Sabine Lachnit
Das Leben nach dem Senf
Zweite überarbeitete Auflage – März 2017 © Sabine Lachnit Erste Auflage – August 2014 (Titel: „Das Übliche“, Teil der Diplomarbeit „So kann‘s gehn“, Kunsthochschule Kassel, Studiengang Produktdesign; Auflage von 7 Exemplaren) Texte, Gestaltung und Satz: Sabine Lachnit Lektorat: Sophia Formann Illustrationen: Julian Schambach Schriften: Arno Pro, Bebas Neue, OCR A Std, Hollywood Starfire, Biro Script Plus
Sabine Lachnit
Das Leben nach dem Senf LektĂźre zur Beziehung zwischen Mensch und Gebrauchsgegenstand im Spannungsfeld von Konvention und Improvisation
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Vorwort Gegenstände, die uns im Alltag umgeben, sind oftmals so selbstverständlich zur Hand, dass wir gar keine Notiz mehr von ihnen nehmen. Der Umgang mit ihnen geschieht meist beiläufig, beinahe blind. Alles läuft nach Plan, entsprechende Handgriffe und Gesten sind routiniert und vertraut. Die Dinge bieten uns Funktionen an, wir bedienen sie gekonnt und so gehen viele Vorgänge damit vonstatten, ohne dass wir uns ihrer überhaupt bewusst werden. Und genau das ist in den meisten Fällen auch gut so, dient dies doch der Komplexitätsreduktion unseres Alltags und ermöglicht uns, dass wir unsere Aufmerksamkeit zu großen Teilen dem „Was“ und nicht so sehr dem „Wie“ widmen können. Was aber, wenn Vorgänge aus einem bestimmten Grund nicht reibungslos ablaufen? Was, wenn die Gegenstände nicht so funktionieren, wie sie sollen oder wenn sie einfach nicht genau so sind, wie wir es gerade bräuchten? Was geschieht, wenn sie gar defekt sind oder uns auf andere Weise vor ein Problem stellen? Zunächst kommt es dadurch zu einer bewussten Konfrontation: Die Gegenstände werden als Ding präsenter. Oft wirkt diese Art der Präsenz negativ - zumindest auf den ersten Blick. Wenn keine konventionelle oder adäquate Problemlösung möglich ist, um einen solchen „Missstand“ zu beheben, wenn sich die Lösung nur abseits vorgegebener Wege finden lässt, können sich die verschiedenen Dimensionen des Nichtfunktionierens als persönliche Herausforderung darstellen. In ihrer Funktionsstörung provozieren die Dinge plötzlich Improvisation: Sie fordern uns auf, nicht nur durch den Einsatz unseres logischen, sondern vor allem auch kreativen Denkens einen Weg zum Ziel zu finden. Dieses Buch legt den Fokus auf derartige „problematische“ Beziehungen zwischen Mensch und Objekt und zeigt auf, wo jene Momente verortet
sein können, in denen improvisatorische Handlungsweisen entstehen. Die Einzeltexte grenzen das Thema dabei nicht ein, vielmehr weiten sie es in all jene Bereiche aus, in denen das Improvisieren eine Rolle spielen kann. So sollen sie vor allem Aufschluss über das gewohnt gewöhnliche Hantieren mit den uns umgebenden Objekten geben, unser Verhältnis zu Alltagsgegenständen beleuchten, unser Bewusstsein für sie schärfen, und schließlich die alltägliche Präsenz und Not wendigkeit der Improvisation verdeutlichen. Über geordnetes Ziel ist es dabei, der Improvisation als Qualität und Kompetenz gewahr zu werden.
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Neuauflage der im Rahmen meiner Diplomarbeit entstandenen Publikation „Das Übliche“. Unter dem Arbeitstitel „So kann’s geh’n – über den Mehrwert improvisatorischer Problemlösung“ entwickelte sich ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse die folgenden Einzeltexte illustrieren. Die Forschungsreihe umfasste mit Probanden durchgeführte Experimente an problembehafteten Objekten sowie Interviews zu realen Improvisations-Erfahrungen. In „Das Übliche“ waren die verschiedenartigen Inhalte mittels Seiten unterschiedlicher Formate in den Buchblock integriert, was eine Herstellung von Hand erforderte. Zur Vereinfachung der Herstellbarkeit wurden diese Formatunterschiede in der vorliegenden Ausgabe lediglich imitiert. Dies wird bei Lesern mit konventionellen Erwartungen an das Resultat des Umblätterns zwangsläufig zu einer Erweiterung dieser Gewohnheit führen müssen.
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Erläuterung des Forschungsprojekts „SO KANN‘S GEH‘N“ Seite 9
Seite 50
Gebrauch und Tradition Form follows function follows form Seite 36
Instrumentalisierung Seite 68
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Plan B Seite 20 DER Retter in der not Seite 90
Seite 130
Das anonyme Ding
Texte zu grundlegenden Aspekten des Gebrauchens und Texte ßber unterschiedliche Teil bereiche der Beziehung zwischen Mensch und Gebrauchsobjekt im Spannungsfeld von Konvention und Improvisation
Hand und Auge
Seite 148
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Seite 172
Erfolgreiche Dialoge
Die Spezialisten Seite 114
Quellenverzeichnis Seite 200
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„SO KANN‘S GEH‘N“
über den Mehrwert improvisatorischer Problemlösung
In diesem Forschungsprojekt galt es, die positiven Aspekte der Improvisation im Umgang mit den uns umgebenden Gegenständen des Gebrauchs aufzudecken. Dazu entstand eine Sammlung von Erfahrungsberichten und Experimenten zu derlei Situationen. Die Erfahrungsberichte stammen von Personen, die durch improvisatorische Handlungs- und Denkweisen problematische Situationen lösen konnten. Die Personen wurden durch Passantenbefragungen und Umfragen via E-Mail ermittelt. Zehn dieser Geschichten werden hier veröffentlicht und in Form von Interviews und Illustrationen dargestellt. Die vier Experimente thematisieren je auf spezifische Weise eine Alltagssituation, welche die Probanden dazu auffordert, einem wie auch immer gearteten Mangel mit ihrer individuellen improvisatorischen Problemlösungskompetenz zu begegnen. Die Versuche wurden mit je acht bis zehn Personen durchgeführt, wobei sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Teilnehmern bemüht wurde. Die Altersspanne der Probanden reicht von 10 bis 62 Jahren, um einen möglichst repräsentativen Altersquerschnitt jener Menschen abzubilden, die sich mit Alltagsproblemen auseinandersetzen. In dieser Publikation werden pro Experiment je sechs bis sieben Ergebnisse in Form von Interviews und Fotografien vorgestellt.
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Die folgenden Seiten zeigen sowohl die Vorbereitung der Experimente – das Präparieren der benötigten mangelbehafteten Objekte – sowie die Aufgabenstellungen, die den Probanden am Beginn des Versuchs in die zu bewältigende Situation einführen sollten.
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„Ein Missgeschick hat die Vase von der Fensterbank auf eine Fliesenkante stürzen lassen, nun hat sie ein Loch. Das macht es ihr unmöglich, durch eine klassische Art des Gebrauchs eine annähernd ausreichende Menge Wasser zu fassen. Weil sie dir am Herzen liegt, möchtest du sie trotzdem verwenden, um eine Blume hineinzustellen. Was kannst du tun, damit die Blume mit Wasser versorgt bleibt?“
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„Das letzte Glas aus deinem 6-teiligen Set günstig erstandener Weingläser ist soeben schwungvoll an der Spülbeckenoberkante angeeckt, nun ist der Fuß gebrochen. Da dir dein Rotwein aber nur aus dem bauchigen 62cl-Kelch so richtig mundet, möchtest du das Glas trotz alledem verwenden. Was tust du, um das Glas nicht die ganze Zeit in der Hand halten zu müssen?“
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„Das man nicht genügend Geschenkpapier im Haus hat, bemerkt man in dringlichen Fällen meist erst nach Ladenschluss – wie jetzt zum Beispiel. Bald schon möchtest du zur Geschenkübergabe aufbrechen, das Präsent jedoch nicht unverpackt in der drögen Pappschachtel übergeben. Der vorhandene Geschenkpapierrest reicht nicht aus, um die Schachtel komplett zu verpacken, so fasst du den Plan, das Beste aus dem zu machen, was du hast. Was kannst du tun?“
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„Der Leinenbeutel ist ein strapazierfähiger Begleiter, und ein klassisches Modell aus naturbelassener Baumwolle hilft dir schon seit Langem, alltägliche Lasten zu befördern. Daher traf es dich umso mehr, als ein wasserbeständiger Marker im Beutel auslief und seit dem ein Fleck an ihm prangert. Jegliche Reinigungsversuche sind gescheitert, nun möchtest du die Not zur Tugend machen und clever mit dem Problem umgehen. Was kannst du tun?“
18 Zum Lösen der Aufgaben waren jegliche Hilfsmittel oder Modifikationen am bestehenden Objekt erlaubt. Die Experimente E1 bis E3 wurden in Form von Hausbesuchen durchgeführt. So konnten die Probanden im gewohnten Umfeld völlig frei agieren, während ich als Forscherin zur stillen Beobachterin des Experimentverlaufs wurde. Lediglich E4 unterschied sich im Aufbau von den vorausgegangenen Experimenten: Zum einen war der befleckte Leinenbeutel das einzige Objekt, das keine wirkliche Funktionsbehinderung besaß – der Proband musste das Problem des ästhetischen Defekts für sich annehmen. Zum anderen wurde E4 in Form einer Hausaufgabe durchgeführt, damit den Probanden bei Bedarf mehr Zeit zum Entwickeln der eigenen Lösungsidee zur Verfügung stand. Zudem konnte jeder Probanden dabei auf ein kleines Budget zurückgreifen, um mögliche Lösungsoptionen dieser Misere nicht in der Umsetzung zu beschränken. Innerhalb der nun folgenden Lesetexte dienen die Experimente und Erfahrungsberichte als praktische, beispielhafte Belege, die über die am Textrand befindlichen Markierungen mit den Inhalten der Lesetexte verknüpft werden.
„Ja mach nur einen Plan Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan Geh’n tun sie beide nicht.“ 19
Berthold Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928
Plan B Die Improvisation ist Bestandteil des täglichen Lebens. Doch was genau macht sie aus? Wie stellt sie sich im Alltag dar?
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Im Eigentlichen handelt es sich um eine gedankliche Herangehensweise. Alles, was wir ohne Vorbereitung bewältigen müssen, alles, was von unseren Plänen – etwa für den Alltag – abweicht oder ganz ohne Plan geschieht, erfordert Improvisation. Das macht sie zu einer grundlegenden Fertigkeit, die uns Flexibilität verleiht, und mit der wir auch Unerwartetes oder Unbekanntes bewältigen können: „Denn Systeme müssen immer auf die Umwelt reagieren, das heißt, sie müssen immer bereit sein, heterogene, widerspenstige Dinge einzubauen und Systeme sind nicht dann stabil, wenn sie starr sind, sondern wenn sie eine gewisse Form von Flexibilität haben.“1 Der Improvisation gebührt interessanterweise gemeinhin jedoch nicht die Anerkennung einer durchweg schätzenswerten Gabe, vielmehr scheint sie in ihrer Aussenwirkung eine eher zwiespältige Gestalt zu besitzen.
„ ... sagen sie mir einen, der nicht improvisieren müsste, einen Präsidenten, einen Musiker, einen Medientechniker, einen Polizisten, einen Terroristen – Terroristen müssen am meisten Jochen Hörisch, Literatur- und Medienwissenschaftler Improvisieren.“ So zeichnet sich die Improvisation auf der einen Seite als so häufig verwendetes Flexibilitätswerkzeug aus, als Problemlöserin in der Not. Das Bilden einer Alternative, das Behelfen durch Provisorien, Überbrückungs- und Notlösungen kann somit eine elementare Fertigkeit darstellen.
1 Borgards, Roland in: „Freistil - Improvisation als Lebensprinzip“, Deutschlandfunk, Manuskript zur Radiosendung vom 5. Mai 2013
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„Meine letzte Reparatur ist nicht lange her. Wir haben im Garten gegrillt, an einem Wochenende, und ein Freund hat seine Brille abgenommen, und in dem Moment fällt die Schraube ins Gras, die die Fassung mit diesem seitlichen Bügel verbindet. Und Ali, der Brillenbesitzer, der hatte noch eine lange Autofahrt vor sich, da habe ich ihm aus einem Stück Gartendraht die Schraube ... ersetzt, und die Enden so verzwirbelt. Da habe ich dann auch gemerkt, was für ein Notfall das war, (lacht) also, wegen der Autofahrt, denn Ali meinte, ihn würde ja interessieren, was ich da genau mache, aber er kann es ohne Brille leider nicht sehen. Am nächsten Tag war ich dann zum Beispiel auf dem Spielplatz mit Carl, der ist Zwei. Auf dem Rückweg ging es bergauf schwerlich voran mit dem Bobbycar, also hab’ ich aus meinem Halstuch eine Abschleppleine gemacht. Das ist einfach toll,
Plan B
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so kann man viele Alltagsprobleme oft ganz fix lösen. Man muss solche Situationen oder irgendwelche Probleme aber auch erstmal als Aufgabe wahrnehmen. Dazu muss man aber diesen Fakt erst erkennen, glaube ich – also, diese Möglichkeit, dass man doch eigentlich immer was machen kann. Natürlich auch nicht immer ... Ist das Smartphonedisplay durchgebrochen, dann ist das Smartphonedisplay durchgebrochen – musste ichLebens. neulich erst Die Improvisation ist Bestandteil des täglichen Doch was genau macht sie aus? Wie stellt sie sich im Alltag dar? feststellen. Ich nutze es jetzt halt als Briefbeschwerer … Aber vielleicht kann man auch als Im Eigentlichen handelt es sich um eine gedankliche HerangehensLaie aus solchen Situationen noch was mitnehmen. weise. Alles, was wir ohne Vorbereitung bewältigen müssen, alles, Vielleicht das kaputte Smartphone ordentwas von unseren Plänen – etwa für den Alltag nochmal – abweicht oder lichganz sezieren, bevor man’s wegwirft, wenn eh schon ohne Plan geschieht, erfordert Improvisation. Das macht sie Hopfen und Malz verloren sind? siehtverleiht, das wohl zu einer grundlegenden Fertigkeit, die unsWie Flexibilität mit der wir auch Unerwartetes oder Unbekanntes bewältigen von und innen aus? Also, ich frage mich sowas ja oft können: „Denn Systeme müssen immer auf die Umwelt reagieren, bei Geräten ... Naja, aber bei vielen simplen das oder heißt, sie müssen immer bereit sein, heterogene, widerspenstige Dinge analogeren Problemen, da geht’s, da kann man sich einzubauen und Systeme sind nicht dann stabil, wenn sie starr sind, auchsondern mit wenn einfachen Mitteln Behelfen. Einmal sie eine gewisse Form vonschon Flexibilität haben.“1 mehrDer überlegen, man was wegwirft zumjedoch BeiImprovisationbevor gebührt interessanterweise gemeinhin spiel. das jetzt machen will, nichtOb dieman Anerkennung einer wirklich durchweg schätzenswerten Gabe,oder vielmehr in ihrer Aussenwirkung eine eher ob man es scheint nichtsiedoch selbst repariert – zwiespältige oder halt Gestalt zu besitzen. reparieren lässt, von einem Profi ... Da fällt mir ein: Das Wort „Amateur“ ist oft ziemlich negativ besetzt, denkt man beispielsweise mal an „total amateurhaft“ oder so. Aber eigentlich ist es ja – und das fand ich nämlich einen schönen Blickwinkel – Französisch und bedeutet Liebhaber.“
„ ... sagen sie mir einen, der nicht improvisieren müsste, einen Präsidenten, einen Musiker, einen Medientechniker, einen Polizisten, einen Terroristen – Terroristen müssen am meisten Jochen Hörisch, Literatur- und Medienwissenschaftler Improvisieren.“ So zeichnet sich die Improvisation auf der einen Seite als so häufig verwendetes Flexibilitätswerkzeug aus, als Problemlöserin in der Not. Das Bilden einer Alternative, das Behelfen durch Provisorien, Überbrückungs- und Notlösungen kann somit eine elementare Fertigkeit darstellen. 27 Jahre, Designstudentin 1 Borgards, Roland in: „Freistil - Improvisation als Lebensprinzip“, Deutschlandfunk, Manuskript zur Radiosendung vom 5. Mai 2013
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Die Improvisation als unscharfer Begriff definiert sich als „etwas ohne Vorbereitung (...) mit einfachen Mitteln herstellen, verfertigen“ und ist dem lateinischen „improvisus“ („unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet“) entlehnt.2 Somit ist das Improvisieren im Gegensatz zu Tätigkeiten wie beispielsweise dem Stricken oder dem Radfahren keine konkrete Handlung, vielmehr beschreibt es die Art und Weise, die Haltung oder Situation, in der diese Handlung stattfindet. Im täglichen Sprachgebrauch stellt sich das Improvisieren etwa als Methode dar, ein Problem unter der Verwendung von Kreativität zu lösen, das Beste aus einer Situation zu machen.
