nicht sagen zu verstehen, so doch zu empfinden, und brachen entschieden mit der sklavischen Unterwürfigkeit vor der Obrigkeit. Aber das war dennoch viel eher Ausdruck der Verzweiflung und Rache als Kampf. Die Streiks der neunziger Jahre zeigen schon viel mehr Symptome der Bewußtheit: es werden bestimmte Forderungen aufgestellt, es wird im voraus erwogen, welcher Zeitpunkt der beste ist, es werden bestimmte Fälle und Beispiele aus anderen Orten erörtert usw. Waren die Rebellionen lediglich eine Auflehnung unterdrückter Menschen, so stellten die systematischen Streiks bereits Keimformen des Klassenkampfes dar, aber eben nur Keimformen. An und für sich waren diese Streiks ein trade-unionistischer und noch kein sozialdemokratischer Kampf; sie kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und mußte auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System, das heißt, es fehlte ihnen das sozialdemokratische Bewußtsein. In diesem Sinne blieben die Streiks der neunziger Jahre, trotz ihres gewaltigen Fortschritts im Vergleich zu den „Rebellionen“, eine rein spontane Bewegung. Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft. nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden 8


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeitet notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. [B] Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz. Zu der Zeit, von der wir sprechen, d.h. um die Mitte der neunziger Jahre, war diese Lehre nicht nur das bereits völlig ausgereifte Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit“, sondern sie hatte auch die Mehrheit der revolutionären Jugend in Rußland für sich gewonnen. Es gab also sowohl ein spontanes Erwachen der Arbeitermassen, ein Erwachen zu bewußtem Leben und bewußtem Kampf, als auch eine mit der sozialdemokratischen Theorie gewappnete revolutionäre Jugend, die es stürmisch zu den Arbeitern hinzog. Dabei ist es besonders wichtig, die oft vergessene (und verhältnismäßig wenig bekannte) Tatsache festzuhalten, daß die ersten Sozialdemokraten dieser Periode, die sich eifrig mit ökonomischer Agitation befaßten (und in dieser Hinsicht den wirklich nützlichen Weisungen der damals erst als Manuskript vorliegenden Broschüre Über Agitation [25] durchaus Rechnung trugen), keineswegs diese Agitation als ihre einzige Aufgabe betrachteten, sondern, im Gegenteil, von Anfang an auch die weitestgehenden geschichtlichen Aufgaben der russischen Sozialdemokratie überhaupt und im besonderen die Aufgabe, die Selbstherrschaft zu stürzen, in den Vordergrund stellten. So wurde zum Beispiel von der Gruppe der Petersburger Sozialdemokraten, die den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ gründete, schon Ende 1895 die erste Nummer einer Zeitung mit dem Titel Rabotscheje Delo zusammengestellt. Die bereits druckreife Nummer wurde in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1895 während einer Haussuchung bei einem der Mitglieder der Gruppe, Anat. Alex. Wanejew [C], von Gendarmen beschlagnahmt, und das Rabotscheje Delo erster Fassung sollte nie das Licht der Welt erblicken. Der Leitartikel dieses Blattes (den in dreißig Jahren vielleicht irgendeine Russkaja Starina aus den Archiven des Polizeidepartements ausgraben wird) umriß die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse in Rußland und stellte die Eroberung der politischen Freiheit an die Spitze dieser Aufgaben. [26] Ferner standen in dieser Nummer ein Artikel, „Woran denken unsere Minister?“ [27], der sich mit der Zerschlagung der Komitees für Elementarbildung durch die Polizei befaßte, sowie eine Reihe von Zuschriften nicht allein aus Petersburg, sondern auch aus anderen Gegenden Rußlands (z.B. über das Blutbad unter den Arbeitern im Gouvernement Jaroslawl). Dieser, wenn wir nicht irren, „erste Versuch“ der russischen Sozialdemokraten der neunziger Jahre war somit eine Zeitung, die keinen eng lokalen und noch weniger einen „ökonomischen“ Charakter trug, sondern bestrebt war, die Streikkämpfe mit der revolutionären Bewegung gegen die Selbstherrschaft zu vereinigen und alle durch die Politik der reaktionären Dunkelmänner Unterdrückten für die Unterstützung der Sozialdemokratie zu gewinnen. Niemand, der den Zustand der Bewegung in jener Zeit auch nur einigermaßen kennt, wird daran zweifeln, daß eine solche Zeitung sowohl die ungeteilte Sympathie der Arbeiter der Hauptstadt und der revolutionären Intelligenz als auch weiteste Verbreitung gefunden hätte. Der Mißerfolg des Unternehmens bewies nur, daß die damaligen Sozialdemokraten nicht imstande waren, den dringenden Erfordernissen des Augenblicks gerecht zu werden, da es ihnen an revolutionärer Erfahrung und praktischer Schulung gebrach. Das gleiche ist von dem S.Peterburgski Rabotschi Listok und insbesondere von der Rabotschaja Gaseta und dem Manifest der im Frühjahr 1898 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu sagen. 9


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein Selbstverständlich fällt es uns nicht ein, diese mangelnde Schulung den damaligen Führern zum Vorwurf zu machen. Um aber die Erfahrungen der Bewegung auszunutzen und aus diesen Erfahrungen praktische Lehren zu ziehen, muß man sich über die Ursachen und die Bedeutung dieses oder jenes Mangels volle Rechenschaft geben. Darum ist es außerordentlich wichtig, festzustellen, daß ein Teil (vielleicht sogar die Mehrheit) der in den Jahren 1895 bis 1898 wirkenden Sozialdemokraten schon damals, ganz zu Beginn der „spontanen“ Bewegung, es durchaus mit Recht für möglich hielt, ein Programm und eine Kampftaktik mit weitgesteckten Zielen zu vertreten. [D] Die mangelnde Schulung der meisten Revolutionäre konnte, da sie eine durchaus natürliche Erscheinung war, keine besonderen Befürchtungen erregen. Waren einmal die Aufgaben richtig gestellt, war die Tatkraft vorhanden, um die Versuche, diese Aufgaben zu erfüllen, zu wiederholen, so konnten vorübergehende Mißerfolge nur ein halbes Übel sein. Revolutionäre Erfahrung und organisatorische Geschicklichkeit sind Dinge, die man erwerben kann. Man muß nur den Willen haben, die erforderlichen Eigenschaften in sich zu entwickeln! Man muß die Fehler nur einsehen, diese Einsicht ist in revolutionären Dingen schon mehr als die halbe Besserung! Aber das halbe Übel wurde zu einem ganzen, als diese Einsicht zu schwinden begann (bei den Mitgliedern der obengenannten Gruppen war sie sehr lebendig gewesen), als Leute – und sogar sozialdemokratische Organe – auftauchten, die bereit waren, aus der Not eine Tugend zu machen, die versuchten, ihre sklavische Anbetung der Spontaneität sogar theoretisch zu begründen. Es ist jetzt an der Zeit, das Fazit aus dem Wirken dieser Richtung zu ziehen, deren Inhalt sehr ungenau mit dem für sie zu engen Begriff „Ökonomismus“ gekennzeichnet wird.

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Georg Lukacs

Lenin – Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken (Wien, 1924)

III. Die führende Partei des Proletariats Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats ist also: sich aus jeder ideologischen Gemeinschaft mit den anderen Klassen herauszulösen, auf der Grundlage der Eigenart seiner Klassenlage und der daraus entspringenden Selbständigkeit seiner Klasseninteressen sein klares Klassenbewußtsein zu finden. Erst auf diese Weise wird es fähig, alle Unterdrückten und Ausgebeuteten der bürgerlichen Gesellschaft in den gemeinsamen Kampf gegen ihre wirtschaftlichen und politischen Herrscher zu führen. Die objektive Grundlage dieser führenden Rolle des Proletariats ist seine Stellung im Produktionsprozeß des Kapitalismus. Es wäre jedoch eine mechanische Anwendung des Marxismus und darum ein völlig unhistorischer Illusionismus, sich nun vorzustellen, als ob das richtige, zur Führung befähigende Klassenbewußtsein im Proletariate allmählich, reibungs- und rückfallslos, von selbst entstehen; als ob das Proletariat ideologisch in seinen klassenmäßig-revolutionären Beruf hineinwachsen könnte. Die Unmöglichkeit des ökonomischen Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus haben die Bernstein-Debatten klar erwiesen. Das ideologische Gegenstück dieser Lehre ist aber trotzdem im Denken vieler ehrlicher Revolutionäre Europas unwiderlegt wirksam geblieben, ja ist nicht einmal als Problem und Gefahr erkannt worden. Nicht als ob die Besten von ihnen die Existenz und die Bedeutung dieses Problems ganz verkannt; als ob sie nicht gesehen hätten, daß der endgültige Sieg des Proletariats über einen langen Weg durch viele Niederlagen hindurchführt, daß dabei nicht nur materielle, sondern auch ideologische Rückfälle hinter eine bereits erreichte Stufe unvermeidlich sind. Sie wußten – um die Formulierung Rosa Luxemburgs anzuführen daß die proletarische Revolution, die ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen nach gar nicht mehr „zu früh“ kommen kann, in bezug auf die Festhaltung der Gewalt (also ideologisch) notwendig „zu früh“ stattfinden muß. Wenn jedoch auch bei dieser Geschichtsperspektive über den Weg des Proletariats zu seiner Befreiung die Anschauung vertreten wird, daß eine spontanrevolutionäre Selbsterziehung der proletarischen Massen (durch Massenaktionen und ihre Erfahrungen), unterstützt von einer theoretisch richtigen Agitation, Propaganda usw. der Partei, ausreicht, um die hier nötige Entwicklung zu garantieren, so ist man doch in irgendeiner Weise bei dem ideologischen Hineinwachsen des Proletariats in seinen revolutionären Beruf stehengeblieben. Lenin war der erste – und lange Zeit der einzige – bedeutende Führer und Theoretiker, der dieses Problem von der theoretisch zentralen und darum von der praktisch entscheidenden Seite in Angriff nahm: von der Seite der Organisation. Der Streit um den § I des Organisationsstatuts auf dem Brüssel-Londoner Kongreß 1903 ist heute schon allgemein bekannt. Er drehte sich um die Frage, ob derjenige Mitglied der Partei sein könne, der sie unterstützt und unter ihrer Kontrolle arbeitet (wie die Menschewiki es wollten), oder ob die Teilnahme an den illegalen Organisationen, das Aufgehen mit der ganzen Existenz in der Parteiarbeit, die völlige Unterordnung unter die – als sehr streng 11


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein konzipierte – Parteidisziplin hierzu unerläßlich sei. Die anderen organisatorischen Fragen, z.B. Zentralisation, sind nur die notwendigen sachlichen Folgen dieser Stellungnahme. Auch dieser Streit kann nur aus dem Widerstreit der beiden Grundanschauungen über Möglichkeit, wahrscheinlichen Ablauf, Charakter usw. der Revolution verstanden werden; obwohl alle diese Zusammenhänge damals Lenin allein durchschaut hatte. Der bolschewistische Organisationsplan hebt eine Gruppe von zielklaren, zu jedem Opfer bereiten Revolutionären aus der mehr oder weniger chaotischen Masse der Gesamtklasse heraus. Ist damit nicht die Gefahr heraufbeschworen, daß diese „Berufsrevolutionäre“ sich vom wirklichen Leben der Klasse ablösen und in dieser Trennung zur Verschwörergruppe, zur Sekte ausarten? Ist dieser Organisationsplan nicht nur die praktische Folge jenes „Blanquismus“, den die „scharfsinnigen“ Revisionisten sogar bei Marx entdecken zu können meinten? Es kann hier nicht untersucht werden, wie weit dieser Vorwurf selbst Blanqui gegenüber fehlgeht. Den Kern der Leninschen Organisation trifft er schon darum nicht, weil die Gruppe der Berufsrevolutionäre nach Lenin keinen Augenblick die Aufgabe hat, die Revolution „zu machen“ oder durch ihre selbständige, mutige Aktion die untätige Masse mitzuziehen, vor ein revolutionäres fait accompli zu stellen. Der Organisationsgedanke Lenins setzt die Tatsache der Revolution, die Aktualität der Revolution voraus. Hätten die Menschewiki in ihrer historischen Voraussicht recht behalten, wären wir einer – relativ – ruhigen Zeit der Prosperität und der langsamen Ausbreitung der Demokratie entgegengegangen, wo höchstens in den rückständigen Ländern die feudalen Überreste vom „Volk“, von den „progressiven“ Klassen hinweggeschwemmt werden, so hätten die Gruppen der Berufsrevolutionäre notwendig in Sektenhaftigkeit erstarren oder zu bloßen Propagandazirkeln werden müssen. Die Partei als straff zentralisierte Organisation der bewußtesten Elemente des Proletariats – und nur dieser – ist als Instrument des Klassenkampfes in einer revolutionären Zeit gedacht. „Man kann nicht“ – sagt Lenin „mechanisch das Politische vom Organisatorischen trennen, und wer die bolschewistische Parteiorganisation unabhängig von der Frage, ob wir in der Zeit der proletarischen Revolutionen leben, bejaht oder verneint, hat von ihrem Wesen sicher gar nichts verstanden.“ Es könnte aber – von ganz entgegengesetzter Seite – der Einwand auftauchen: gerade die Aktualität der Revolution macht eine derartige Organisation überflüssig. Es mag in der Zeit des Stillstandes der revolutionären Bewegung nützlich gewesen sein, die Berufsrevolutionäre organisatorisch zusammenzufassen. Jedoch in den Jahren der Revolution selbst, wenn die Massen aufs tiefste aufgewühlt sind, wenn sie in Wochen, ja in Tagen mehr revolutionäre Erfahrungen sammeln, reifer werden, als sonst in Jahrzehnten, wenn sogar jene Teile der Klasse, die sich sonst nicht einmal durch ihre unmittelbarsten Tagesvorteile in die Bewegung einbeziehen lassen, revolutionär auftreten, ist eine solche Organisation unnütz und sinnlos. Sie verschwendet brauchbare Energien; sie hemmt, wenn sie zu Einfluß gelangt, die spontane, revolutionäre Produktivität der Massen. Es ist klar: dieser Einwand führt wieder zum Problem des ideologischen Hineinwachsens zurück. Das Kommunistische Manifest bezeichnet sehr klar die Beziehung der revolutionären Partei des Proletariats zur Gesamtklasse. „Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, anderseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate 12