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„Müsste man – um das Charakteristische des Improvisierens zu entdecken – zu seinen Ursprüngen zurückgelangen, so wäre ein Ausflug ins Reich der Kindheit eine lohnende Erfahrung, denn das Wesen des Improvisierens wurzelt in einem Umfeld des Entdeckens, der Frische und Spontaneität, ein Umfeld, das dem Kind eigen und aufs Entstehen Nicole Coppey, ausgerichtet ist.“ Professorin für Musikpädagogik So werden Engpässe beim Kochen, während des Campingurlaubes oder in Prüfungssituationen oft gelöst, indem man – mangelt es an Zutaten, Campingausrüstung oder Wissen – „einfach improvisiert“. Eine der Maßnahmen, die wir in einer Improvisation erfordernden Situation treffen, findet sich sprachlich im lateinischen „providere“ wieder. Dieser Begriff übersetzt sich ins Deutsche mit „vorhersehen, Vorkehrungen treffen“3 und stellt die Erklärung des Wortes Provisorium dar, welches meist zeitlich begrenzte Lösungen meint und oft Verwendung findet, wenn ein gegenständliches Problem gelöst werden muss. Auf der anderen Seite wird auch der „Pfusch“ oft mit Improvisation in Zusammenhang gebracht. So betrachtet bekommt sie den Charakter des Mangelhaften und des Unzureichenden. Das Pfuschen definiert sich als „unfachmännisches, unordentliches und flüchtiges Arbeiten.“4 und wird wahrscheinlich mit improvisatorischen Handlungen assoziiert, da die Improvisation gerade dort einsetzt, wo es keinen ordentlichen, richtigen Plan gibt, oder dieser nicht funktioniert. Doch da die Improvisation mangelnder oder mangelhafter Planung helfend zur Seite steht, sollte sie weniger als einem Plan gegenteilig,
2 „Improvisation“, in: Bibliographisches Institut: Brockhaus-Enzyklopädie, Mannheim 1996, Band 13, S. 161 3 ebd., S. 193 4 „Pfuschen“, in: Faulmann, Karl: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Norderstedt 2013, S. 264
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„Also ich habe zwei Möglichkeiten. Schau, mir fällt zum Beispiel diese Vase hier ein, die steht da schon so gut in Reichweite, da könnte ich das einfach immer hinein tun. Sieht auch schick aus – Problem ist aber, wenn ich das Glas herausnehme oder hineinstelle, dann muss ich es am Kelch greifen und das gibt immer Fettfinger, das ist nicht so gut. Jedenfalls wäre das so ganz griffig und ganz schnell gelöst. Zweite Lösung wär’, entweder Knete zu nehmen oder irgendwie etwas, dass man da so zwei Pöpsel hat, die das Glas in Position halten. So ein Weinglas ist ja sowieso nie randvoll, also kann es auch liegen, ohne das der Wein ausläuft. Bei der Idee hier ist das Problem halt, dass es vielleicht nicht charmant ausschauen wird. Und es ist nicht tragbar. Wenn das Telefon klingelt und ich muss schnell rüber, dann muss ich es hier liegen lassen, weil ja hier die Knete am Tisch klebt. Hm ... also, da müssen die Pöpsel einfach auf einen tragbaren Untergrund. Als angehender Lehrer braucht man auch immer mal Knete. Jetzt suche ich noch einen Untergrund ... Ah, der Topfuntersetzter – ich bin bestens ausgestattet!
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Die Improvisation als unscharfer Begriff definiert sich als „etwas ohne Vorbereitung (...) mit einfachen Mitteln herstellen, verfertigen“ und ist dem lateinischen „improvisus“ („unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet“) entlehnt.2 Somit ist das Improvisieren im Gegensatz zu Tätigkeiten wie beispielsweise dem Stricken oder dem Radfah(knetet) Und schon kullert es beschreibt nicht mehr hin ren keine konkrete Handlung, vielmehr es die Art undund her. Weise, die Haltung oder Situation, in der diese Handlung stattfindet. Tataa! (lacht) Ach, toll. Jetzt will ich auch gerne täglichen Sprachgebrauch stellt Improvisieren als wirkmal Im damit herumlaufen, umsich zudasseh’n, ob’s etwa auch Methode dar, ein Problem unter der Verwendung von Kreativität zu lich funktioniert. Schau, geht schon. Also, natürlich lösen, das Beste aus einer Situation zu machen. laufe ich damit jetzt keinen Marathon. Gut an meiner Lösung ist ... es sieht schöner aus? Vielleicht? Also, es ist ’ne hübsche Lösung, ist aber auch unbequem, weil, je mehr Wein man trinkt, desto wackliger wird man und desto schlechter wird dann auch die Lösung. Wenn man das Weinglas nur als Genießer-Weinglas trinkt, dann ist das voll im Rahmen. Aber, wenn man mehr als nur ein Glas trinkt, dann wird es schwierig mit dieser Lösung. Heißt im Umkehrschluss: weniger Trinken. Hat Spaß Nicole Coppey, gemacht. Das ging flott und ist nach und nach ganz Professorin für Musikpädagogik spontan entstanden. Und ein bisschen rumkneten, das schadet ja auch niemandem. macht Spaß, selbst So werden Engpässe beim Kochen, Kneten während des Campingurlaubes wenn’s so zwei kleine Dinger odernur in Prüfungssituationen oft gelöst, indemsind. man – mangelt es an Zutaten, Campingausrüstung oder Wissen – „einfach improvisiert“. Eine der Maßnahmen, die wir in einer Improvisation erfordernden Situation treffen, findet sich sprachlich im lateinischen „providere“ wieder. Dieser Begriff übersetzt sich ins Deutsche mit „vorhersehen, Vorkehrungen treffen“3 und stellt die Erklärung des Wortes Provisorium dar, welches meist zeitlich begrenzte Lösungen meint und oft Verwendung findet, wenn ein gegenständliches Problem gelöst werden muss.
„Müsste man – um das Charakteristische des Improvisierens zu entdecken – zu seinen Ursprüngen zurückgelangen, so wäre ein Ausflug ins Reich der Kindheit eine lohnende Erfahrung, denn das Wesen des Improvisierens wurzelt in einem Umfeld des Entdeckens, der Frische und Spontaneität, ein Umfeld, das dem Kind eigen und aufs Entstehen ausgerichtet ist.“
Auf der anderen Seite wird auch der „Pfusch“ oft mit Improvisation in Zusammenhang gebracht. So betrachtet bekommt sie den Charakter des Mangelhaften und des Unzureichenden. Das Pfuschen definiert sich als „unfachmännisches, unordentliches und flüchtiges Arbeiten.“4 und wird wahrscheinlich mit improvisatorischen Handlungen assoziiert, da die Improvisation gerade dort einsetzt, wo es keinen ordentlichen, richtigen Plan gibt, oder dieser nicht funktioniert. Doch da die Improvisation mangelnder oder mangelhafter Planung helfend zur Seite steht, sollte sie weniger als einem Plan gegenteilig,
E2/Kira 2 „Improvisation“, in: Bibliographisches Institut: Brockhaus-Enzyklopädie, Mannheim 1996, BandKunststudentin 13, S. 161 26 Jahre, 3 ebd., S. 193 4 „Pfuschen“, in: Faulmann, Karl: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Norderstedt 2013, S. 264
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Die Improvisation als unscharfer Begriff definiert sich als „etwas ohne Vorbereitung (...) mit einfachen Mitteln herstellen, verfertigen“ und ist dem lateinischen „improvisus“ („unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet“) entlehnt.2 Somit ist das Improvisieren im Gegensatz zu Tätigkeiten wie beispielsweise dem Stricken oder dem Radfahren keine konkrete Handlung, vielmehr beschreibt es die Art und Weise, die Haltung oder Situation, in der diese Handlung stattfindet. Im täglichen Sprachgebrauch stellt sich das Improvisieren etwa als Methode dar, ein Problem unter der Verwendung von Kreativität zu lösen, das Beste aus einer Situation zu machen.
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„Müsste man – um das Charakteristische des Improvisierens zu entdecken – zu seinen Ursprüngen zurückgelangen, so wäre ein Ausflug ins Reich der Kindheit eine lohnende Erfahrung, denn das Wesen des Improvisierens wurzelt in einem Umfeld des Entdeckens, der Frische und Spontaneität, ein Umfeld, das dem Kind eigen und aufs Entstehen Nicole Coppey, ausgerichtet ist.“ Professorin für Musikpädagogik So werden Engpässe beim Kochen, während des Campingurlaubes oder in Prüfungssituationen oft gelöst, indem man – mangelt es an Zutaten, Campingausrüstung oder Wissen – „einfach improvisiert“. Eine der Maßnahmen, die wir in einer Improvisation erfordernden Situation treffen, findet sich sprachlich im lateinischen „providere“ wieder. Dieser Begriff übersetzt sich ins Deutsche mit „vorhersehen, Vorkehrungen treffen“3 und stellt die Erklärung des Wortes Provisorium dar, welches meist zeitlich begrenzte Lösungen meint und oft Verwendung findet, wenn ein gegenständliches Problem gelöst werden muss. Auf der anderen Seite wird auch der „Pfusch“ oft mit Improvisation in Zusammenhang gebracht. So betrachtet bekommt sie den Charakter des Mangelhaften und des Unzureichenden. Das Pfuschen definiert sich als „unfachmännisches, unordentliches und flüchtiges Arbeiten.“4 und wird wahrscheinlich mit improvisatorischen Handlungen assoziiert, da die Improvisation gerade dort einsetzt, wo es keinen ordentlichen, richtigen Plan gibt, oder dieser nicht funktioniert. Doch da die Improvisation mangelnder oder mangelhafter Planung helfend zur Seite steht, sollte sie weniger als einem Plan gegenteilig,
2 „Improvisation“, in: Bibliographisches Institut: Brockhaus-Enzyklopädie, Mannheim 1996, Band 13, S. 161 3 ebd., S. 193 4 „Pfuschen“, in: Faulmann, Karl: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Norderstedt 2013, S. 264
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ad * hoc (lat. „für dieses“) spontan, aus dem Stegreif (heraus) 30
sondern viel mehr als ein entfernt verwandtes Synonym eines Plans betrachtet werden. Dass die Sicherheit und Kontrolle, die Planung vermitteln kann, meist höher geschätzt zu werden scheint als der Charakter der Improvisation, lässt sich vielleicht auch daran ablesen, dass improvisierten Lösungen gerne der Titel „Plan B“ verliehen wird. Vorteil der Improvisation ist zudem meist der von Spontaneität und Schnelligkeit. Häufig zeichnen sich Improvisationslösungen durch einen Ad-hoc-Charakter*aus, sind demnach spontan aus einem Moment heraus entstanden und arbeiten mit dem Vorhandenen. So kann eine Idee direkt Gestalt annehmen, ein Vorhaben ohne große Umschweife in die Tat umgesetzt werden. Diese Momente besitzen durchaus positive Qualität, bestechen eben nicht nur durch Spontaneität, sondern oft eben auch durch Leichtigkeit und Veränderbarkeit. Wenn auch jene Momente oft mit cleveren Modifikationen oder praktischen Zweckentfremdungen unsere Bewunderung wecken, so erfährt die Improvisation ihre Akzeptanz meist nur im Privaten. „Das Provisorische, Leichte steht in unserer Welt auf der Liste der aussterbenden Eigenschaften. Keiner hält es aus. (...) Jede raue Fläche muss geglättet werden, wir leben, auf allen Ebenen, eine Ästhetik der hermetisch geschlossenen Flächen.“5
+
Wie viele Zitate findet man auch dieses, etwa im Internet, als Ausspruch diverser kluger Köpfe: Konfuzius,Goethe, Mark Twain, Erich Kästner und viele andere werden als Quelle genannt – wie aber kommt es dazu? Vielleicht liegt es daran, dass die Wissenslücke bei der sicheren Zuordnung des Zitats hier und da eher durch spontane Zuhilfenahme von Kreativität als durch stichhaltige Recherche behoben wurde.
+
Demgegenüber stellt sich indes, dass Improvisation auch Wegbereiter des Neuen ist und für Innovationen sorgen kann. Ein Problem, eine ausweglose Lage, die uns Improvisation abringt, kann somit ihrerseits als etwas Unvorhergesehenes betrachtet werden, das wiederum Unvorhersehbares produziert. Denn „auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, lässt sich noch etwas bauen.“ Die folgenden Texte haben das Ziel, das Feld der improvisatorischen Handlungsweisen und improvisierten Lösungen zu beleuchten und aufzuzeigen, wie stark jenes Feld doch in unserem Alltag gegenwärtig ist. Sie sollen erörtern, ob die Improvisation mit ihrem omnipräsenten Charakter wirklich auf der Liste der aussterbenden Eigenschaften steht. Und warum sie dort nicht stehen sollte.