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein der proletarischen Bewegung voraus.“ Sie sind – mit anderen Worten – das zur sichtbaren Gestalt gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats. Und die Frage ihrer Organisation entscheidet sich nach der Voraussicht, wie das Proletariat dieses, sein eigenes Klassenbewußtsein wirklich erringt und sich völlig zu eigen macht. Daß dies nicht von selbst, nicht durch das mechanische Sichauswirken der ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion, noch durch das schlicht organische Wachstum der Massenspontaneität geschieht, nimmt jeder an, der die revolutionäre Funktion der Partei nicht unbedingt leugnet. Der Unterschied zwischen der Leninschen Parteikonzeption und den andern beruht vor allem darauf, daß er einerseits die ökonomische Differenzierung innerhalb des Proletariats (die Entstehung der Arbeiteraristokratie usw.) tiefer und folgenschwerer erfaßt als die anderen, und daß er anderseits die revolutionäre Zusammenarbeit des Proletariats mit den anderen Klassen in der geschilderten neuen Geschichtsperspektive erblickt. Daraus folgt eine gesteigerte Bedeutung des Proletariats in der Vorbereitung und Führung der Revolution und daraus wiederum die führende Funktion der Partei der Arbeiterklasse gegenüber. Das Entstehen und die wachsende Bedeutung der Arbeiteraristokratie heißt von diesem Standpunkt so viel, daß die stets vorhandene – relative – Divergenz der unmittelbaren Tagesinteressen gewisser Arbeiterschichten von den wirklichen Interessen der ganzen Klasse immer wächst und sich in diesem Wachstum versteinert. Die kapitalistische Entwicklung, die anfangs die örtlich, zünftlerisch usw. getrennte Arbeiterklasse gewaltsam nivelliert und vereinigt hat, schafft jetzt eine neue Differenzierung. Und diese Differenzierung hat nicht nur zur Folge, daß das Proletariat nunmehr nicht in ganz einheitlicher Feindschaft der Bourgeoisie gegenübersteht. Es entsteht daneben noch die Gefahr, daß diese Schichten, denen ihr Aufstieg zu einer kleinbürgerlichen Lebenshaltung, ihr Besetzen der Stellungen in der Partei- und Gewerkschaftsbureaukratie, stellenweise der Munizipalposten usw. – trotz oder gerade wegen – ihrer verbürgerlichten Ideologie, ihres Mangels an Reife des proletarischen Klassenbewußtseins eine Überlegenheit an formaler Bildung, Verwaltungsroutine usw. vor den übrigen proletarischen Schichten geben, die ganze Klasse in rückständiger Weise ideologisch zu beeinflussen imstande sein werden. Das heißt, daß sie durch ihren Einfluß in den Organisationen des Proletariats das Klassenbewußtsein aller Arbeiter zu verdunkeln helfen, es in der Richtung auf ein stillschweigendes Bündnis mit der Bourgeoisie beeinflussen. Gegen diese Gefahr können bloße theoretische Klarheit, entsprechende Agitation und Propaganda der revolutionär klaren Gruppen nicht aufkommen. Denn diese Interessengegensätze äußern sich sehr lange nicht in einer für alle Arbeiter sichtbaren Form, so sehr, daß sogar ihre ideologischen Vertreter zuweilen keine Ahnung davon haben, daß sie bereits von dem Wege der Gesamtklasse abgewichen sind. Darum können solche Differenzen sehr leicht als „theoretische Meinungsverschiedenheiten“, als bloß „taktische Differenzen“ usw. vor den Arbeitern verschleiert werden. Und der revolutionäre Instinkt der Arbeiter, der sich zuweilen in großen spontanen Massenaktionen entladet, bleibt außerstande, die unbewußt-handelnd erreichte Höhe des Klassenbewußtseins als dauerndes Gut für die ganze Klasse festzuhalten. Schon aus diesem Grunde ist die organisatorische Selbständigkeit der völlig bewußten Elemente der Klasse unerläßlich. Es zeigt sich aber in diesem Gedankengang, daß die Leninsche Organisationsform untrennbar mit der Voraussicht der nahenden Revolution verknüpft ist. Denn erst in diesem Zusammenhange erscheint jede Abweichung vom richtigen Weg der Klasse als schicksalhaft und verhängnisvoll; erst in diesem Zusammenhang kann die Entscheidung in einer scheinbar kleinen Tagesfrage von ungeheurer Tragweite für die ganze Klasse werden; erst in diesem Zusammenhange wird es zur Lebensfrage für das Proletariat, daß es das seiner Klassenlage wirklich entsprechende Denken und Handeln klar, in sichtbarer Gestalt vor Augen habe.

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Klasseninteressen - Klassenbewusstsein Die Aktualität der Revolution bedeutet aber zugleich, daß die Gärung der Gesellschaft, das Auseinanderfallen ihres alten Gefüges sich keineswegs auf das Proletariat beschränkt, sondern sämtliche Klassen der Gesellschaft erfaßt. Ist doch nach Lenin das wirkliche Kennzeichen einer revolutionären Situation, daß „die ‚Unterschichten‘, nicht in der alten Weise leben wollen, und die ‚Oberschichten‘ nicht in der alten Weise leben können“; „die Revolution ist ohne gesamtnationale (die Ausgebeuteten wie die Ausbeuter berührende) Krisis nicht möglich“. Je tiefer die Krise geht, desto größer die Aussichten der Revolution. Jedoch je tiefer sie geht, je mehr Schichten der Gesellschaft sie erfaßt, desto verschiedenere, elementare Bewegungen kreuzen sich in ihr, desto verworrener und wechselnder werden die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Klassen, von deren Kampf der Ausgang des Ganzen – letzten Endes – abhängt: von Bourgeoisie und Proletariat. Will das Proletariat in diesem Kampfe siegen, so muß es jede Strömung, die zur Zersetzung der bürgerlichen Gesellschafft beiträgt, fördern und unterstützen, jede elementare, wenn auch noch so unklare Bewegung von einer irgendwie unterdrückten Schicht in die revolutionäre Gesamtbewegung einzuordnen trachten. Und das Nahen eines revolutionären Zeitabschnittes zeigt sich auch darin, daß alle Unzufriedenen der alten Gesellschaft Anschluß an das Proletariat oder wenigstens Verbindung mit ihm suchen. Hier aber kann gerade eine große Gefahr stecken. Denn ist die Partei des Proletariats nicht in einer Weise organisiert, daß die klassenmäßig richtige Richtung ihrer Politik garantiert ist, so können diese in einer revolutionären Situation sich stetig mehrenden Verbündeten statt Hilfe nur Verwirrung bringen. Denn die anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft (Bauern, Kleinbürger, Intellektuelle) streben selbstverständlicherweise nicht dieselben Ziele an wie das Proletariat. Das Proletariat – wenn es weiß, was es will, was es klassenmäßig zu wollen hat – kann sich selbst und diesen Schichten die Rettung aus ihrer sozialen Not bringen. Ist jedoch die Partei, der kämpfende Träger seines Klassenbewußtseins, unsicher in bezug auf die Wege, die die Klasse zu gehen hat, ist sogar ihr proletarischer Charakter nicht organisatorisch garantiert, so strömen diese Schichten in die Partei des Proletariats hinein, lenken sie vom Wege ab, und ihr Bündnis, das bei klassenklarer Organisation der proletarischen Partei die Revolution gefördert hätte, kann zu ihrer größten Gefährdung werden. Der Leninsche Organisationsgedanke hat demzufolge als notwendige Pole: strengste Auswahl in bezug auf proletarisches Klassenbewußtsein für die Parteimitglieder; vollste Solidarität und Unterstützung für sämtliche Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft. Er vereinigt also in dialektischer Weise zielklare Abgeschlossenheit und Universalität, Führung der Revolution im streng proletarischen Sinne und allgemeinen nationalen (und internationalen) Charakter der Revolution. Die menschewistische Organisation schwächt diese beiden Pole ab, vermischt sie, erniedrigt sie zu Kompromissen und vereinigt sie auf solche Weise in der Partei selbst. Sie schließt sich von breiten Schichten der Ausgebeuteten (z.B. von den Bauern) ab, vereinigt aber in der Partei die verschiedenartigsten Interessengruppen, die ihr das einheitliche Denken und Handeln verwehren. Statt also in dem wogenden Kampf der chaotisch ringenden Klassen – denn jede revolutionäre Lage äußert sich gerade im tief aufgewühlten chaotischen Zustand der ganzen Gesellschaft – die für den Sieg entscheidende Front, die Front des Proletariats gegen die Bourgeoisie in notwendiger Klarheit aufrichten zu helfen und die unklaren Gruppen der anderen Unterdrückten um das Proletariat zu scheren, verwandelt sich eine solche Partei selbst in ein unklares Gemenge von verschiedenen Interessengruppen. Sie kommt nur durch innere Kompromisse überhaupt zum Handeln und wird entweder von klareren oder elementarer handelnden Gruppen ins Schlepptau genommen, oder sie bleibt gezwungen, den Ereignissen fatalistisch zuzuschauen. Der Leninsche Organisationsgedanke bedeutet also einen doppelten Bruch mit dem mechanischen Fatalismus: sowohl mit dem, der das Klassenbewußtsein des Proletariats als mechanisches Produkt 14