5 Hoffmann-Axthelm, Dieter: „Nischen, Spielräume, Provisorien. Ein Plädoyer für den Auszug aus festen Behältnissen.“ in: DU – Die Zeitschrift der Kultur 643, Zürich 1994, S. 46 – 49
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31 „Also, als ich den Fleck gesehen habe, da hab’ ich gedacht, das Einfachste ist, ich male was dazu, damit es nicht mehr nach einem Fleck aussieht. Und von der Form des Flecks her, und der Art, wie die Farben verlaufen sind, da dachte ich im ersten Moment, das könnte so ein kleiner Teich sein. Da hätte ich Schilf drumherum malen können und vielleicht ein paar Fische rein. Aber ... ich bin ein ganz schlechter Maler. Und ich wollte, dass die Tasche nachher noch so aussieht, dass ich sie wirklich gern weiter benutzen will. Und da dachte ich, okay, wenn du schon was malst, dann muss es irgendwie einfacher sein. Dann wollt’ ich’s aber auch lustig haben, also hab’ ich hin und her überlegt, was ich daraus machen könnte. Wieso lass’ ich nicht einfach den Fleck Fleck sein? Und male einen Stift dazu, damit man sieht, ach, da ist was ausgelaufen. Und weil ich ja so schlecht malen kann, da brauchte ich eine Vorlage, wie man diesen Stift am einfachsten machen kann,
ad * hoc (lat. „für dieses“) spontan, aus dem Stegreif (heraus)
sondern viel mehr als ein entfernt verwandtes Synonym eines Plans betrachtet werden. Dass die Sicherheit und Kontrolle, die Planung vermitteln kann, meist höher geschätzt zu werden scheint als der Charakter der Improvisation, lässt sich vielleicht auch daran ablesen, dass improvisierten Lösungen gerne der Titel „Plan B“ wird. und ihnverliehen sofort als Füller erkennt. Füller sind ja gern Fleckenmacher. Dank Google habe ich gleich am Improvisation ist zudem meist der von Spontaneität Anfang Vorteil eineder simple Vorlage gefunden, dann habe und ich Schnelligkeit. Häufig zeichnen sich Improvisationslösungen durch den erstmal auf Papier vorgezeichnet und wie eine einen Ad-hoc-Charakter*aus, sind demnach spontan aus einem Schablone ausgeschnitten. Richtig schön fand ich Moment heraus entstanden und arbeiten mit dem Vorhandenen. das nicht, aber wollte auch keineein Doktorarbeit So kann eine ich Idee direkt Gestalt annehmen, Vorhaben ohne große Umschweife in die umgesetzt werden. Diese Momente draus machen, ich bin ja Tat eher pragmatisch veranlagt. besitzen durchaus positive Qualität, bestechen eben nicht nur Da habe ich gedacht: ,Stell’ dich nicht so an, mal’ durch Spontaneität, sondern oft eben auch durch Leichtigkeit jetzt einfach einen Füller hin.‘ Das habe ich dann und Veränderbarkeit. gemacht, und ich fand’s auch gar nicht so schlecht. Wenn auch jene Momente oft mit cleveren Modifikationen oder Wie daspraktischen für mich war? Aufregend! Denn es musste Zweckentfremdungen unsere Bewunderung wecken, ja ein wasserfester Stift sein. Ich dachte: ,Oh Mann, du so erfährt die Improvisation ihre Akzeptanz meist nur im Privaten. Provisorische, Leichtenicht steht in unserer Welt auf der Listelos, der ausdarfst „Das dich jetzt bloß vermalen! Los, mach sterbenden Eigenschaften. Keiner hält es aus. (...) Jede raue Fläche muss einfach.‘ (lacht) werden, wirmehr leben, auferklären allen Ebenen, oder eine Ästhetik hermetisch Da mussgeglättet ich nichts dazuderscheiben. 5 geschlossenen Flächen.“ 32 Das funktioniert. Vor allem – jeder kennt das. Jeder hatte mal in seiner einen beknackten Demgegenüber stelltSchulzeit sich indes, dassso Improvisation auch WegbereiFüller,terder immer Immer.sorgen Egal, obEindas jetzt des Neuen ist auslief. und für Innovationen kann. Problem, einewar ausweglose uns Improvisation kann somit ein Lamy oder Lage, ein die Pelikan, immer!abringt, Ich hatte auch ihrerseits als etwas Unvorhergesehenes betrachtet werden, das Wie viele Zitate nie findet ein Händchen dafür, ich habe nämlich immer so wiederum Unvorhersehbares produziert. Denndie „auchFeder aus Steinen, man auch dieses, fest aufgedrückt mit dem Füller, dass vorne die einem in den Weg gelegt werden, lässt sich noch etwas bauen.“ etwa im Internet, als aufgebogen ist, und dann lief da die ... ach, das war Die folgenden Texte haben das Ziel, das Feld der improvisatorischen Ausspruch diverser immer ’ne Sauerei. Tja, so schließt sich der Kreis. und improvisierten Lösungen zu beleuchten und aufkluger Köpfe: Das hatHandlungsweisen für mich so jenes einen nostalgischen Wert zuzeigen, wie stark Feldkleinen doch in unserem Alltag gegenwärtig Konfuzius,Goethe, ist. Sie sollenVersehen erörtern, ob die Improvisation mit ihremGedanke omnipräsenbekommen – aus – denn der primäre Mark Twain, Erich ten Charakter wirklich auf der Liste der aussterbenden Eigenschafsimpel, clever, witzig. Natürlich ist die Tasche Kästner und war vieleja: ten steht. Und warum sie dort nicht stehen sollte. nicht so andere werden als alt, aber es wird zu einem Erinnerungsstück, weil es diese bei mir hervorruft.“ Quelle genannt – wie aber Erinnerung kommt es dazu?
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Vielleicht liegt es daran, dass die Wissenslücke bei der sicheren Zuordnung des Zitats hier und da eher durch spontane Zuhilfenahme von Kreativität als durch stichhaltige Recherche behoben wurde.
E4/Christine 28 Jahre, Germanistin
5 Hoffmann-Axthelm, Dieter: „Nischen, Spielräume, Provisorien. Ein Plädoyer für den Auszug aus festen Behältnissen.“ in: DU – Die Zeitschrift der Kultur 643, Zürich 1994, S. 46 - 49
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ad * hoc (lat. „für dieses“) spontan, aus dem Stegreif (heraus) 34
sondern viel mehr als ein entfernt verwandtes Synonym eines Plans betrachtet werden. Dass die Sicherheit und Kontrolle, die Planung vermitteln kann, meist höher geschätzt zu werden scheint als der Charakter der Improvisation, lässt sich vielleicht auch daran ablesen, dass improvisierten Lösungen gerne der Titel „Plan B“ verliehen wird. Vorteil der Improvisation ist zudem meist der von Spontaneität und Schnelligkeit. Häufig zeichnen sich Improvisationslösungen durch einen Ad-hoc-Charakter*aus, sind demnach spontan aus einem Moment heraus entstanden und arbeiten mit dem Vorhandenen. So kann eine Idee direkt Gestalt annehmen, ein Vorhaben ohne große Umschweife in die Tat umgesetzt werden. Diese Momente besitzen durchaus positive Qualität, bestechen eben nicht nur durch Spontaneität, sondern oft eben auch durch Leichtigkeit und Veränderbarkeit. Wenn auch jene Momente oft mit cleveren Modifikationen oder praktischen Zweckentfremdungen unsere Bewunderung wecken, so erfährt die Improvisation ihre Akzeptanz meist nur im Privaten. „Das Provisorische, Leichte steht in unserer Welt auf der Liste der aussterbenden Eigenschaften. Keiner hält es aus. (...) Jede raue Fläche muss geglättet werden, wir leben, auf allen Ebenen, eine Ästhetik der hermetisch geschlossenen Flächen.“5
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Wie viele Zitate findet man auch dieses, etwa im Internet, als Ausspruch diverser kluger Köpfe: Konfuzius,Goethe, Mark Twain, Erich Kästner und viele andere werden als Quelle genannt – wie aber kommt es dazu? Vielleicht liegt es daran, dass die Wissenslücke bei der sicheren Zuordnung des Zitats hier und da eher durch spontane Zuhilfenahme von Kreativität als durch stichhaltige Recherche behoben wurde.
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Demgegenüber stellt sich indes, dass Improvisation auch Wegbereiter des Neuen ist und für Innovationen sorgen kann. Ein Problem, eine ausweglose Lage, die uns Improvisation abringt, kann somit ihrerseits als etwas Unvorhergesehenes betrachtet werden, das wiederum Unvorhersehbares produziert. Denn „auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, lässt sich noch etwas bauen.“ Die folgenden Texte haben das Ziel, das Feld der improvisatorischen Handlungsweisen und improvisierten Lösungen zu beleuchten und aufzuzeigen, wie stark jenes Feld doch in unserem Alltag gegenwärtig ist. Sie sollen erörtern, ob die Improvisation mit ihrem omnipräsenten Charakter wirklich auf der Liste der aussterbenden Eigenschaften steht. Und warum sie dort nicht stehen sollte.
5 Hoffmann-Axthelm, Dieter: „Nischen, Spielräume, Provisorien. Ein Plädoyer für den Auszug aus festen Behältnissen.“ in: DU – Die Zeitschrift der Kultur 643, Zürich 1994, S. 46 - 49
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x Ein „Zweck“ war (im 15. / 16. Jh.) ein Nägelchen aus Holz oder Eisen, mit welchem das Blatt / die Ziel scheibe beim Zielschießen mittig befestigt war. Der „Zweck“ stellte somit das eigentliche Ziel dar.
Form follows function follows form Lässt man den Blick schweifen, so gibt es womöglich etliche gestaltete Gegenstände zu entdecken, die verschiedenste Funktionen zur Bewältigung des Alltags und seiner Aufgaben anbieten. Doch was ist Funktion überhaupt, was zeichnet sie aus und wie funktioniert sie? Eine geläufige Definition des Wortes „Funktion“ ist die der „klar umrissenen Tätigkeit, Aufgabe innerhalb eines größeren Zusammenhangs“.6 Diese Tätigkeiten und Aufgaben haben gemeinhin eine bestimmte Zielsetzung, was auch bedeutet, dass sie einen Nutzen haben, bzw. für uns einen wie auch immer gearteten Zweck+ erfüllen sollen. Gegenstände – und mögen sie noch so einfach sein – können bei genauer Betrachtung sehr viele Funktionen in sich vereinen. So finden sich neben den technisch-praktischen Funktionen des Gebrauchens auch emotionale Funktionen, wie etwa die ästhetischen, welche der Befriedigung individueller Bedürfnisse dienen oder auch symbolische Funktionen. Diese stellen eine Art Markierung dar, und finden beispielsweise in der Repräsentation des sozialen Status Ausdruck. Sie zeigen eine Zugehörigkeit des Markierungsträgers an oder grenzen ihn ab. Diese Vielschichtigkeit an Funktionen, die ein Ding besitzen kann, soll an einer alltäglichen und geläufigen Gegenstandsart veranschaulicht werden: der des Werkzeugs. Betrachte man hierzu etwa eine Schere. Beim Kauf dieses zunächst simpel erscheinenden Gegenstandes wird manch einer seine Entscheidung nicht nur dahingehend getroffen haben, ob die Schere den Zweck des Schneidens erfüllt oder ob sie im Gebrauch bequem und sicher in der Hand liegt. Er wird vielleicht auch Wert darauf gelegt haben, dass der Griff grün zu sein habe. Eben diese Farbwahl mag dabei womöglich nicht nur durch individuelles ästhetisches Empfinden – eine Vorliebe für die Farbe Grün - begründet sein. Vielleicht rührt sie daher, dass die erste eigene Bastelschere diese Farbe hatte, die dem Käufer als
6 Definition „Funktion“ in: Bibliographisches Institut: Duden, Das Fremdwörterbuch, 9. Auflage, Mannheim 2006
Einschulungsgeschenk seit der ersten Klasse autonomes Schneiden ermöglichte und die darum eine besonders positive Erinnerung in ihm auslöst. Neben der übergeordneten Funktion des Schneidens können in diesem Beispiel also auch das einfache Gefallen oder das Erinnern als Funktion identifiziert werden – wie alles, was sich mit einem „um ... zu“ erklären lässt. Neben der Untersuchung der Funktionen aus dem Blickwinkel des Nutzers auf den Gegenstand lässt sich die Beziehung auch in umgekehrter Richtung betrachten. Oft wird der Umgang mit Produkten, ihre Bedienung, als intuitiv und auffordernd empfunden; die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von selbst zu erklären scheinen. Wie aber teilt uns der Gegenstand mit, was er kann? Wie kommt unser Gebrauchen, sein Funktionieren, für den Nutzer zustande? Eine optimale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zeichnet sich prinzipiell durch ein gelingendes Miteinander aus. Sind die Gegenstände, die wir brauchen und gebrauchen wollen, gut gestaltet, dann erfüllen sie ihren Zweck, und manches Mal scheint es gar, als sprächen sie uns an.
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Ein Ding kann sich uns direkt verständlich machen, indem es Informationen mitteilt. Im Idealfall kann es uns sogar genau „sagen“, wie es zu gebrauchen ist, wenn es die richtigen Signale verwendet, um mit uns zu kommunizieren. Diese Signale können akustischer Natur sein, wie das „Bing“ einer Mikrowelle, das uns das Ende des Aufwärmvorgangs signalisiert, oder etwa das Brodeln einer Kaffeemaschine, eine Begleiterscheinung, aus der wir das Ende des Kochvorganges deuten können. Auch mit optischen Erscheinungen wie Formen, Größen und Farben klären die Dinge über ihre Handhabung auf. Besonders Knöpfe und
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x Ein „Zweck“ war (im 15. / 16. Jh.) ein Nägelchen aus Holz oder Eisen, mit welchem das Blatt / die Ziel scheibe beim Zielschießen mittig befestigt war. Der „Zweck“ stellte somit das eigentliche Ziel dar.
Form follows function follows form Lässt man den Blick schweifen, so gibt es womöglich etliche gestaltete Gegenstände zu entdecken, die verschiedenste Funktionen zur Bewältigung des Alltags und seiner Aufgaben anbieten. Doch was ist Funktion überhaupt, was zeichnet sie aus und wie funktioniert sie? Eine geläufige Definition des Wortes „Funktion“ ist die der „klar umrissenen Tätigkeit, Aufgabe innerhalb eines größeren Zusammenhangs“.6 Diese Tätigkeiten und Aufgaben haben gemeinhin eine bestimmte Zielsetzung, was auch bedeutet, dass sie einen Nutzen haben, bzw. für uns einen wie auch immer gearteten Zweck+ erfüllen sollen. Gegenstände – und mögen sie noch so einfach sein – können bei genauer Betrachtung sehr viele Funktionen in sich vereinen. So finden sich neben den technisch-praktischen Funktionen des Gebrauchens auch emotionale Funktionen, wie etwa die ästhetischen, welche der Befriedigung individueller Bedürfnisse dienen oder auch symbolische Funktionen. Diese stellen eine Art Markierung dar, und finden beispielsweise in der Repräsentation des sozialen Status Ausdruck. Sie zeigen eine Zugehörigkeit des Markierungsträgers an oder grenzen ihn ab. Diese Vielschichtigkeit an Funktionen, die ein Ding besitzen kann, soll an einer alltäglichen und geläufigen Gegenstandsart veranschaulicht werden: der des Werkzeugs. Betrachte man hierzu etwa eine Schere. Beim Kauf dieses zunächst simpel erscheinenden Gegenstandes wird manch einer seine Entscheidung nicht nur dahingehend getroffen haben, ob die Schere den Zweck des Schneidens erfüllt oder ob sie im Gebrauch bequem und sicher in der Hand liegt. Er wird vielleicht auch Wert darauf gelegt haben, dass der Griff grün zu sein habe. Eben diese Farbwahl mag dabei womöglich nicht nur durch individuelles ästhetisches Empfinden – eine Vorliebe für die Farbe Grün - begründet sein. Vielleicht rührt sie daher, dass die erste eigene Bastelschere diese Farbe hatte, die dem Käufer als
6 Definition „Funktion“ in: Bibliographisches Institut: Duden, Das Fremdwörterbuch, 9. Auflage, Mannheim 2006
Einschulungsgeschenk seit der ersten Klasse autonomes Schneiden ermöglichte und die darum eine besonders positive Erinnerung in ihm auslöst. Neben der übergeordneten Funktion des Schneidens können in diesem Beispiel also auch das einfache Gefallen oder das Erinnern als Funktion identifiziert werden – wie alles, was sich mit einem „um ... zu“ erklären lässt.
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Neben der Untersuchung der Funktionen aus dem Blickwinkel des Nutzers auf den Gegenstand lässt sich die Beziehung auch in umgekehrter Richtung betrachten. Oft wird der Umgang mit Produkten, ihre Bedienung, als intuitiv und auffordernd empfunden; die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von selbst zu erklären scheinen. Wie aber teilt uns der Gegenstand mit, was er kann? Wie kommt unser Gebrauchen, sein Funktionieren, für den Nutzer zustande? Eine optimale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zeichnet sich prinzipiell durch ein gelingendes Miteinander aus. Sind die Gegenstände, die wir brauchen und gebrauchen wollen, gut gestaltet, dann erfüllen sie ihren Zweck, und manches Mal scheint es gar, als sprächen sie uns an.
39 „Um die Funktion der Vase wiederherzustellen, hatte ich ja alle Mittel um mich herum zur Verfügung. Die Tüte ist einfach eine schnelle Lösung und lag gerade auch auf dem Küchentisch. Ich hatte Tomaten gekauft, die waren halt noch in dieser Tüte vom Supermarkt. Die Tomaten habe ich dann natürlich rausgenommen. Und der Vasenhals ist sehr eng, also habe ich einfach chinesische Essstäbchen in die Tüte gesteckt um sie bis nach unten zum Vasenboden durchschieben zu können. Die Stäbchen haben mich eben einfach gerade angesprochen. nur schade, dassindem der esBeutel Ein Ding kann sichEs unsist direkt verständlich machen, Infor- ein wenig undicht Vielleicht könnte aber mationen mitteilt. ist. Im Idealfall kann es uns sogar genauman „sagen“, wie Klebeband es professionalisieren es zuverwenden, gebrauchen ist,wenn wenn esman die richtigen Signale verwendet, um mit uns zu kommunizieren. will. Obwohl, besser fände ich noch Spachtelmasse. Diese Signale können akustischer Natur sein, wie das „Bing“ einer Man hätte Spachtelmasse verwenden können, um das Mikrowelle, das uns das Ende des Aufwärmvorgangs signalisiert, ganze Loch zu verschließen, die hätte ich sogar hier. oder etwa das Brodeln einer Kaffeemaschine, eine BegleiterscheiAber ich meine gut, denn die Form der nung, ausfinde der wir das Ende Lösung des Kochvorganges deuten können. Vase bleibt erhalten, undwie solche hat jeder zu Auch mit optischen Erscheinungen Formen,Beutel Größen und Farben Hause Aufgabe warauf. eigentlich ganz klären... dieAch, Dinge die über ihre Handhabung Besonders Knöpfe undeinfach
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x Ein „Zweck“ war (im 15. / 16. Jh.) ein Nägelchen aus Holz oder Eisen, mit welchem das Blatt / die Ziel scheibe beim Zielschießen mittig befestigt war. Der „Zweck“ stellte somit das eigentliche Ziel dar.
Form follows function follows form
und ging schnell. Ich könnte immer wieder solche Aufgaben machen, denn die machen sehr viel Spaß. Ich finde, es sollte überhaupt alles kaputt sein, damit man sich was ausdenken muss (lacht), weil das die Kreativität fördert und weil oft aus der größten Not die besten Dinge entstehen. Ein Problem ist immer auch eine Möglichkeit. Lässt man Blick schweifen, so gibt es womöglich etliche helfen gestaltete Ich finde dasden gut, wenn man sich so selbst Gegenstände zu entdecken, die verschiedenste Funktionen zur kann, wenn man handwerklich ist. Ich benutze auch Bewältigung des Alltags und seiner Aufgaben anbieten. Doch was gern handwerkliche Geräte, zum Beispiel große Platist Funktion überhaupt, was zeichnet sie aus und wie funktioniert sie? tensägen naja, aber die hat „Funktion“ man ja zu Hause nicht Eine ... geläufige Definition des Wortes ist die der „klar (überlegt) aber so kleinere Schraubenzieher. Ich umrissenen Tätigkeit, Aufgabe innerhalb eines größeren Zusammen6 Diese Tätigkeiten Aufgabenmitbringen. haben gemeinhinDas eine ist finde, hangs“. du solltest immer und Probleme wie einbestimmte Spiel.“Zielsetzung, was auch bedeutet, dass sie einen Nutzen haben, bzw. für uns einen wie auch immer gearteten Zweck+ erfüllen sollen. Gegenstände – und mögen sie noch so einfach sein – können bei genauer Betrachtung sehr viele Funktionen in sich vereinen. So finden sich neben den technisch-praktischen Funktionen des Gebrauchens auch emotionale Funktionen, wie etwa die ästhetischen, welche der Befriedigung individueller Bedürfnisse dienen oder auch symbolische Funktionen. Diese stellen eine Art Markierung dar, und finden beispielsweise in der Repräsentation des sozialen Status Ausdruck. Sie zeigen eine Zugehörigkeit des Markierungsträgers an oder grenzen ihn ab. Diese Vielschichtigkeit an Funktionen, die ein Ding besitzen kann, soll an einer alltäglichen und geläufigen Gegenstandsart veranschaulicht werden: der des Werkzeugs. Betrachte man hierzu etwa eine Schere. Beim Kauf dieses zunächst simpel erscheinenden Gegenstandes wird manch einer seine Entscheidung nicht nur dahingehend getroffen haben, ob die Schere den Zweck des Schneidens erfüllt oder ob sie im Gebrauch bequem und sicher in der Hand liegt. Er wird vielleicht auch Wert darauf gelegt haben, dass der Griff grün zu sein habe. Eben diese Farbwahl mag dabei womöglich nicht nur durch individuelles ästhetisches Empfinden – eine Vorliebe für die Farbe Grün - begründet sein. Vielleicht rührt sie daher, dass die erste eigene Bastelschere diese Farbe hatte, die dem Käufer als
E1/Lisa
31 Jahre, freischaffende Künstlerin 6 Definition „Funktion“ in: Bibliographisches Institut: Duden, Das Fremdwörterbuch, 9. Auflage, Mannheim 2006
Einschulungsgeschenk seit der ersten Klasse autonomes Schneiden ermöglichte und die darum eine besonders positive Erinnerung in ihm auslöst. Neben der übergeordneten Funktion des Schneidens können in diesem Beispiel also auch das einfache Gefallen oder das Erinnern als Funktion identifiziert werden. Neben der Untersuchung der Funktionen aus dem Blickwinkel des Nutzers auf den Gegenstand lässt sich die Beziehung auch in umgekehrter Richtung betrachten. Oft wird der Umgang mit Produkten, ihre Bedienung, als intuitiv und auffordernd empfunden; die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von selbst zu erklären scheinen. Wie aber teilt uns der Gegenstand mit, was er kann? Wie kommt unser Gebrauchen, sein Funktionieren, für den Nutzer zustande? Eine optimale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zeichnet sich prinzipiell durch ein gelingendes Miteinander aus. Sind die Gegenstände, die wir brauchen und gebrauchen wollen, gut gestaltet, dann erfüllen sie ihren Zweck, und manches Mal scheint es gar, als sprächen sie uns an.
Dass sich auch alltägliche Gebrauchsgegenstände, in neue Formen gewandet, dem Nutzer nicht direkt erschließen und auch beim Gebrauchszweck, ob dieser Formgebung, Kom promisse eingegangen werden, zeigt sich an Philippe Starcks Zitronenpresse „Juicy Salif“.
Foto: Starck Network
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Ein Ding kann sich uns direkt verständlich machen, indem es Informationen mitteilt. Im Idealfall kann es uns sogar genau „sagen“, wie es zu gebrauchen ist, wenn es die richtigen Signale verwendet, um mit uns zu kommunizieren. Diese Signale können akustischer Natur sein, wie das „Bing“ einer Mikrowelle, das uns das Ende des Aufwärmvorgangs signalisiert, oder etwa das Brodeln einer Kaffeemaschine, eine Begleiterscheinung, aus der wir das Ende des Kochvorganges deuten können. Auch mit optischen Erscheinungen wie Formen, Größen und Farben klären die Dinge über ihre Handhabung auf. Besonders Knöpfe und
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Schalter sind hierbei ein facettenreiches Beispiel: Klingelknöpfe etwa haben oft eine Fingermulde, eine konkave Oberfläche, die von uns mit einem Finger gedrückt werden will. Der Kippschalter zur Bedienung des Deckenlichts hat einen Knick oder deutet anderweitig auf seine Zweiphasigkeit hin. Knöpfe, die der Lautstärkenregulierung am Radio dienen, sind erhaben, sodass sie mit zwei bis drei Fingern gegriffen werden können. In der Draufsicht sind sie zudem kreisförmig, was sie als Drehknopf ausweist. Für diese Beispiele des beinahe automatischen Drückens oder Drehens prägte James Gibson 1987 den Begriff der Affordanzen. Sie bezeichnen also Handlungsanregungen, die aufgrund von Informationen über funktionell relevante Eigenschaften von Dingen (oder Bestandteilen dieser) zustande kommen. Wenn die Affordanzen+gut verständlich sind, wenn die Produkte „eine klare Sprache sprechen“ – wenn wir also sofort erkennen, ob ein Knopf nun gedrückt oder gedreht werden muss – dann können auch die Handlungen mit den Gegenständen problemlos gelingen.7 Die Antwort auf die Frage, wie ein Objekt uns seine Funktionen mitteilt, könnte also lauten: über seine Form. Diese logische Verbindung zwischen der Erscheinungsform eines Dings und seiner inhärenten Funktion findet sich auch in einem der populärsten Leitsprüche aus Architektur und Design wieder: „form follows function“. Der gängigen Interpretation nach soll sich die Gestaltgebung eines Dings, seine Form, aus der zu erfüllenden Funktion, seinem Nutzungszweck, ableiten lassen.8 Die Gestalt, die einem Gegenstand verliehen wird, ist nach diesem Verständnis also schlicht die Summe seiner Funktionen. Das „Folgen“ der Form aus der Funktion bei der Gestaltung eines Gegenstandes lässt an eine logische Gesetzmäßig* Ist die Funktion festgelegt, tritt die Form als Folgeerkeit denken. scheinung ein. Dies mag zutreffen, betrachtet man hier gemeinte Formen und Funktionen grob und eher skizzenhaft: Die Funktion „Schneiden“ erfüllt sich in der Form „Schere“.
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Der Begriff Affordanz leitet sich vom englischen „to afford“, zu deutsch: anbieten, ab.
Genau genommen liegen im Entwurf auf dem Weg von der Funktion eines Gegenstandes zu seiner Form allerhand unterschiedliche Schritte. Faktoren wie die spezifischen Produktanforderun gen oder der Stil des Designers haben zur Folge, dass eben nicht jedes Schneidewerkzeug, jede Schere aussieht wie die andere. Es ist also nicht davon auszugehen, dass in form follows function das Zusammenspiel von Form und Funktion „logisch“ und vordergründig betrachtet werden soll. Zudem suggeriert der Leitsatz ganz offenkundig eine Trennung von Form und Funktion. Diese lässt sich jedoch nur von sprachlicher und intellektueller Warte aus vornehmen. Gemeinhin gilt, dass Form und Funktion sich bedingen, und Änderungen am Einen auch Änderungen am Anderen bewirken.
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Unabdingbar innerhalb des Kommunikationsvorganges zwischen Nutzer und Gebrauchsgegenstand ist – wie bei allen anderen „Sprachen“ auch – jedoch das Verständnis: Wenn ein Gegenstand uns mit seinen Affordanzen anspricht, sich von selbst zu erklären scheint, dann kann er das nur, wenn wir ihn auch verstehen, genauer gesagt, wenn wir gelernt haben, ihn zu verstehen. Im Gebrauchen projizieren wir automatisch und unbewusst vorausgegangene Erfahrungen auf ihn. Dass die Informationen, die ein Gegenstand sendet, nicht immer ganz eindeutig sind, und ihrem Verständnis ein Lernprozess zugrunde liegt, sehen wir schon
7 Vgl.: Weinschenk, Susan M.: 100 Things Every Designer Needs to Know About People, Berkeley 2011, S. 15 8 Vgl.: Sullivan, Louis: „The tall office building artistically considered“ in: Lippincott‘s Monthly Magazine, Ausgabe März, Philadelphia 1896
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daran, dass Kinder auf andere Reize eines Gegenstands reagieren als Erwachsene. Kindern fehlt das eingeprägte Erlebnis des gelungenen, „richtigen“ Umgangs damit.9 Die kindliche Beziehung zu den Gegenständen ist in der Regel eine offenere als die des Erwachsenen, ist sie doch geprägt vom Ausprobieren und Testen, vom erprobenden Nutzen der Objekteigenschaften. Dies hat zur Folge, dass Kinder die Dinge oft anders verwenden, als es ihrem Zweck entspricht. Die Verwendung resultiert beim Kind
„Gebrauchsgegenstände bedeuten etwas, nämlich primär die mit ihnen durchzuführenden Handlungen. (…) Nur als Hammer erkennbare Gegenstände fordern zum Hämmern auf, auch wenn mancher Schuh sich gleichermaßen dazu eignet, aber nicht als Hammer aufgefasst wird.“ 46
Tilmann Habermass, „Geliebte Objekte“
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aus seiner Neugierde und seinem Spieltrieb heraus. Beim Erwachsenen hingegen zeugt ein offener und „freier“ Umgang von einem absichtlichen Instrumentalisieren, meist verursacht durch das „Lösen-wollen“ eines Problems. Anders als bei der unbedachten „Improvisation“ eines Kindes, handelt der improvisierende Erwachsene unter „Verwendung von Kreativität zur Lösung auftretender Probleme“ in anderer Weise zweckgerichtet. In dieser Betrachtungsweise und unabhängig der jeweiligen Motive, das heißt egal, ob nun das spielende Kind am Esstisch mit dem Suppenlöffel das Tischgeschirrzum Klingen bringt oder ein problemlösender oder „kreativer“ Erwachsener selbigen benutzt, um den fehlenden Schuhlöffel zu ersetzen: Beide dieser alltäglichen Phänomene zeigen, dass Handlungen oft eben auch mit einem nichtzweckmäßigen Gegenstand gelingen können. So ergibt es sich, dass – im Gebrauchen – die Funktion zuweilen der Form folgt. Damit trifft der bereits zitierte Leitsatz „form follows function“ zumindest teilweise zu. Denn genau wie die aus der Funktion abgeleitete Form eines Gegenstands nur eine mögliche und nicht etwa die einzig wahre Form darstellt, können einem Gegenstand auch Funktionen zukommen, die zwar nicht seinem „wahren“,
+ So definiert sich Improvisation in der Regel im allgemeinen Sprachgebrauch. 9 Vgl.: Sturm, Hermann: Die Tücke der Funktion, Essen 2005, S. 13
*
„Ein und dieselbe Funktion kann unter Umständen durch verschiedenartige Strukturen eines Systems hervorge bracht werden. Das ist schon an einfachen Beispielen demonstrierbar: Es mögen etwa zwei aussagenlogische Ausdrücke vorliegen, die einander semantisch äquivalent sind, die sich aber in sonstiger Hinsicht wesent lich unterscheiden - der eine Ausdruck sei etwa relativ übersichtlich, der andere lang und kompliziert [...] die Funktionen beider Systeme sind identisch; die Strukturen der beiden aber wären erheblich voneinander verschieden.“ (Definition „Funktion“, Philosophisches Wörterbuch)
angedachten Zweck entsprechen, die aber durch seine Form und seine Beschaffenheit möglich*sind.
Somit wird der angedachte Zweck eines Dings zwar durch seinen Autor bestimmt, doch letztendlich ist es der Nutzer, der den Gegenstand gebraucht, der so frei wie möglich über ihn verfügen und daher auch für sich selbst die Funktionen festlegen kann.