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein seiner Klassenlage auffaßt, wie mit dem, de in der Revolution selbst nur eine mechanische Auswirkung sich fatalistisch entladender ökonomischer Kräfte erblickt, die das Proletariat – bei hinreichender „Reife“ der objektiven Bedingungen der Revolution – sozusagen automatisch zum Siege führt. Müßte darauf gewartet werden, bis das Proletariat einheitlich und klar in den entscheidenden Kampf zieht, so würde es nie eine revolutionäre Situation geben. Einerseits wird es immer – und je entwickelter der Kapitalismus ist, desto mehr – proletarische Schichten geben, die dem Befreiungskampf ihrer eigenen Klasse tatenlos zuschauen, ja sogar ins feindliche Lager übergehen. Anderseits jedoch ist das Verhalten des Proletariats selbst, seine Entschlossenheit und die Höhe seines Klassenbewußtseins keineswegs etwas mit fatalistischer Notwendigkeit aus der ökonomischen Lage Entspringendes. Selbstredend kann auch die größte und beste Partei der Welt keine Revolution „machen“. Aber die Art, wie das Proletariat auf eine Lage reagiert, hängt weitgehend von der Klarheit und Energie ab, die die Partei seinen Klassenzielen zu geben imstande ist. So erhält im Zeitalter der Aktualität der Revolution das alte Problem, ob die Revolution „gemacht“ werden kann oder nicht, eine vollkommen neue Bedeutung. Und mit diesem Bedeutungswandel wandelt sich auch die Beziehung von Partei und Klasse, die Bedeutung der Organisationsfragen für Partei und Gesamtproletariat. Der alten Fragenstellung vom „Machen“ der Revolution liegt eine starre, undialektische Trennung von Notwendigkeit des Geschichtsablaufs und Aktivität der handelnden Partei zugrunde. Auf diesem Niveau, wo „Machen“ der Revolution ihr Herauszaubern aus dem Nichts bedeutet, ist es auch durchaus zu verneinen. Die Aktivität der Partei im Zeitalter der Revolution bedeutet aber etwas Grundverschiedenes. Denn ist der Grundcharakter der Zeit revolutionär, so kann eine akut revolutionäre Situation jeden Augenblick eintreten. Zeitpunkt und Umstände ihres Eintretens sind kaum jemals genau vorausbestimmbar. Um so mehr aber sowohl jene Tendenzen, die zu ihrem Eintreten hintreiben, wie die Grundlinien des richtigen Handelns bei ihrem Eintreten. Die Aktivität der Partei ist auf diese Geschichtserkenntnis begründet. Die Partei muß die Revolution vorbereiten. Das heißt, sie muß einerseits durch ihr Handeln (durch ihren Einfluß auf das Handeln des Proletariats und auch der anderen unterdrückten Schichten) auf das Reifen dieser Tendenzen zur Revolution beschleunigend zu wirken versuchen. Sie muß aber anderseits das Proletariat auf das in der akut revolutionären Situation notwendige Handeln ideologisch, taktisch, materiell und organisatorisch vorbereiten. Damit rücken aber auch die inneren Organisationsfragen der Partei in eine neue Perspektive. Sowohl die alte – auch von Kautsky vertretene – Auffassung, daß die Organisation die Voraussetzung des revolutionären Handelns bildet, wie jene Rosa Luxemburgs, daß sie ein Produkt der revolutionären Massenbewegung ist, erscheinen als einseitig und undialektisch. Die die Revolution vorbereitende Funktion der Partei macht aus ihr zu gleicher Zeit und in gleicher Intensität Produzent und Produkt, Voraussetzung und Frucht der revolutionären Massenbewegungen. Denn die bewußte Aktivität der Partei beruht auf einer klaren Erkenntnis der objektiven Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung; ihre strenge organisatorische Abgeschlossenheit lebt in einer steten, fruchtbaren Wechselwirkung mit den elementaren Kämpfen und Leiden der Massen. Dieser Wechselwirkung ist Rosa Luxemburg stellenweise ganz nahe gekommen. Sie verkennt aber das bewußte und aktive Element an ihr. Darum ist sie außerstande gewesen, den springenden Punkt der Leninschen Parteikonzeption: diese vorbereitende Funktion der Partei zu erkennen; darum mußte sie alle daraus folgenden organisatorischen Prinzipien in der gröbsten Weise mißverstehen. Die revolutionäre Situation selbst kann natürlich nicht ein Produkt der Tätigkeit der Partei sein. Es ist ihre Aufgabe, vorauszusehen, welche Richtung die Entwicklung der objektiven, ökonomischen Kräfte einnimmt, worin die den so entstehenden Lagen angemessene Verhaltungsweise der 15


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein Arbeiterschaft besteht. Sie hat, dieser Voraussicht entsprechend, die Massen des Proletariats auf das Kommende und auf seine Interessen diesem gegenüber geistig, materiell und organisatorisch soweit wie möglich vorzubereiten. Die Ereignisse und die Lagen, die in ihrer Folge entstehen, sind aber Produkte der sich blind und naturgesetzlich auswirkenden ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion. Jedoch auch hier nicht in mechanistisch-fatalistischer Weise. Denn wir haben an dem einen Beispiel der ökonomischen Zersetzung des Agrarfeudalismus in Rußland bereits sehen können, daß der ökonomische Zersetzungsprozeß selbst zwar ein zwangsläufig entstehendes Produkt der kapitalistischen Entwicklung ist, daß aber seine klassenmäßigen Auswirkungen, die neuen Klassenschichtungen, die aus ihm entstehen, keineswegs eindeutig in diesem Prozeß selbst – wenn er isoliert betrachtet wird – begründet und darum bloß aus ihm erkennbar sein werden. Das Schicksal der ganzen Gesellschaft, deren Teile diese Prozesse bilden, ist das letzthin entscheidende Moment ihrer Richtung. In dieser Ganzheit spielen aber die spontan-elementar losbrechenden oder bewußt geleiteten Handlungen der Klassen eine entscheidende Rolle. Und je aufgewühlter eine Gesellschaft ist, je mehr ihre „normale“ Struktur aufgehört hat, richtig zu funktionieren, je stärker ihr sozial-ökonomisches Gleichgewicht gestört ist, das heißt, je revolutionärer eine Situation ist, desto entscheidender wird ihre Rolle. Daraus folgt, daß die Gesamtentwicklung der Gesellschaft im Zeitalter des Kapitalismus keineswegs in einer einfachen, geradlinigen Richtung erfolgt. Es ergeben sich vielmehr aus der Zusammenwirkung dieser Kräfte im gesellschaftlichen Ganzen Situationen, in denen eine bestimmte Tendenz sich verwirklichen kann –, wenn die Situation richtig erkannt und entsprechend ausgewertet wird. Aber die Entwicklung der ökonomischen Kräfte, die dem Anschein nach unwiderstehlich auf diese Situation hingetrieben hat, verfolgt, wenn diese versäumt wird, wenn ihre Konsequenzen nicht gezogen werden, keineswegs ebenso unwiderstehlich die bisherige Linie, sondern schlägt sehr oft ins Entgegengesetzte um. (Man stelle sich die Lage Rußlands vor, wenn die Bolschewiki im November 1917 nicht die Macht ergriffen, nicht die Agrarrevolution zu Ende geführt hätten. Eine „preußische“ Lösung der Agrarfrage wäre unter einem konterrevolutionären, aber im Vergleich zum vorrevolutionären Zarismus modern-kapitalistischen Regime nicht vollständig ausgeschlossen gewesen.) Erst wenn die geschichtliche Umwelt, in der die Partei des Proletariats zu wirken hat, erkannt ist, kann ihre Organisation wirklich begriffen werden. Sie beruht auf den ungeheuren, welthistorischen Aufgaben, die Untergangsepoche des Kapitalismus dem Proletariate stellt; auf der ungeheuren welthistorischen Verantwortung, die diese Aufgaben der bewußten Führerschicht des Proletariats aufbürden. Indem die Partei aus der Erkenntnis der Totalität der Gesellschaft die Interessen des Gesamtproletariats (und dadurch vermittelt die Interessen aller Unterdrückten, die Zukunft der Menschheit) vertritt, muß sie in sich alle Gegensätze vereinigen, in denen sich diese vom Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen gestellten Aufgaben ausdrücken. Wir haben bereits hervorgehoben, daß die strengste Auswahl der Parteimitglieder in bezug auf Klarheit des Klassenbewußtseins und unbedingte Hingebung der Sache der Revolution gegenüber mit dem restlosen Aufgehen im Leben der leidenden und kämpfenden Massen vereinigt werden muß. Und alle Bestrebungen, die erste Seite dieser Forderungen ohne ihren Gegenpol zu erfüllen, mußten mit einer sektenhaften Erstarrung selbst aus guten Revolutionären bestehender Gruppen enden. (Dies ist die Grundlage des Kampfes, den Lenin gegen „links“ vom Otsowismus bis zur K.A.P. und darüber hinaus geführt hat.) Denn die Strenge der Anforderungen den Parteimitgliedern gegenüber ist nur ein Mittel, um der ganzen Klasse des Proletariats (und darüber hinaus allen vom Kapitalismus ausgebeuteten Schichten) ihre wahren Interessen, all das, was ihren unbewußten Handlungen, ihrem unklaren Denken und verworrenen Empfinden wirklich zugrunde liegt, klar vor Augen zu stellen, bewußt zu machen. Die Massen können aber nur handelnd lernen, nur im Kampfe ihrer Interessen bewußt werden. In 16


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein einem Kampfe, dessen ökonomisch-soziale Grundlagen sich in ewigem Wechsel befinden, in dem sich deshalb die Bedingungen und Mittel des Kampfes ununterbrochen verändern. Die führende Partei des Proletariats kann ihre Bestimmung nur dann erfüllen, wenn sie in diesem Kampfe den kämpfenden Massen stets um einen Schritt voran ist, um ihnen den Weg weisen zu können. jedoch stets nur einen Schritt voran ist, um immer der Führer ihres Kampfes bleiben zu können. Ihre theoretische Klarheit ist also nur dann wertvoll, wenn diese nicht bei der allgemeinen, bei der bloß theoretischen Richtigkeit der Theorie stehenbleibt, sondern die Theorie stets in der konkreten Analyse der konkreten Lage gipfeln läßt, wenn die theoretische Richtigkeit stets nur den Sinn der konkreten Lage ausspricht. Die Partei muß also einerseits die theoretische Klarheit und Festigkeit haben, um allen Schwankungen der Massen zum Trotze, selbst eine vorübergehende Isolierung riskierend, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Sie muß aber anderseits zugleich so elastisch und lernfähig sein, um aus jeder, wenn auch noch so verworrenen Äußerung der Massen die den Massen selbst unbewußt gebliebenen revolutionären Möglichkeiten herauszulesen. Eine derartige Anpassung an das Leben der Gesamtheit ist ohne strengste Disziplin in der Partei unmöglich. Wenn die Partei nicht fähig ist, ihre Erkenntnis der Lage, der ununterbrochnen wechselnden Lage augenblicklich anzupassen, so bleibt sie hinter den Ereignissen zurück, wird aus dem Führer der Geführte, verliert den Kontakt mit den Massen und desorganisiert sich. Das hat zur Folge, daß die Organisation stets mit der größten Straffheit und Strenge funktionieren muß, um diese Anpassung sogleich, wenn nötig, in Tat umzusetzen. Zugleich jedoch bedeutet es, daß diese Forderung der Schmiegsamkeit auch auf die Organisation selbst ununterbrochen angewendet werden muß. Eine Organisationsform, die in einer bestimmten Lage für bestimmte Zwecke nützlich gewesen ist, kann bei veränderten Kampfbedingungen geradezu ein Hemmnis werden. Denn es liegt im Wesen der Geschichte, stets Neues zu produzieren. Dieses Neue kann nicht durch irgendeine unfehlbare Theorie im voraus errechnet werden: es muß im Kampfe, aus seinen ersten sich zeigenden Keimen erkannt und bewußt zur Erkenntnis gefördert werden. Es ist keineswegs die Aufgabe der Partei, irgendwelche abstrakt ausgeklügelte Verhaltungsweise den Massen aufzudrängen. Sie hat im Gegenteil vom Kampf und von den Kampfmethoden der Massen ununterbrochen zu lernen. Sie muß aber auch im Lernen aktiv, die folgenden revolutionären Aktionen vorbereitend, tätig sein. Sie muß das von den Massen spontan, aus richtigem Klasseninstinkt Erfundene mit der Totalität der revolutionären Kämpfe verknüpfen, bewußt machen; sie muß, nach Marx’ Worten, den Massen ihre eigenen Aktionen erklären, um auf diese Weise nicht nur die Kontinuität der revolutionären Erfahrungen des Proletariats zu bewahren, sondern auch die Weiterentwicklung dieser Erfahrungen bewußt und aktiv zu befördern. Die Organisation hat sich als Instrument in die Ganzheit solcher Erkenntnisse und der aus ihnen entspringenden Handlungen einzufügen. Tut sie es nicht, so wird sie die von ihr unerkannte und darum unbeherrschte Entwicklung der Dinge zersetzen. Darum ist jeder Dogmatismus in der Theorie und jede Erstarrung in der Organisation verhängnisvoll für die Partei. Denn, wie Lenin sagt: „Jede neue Form des Kampfes, die mit neuen Gefahren und Opfern verbunden ist, ‚desorganisiert‘ unvermeidlich die zu dieser neuen Kampfform nicht vorbereiteten Organisationen.“ Es ist Aufgabe der Partei auch in bezug auf sich selbst – und hier erst recht – den notwendigen Weg frei und bewußt zurückzulegen, sich umzubilden, bevor die Gefahr der Desorganisation akut wird und durch diese Umbildung umbildend und fördernd auf die Massen einzuwirken. Denn Taktik und Organisation bilden nur zwei Seiten eines untrennbaren Ganzen. Nur in beiden zugleich sind wirkliche Resultate erzielbar. Man muß, sollen sie erzielt werden, in beiden zugleich konsequent und elastisch, unerbittlich am Prinzip festhaltend und offenen Blickes für jede neue Wendung eines jeden Tages sein. Es kann weder taktisch noch organisatorisch etwas geben, was an und für sich gut oder schlecht wäre. Erst die Beziehung zum Ganzen, zum Schicksal der 17