„Wann ich das zum ersten Mal gemacht habe weiß ich nicht mehr genau, aber es ist wirklich schon etliche Jahre her. Wenn viele Gäste zu uns zu Besuch kommen, dann brauchen wir mehr Platz im Wohnzimmer, um noch einen zweiten Esstisch aufzustellen. Da muss dann unser Sofa verschoben werden, und vor dem Sofa hängt über dem Wohnzimmertisch, der dann weggeräumt wird, eine Leuchte. Die ist dann natürlich im Weg. Also habe ich eine
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daran, dass Kinder auf andere Reize eines Gegenstands reagieren als Erwachsene. Kindern fehlt das eingeprägte Erlebnis des gelungenen, „richtigen“ Umgangs damit.9 Die kindliche Beziehung zu den Gegenständen ist in der Regel eine offenere als die des Erwachsenen, Möglichkeit gesucht, die Leuchte mit ist sie doch geprägt vom Ausprobieren und Testen, vomeinfachen erprobenden Mitteln, ohne großes Werkzeug, hoch zu hängen. Nutzen der Objekteigenschaften. AlsoDies habe ich gedacht, eineals hat zur Folge, dass Kinderdu diemusst Dinge oftirgendwo anders verwenden, es ihremins Zweck entspricht. Diemachen, Verwendung resultiert Kind Schlaufe Stromkabel damit es beim kürzer wird. Denn einen Knoten wollte ich nicht machen,
„Gebrauchsgegenstände den bekommt man am Ende bedeuten dann vielleicht nicht so einfach wieder auf. die mit ihnen etwas, nämlich primär Die Schlaufe hingegen sichert man, indem man durchzuführenden Handlungen. was hindurch steckt, das die Schlaufe hält. Und (…) das Nuristalsnachher Hammer erkennbare schnell wieder gelöst. Und dann dachte fordern ich, pah, da kannst du auch was nehmen, Gegenstände zum Hämmern was auffälliger ist. Erst hatte ich es mit einem auf, auch wenn mancher Schuh sich Kuli versucht, aber der ist zu dünn und glatt und gleichermaßen eignet, nicht rutscht dazu schnell wieder aber heraus. Das Kabel ist ja ein Hammer Draht, ist also auch glatt, und die Schlaufen als aufgefasst wird.“ 48
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werden gar nicht so eng, dass der Kuli greift. und seinem Spieltrieb heraus. Beim Und aus daseiner sindNeugierde mir diese Küchenutensilien ausErwachHolz senen hingegen zeugt ein offener und „freier“ Umgang von einem in die Hände gefallen. Das war dann für mich kein absichtlichen Instrumentalisieren, meist verursacht durch das Pfannenwender mehr, sondern eine – die „Lösen-wollen“ eines Problems. Anders als Geometrie bei der unbedachten geeignet ist, denn die Pfannenwender verjüngen „Improvisation“ eines Kindes, handelt der improvisierende Erwachsichsene inunter der„Verwendung Mitte und dadurchzurkann nicht Probnach von Kreativität Lösunges auftretender leme“ in anderer Weiseraus zweckgerichtet. In dieser Betrachtungsweise links oder rechts rutschen. Das ist quasi ein und unabhängig jeweiligen Motive, das heißt egal, ob nun das Formschluss. Esder gibt ja den Formund den Kraftspielende Kind am Esstisch mit dem Suppenlöffel das Tischgeschluss, und das ist eben ein Formschluss. Das war schirrzum Klingen bringt oder ein problemlösender oder „kreativer“ ’ne schnelle Erwachsener Geschichte, selbigen benutzt, zack um denbumm. fehlenden Schuhlöffel zu Meine Frau war nicht so begeistert, weil’s unkonersetzen: Beide dieser alltäglichen Phänomene zeigen, dass Handventionell aussieht. Aber nichtzweckmäßigen mir gefällt so was. Von lungen oft eben auch mit einem Gegenstand gelingen können. So ergibt es sich, dassmache – im Gebrauchen daher, wenn so ein Anlass ist, ich das– die seit Funktion zuweilen der Form folgt. vielen Jahren so. Ach ja, und meine Schwägerin hat das Prinzip neulich auch angewendet, ich habe Damit trifft der bereits zitierte Leitsatz „form follows function“ alsozumindest schon eine Nachahmerin gefunden. Es ist halt teilweise zu. Denn genau wie die aus der Funktion einfach gut geeignet.“ abgeleitete Form eines Gegenstands nur eine mögliche und nicht etwa die einzig wahre Form darstellt, können einem Gegenstand auch Funktionen zukommen, die zwar nicht seinem „wahren“,
+ So definiert sich Improvisation in der Regel im allgemeinen Sprachgebrauch. 50 Jahre, Diplom Ingenieur 9 Vgl.: Sturm, Hermann: Die Tücke der Funktion, Essen 2005, S. 13
Somit wird der angedachte Zweck eines Dings zwar durch seinen Autor bestimmt, doch letztendlich ist es der Nutzer, der den Gegenstand gebraucht, der so frei wie möglich über ihn verfügen und daher auch für sich selbst die Funktionen festlegen kann.
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„Ein und dieselbe Funktion kann unter Umständen durch verschiedenartige Strukturen eines Systems hervorge bracht werden. Das ist schon an einfachen Beispielen demonstrierbar: Es mögen etwa zwei aussagenlogische Ausdrücke vorliegen, die einander semantisch äquivalent sind, die sich aber in sonstiger Hinsicht wesent lich unterscheiden - der eine Ausdruck sei etwa relativ übersichtlich, der andere lang und kompliziert [...] die Funktionen beider Systeme sind identisch; die Strukturen der beiden aber wären erheblich voneinander verschieden.“ (Definition „Funktion“, Philosophisches Wörterbuch)
* angedachten Zweck entsprechen, die aber durch seine Form und seine Beschaffenheit möglich*sind.
Derlei Vorschriften oder Anleitungen lassen sich in mannig faltigen Formen wiederfinden, sei es im Benutzerhandbuch eines PKW, in einem Kochbuch für thailändische Currygerichte oder auch in einem Malen-nach-Zahlen-Bild für Kinder.
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Gebrauch und Tradition Neben den Funktionen, die ein Gegenstand besitzt, verfügt er häufig auch über Gebräuchlichkeiten. Was heißt es, einen Gegenstand „richtig“ oder „falsch“ zu gebrauchen? Inwieweit ergibt eine solche Unterscheidung Sinn? Was zeichnet die Gebräuchlichkeit eines Gegenstandes aus? Der Gebrauch lässt sich zunächst als der Prozess von Ver- oder Anwendung verstehen. Greifbare Hinweise zum „richtigen“ Gebrauchen einer Sache finden wir Schwarz auf Weiß etwa in Gebrauchs- und Bedienungsanleitungen. Diese sollen dafür sorgen, dass der Nutzer ein Produkt sicher und bestimmungsgemäß verwendet.* Eine zweite Bedeutungsebene des Begriffs „Gebrauch“ ist jene der Gepflogenheit, der Sitte oder der Gewohnheit. So hat Gebräuchliches auch immer mit Verhalten, Tradition und Kultur zu tun.10 Als Beispiel dafür lassen sich abermals die Alltagswerkzeuge heranziehen. Schon an einfachen Gebrauchsgegenständen wie Messer und Gabel lässt sich erkennen, dass die Objekte weit mehr ausmachen als ihre reine Zweckgebundenheit; zeichnet sich doch der „richtige“ Gebrauch nicht bloß dadurch aus, dass wir die Besteckteile gelingend zur Essensaufnahme einsetzten. Parallel geht es nicht selten auch noch darum, Messer und Gabel in der jeweils richtigen Hand zu halten, darum, die Mahlzeit mit dem Messer zu zerschneiden und nicht zu zerdrücken oder zu zerstochern, die Gabel eben wie eine Gabel und nicht etwa wie einen Speer zu halten, und erst recht nicht, mit ihr auf Mitessende oder anderweitig Interessantes zu zeigen oder sie gar höher als den Mund zu führen. Ebensolche Vorschriften gilt es beim Löffeln einer Suppe zu beachten. Bemüht man sich darum, diesen schlichten Vorgang korrekt auszuführen, so sollte man in jedem Falle Acht geben, den Löffel nur zu circa zwei Dritteln zu befüllen, abkühlendes Pusten leise und vorsichtig durchzuführen und Schlürfen generell zu unterlassen.
Befindet man sich allerdings in Teilen Asiens, in denen auch Schmatzen oder etwa Sprechen mit vollem Mund völlig üblich sein können, verlieren diese Vorschriften ihre Gültigkeit wieder. 10 V gl.: Aicher, Florian; Rinker, Dagmar: Gebrauch und Gebräuchlichkeiten – Vom Umgang mit den Dingen und ihrer Gestalt, Ulm 2000, S. 126
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Ein populäres Beispiel der durch kulturelle Differenzen begründeten Zweckentfremdung ist eine Szene aus der Walt-Disney-Produktion „Arielle, die kleine Meerjungfrau“ aus dem Jahre 1987. Da der Protagonistin das Essbesteck schlichtweg fremd ist, verwendet sie die Gabel zum Kämmen ihrer Haare .
Will man nicht aus der Rolle fallen, kann sich der Gebrauch eines Gegenstands also aufgrund der zugehörigen, gesellschaftlich überlieferten Vorschriften bisweilen auf den gesamten Körper auswirken. Somit wird deutlich, dass Gebrauchsgegenstände oft nicht nur zweckgerichtete Funktionen, sondern auch gesellschaftliche Vorstellungen transportieren11 und der Umgang mit ihnen durch soziale Normen und Konventionen wie dem „guten Ton“ geregelt wird. Was allerdings zum „guten Ton“ gezählt wird, ist gesellschaftlich wie kulturell bedingt und daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden – mag es sich auch auf den gleichen Gegenstand beziehen. Unabhängig von gesellschaftlichen Abweichungen existieren jedoch auch große Unterschiede zwischen einem Gebrauchen in der Öffentlichkeit und im Privaten. Allein der Anblick von poliertem und säuberlich aufgereihtem Tafelsilber auf einer weißen Damasttischdecke, führt mit relativ großer Wahrscheinlichkeit zu einer aufrechteren Sitzposition als jener am heimischen Küchentisch, welcher zum gemütlichen Sonntagsfrühstück lediglich mit Marmeladengläsern, Brotkrümeln und der Tageszeitung bedeckt ist. Im Gebrauchen innerhalb des häuslichen Rahmens wird unser Alltag von den eigenen Handhabungsmustern geprägt, in denen sich privater, individueller Gebrauch und gesellschaftliche Konventionen überschneiden.12 So ist es nicht unüblich, dass wir – ist der Löffel zum Umrühren des Kaffees einmal nicht zur Hand – kurzum auf die Schneide des Messers umsteigen, mit welcher eben vielleicht noch der Toast gebuttert wurde. Inwieweit wir der Etikette oder der korrekten Verwendung der Dinge Folge leisten, wird also in nicht unbedetendem Maße dadurch bestimmt, wo wir uns befinden. Umso privater die Umgebung ist, umso informeller und vorbehaltloser agieren wir in der Regel. Wenn die Gegenstände bedarfsorientiert umfunktioniert und „falsch“ genutzt werden, kann das Motiv nicht nur problemlösungsstrategisch oder kreativ begründet sein – es kann auch schlichtweg durch Unwissenheit entstehen. Dass uns ein Gegenstand und mit ihm seine Gebräuchlichkeit fremd ist, kann an traditionellen und kulturellen Differenzen liegen, die örtlicher, personeller oder zeitlicher Natur sein können. So kann es sich um einen örtlichen Unterschied handeln, wie etwa den zwischen der westlichen Welt und dem asiatischen Raum. Das Unbekannte kann aber auch in weit weniger großen Entfernungen und innerhalb einer Gesellschaft auftreten. In Teilen Frankens zählt beispielsweise ein aus aus der Spitze eines Tannenbaumes gefertigter
11 V gl: Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen – Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Hamburg 1986, S. 18 f. 12 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen – Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008, S. 30
Im Wort „üblich“ zeigt sich die Verbindung zwischen Gebräuch lichkeiten, Konventionen und der Übung, die derlei „Selbst verständliches“ doch erfordert.
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Kloßteigquirl zu den üblichen Küchenutensilien, der Unkundige aus anderen Regionen eher an einen mittelalterlichen Morgenstern als an ein Hilfsmittel zur Zubereitung traditioneller Festtagsspeisen erinnern könnte. Ein personeller Unterschied kann zugrunde liegen, wenn ein Gegenstand einem bestimmten sozialen Milieu entstammt oder wenn es sich dabei um ein Nischenprodukt handelt, wie beispielsweise bei einem Braille-Korrekturstift, der auf den ersten Blick eventuell wie ein schlecht proportionierter Miniatur-Baseballschläger wirkt. Betrachtet man den Faktor Zeit, so kann ein uns fremdes Objekt entweder einfach an Aktualität verloren haben oder gar vollständig aus unserer gegenwärtigen Produktwelt verschwunden sein. Ein solches Verschwinden von Dingen kann in einer technischen Weiterentwicklung begründet sein oder in einem Fortschreiten der
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„Die Einrichtung, in die ich als junges Mädchen meine kaputten Feinstrumpfhosen brachte, genannt »Laufmaschenexpress«, verschwand, als die Mauer fiel und der Westen seine billigen Feinstrümpfe auch im Osten anbieten konnte. Die Tropfenfänger an den Tüllen der großen Kaffeekannen, die bei jedem deutschen Familientreffen auf der Tafel standen, verschwanden zu der Zeit, als die Kinder der letzten Kriegstage, sich endlich empörend gegen ihre Eltern, aufhörten Familientreffen zu veranstalten, als sie stattdessen lieber nach Italien reisten und sich von dort Espressokannen mitbrachten. Ich habe mir spontan gedacht, ich nehme Knete. Spontan und schnell, kreativ, bunt – perfekt eigentlich. Wie ich darauf gekommen bin? Wie einem die Einfälle halt so in den Kopf strömen, die Idee war einfach da: neuer Fuß? Knete. Ich habe die Aufgabe so lösen können, weil mein Kind so viele kreative Hilfsmittel in ihrem Zimmer hat. Erst hatte ich an einen dicken Klumpen gedacht, das bietet sich ja an. Dann habe ich aber einen Knetfuß gebastelt, der eigentlich ein bisschen wie das Original aussah und ihn getestet. Das reichte schon, der hat sich bewährt. Das war ganz leicht. In die Spülmaschine kann man ihn allerdings nicht stecken und besonders schick finde ich es auch nicht. Aber das hat mich schon gefreut, dass ich ein Problem lösen konnte, für das es eigentlich keine richtige Lösung gibt. Neukaufen wäre jetzt zu aufwendig gewesen, da hätte ich ja nochmal los gemusst. Und ich kann einen Wein ja wohl nicht aus einer Teetasse trinken. Das wäre seltsam, genau wie Kaffe aus einem Bierglas zu trinken - deswegen musste ich mir ja was überleErpenbeck, Jenny: gen. Und: Man soll nicht gleich alles wegschmeißen Dinge, die verschwinden. und die Flinte ins Korn werfen, sondern mal kurz in Mode. Letzteres beispielsweiseob für es den nicht Zwicker:anders Obwohl die sich gehen undgilt überlegen, geht. klassische Brille mit Bügeln schon längst gebräuchlich war, wurde Also bei der Geschichte mit der Knete, das sollte der bügellose Zwicker – auch Kneifer genannt – bis zum Beginn des irgendwie schnell gehen, ich wollte ja das Glas jetzt 20. Jahrhunderts gerne von den Männern des gehobenen Bürgertums benutzen. sehe ich da aber zum Beispiel auch auf die NaseJetzt geklemmt.
Die Dinge verschwinden, wenn ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird (...) – das dazugehörige Denken ist dann verschwunden, und das Fühlen, das, was sich gehört oder nicht gehört.“
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Ein populäres Beispiel der durch kulturelle Differenzen begründeten Zweckentfremdung ist eine Szene aus der Walt-Disney-Produktion „Arielle, die kleine Meerjungfrau“ aus dem Jahre 1987. Da der Protagonistin das Essbesteck schlichtweg fremd ist, verwendet sie die Gabel zum Kämmen ihrer Haare .
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Will man nicht aus der Rolle fallen, kann sich der Gebrauch eines Gegenstands also aufgrund der zugehörigen, gesellschaftlich überlieferten Vorschriften bisweilen auf den gesamten Körper auswirken. Somit wird deutlich, dass Gebrauchsgegenstände oft nicht nur zweckgerichtete Funktionen, sondern auch gesellschaftliche Vorstel11 und der Umgang noch diese leere Tetrapak-Tüte – mit nur sodurch alssoziale Idee, da lungen transportieren ihnen und Konventionen wie dem „guten Ton“ geregelt wird. könnteNormen man oben einfach ein Loch reinrammen und das Was allerdings zumAber „gutendas Ton“wäre gezählt viel wird, istinstabiler, gesellschaftlich wie Glas reinstellen. weil kulturell bedingt und daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschiedie Tüte leer ist ... Ich habe auch noch einen friden – mag es sich auch auf den gleichen Gegenstand beziehen. schen Laib Brot da, da könnte man es auch reinrammen, das würde von schick aussehen. Ha, oder ich stecke Unabhängig gesellschaftlichen Abweichungen existieren jedoch es hier ingroße den Unterschiede Apfel. Nee, der wackelt ja schon ohne auch zwischen einem Gebrauchen in der Öffentlichkeit im Privaten. Allein der Anblick von poliertem Glas. Hmm ... Achund Mensch, man hätte es auch einfach säuberlich aufgereihtem Tafelsilber auf einer Damastin ’ne und Banane stecken können. Es gibt jaweißen so viele tischdecke, führt mit relativ großer Wahrscheinlichkeit zu einer Möglichkeiten. aufrechteren Sitzposition als jener am heimischen Küchentisch, (entfernt den aus Knetmasse undlediglich steckt das Glas welcher zumFuß gemütlichen Sonntagsfrühstück mit Marmelain diedengläsern, Banane)Brotkrümeln Es kann und stehen ... Es kann wirklich der Tageszeitung bedeckt ist. stehen!ImIst nur eine Frage des richtigen Gebrauchen innerhalb des häuslichen Rahmens wirdWinkels unser Alltag ... den eigenen Handhabungsmustern geprägt, in denen sichuh, hah, esvon hält. Ich habe natürlich nicht gedacht, privater, individueller Gebrauch und gesellschaftliche Konventionen ich nehme eine Banane und das funktioniert, sondern überschneiden.12 So ist es nicht unüblich, dass wir – ist der Löffel ich habe an etwas gedacht, das weich ist, durchbohrzum Umrühren des Kaffees einmal nicht zur Hand – kurzum auf bar, aber auch Halt gibt,umsteigen, und dann erst habe ich die die Schneide des Messers mit welcher eben vielleicht Bananenoch gesehen und als Lösung erkannt. Die Lösung der Toast gebuttert wurde. Inwieweit wir der Etikette oder der mit der Banane gibt wie ich finde auchwird ein korrekten Verwendung der Dinge Folge leisten, alsoschöneres in nicht unbedetendem bestimmt, wir uns befinden. Bild ab. Und das Maße mit dadurch der Knete ...wo das wäre dochUmso so privater die Umgebung ist, umso informeller und vorbehaltloser typisch Erzieherin.“ agieren wir in der Regel. Wenn die Gegenstände bedarfsorientiert umfunktioniert und „falsch“ genutzt werden, kann das Motiv nicht nur problemlösungsstrategisch oder kreativ begründet sein – es kann auch schlichtweg durch Unwissenheit entstehen. Dass uns ein Gegenstand und mit ihm seine Gebräuchlichkeit fremd ist, kann an traditionellen und kulturellen Differenzen liegen, die örtlicher, personeller oder zeitlicher Natur sein können. So kann es sich um einen örtlichen Unterschied handeln, wie etwa den zwischen der westlichen Welt und dem asiatischen Raum. Das Unbekannte kann aber auch in weit weniger großen Entfernungen und innerhalb einer Gesellschaft auftreten. In Teilen Frankens zählt beispielsweise ein aus aus der Spitze eines Tannenbaumes gefertigter
E2/Viola
45 Jahre, 11 V gl: Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen – Anpassung und Eigensinn im Alltag desErzieherin Wohnens, Hamburg 1986, S. 18 f. 12 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen – Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008, S. 30
Im Wort „üblich“ zeigt sich die Verbindung zwischen Gebräuch lichkeiten, Konventionen und der Übung, die derlei „Selbst verständliches“ doch erfordert.
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Kloßteigquirl zu den üblichen Küchenutensilien, der Unkundige aus anderen Regionen eher an einen mittelalterlichen Morgenstern als an ein Hilfsmittel zur Zubereitung traditioneller Festtagsspeisen erinnern könnte. Ein personeller Unterschied kann zugrunde liegen, wenn ein Gegenstand einem bestimmten sozialen Milieu entstammt oder wenn es sich dabei um ein Nischenprodukt handelt, wie beispielsweise bei einem Braille-Korrekturstift, der auf den ersten Blick eventuell wie ein schlecht proportionierter Miniatur-Baseballschläger wirkt. Betrachtet man den Faktor Zeit, so kann ein uns fremdes Objekt entweder einfach an Aktualität verloren haben oder gar vollständig aus unserer gegenwärtigen Produktwelt verschwunden sein. Ein solches Verschwinden von Dingen kann in einer technischen Weiterentwicklung begründet sein oder in einem Fortschreiten der
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„Die Einrichtung, in die ich als junges Mädchen meine kaputten Feinstrumpfhosen brachte, genannt »Laufmaschenexpress«, verschwand, als die Mauer fiel und der Westen seine billigen Feinstrümpfe auch im Osten anbieten konnte. Die Tropfenfänger an den Tüllen der großen Kaffeekannen, die bei jedem deutschen Familientreffen auf der Tafel standen, verschwanden zu der Zeit, als die Kinder der letzten Kriegstage, sich endlich empörend gegen ihre Eltern, aufhörten Familientreffen zu veranstalten, als sie stattdessen lieber nach Italien reisten und sich von dort Espressokannen mitbrachten. Die Dinge verschwinden, wenn ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird (...) – das dazugehörige Denken ist dann verschwunden, und das Fühlen, das, was Erpenbeck, Jenny: sich gehört oder nicht gehört.“ Dinge, die verschwinden. Mode. Letzteres gilt beispielsweise für den Zwicker: Obwohl die klassische Brille mit Bügeln schon längst gebräuchlich war, wurde der bügellose Zwicker – auch Kneifer genannt – bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gerne von den Männern des gehobenen Bürgertums auf die Nase geklemmt.
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Ein populäres Beispiel der durch kulturelle Differenzen begründeten Zweckentfremdung ist eine Szene aus der Walt-Disney-Produktion „Arielle, die kleine Meerjungfrau“ aus dem Jahre 1987. Da der Protagonistin das Essbesteck schlichtweg fremd ist, verwendet sie die Gabel zum Kämmen ihrer Haare .
Will man nicht aus der Rolle fallen, kann sich der Gebrauch eines Gegenstands also aufgrund der zugehörigen, gesellschaftlich überlieferten Vorschriften bisweilen auf den gesamten Körper auswirken. Somit wird deutlich, dass Gebrauchsgegenstände oft nicht nur zweckgerichtete Funktionen, sondern auch gesellschaftliche Vorstellungen transportieren11 und der Umgang mit ihnen durch soziale Normen und Konventionen wie dem „guten Ton“ geregelt wird. Was allerdings zum „guten Ton“ gezählt wird, ist gesellschaftlich wie kulturell bedingt und daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden – mag es sich auch auf den gleichen Gegenstand beziehen. Unabhängig von gesellschaftlichen Abweichungen existieren jedoch auch große Unterschiede zwischen einem Gebrauchen in der Öffentlichkeit und im Privaten. Allein der Anblick von poliertem und säuberlich aufgereihtem Tafelsilber auf einer weißen Damasttischdecke, führt mit relativ großer Wahrscheinlichkeit zu einer aufrechteren Sitzposition als jener am heimischen Küchentisch, welcher zum gemütlichen Sonntagsfrühstück lediglich mit Marmeladengläsern, Brotkrümeln und der Tageszeitung bedeckt ist. Im Gebrauchen innerhalb des häuslichen Rahmens wird unser Alltag von den eigenen Handhabungsmustern geprägt, in denen sich privater, individueller Gebrauch und gesellschaftliche Konventionen überschneiden.12 So ist es nicht unüblich, dass wir – ist der Löffel zum Umrühren des Kaffees einmal nicht zur Hand – kurzum auf die Schneide des Messers umsteigen, mit welcher eben vielleicht noch der Toast gebuttert wurde. Inwieweit wir der Etikette oder der korrekten Verwendung der Dinge Folge leisten, wird also in nicht unbedetendem Maße dadurch bestimmt, wo wir uns befinden. Umso privater die Umgebung ist, umso informeller und vorbehaltloser agieren wir in der Regel. Wenn die Gegenstände bedarfsorientiert umfunktioniert und „falsch“ genutzt werden, kann das Motiv nicht nur problemlösungsstrategisch oder kreativ begründet sein – es kann auch schlichtweg durch Unwissenheit entstehen. Dass uns ein Gegenstand und mit ihm seine Gebräuchlichkeit fremd ist, kann an traditionellen und kulturellen Differenzen liegen, die örtlicher, personeller oder zeitlicher Natur sein können. So kann es sich um einen örtlichen Unterschied handeln, wie etwa den zwischen der westlichen Welt und dem asiatischen Raum. Das Unbekannte kann aber auch in weit weniger großen Entfernungen und innerhalb einer Gesellschaft auftreten. In Teilen Frankens zählt beispielsweise ein aus aus der Spitze eines Tannenbaumes gefertigter
11 V gl: Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen – Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Hamburg 1986, S. 18 f. 12 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen – Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008, S. 30
Im Wort „üblich“ zeigt sich die Verbindung zwischen Gebräuch lichkeiten, Konventionen und der Übung, die derlei „Selbst verständliches“ doch erfordert.
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Kloßteigquirl zu den üblichen Küchenutensilien, der Unkundige aus anderen Regionen eher an einen mittelalterlichen Morgenstern als an ein Hilfsmittel zur Zubereitung traditioneller Festtagsspeisen erinnern könnte. Ein personeller Unterschied kann zugrunde liegen, wenn ein Gegenstand einem bestimmten sozialen Milieu entstammt oder wenn es sich dabei um ein Nischenprodukt handelt, wie beispielsweise bei einem Braille-Korrekturstift, der auf den ersten Blick eventuell wie ein schlecht proportionierter Miniatur-Baseballschläger wirkt. Betrachtet man den Faktor Zeit, so kann ein uns fremdes Objekt entweder einfach an Aktualität verloren haben oder gar vollständig aus unserer gegenwärtigen Produktwelt verschwunden sein. Ein solches Verschwinden von Dingen kann in einer technischen Weiterentwicklung begründet sein oder in einem Fortschreiten der
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„Die Einrichtung, in die ich als junges Mädchen meine kaputten Feinstrumpfhosen brachte, genannt »Laufmaschenexpress«, verschwand, als die Mauer fiel und der Westen seine billigen Feinstrümpfe auch im Osten anbieten konnte. Die Tropfenfänger an den Tüllen der großen Kaffeekannen, die bei jedem deutschen Familientreffen auf der Tafel standen, ver„Eigentlich packe ich Zeit, Geschenke immer der mit letzten schwanden zu der als ohnehin die Kinder Zeitungspapier ein. Den Geschenkpapierrest hier kann Kriegstage, sich endlich empörend gegen ihre Eltern, man dann ja so zum Verzieren nehmen, denn die Fläche aufhörten Familientreffen reicht ja aber gar nicht aus, daszu istveranstalten, ja das Problem.als sie Manchmal istlieber auch nur das Italien Format umständlich, stattdessen nach reisten unddann sich von kann man das auseinander schneiden und neu zusamdort Espressokannen mitbrachten. mensetzen. Aber jetzt werde ich einfach beides kombinieren – bietet sich an. Dann hab ich in der Zeitung ein Foto von Uli Hoeneß entdeckt, das ist ja auch ein aktuelles Thema. Und das Bild passt von der Größe perfekt. Also, ich habe den Uli oben drauf geklebt und rechts und Erpenbeck, Jenny: links dann das Geschenkpapier montiert. Dann waren Dinge, die verschwinden. da noch Streifen über. Eigentlich verwendet man Mode. Letzteres gilteher beispielsweise für den Zwicker: Obwohl die Geschenkpapier am Stück, aber es bleibt einem ja klassische Brille mit Bügeln schon längst gebräuchlich war, wurde am Ende selbst überlassen, wie man damit umgeht. Und der bügellose Zwicker – auch Kneifer genannt – bis zum Beginn des das20.mit den Streifen war jetztdeseine spontane ResteJahrhunderts gerne von den Männern gehobenen Bürgertums verwertung. Die Geometrie des Musters hat dabei auf die Nase geklemmt.
Die Dinge verschwinden, wenn ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird (...) – das dazugehörige Denken ist dann verschwunden, und das Fühlen, das, was sich gehört oder nicht gehört.“
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Ein populäres Beispiel der durch kulturelle Differenzen begründeten Zweckentfremdung ist eine Szene aus der Walt-Disney-Produktion „Arielle, die kleine Meerjungfrau“ aus dem Jahre 1987. Da der Protagonistin das Essbesteck schlichtweg fremd ist, verwendet sie die Gabel zum Kämmen ihrer Haare .
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Will man nicht aus der Rolle fallen, kann sich der Gebrauch eines Gegenstands also aufgrund der zugehörigen, gesellschaftlich überlieferten Vorschriften bisweilen auf den gesamten Körper auswirken. Somit wird deutlich, dass Gebrauchsgegenstände oft nicht nur zweckgerichtete Funktionen, sondern auch gesellschaftliche Vorstel11 und der Umgang mit geholfen, Verwendungszweck dafür zu finden. lungeneinen transportieren ihnen durch soziale Normen und Konventionen wie dem „guten Ton“ geregelt wird. Dann fiel mir noch auf, da könnte man ein Spiel Was allerdings zum „guten Ton“ gezählt wird, ist gesellschaftlich wie draus machen, denn die Streifen kann man jetzt hinkulturell bedingt und daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieund herschieben. Naja, der Spielfaktor fehlt ein den – mag es sich auch auf den gleichen Gegenstand beziehen. bisschen ... aber trotzdem, die Verpackung ist interaktiv.Unabhängig Also, auf ist sie das geworden. war voneinmal gesellschaftlichen Abweichungen existierenDas jedoch kein echter Plan oder so. auch große Unterschiede zwischen einem Gebrauchen in der Öffentlichkeit undsehr im Privaten. Allein der Anblick von poliertem Also das ist eine realistische Situation, denn und säuberlich aufgereihtem Tafelsilber auf einer weißen Damastich habe nie Geschenkpapier. Auch nicht zu wenig. tischdecke, führt mit relativ großer Wahrscheinlichkeit zu einer Deshalb ist das hier jetzt eigentlich auch eine sehr aufrechteren Sitzposition als jener am heimischen Küchentisch, komfortable Situation dennlediglich man kann damit welcher zum gemütlichengewesen, Sonntagsfrühstück mit Marmelafarbliche Akzente setzen. DieTageszeitung Lösung bedeckt mit Zeitungspadengläsern, Brotkrümeln und der ist. pier liegt natürlich nahe, denn Rahmens so mache Im Gebrauchen innerhalb des häuslichen wirdich unserdas Alltagja von den eigenen Handhabungsmustern geprägt, in denen sich immer. Wie ich die Situation gelöst habe? Sehr gut. privater, individueller und gesellschaftlichedass Konventionen Für mich habe ich daGebrauch jetzt mitgenommen, ich überschneiden.12 So ist es nicht unüblich, dass wir – ist der Löffel auch mal so Geschenkpapier haben müsste, dann kommt zum Umrühren des Kaffees einmal nicht zur Hand – kurzum auf man nicht so indes die Bredoullie. Vorwelcher allem das hier die Schneide Messers umsteigen, mit eben vielleicht finde noch ich der gut. macht ja Spaß.“ ToastGeometrie gebuttert wurde. Inwieweit wir der Etikette oder der korrekten Verwendung der Dinge Folge leisten, wird also in nicht unbedetendem Maße dadurch bestimmt, wo wir uns befinden. Umso privater die Umgebung ist, umso informeller und vorbehaltloser agieren wir in der Regel. Wenn die Gegenstände bedarfsorientiert umfunktioniert und „falsch“ genutzt werden, kann das Motiv nicht nur problemlösungsstrategisch oder kreativ begründet sein – es kann auch schlichtweg durch Unwissenheit entstehen. Dass uns ein Gegenstand und mit ihm seine Gebräuchlichkeit fremd ist, kann an traditionellen und kulturellen Differenzen liegen, die örtlicher, personeller oder zeitlicher Natur sein können. So kann es sich um einen örtlichen Unterschied handeln, wie etwa den zwischen der westlichen Welt und dem asiatischen Raum. Das Unbekannte kann aber auch in weit weniger großen Entfernungen und innerhalb einer Gesellschaft auftreten. In Teilen Frankens zählt beispielsweise ein aus aus der Spitze eines Tannenbaumes gefertigter
E3/Max
Jahre, Physikstudent 11 V gl: Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen – Anpassung und24 Eigensinn im Alltag des Wohnens, Hamburg 1986, S. 18 f. 12 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen – Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008, S. 30
Im Wort „üblich“ zeigt sich die Verbindung zwischen Gebräuch lichkeiten, Konventionen und der Übung, die derlei „Selbst verständliches“ doch erfordert.