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein proletarischen Revolution macht einen Gedanken, eine Maßnahme usw. richtig oder falsch. Darum hat zum Beispiel Lenin – nach der ersten russischen Revolution – mit der gleichen Unerbittlichkeit sowohl jene bekämpft, die die angeblich nutzlose und sektenhafte Illegalität aufgeben wollten, wie jene, die sich restlos der Illegalität hingebend, die legalen Möglichkeiten von sich gewiesen haben; darum hat er für das Aufgehen im Parlamentarismus und für den prinzipiellen Antiparlamentarismus die gleiche zornige Verachtung gehabt usw. Lenin ist nicht nur niemals ein politischer Utopist gewesen, sondern er hat auch nie in bezug auf das Menschenmaterial seiner Gegenwart irgendwelche Illusionen gehabt. „Wir wollen“, sagt er in der ersten Heldenzeit der siegreichen proletarischen Revolution, „den Sozialismus mit den Menschen errichten, die vom Kapitalismus erzogen, von ihm verdorben und verderbt, aber dafür von ihm auch zum Kampf gestählt worden sind.“ Die ungeheuren Anforderungen, die der Leninsche Organisationsgedanke an die Berufsrevolutionäre stellt, haben nichts Utopisches an sich. Freilich auch nichts an der Oberfläche des gewöhnlichen Lebens, der gegebenen Tatsächlichkeit, der Empirie Klebendes. Die Leninsche Organisation ist insofern selbst dialektisch – also nicht nur Produkt der dialektischen Geschichtstentwicklung, sondern zugleich ihr bewußter Förderer – als auch sie selbst zugleich Produkt und Produzent ihrer selbst ist. Die Menschen machen ihre Partei selbst, sie müssen einen hohen Grad von Klassenbewußtsein und Hingebung haben, damit sie an der Organisation teilnehmen wollen und können; aber zu wirklichen Berufsrevolutionären werden sie erst in der Organisation und durch die Organisation. Der Jakobiner, der sich mit der revolutionären Klasse verbündet, gibt durch seine Entschlossenheit, seine Fähigkeit zum Handeln, sein Wissen und seinen Enthusiasmus den Taten der Klasse Form und Klarheit. Es ist aber stets das gesellschaftliche Sein der Klasse, das aus ihm entsteigende Klassenbewußtsein, das den Inhalt und die Richtung seiner Handlungen bestimmt. Es ist kein stellvertretendes Handeln für die Klasse, sondern das Aufgipfeln des Handelns der Klasse selbst. Die Partei, die die proletarische Revolution zu führen berufen ist, tritt deshalb nicht fertig an ihren Führerberuf heran: auch sie ist nicht, sondern sie wird. Und der Prozeß der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse wiederholt sich – freilich verändert – in der Beziehung der Partei zu ihren Mitgliedern. Denn, wie Marx in seinen Feuerbach-Aphorismen sagt: „Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ Die Leninsche Konzeption der Partei ist der schroffste Bruch mit der mechanistischen und fatalistischen Vulgarisation des Marxismus. Sie ist die praktische Verwirklichung seines echten Wesens, seiner tiefsten Tendenz: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

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Klasseninteressen - Klassenbewusstsein

Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse (Frey-Gruppe)

Schulungshandbuch, Straßburg 1947 II. DIE KLASSENINTERESSEN In jeder Klasse gibt es zahllose Unterschiede nach Geschlecht, Alter, Beruf, Nation, Rasse, Familie, Individualität usw, zahllose Sonderintereseen, Teilinteressen, Interessen von Teilen, Fraktionen der Klasse, wie Schichten-, Berufs-, Branchen-, Gruppen-, Familien-, Einzelinteressen usw. Über alle mehr oder weniger besonderen, unterschiedlichen Teilinteressen hinweg haben jedoch alle zu einer Klasse Gehörigen aus ihrer gleichen Produktionsrolle heraus ihnen allen gleiche, allgemeine, gemeinsame Interessen. Die gemeinsamen Interessen sind entweder von Tag zu Tag veränderliche, variable Interessen, Augenblicks-, Tagesintereesen, zeitweilige, vorübergehende Interessen, das heißt solche, die Bestand haben bloß für eine mehr oder weniger lange Zeítespanne - oder sie sind konstante, dauernde Interessen, das heíßt sie leben solange, solange die Klasse als Klasse lebt, sie haben Bestand, solange die Klasse als Klasse Bestand hat, besteht, bestehen wird. ` Die sind die großen, entscheidenden, ausschlaggebenden, allen Angehörigen einer Klasse über alle wie immer gearteten Unterschiede hinweg aus ihrer gleichen Rolle im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess erwachsenden gemeinsamen, dauernden Interessen. Als gleiche, allgemeine, gemeinsam Interessen sind die Klasseninteressen gegenüber allen Sonderinteressen, gegenüber allen Teilinteressen, als dauernde Interessen sind sie gegenüber allen bloß vorübergehenden, zeitweiligen Interessen die grundlegenden, grundsätzlichen, prinzipiellen Interessen jedes einzelnen Klassenangehörigen, jedes ihrer Teile und der Klasse als ganzer für die ganze Dauer ihres Bestehens. Gegenüber den Klasseninteressen als den höchsten, allumfassenden Interessen der Gesamtklasse, die sich in den höchsten Klassenzielen, den Endzielen der Klasse ausdrücken, bezeichnet man als Teilinteressen auch die begrenzten, eingeschränkten Interessen der Gesamtklasee, die in begrenzten, eingeschränkten Interessen und eben darum - im Verhältnis zu den Endzielen - vorübergehenden, zeitweiligen Kampfzielen der gesamten Klasse ihren Ausdruck finden. Teilinteressen sind also entweder Sonderinteressen von Klassenteilen oder - im Verhältnis zu den Endzielen der Klasse - beschränkte Interessen der Gesamtklasse. Die Klassenprinzipien, Klassengrundsätze sind nichts anderes als theoretische Sätze, welche die Klasseninteressen ideologisch, gedanklich ausdrücken. Die proletarischen Klassenprinzipien heissen auch proletarischrevcluticnâre, kurz proletarische oder revolutionäre Prinzipien. Diese haben nichts zu tun mit den utopischen "Prinzipien“. Bei voller Anerkennung mancher genialer Voraussicht, die der eine oder andere unter ihnen bewies, waren die `Utopisten Weltverbesserer, die aus ihrer Phantasie heraus Allheilmittel, "Prinziien" ausklügelten, wonach sich die menschliche Gesellschaft zu modeln habe, um ihrer Übel los zu werden. Dem gegenüber sind die proletarischen Prinzipien theoretische Sätze, abgeleitet aus den tatsächlichen kapitalistischen Produktionsbedingungen, Produktionsverhaltnissen, aus der tatsächlichen Bewegung der kapitalistischen Wirtschaft, Gesellschaft, aus der tatsächlichen Rolle der Arbeiterklasse im kapitalistischen Reproduktionsprozess - abgeleitet zwar mittels des Kopfes, doch abgeleitet aus den tatsächlichen Verhältnissen, in welchen die Lohnarbeiter tatsächlich wirken, leben, abgeleitet also aus den *Tatsachen*. Sie sind also nichts als der allgemeine Ausdruck bestimmter Tatsachen, bestimmter tatsächlicher Verhältnisse, eben der kapitalistischen Verhältnisse, Tatsachen. „Die 19