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Kloßteigquirl zu den üblichen Küchenutensilien, der Unkundige aus anderen Regionen eher an einen mittelalterlichen Morgenstern als an ein Hilfsmittel zur Zubereitung traditioneller Festtagsspeisen erinnern könnte. Ein personeller Unterschied kann zugrunde liegen, wenn ein Gegenstand einem bestimmten sozialen Milieu entstammt oder wenn es sich dabei um ein Nischenprodukt handelt, wie beispielsweise bei einem Braille-Korrekturstift, der auf den ersten Blick eventuell wie ein schlecht proportionierter Miniatur-Baseballschläger wirkt. Betrachtet man den Faktor Zeit, so kann ein uns fremdes Objekt entweder einfach an Aktualität verloren haben oder gar vollständig aus unserer gegenwärtigen Produktwelt verschwunden sein. Ein solches Verschwinden von Dingen kann in einer technischen Weiterentwicklung begründet sein oder in einem Fortschreiten der
+
„Die Einrichtung, in die ich als junges Mädchen meine kaputten Feinstrumpfhosen brachte, genannt »Laufmaschenexpress«, verschwand, als die Mauer fiel und der Westen seine billigen Feinstrümpfe auch im Osten anbieten konnte. Die Tropfenfänger an den Tüllen der großen Kaffeekannen, die bei jedem deutschen Familientreffen auf der Tafel standen, verschwanden zu der Zeit, als die Kinder der letzten Kriegstage, sich endlich empörend gegen ihre Eltern, aufhörten Familientreffen zu veranstalten, als sie stattdessen lieber nach Italien reisten und sich von dort Espressokannen mitbrachten. Die Dinge verschwinden, wenn ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird (...) – das dazugehörige Denken ist dann verschwunden, und das Fühlen, das, was Erpenbeck, Jenny: sich gehört oder nicht gehört.“ Dinge, die verschwinden. Mode. Letzteres gilt beispielsweise für den Zwicker: Obwohl die klassische Brille mit Bügeln schon längst gebräuchlich war, wurde der bügellose Zwicker – auch Kneifer genannt – bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gerne von den Männern des gehobenen Bürgertums auf die Nase geklemmt.
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Ludwig Wittgenstein: Letztlich verschwinden dabei oftmals nicht nur Produkte aus der Fülle des uns Bekannten, sondern auch ihre Namen, zu deren Klang „Die Grenzen meine r Sprache bedeuten die wir dann kein Bild vor Augen haben, ähnlich zu den Worten einer fremden Sprache. Grenze n meiner Welt.“
Solche Einbürgerungen können auch individuell, im Privaten stattfinden, gerade was problematische Mensch-Objekt-Beziehungen betrifft. So entwickelt man etwa eine bestimmte behutsame Hand-
*
Im 11. Jahrhundert wiederum war die Gabel noch ein völliger Exot: Als ein venezianischer Doge eine byzantinische Prinzessin ehelichte (in Byzanz fand die Gabel dieser Tage schon Verwendung) und diese ihre Gabel beim Hochzeitsmal verwendete, war ganz Venedig entsetzt: frevelhaft, wie die Prinzessin Gottes Speisen mit etwas anderem als den von Gott dafür vorgesehenen Händen zu sich nehmen konnte.
Genauso wie sich das Repertoire der gegenwärtigen Gegenstände ändern kann, kann sich aber auch nur der Umgang mit ihnen wandeln. Kopfkratzen mit der Gabel*in erlesenem Gästekreis würden wir heute beispielsweise als typisch „falschen“ Gebrauch klassifizieren, an den Tafeln der Adelshäuser des 17. Jahrhunderts war dies aber durchaus Gang und Gäbe, um unter den teils schweren Perücken für Erlösung vom Juckreiz zu sorgen.13 Ein absichtliches Umfunktionieren von Dingen trotz besseren Wissens um ihren „richtigen“ Gebrauch bewirkt zumeist eher eine Funktionserweiterung, stellt dabei in manchen Fällen darüber hinaus auch noch einen Konventionsbruch dar. Interessanterweise entpuppt sich jedoch so mancher Regelverstoß als derart kollektives Muster, dass die subversive Verwendung oft nicht mehr als solche auffällt. Klassische Beispiele dafür sind das Zurückgreifen auf das Feuerzeug zum Flaschenöffnen, oder das Umdrehen des Regenschirms zum Kamellen fangen beim Karnevalsumzug. Ebenfalls längst normal ist es, dass aufgerollte Magazine und Zeitschriften Fliegenklatschen ersetzen. All das wirkt kein wenig unkonventionell, zugegebenermaßen jedoch auch nicht besonders kreativ – es findet schlicht eine Gewöhnung statt, und somit wird auch der „falsche Gebrauch“ ganz und gar gewöhnlich. An diesen Beispielen zeigt sich auch, dass es meist die simplen, allgegenwärtigen Dinge des Alltags sind, die von uns umfunktioniert werden. Die permanente Verfügbarkeit von omnipräsenten, einfachen Gegenständen führt soweit, dass manche von ihnen als offizielle „Hilfswerkzeuge“ anerkannt wurden. So wird bei manchen Produkten der Lieferumfang des Zubehörs beispielsweise dadurch geschmälert, dass der Besitz einer Münze beim Käufer ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird. Viele Dosen, die ihren Inhalt etwa vor Feuchtigkeit schützen müssen, wirken wie mit dem Deckel verpresst und sind mit den bloßen Händen kaum zu öffnen. An mancher Blechdose für Tabak findet sich daher die Aufschrift „to open insert coin in groove on corner & twist“. Auch einige Kamerahersteller weisen in der Betriebsanweisung ihres Geräts darauf hin, dass das Batteriefach mit einer Münze aufzuschrauben ist.
13 Vgl.: Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1992, S. 88
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habe für ein nicht recht funktionstüchtiges Objekt, wie etwa beim Verrücken eines Schreibtischs, der ein loses Bein besitzt. Oder man eignet sich eine neue, ganz eigene improvisatorische Problemlösungsstrategie an, etwa eine Technik oder Zweckentfremdung, die regelmäßig Verwendung findet und so Tradition werden kann.
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Foto: Sylvie Boisseau
„Der Trampelpfad, der den Wohnkomplex durchquert, markiert einen Widerstand des Individuums gegenüber der rationalistischen Architektur. Der Mensch verlässt den vorgegebenen Weg um seine eigene Spur zu zeichnen. Aus den verdichteten Abdrücken resultiert Boisseau, ein kollektiver Weg.“ SylvieKünstlerin
Der Trampelpfad vor einem Weimarer Wohnkomplex wurde von Künstlerin Sylvie Boisseau zum Kunstwerk erklärt, und vom Weimarer Bürgermeister zur Volks skulptur ernannt.
x Ausgegangen wird hier von unserer Wohlstandsgesellschaft. In Mangel gesellschaften handelt es sich um ein in der Öffentlichkeit stets präsentes Thema.
Ein Verschieben des Zusammenhanges, in dem ein Ding Verwendung finden kann, kann aber auch stark inhaltlich verortet werden: Bei der sogenannten „Rekontextualisierung“14 entsteht eine ganz neue Identität für das Produkt. Spannendes Beispiel hierfür bietet die Coca-Cola-Flasche: Wird sie in weiten Teilen der Welt einfach nur mit dem braunen Erfrischungsgetränk assoziiert, findet man die Flasche etwa im Süden der Inselkette Ryūkyū im Ostchinesischen Meer auf Altären stehend, wo sie als Glückssymbol verehrt wird. Denn ob ihrer bauchigen Form werden die Cola-Flaschen dort dazu genutzt, die traditionellen Keramikfiguren schwangerer Frauen zu ersetzen.15
Es zeigt sich – auch das Brechen von Konventionen, das Improvisieren, das kreative Umnutzen der Dinge, kann Einzug in unsere Traditionen halten, teilweise können sie sogar fester Bestandteil der kulturellen Praxis werden und den Schritt aus dem Privaten ins Öffentliche schaffen.+
14 Torney, Melanie: Innovation durch Subversion, Berlin 2008, S. 44 15 Vgl.: Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen, kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, Hamburg 2000, S. 59 f.
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„Meine letzte Reparatur ... Ein Schnürsenkel ist mir gerissen. Den habe ich dann wieder geknotet und eingefädelt, weil ich keinen anderen zur Hand hatte. Und sonst ... ach, da fällt mir doch noch was ein: Ich habe seit Jahren ein bescheuertes Badschränkchen, das wurde 2009 gekauft und nervt seit seinem Erstaufbau damit, dass die Türen nicht schließen, (gestikuliert wild) die bleiben nicht zu, die gehen die ganze Zeit auf. Es liegt wohl am schiefen Boden des Badezimmers. Und wenn ich da unten was rausnehmen will, mache ich das seitdem immer so, dass ich – also ein Stück Pappe habe ich da auf beiden Seiten, das schiebe ich in den Türspalt, und dann bleibt die Tür geschlossen. Die Idee, Pappe als Material zu benutzen, kam sehr früh. Zuerst hat mein Vater die kleinen gefalteten, abgerissenen Dinger rechts und links unter das Schränkchen gemacht. Ich habe aber irgendwann
habe für ein nicht recht funktionstüchtiges Objekt, wie etwa beim Verrücken eines Schreibtischs, der ein loses Bein besitzt. Oder man eignet sich eine neue, ganz eigene improvisatorische Problemlösungsstrategie an, etwa eine Technik oder Zweckentfremdung, die regeldazumäßig tendiert, siefindet oben zwischen Rand und Verwendung und-soalso Tradition werden kann. Tür - zu machen. Das nervt unfassbar und sieht so aus: Ich habe geduscht oder mir die Haare gewaschen, brauche mein Deo, Bodylotion oder Haarfluid, und all das steht im Schränkchen. Das bedeutet, dass ich die Pappdinger - die derzeit aus einer Klostein-Verpackung gerissene und zusammengefaltete Pappstückchen von circa zwei mal vier Zentimetern Größe - herausnehme, auf das Schränkchen lege, die Sachen benutze, die Türen schließe und die Dinger wieder dazwischenschiebe ... Übrigens versuche ich auch immer, einigermaßen farblich passende Pappe zu benutzen, also weiß oder hellblau. Gelb oder so finde ich hässlich. Obwohl von Boisseau, einer ästhetischen Lösung nicht zu sprechen Sylvie ist. Künstlerin Ich könnte einfach neues Schränkchen kaufen, Der ein Trampelpfad vor einem Weimarer zumal meines einWohnkomplex Billigding war, hat Sylvie wurdezwölf von Euro Künstlerin Boisseau zum Kunstwerk erklärt, das gekostet. Aber irgendwie ... habe ich es bisherund vom Weimarer nicht gemacht, obwohl mich die Bürgermeister Papp-Technik zur sehrVolks skulptur ernannt. nervt. Besonders, wenn die Türen plötzlich aufgehen, während ich mich mache, in weil dieVerwenPappe Ein Verschieben desfertig Zusammenhanges, dem ich ein Ding dung finden kann, kann aber auch stark inhaltlich verortet werden: nicht richtig platziert habe – denn man benötigt 14 entsteht eine ganz Bei der sogenannten „Rekontextualisierung“ natürlich immer die richtige Technik. Ach, ich neue Identität für das Produkt. Spannendes Beispiel hierfür bietet hasse das Badschränkchen.“ die Coca-Cola-Flasche: Wird sie in weiten Teilen der Welt einfach nur mit dem braunen Erfrischungsgetränk assoziiert, findet man die Flasche etwa im Süden der Inselkette Ryūkyū im Ostchinesischen Meer auf Altären stehend, wo sie als Glückssymbol verehrt wird. Denn ob ihrer bauchigen Form werden die Cola-Flaschen dort dazu genutzt, die traditionellen Keramikfiguren schwangerer Frauen zu ersetzen.15
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Foto: Sylvie Boisseau
„Der Trampelpfad, der den Wohnkomplex durchquert, markiert einen Widerstand des Individuums gegenüber der rationalistischen Architektur. Der Mensch verlässt den vorgegebenen Weg um seine eigene Spur zu zeichnen. Aus den verdichteten Abdrücken resultiert ein kollektiver Weg.“
x Ausgegangen wird hier von unserer Wohlstandsgesellschaft. In Mangel gesellschaften handelt es sich um ein in der Öffentlichkeit stets präsentes Thema.
Es zeigt sich – auch das Brechen von Konventionen, das Improvisieren, das kreative Umnutzen der Dinge, kann Einzug in unsere Traditionen halten, teilweise können sie sogar fester Bestandteil der kulturellen Praxis werden und den Schritt aus dem Privaten ins Öffentliche schaffen.+ 33 Jahre, Journalistin
14 Torney, Melanie: Innovation durch Subversion, Berlin 2008, S. 44 15 Vgl.: Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen, kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, Hamburg 2000, S. 59 f.