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächliche Verhässe eines existierenden Klaesenkampfes, einer unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung" (Kommunistisches Manifest). Der wissenschaftliche Sozialismus geht nicht aus von Phantasien, von Hirngespinsten, sondern von den Tatsachen, vor allem von den kapitalistischen Tatsachen, von den tatsächlichen kapitalistischen Verhältnissen, von ihrer tatsächlichen Bewegung, Veränderung, Entwicklung, von den Gesetzen, Regeln, nach denen sich diese Bewegung, Entwicklung tatsächlich vollzieht. "Kommunismus hieß nun nicht mehr Ausheckung, vermittels der Phantasie, eines möglichst vollkommenen gesellschaftlichen Ideals, sondern Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die sich daraus ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfes". (Engels, Zur Geschichte des "Bundes der Kommunisten", in Marx: Enthüllungen zum Kommunistenprozess in Köln, Ausgabe 1885, S. 8). Die proletarischen Prinzipien sind keine Glaubenssätze, Dogmen, blind zu glauben. Jeder kann sie überprüfen, jeder kann sie ableiten, insbesondere jeder Arbeiter aus den tatsächlichen Produktionsbedingungen, Produktionsverhältnissen, in die jeder Lohnarbeiter ohne Unterschied gestellt ist. Aus der proletarischen Produktionsrolle, die er tagtäglich erlebt, aus der kapitalistischen Produktionsrolle, die ihm tagtäglich lebendig im Kapitalisten und dessen Organen entgegentritt. Die revolutionären Prinzipien erheben keinen Anspruch auf Ewigkeit, sie sind nicht Dogmen, Geaubenssätze, ein für allemal, für alle Zeiten, für alle wie immer gearteten Verhältnisse geltend, sie gelten nur für die kapitalistischen Bedingungen, Verhältnisse, aber für deren Gesamtdauer bis zu ihrer vollständigen, endgültigen Liquidierung auf dem gesamten Erdball. Die revolutionären Prinzipien sind keine Axiome. Das sind Sätze, die, allen Tatsachen angeblich vorausgehend, unser ganzes Denken bestimmen, keines Beweises fähig seien, auch keines Beweises bedürftig, weil sie so einfach seien, dass ihre Richtigkeit ohne weiteres jedem von selbst einleuchte. In Wirklichkeit sind die Axiome durchwegs aus den Tatsachen abgeleitet und fast durchwegs Tautologien, das heisst: das, was sie als funkelnagelneue weltbestimmende Grundwahrheit verkünden, ist darin als alte, gut bekannte, einfache Erkenntnis von vornherein enthalten. Das Prädikat des axiomatischen Satzes sagt in andern Worten zumeist nur, was im Subjekt desselben Satzes bereits enthalten ist. Zum Beispiel wird uns der Satz: „Das Ganze ist grösser als der Teil" hochtrabend als Axiom verkündet. Aus Milliarden tatsächlicher Erfahrungen erkannten die Menschen und erkennen sie immer wieder, dass der Teil kleiner ist als das Ganze. Diese immer wieder erfahrene Tatsache haben sie in den Begriff "das Ganze" und "der Teil" zusammengefasst. Das, was das Axiom als weltbestimmende Wahrheit des Verhältnisses des Teils zum Ganzen ausposaunt, ist - aus den Tatsachen abgezogen, abgeleitet - von vornherein im Begriff "das Ganze" bereits enthalten. Die revolutionären Prinzipien sind nicht Axiome, sondern allgemein Widerspiegelungen bestimmter Tatsachen in unsern Köpfen, nämlich der kapitalistischen Tatsachen, Produktionsbedingungen, Produktionsverhältnisse; sie sind beweisbar, sie sind bewiesen, jedermann kann die Beweise an der Hand der kapitalistischen Tatsachen, ihrer tatsächlichen Bewegung tagtäglich nachprüfen. Über die grossen entscheidenden Produktionsmittel als Privateigentum nach ihrem Belieben tatsächlich verfügen; sie durch Lohnarbeiter in Schwung setzen, in Schwung halten; sie mit einem Lohn abfertigen, der die Arbeiter als Klasse in für das Kapital nötigem Umfang und erforderlicher Qualität gerade erhält, fortpflanzt und den Profit nicht gefährdet; sie zu möglichst geeigneten Ausbeutungsobjekten abrichten, immer grösseren, jeweils maximalen Mehrwert aus den Arbeitern pressen; die von den Lohnarbeitern erzeugten Waren immer wieder verkaufen, absetzen, zu Preisen, die ihnen immer wieder den Ersatz des verbrauchten Kapitals und zugleich die Verwandlung des Mehrwertes in Geld und so das Aneignen immer höheren, jeweils maximalen Profits sichern; nach 20


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein ihrem Belieben erzeugen, was und wieviel sie nach ihrem pri-vaten Ermessen für zweckmässig erachten; nach ihrem Belieben die Produktion ausdehnen, drosseln, ja einstellen, wenn sie ihnen keinen Profit abwirft, und die Arbeiter als Arbeitslose aufs Pflaster werfen; kurz den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess kommandieren, für ihre Privatinteressen ausbeuten, alle seine Früchte immer wieder an sich reissen; die kapitalistischen Produktionsbedingungen vermittels der kapitalistischen Staatsgewalt dauernd sichern, dauernd die Lohnarbeiter niederhalten, vor allem das Privateigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln, diesen Springquellen des Lebens der gesamten menschlichen Gesellschaft, der Kapitalistenklasse dauernd erhalten - -das ist dass Klasseninteresse der Kapitalistenklasse, das kapitalistische Klasseninteresse. Über die grossen, entscheidenden Produktionsmittel als Eigentum des proletarischen Staates vermittels der proletarischen Demokratie tatsächlich verfügen; die großen für den Lebensprozess der Menschheit ausschlaggebenden Produktionsmittel in gesellshaftlicher Zusammenarbeit in Gang setzen, in Gang halten, in immer ausgiebigerem Masse all das erzeugen, was die menschliche Gesellschaft braucht, um zunächst den werktätigen ausgebeuteten Massen, schließlich allen Menschen ohne Unterschied ein wahrhaft menschenwürdiges Dasein zu sichern und dieses immer höher zu entfalten; den Reallohn, die gesamte Lebenshaltung, das kulturelle Dasein der Arbeiter und aller nichtausbeutenden Werktätigen immer höher heben, also auch die Arbeitszeit - ohne die Arbeitsintensität zu überspannen - immer mehr verkürzen; jeden Arbeiter, jede Arbeiterin, jeden ausgebeuteten Werktätigen, letzten Endes alle Menschen allseitig, auf der Höhe der Wissenschaft, bilden und zu selbständigem Denken, Urteilen in allen lebenswichtigen Fragen erziehen; die gesamten Arbeitsbedingungen immer mehr verbessern; die Arbeiter- und die Mittelschichten gegen alle Wechselfälle der Produktion in menschenwürdiger Weise und immer besser sicherstellen, eine dauernde Beschäftigung, dauernden Verdienst und einen menschenwürdigen, immer besseren Lebensabend sichern; alle diese Lebensbedingungen vermittels der proletarisch-demokratischen Staatsgewalt dauernd sichern, dauernd die kapitalistischen Ausbeuter, Parasiten niederhalten; dauernd die grossen, entscheidenden Produktionsmittel der gesamten Gesellschaft zu immer planvollerer Produktion zusammenfassen; sie schließlich aus dem Eigentum des proletarischdemokratischen Staates - die Spaltung der Menschheit in Klassen überwindend, den Staat, die Partei überflüssig machend - in das tatsächliche Verfügen der in Freiheit und Gleichheit als brüderliche Weltgenossenschaft organisierten manschlichen Gesellschaft überleiten - das ist das Klasseninteresse der Arbeiterklasse, Über die kleinen Produktionsmittel als ihr Privateigentum tatsächlich verfügen; sie mit ihrer und ihrer Familie Arbeitskraft in individueller Vereinzelung in Bewegung setzen, in Bewegung halten, ohne fremde Arbeitskraft auszubeuten; die so erzeugten Waren immer wieder zu Preisen verkaufen, die ihnen immer wieder den Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, das Ersetzen und Fortpflanzen ihrer und ihrer Familie Arbeitskraft und darüber hinaus einen, wenn auch bescheidenen, so doch möglichst hohen, möglichst immer höheren Reingewinn sichern; ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit als Kleinproduzenten, Kleinverkäufer, vor allem ihr Privateigentum an den kleinen Produktionsmitteln dauernd aufrecht erhalten, sicherstellen; den Umfang ihrer Produktion, ihrer Produktionsmittel möglichst erweitern, sie mög-.1ichet in Kapital verwandeln, das heisst in Produktionsmittel zu Profitzwecken verwandeln, bedient von ausgebeuteten Lohnarbeitern, mit einem Wort: in die Kapitalistenklasse aufzusteigen - das ist das Klasseninteresse des Kleinbürgertums (des Kleinbauerntums inbegriffen), das kleinbürgerliche Klasseninteresse. Der ausschlaggebende Absatzmarkt für die Waren der kleinbürgerlichen Produzenten, Verkäufer, unmittelbar und mittelbar, sind die Arbeitermassen. Das gilt nicht nur für die Handwerker, Kleinhändler, Kleinwirte usw., sondern auch für die Kleinbauern. Die direkten und vor allem indirekten Abnehmer der kleinbäuerliehen Erzeugnisse sind weitaus überwiegend die Riesanmaesen 21


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein der Arbeiter. Sinkt deren Kaufkraft, so sinkt unvermeidlicherweise zugleich.auch das Einkommen der kleinbürgerlichen Schichten, der Kleinbauern inbegriffen. Das Kleinbürgertum ist also objektiv in hohem Masse daran interessiert, dass der Reallohn der Arbeiterklasse möglichst hoch sei. Dazu kommt, dass die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Mittelschichten von der Bourgeoisie unter allen möglichen Formen immer wieder und immer stärker bedroht wird, dass die kapitalistische Proletarisierungstendenz sie immer härter und immer tiefer drückt. Diese und andere ähnliche Tendenzen drängen das Kleinbürgertum in die Richtung der Arbeiterklasse, - andererseits jedoch ist der Kleinbürger interessiert, möglichst hohe Preise für seine Ware zu erzielen. Obwohl seine winzigen Produktionsmittel eine immer fragwürdigere Quelle seines Bestehens, Fortkommens bilden; obwohl seine Existenz sich immer unsicherer gestaltet; obwohl der wachsende kapitalistische Druck ihn treibt, zwingt, sich und seine Familie immer mehr auszubeuten; obwohl er selbst indirekt und direkt von der kapitalistische-Klasse immer mehr ausgesogen wird - trotz alledem und alledem klammert sich der Kleinbürger auf das äußerste an das Privateigentum, an seine zwerghaften Produktionsmittel, die er allerdings mit seiner eignen Arbeitskraft erworben hat. Sich ins große Bürgertum, in die Bourgeoisie, in die Klasse der kapitalistischen Ausbeuter empor zu arbeiten, selber Lohnarbeiter auszubeuten, ist sein höchster Wunsch - sein Höchstziel. Aus all dem fühlt sich das kleine Bürgertum wieder umgekehrt gegen die Lebensforderungen der Arbeiter getrieben, gegen deren Kampf um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit usw. Ganz besonders dort, wo der echte in den unechten Kleinbürger, in den Kleinkapitalisten,übergeht, wo er, wenn auch in kleinem Umfang, fremde Arbeitskraft auszubeuten beginnt, gewinnt diese Gegentendenz in ihm an Kraft. So wird das Kleinbürgertum durch die inneren Widersprüche seiner Klasseninteressen zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin und her geworfen. Einerseits haben die Kleinbürger gemeinsame Interessen mit den Arbeitern - andererseits haben sie gemeinsame Interessen mit den Kapitalisten: so schwanken sie immer wieder zwischen den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft hin und her. Den Ausschlag gibt das kleinbürgerliche Privateigentum, für das ihnen die Bourgeoisie (mit ihrem kapitalistischen Staat) ein sicherer Schutz zu sein scheint als die Arbeiterklasse, und die sie mehr oder weniger beherrschende Tendenz, Hoffnung, sich hinaufzuarbeiten, in die Kapitalistenklasse aufzusteigen. Es ist eine ständige Aufgabe der proletarischen Politik, alle Schwankungen, Tendenzen, die das Kleinbürgertum oder Teile desselben da und dort, dann und wann der Arbeiterklasse nähern, für die proletarische Revolution auszunützen. Nur diejenigen echten Kleinbürger, welche die Hoffnung, sich in die Bourgeoisie empor zu arbeiten, endgültig aufgegeben haben und erkennen, dass der Kapitalismus ihr Privateigentum immer mehr aushöhlt, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit immer mehr erschüttert, untergräbt, zu blossem Schein macht, ihre Existenz immer mehr bedroht; sie immer mehr proletarisiert, nur diese echten Kleinbürger tendieren ernstlich, überwiegend - auch sie stets schwankend - zum Proleteriat. Erst eine proletarische Politik, die durch entschlossenstes Handeln, durch dessen Ergebnisse beweist, dass sie imstande ist, die kapitalistische Klasse entscheidend zu schlagen und den Sieg zu behaupten; die zugleich den kleinbürgerlichen Schichten in Dorf und Stadt immer wieder zeigt, dass sie nicht im Traum daran denkt, ihnen ihr Arbeitseigentum, ihr durch eigne Arbeit sauer erworbenes Privateigentum, mit Gewalt zu nehmen; die durch ihre geduldige Praxis erkennen lässt, dass es ihr darauf ankommt, die kleinbürgerlichen Produzenten nur durch die Mittel des Überzeugens für Übergangsschritte zum Sozialismus zu gewinnen; die die größte Festigkeit gegenüber dem ewigen kleinbürgerlichen Schwanken verbindet mit großm Entgegenkommen gegenüber den kleinbürgerlichen Nöten, mit handgreiflichen Vorteilen für die nichtausbeutenden, selbstausgebeuteten Kleinbauern, Kleinbürger - erst diese proletarisch-revolutionäre Politik vermag 22


Klasseninteressen - Klassenbewusstsein wachsende kleinb체rgerliche Massen dauernd auf die Seite des Proletariats zu ziehen, sie auf der Seite des Proletariats zu halten und allm채hlich - stets im Einvernehmen mit den Kleinbauern, Kleinb체rgern - in die sozialistische Produktion einzureihen.

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