„Ich bin niemand, der viel wegwirft, meine Eigenschaft ist eher das Einsammeln. Ich hab’ immer Mitleid mit Sachen die auf der Straße liegen. Im Hausflur im Regal, in dem ausgelagerten Regal wo alles hinkommt, was nicht mehr in die Abstellkammern passt – von den ganzen Sachen, die ich so einsammle – da steht eine Kettensäge. Oder naja, es ist so eine Heckenschere, die hat keine Kette, so eine elektrische mit vielen kleinen Messern. Naja, die ist total verbogen und funktionieren tut sie auch nicht, aber die sah so cool gefährlich aus und lag auch auf der Straße, und deswegen musste ich die auch mitnehmen. Jetzt im Moment steht sie da draußen als Abschreckung. Die hat jetzt also keine Funktion im Sinne des Gebrauchens, funktioniert eher als Zeichen. Für böse Nachbarn zum Beispiel, die sich beschweren wollen. Und dann habe ich noch eine Lieblingszweckentfremdung: Einmal war da zum Beispiel so ein Karton mit ganz viel Besteck auf der Straße, unter anderem auch dieses Ding. Das ist so ein Ding, das man eigentlich zum Backen benutzt, so ein Teigschaber. Den Karton habe ich dann mitgenommen,
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habe für ein nicht recht funktionstüchtiges Objekt, wie etwa beim Verrücken eines Schreibtischs, der ein loses Bein besitzt. Oder man eignet sich eine neue, ganz eigene improvisatorische Problemlösungsstrategie an, etwa eine Technik oder Zweckentfremdung, die regelund mäßig dannVerwendung haben wir entschieden: die Gabel findet und so Tradition Okay, werden kann. wollen wir, und das wollen wir nicht. Und dieser Teigschaber war erst bei den Dingen, die wir nicht wollten und ist in unsere Chaoskammer gewandert. Und irgendwann haben wir das nochmal durchgeschaut, und gedacht, ach, so zum Backen, und wenn man so die Sahne auf die Torte machen will, da ist das vielleicht doch ganz gut. Aber eigentlich habe ich genau für diese Aufgabe schon ein Ding, das ist auch viel schöner, hellblau und mit Holzgriff. Naja, da wir aber diesen Kerzenständer haben, der die Eigenschaft hat, immer überall auf den ganzen Tisch Wachs zu tropfen – da ist dieses Ding der perfekte Wachsabschaber. Der wird jetzt wirkBoisseau, lich regelmäßig benutzt, nur dafür. Wenn du Sylvie einKünstlerin Messer nimmst, dann du vor damit den ganzen Der verkratzt Trampelpfad einem Weimarer Tisch, und wenn Wohnkomplex du das mit ’nem Schwamm versuchst, wurde von Künstlerin Sylvie Boisseau zum Kunstwerk erklärt, und dann geht das nicht. Deswegen ist das seit neustem vom Weimarer Volks unser Wachsabkratzgerät, sowas Bürgermeister gibt es auch zur nicht skulptur ernannt. zu kaufen. Also, ich glaube, dass man das nicht kaufen kann. Und so habe ich eher Ein Verschieben des Zusammenhanges, in demso einnachträglich Ding Verwendung finden kann, kann aber auch stark inhaltlich verortet werden: eine Verwendung dafür gefunden, ein Problem, dass 14 entsteht eine ganz Bei der sogenannten „Rekontextualisierung“ das lösen kann.“ neue Identität für das Produkt. Spannendes Beispiel hierfür bietet die Coca-Cola-Flasche: Wird sie in weiten Teilen der Welt einfach nur mit dem braunen Erfrischungsgetränk assoziiert, findet man die Flasche etwa im Süden der Inselkette Ryūkyū im Ostchinesischen Meer auf Altären stehend, wo sie als Glückssymbol verehrt wird. Denn ob ihrer bauchigen Form werden die Cola-Flaschen dort dazu genutzt, die traditionellen Keramikfiguren schwangerer Frauen zu ersetzen.15
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Foto: Sylvie Boisseau
„Der Trampelpfad, der den Wohnkomplex durchquert, markiert einen Widerstand des Individuums gegenüber der rationalistischen Architektur. Der Mensch verlässt den vorgegebenen Weg um seine eigene Spur zu zeichnen. Aus den verdichteten Abdrücken resultiert ein kollektiver Weg.“
x Ausgegangen wird hier von unserer Wohlstandsgesellschaft. In Mangel gesellschaften handelt es sich um ein in der Öffentlichkeit stets präsentes Thema.
Es zeigt sich – auch das Brechen von Konventionen, das Improvisieren, das kreative Umnutzen der Dinge, kann Einzug in unsere Traditionen halten, teilweise können sie sogar fester Bestandteil der kulturellen Praxis werden und den Schritt aus dem Privaten ins Öffentliche schaffen.+ 27 Jahre, Art-Director
14 Torney, Melanie: Innovation durch Subversion, Berlin 2008, S. 44 15 Vgl.: Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen, kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, Hamburg 2000, S. 59 f.
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Instrumentalisierung
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Der Gebrauch von Gegenständen funktioniert darüber, dass diese sich dem Nutzer über ihre Erscheinungsform erfahrbar machen und der Nutzer ihre Signale dechiffriert und umsetzt. Die mit der Verwendung verbundenen Gebrauchsvorschriften und gesellschaftlichen Konventionen sowie die eigenen Erfahrungen im Umgang mit den Dingen, sind Grundlage für eine intentionsgerechte und angemessene Verwendung. Gebrauchen stellt somit eine Kulturtechnik dar, genau wie Lesen, Rechnen und Schreiben.16 Obwohl – oder gerade weil – so viel Angelerntes und Eingeübtes zu einer gelingenden Nutzung beiträgt, ist es umso spannender, dass wir gerade dies in vielen Situationen ausblenden können, wenn wir die Dinge um uns herum instrumentalisieren. Wie aber kommt es zu einem solchem „freien“ Umgang mit Gegenständen? Was führt dazu, dass Konventionen scheinbar beliebig einund ausgeblendet werden können?
„Was nun jene leeren Flaschen betrifft, welche aufgehoben wurden, um für Zwecke verwendet zu werden, welche von ihren Erzeugern nicht beabsichtigt waren, zum Beispiel als Kerzenständer, Blumentöpfe oder Aschenbecher, so sind solche Flaschen Zeugen einer menschlichen Fähigkeit, welche verdient, geradezu die menschliche genannt zu werden. Der Fähigkeit nämlich, von den Dingen Abstand zu nehmen und sie von vorher nicht eingenommenen Standpunkten aus zu sehen. Die Flaschen kommen ins Haus, nicht nur mit einer sichtbaren Aufschrift, die ihren Inhalt benennt, sondern auch mit einer unsichtbaren, die in Befehlsform angibt, wie Flaschen angesehen und gehandhabt werden sollen. (…) Alle Dinge in unserer Umgebung sind mit solchen Imperativen versehen, (…) . Aber wir können (…) von diesem unsichtbaren Imperativ absehen, und dann erscheint uns die Flasche als das, was sie ist, nicht als das, was sie sein soll.“17
16 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 24 17 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen, Wien 1991, S. 17
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Wie das Beispiel vom Kerzenständer zeigt, kommt es vor allem in solchen Situationen zu einem freien Gebrauch von Gegenständen, in denen wir unsere Umwelt bewusst (um)gestalten wollen. Etwa durch ein ästhetisches Wohlgefallen motiviert, soll uns jene Flasche im Kerzenständer erhalten bleiben, obwohl ihr angedachter Nutzen – als Behältnis einer Flüssigkeit – bereits erfüllt ist. Durch die bewusste Umnutzung bleibt sie schließlich, auch als leere Flasche nach ihrer eigentlichen Zweckerfüllung, in Funktion, indem sie durch die neu zugewiesene Aufgabe als Kerzenständer wieder in den Status eines Gebrauchsgegenstands erhoben wird. Die Kerzenständer-Flasche lässt sich darüberhinaus aber auch immer als Antwort bzw. Reaktion auf das Fehlen eines „richtigen“ Kerzenständers lesen. So betrachtet, stellt sie ein Paradebeispiel für das Absehen vom Gegenstandsimperativ schlechthin dar: Dem Lösen eines Problems durch Improvisation. Beide Handlungen, sowohl der aktive Gestaltungsakt, als auch das improvisatorische Problemlösen, sind zwei grundlegend verschiedene Ausgangspunkte für ein losgelöstes Nachdenken über die Flasche. Gemein ist den Ausgangslagen jedoch der zugrundeliegende Einsatz von Kreativität zur Zweckentfremdung, wenn auch von außen betrachtet in die jeweils entgegengesetzte Richtung: Habe ich eine Flasche und denke darüber nach, was ich mit dieser Anderweitiges machen könnte, dann suche ich ein Problem, welches von diesem Ding gelöst werden könnte: Sie kann einen Kerzenständer ersetzen. Habe ich keinen Kerzenständer und denke darüber nach, wie ich diesen anderweitig ersetzen kann, dann suche ich ein Ding, welches dieses Problem lösen könnte: Ich verwende eine Flasche.
Der fehlende Deckel des Kontaktlinsenbehälters wurde durch einen Schraubverschluss einer Mehrwegflasche ersetzt, welcher über den selben Durchmesser verfügt. In beiden Fällen „missbrauchen“ wir jedoch die Flasche im eigentlichen Sinne, instrumentalisieren sie für unsere eigenen Zwecke. Und genau dadurch gelangen wir zu der Freiheit, die uns fernab von Konventionen über die Dinge eigenständig und bewusst verfügen lässt.
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Wie das Beispiel vom Kerzenständer zeigt, kommt es vor allem in solchen Situationen zu einem freien Gebrauch von Gegenständen, in denen wir unsere Umwelt bewusst (um)gestalten wollen. Etwa durch ein ästhetisches Wohlgefallen motiviert, soll uns jene Flasche im Kerzenständer erhalten bleiben, obwohl ihr angedachter Nutzen – als Behältnis einer Flüssigkeit – bereits erfüllt ist. Durch die bewusste Umnutzung bleibt sie schließlich, auch als leere Flasche nach ihrer eigentlichen Zweckerfüllung, in Funktion, indem sie durch die neu zugewiesene Aufgabe als Kerzenständer wieder in den Status eines Gebrauchsgegenstands erhoben wird. Die Kerzenständer-Flasche lässt sich darüberhinaus aber auch immer als Antwort bzw. Reaktion auf das Fehlen eines „richtigen“ Kerzenständers lesen. So betrachtet, stellt sie ein Paradebeispiel für das Absehen vom Gegenstandsimperativ schlechthin dar: Dem Lösen eines Problems durch Improvisation. Beide Handlungen, sowohl der aktive Gestaltungsakt, als auch das improvisatorische Problemlösen, sind zwei grundlegend verschiedene Ausgangspunkte für ein losgelöstes Nachdenken über die Flasche. Gemein ist den Ausgangslagen jedoch der zugrundeliegende Einsatz von Kreativität zur Zweckentfremdung, wenn auch von außen betrachtet in die jeweils entgegengesetzte Richtung: Habe ich eine Flasche und denke darüber nach, was ich mit dieser Anderweitiges machen könnte, dann suche ich ein Problem, welches von diesem Ding gelöst werden könnte: Sie kann einen Kerzenständer ersetzen. Habe ich keinen Kerzenständer und denke darüber nach, wie ich diesen anderweitig ersetzen kann, dann suche ich ein Ding, welches dieses Problem lösen könnte: Ich verwende eine Flasche.
E1
Der fehlende Deckel des Kontaktlinsenbehälters „Ich hab’ mir die obere Öffnung von dieser Vase, also wurde durch einen denSchraubverschluss Vasenhals angeschaut, einer und überlegt, was da reinMehrwegflasche ersetzt, passen könnte, um den zu verschließen. Also, das ist welcher über den selben natürlich eigentlich die Öffnung, in der die Blume Durchmesser verfügt. stecken würde im Normalfall ... aber für das große
Loch, da ist mir nichts eingefallen. Deswegen dachte In beiden Fällen „missbrauchen“ wirgehen. jedoch dieWir Flasche im eigentliich, das muss auch anders hatten ja auch chen Sinne, instrumentalisieren sie für unsere eigenen Zwecke. Und vieles hier in der Wohnung, man hatte also eigentlich genau dadurch gelangen wir zu der Freiheit, die uns fernab von Konviele Möglichkeiten zur Reparatur. ventionen über die Dinge eigenständig und bewusst verfügen lässt.
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Auf jeden Fall habe ich mir den Vasenhals angeguckt und dann sah das für mich aus wie ein Flaschenhals, also habe ich dieses Teil gesucht, mit dem man offene Sektflaschen verschließen kann, und das dann einfach da rein gesteckt. Und dann lag die Vase, und das fand ich auch sehr schön. Obwohl, man muss auch sagen, es hat erst nicht so gut gehalten. Am Anfang ist immer das Wasser rausgelaufen, denn so die perfekte Größe hatte das Ding dann doch nicht. Man musste es schon ein wenig doller reinstecken, und ein bisschen vorsichtig damit umgehen, dann ging’s. Ging ziemlich schnell ... Ich finde das Endergebnis wirklich wunderhübsch. Wenn das da so liegt und die Blume so quer raus schaut, das ist schon sehr schön. Ganz anders als vorher.“ 74
E1/Leonie 20 Jahre, Studentin der Sozialen Arbeit
Wie das Beispiel vom Kerzenständer zeigt, kommt es vor allem in solchen Situationen zu einem freien Gebrauch von Gegenständen, in denen wir unsere Umwelt bewusst (um)gestalten wollen. Etwa durch ein ästhetisches Wohlgefallen motiviert, soll uns jene Flasche im Kerzenständer erhalten bleiben, obwohl ihr angedachter Nutzen – als Behältnis einer Flüssigkeit – bereits erfüllt ist. Durch die bewusste Umnutzung bleibt sie schließlich, auch als leere Flasche nach ihrer eigentlichen Zweckerfüllung, in Funktion, indem sie durch die neu zugewiesene Aufgabe als Kerzenständer wieder in den Status eines Gebrauchsgegenstands erhoben wird. Die Kerzenständer-Flasche lässt sich darüberhinaus aber auch immer als Antwort bzw. Reaktion auf das Fehlen eines „richtigen“ Kerzenständers lesen. So betrachtet, stellt sie ein Paradebeispiel für das Absehen vom Gegenstandsimperativ schlechthin dar: Dem Lösen eines Problems durch Improvisation. Beide Handlungen, sowohl der aktive Gestaltungsakt, als auch das improvisatorische Problemlösen, sind zwei grundlegend verschiedene Ausgangspunkte für ein losgelöstes Nachdenken über die Flasche. Gemein ist den Ausgangslagen jedoch der zugrundeliegende Einsatz von Kreativität zur Zweckentfremdung, wenn auch von außen betrachtet in die jeweils entgegengesetzte Richtung: Habe ich eine Flasche und denke darüber nach, was ich mit dieser Anderweitiges machen könnte, dann suche ich ein Problem, welches von diesem Ding gelöst werden könnte: Sie kann einen Kerzenständer ersetzen. Habe ich keinen Kerzenständer und denke darüber nach, wie ich diesen anderweitig ersetzen kann, dann suche ich ein Ding, welches dieses Problem lösen könnte: Ich verwende eine Flasche.
Der fehlende Deckel des Kontaktlinsenbehälters wurde durch einen Schraubverschluss einer Mehrwegflasche ersetzt, welcher über den selben Durchmesser verfügt. In beiden Fällen „missbrauchen“ wir jedoch die Flasche im eigentlichen Sinne, instrumentalisieren sie für unsere eigenen Zwecke. Und genau dadurch gelangen wir zu der Freiheit, die uns fernab von Konventionen über die Dinge eigenständig und bewusst verfügen lässt.
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
* Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
„Instrumentalisierung setzt die Fähigkeit voraus, Verwendungsmöglichkeiten zu erkennen: Ein potentieller Benutzer folgt beim Instrument nie einfach Gebrauchsregeln. Das Befolgen von Regeln setzt bereits voraus, dass er die besondere mentale Disposition besitzt, ein Objekt als etwas anderes Helmar Schramm: zu sehen.“ „Instrumente in Kunst und Wissenschaft“
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Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Verwandtschaft zwischen den Worten Improvisation und Vision. Die Suche nach der Lösung des Problems funktioniert durch ein verändertes Hinschauen, durch eine bewusste Suchmaske, mit der wir die Umgebung und alle uns umgebenden Gegenstände „scannen“. Der Moment, indem wir zu suchen beginnen, bewirkt, dass sich nicht nur unsere Wahrnehmung der Umwelt, sondern vielmehr auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: „Man geht einen ansteigenden Waldweg hinauf und sieht um sich, um einen Ast zu finden, den man als Stock verwenden könnte. Der Augenblick, in dem man den Entschluss gefasst hat, sich solcherart umzusehen, hat nicht allein zur Folge, daß sich das bisherige Ausblicken auf den Wald vollkommen verändert, sondern daß sich das Aussehen des Waldes ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“18 Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
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Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materialien als jener der Gegenstände zugeordnet, und rufen so ohnehin oft zum freien Verwenden und Gestalten auf.19 Sie besitzen keine mit Dingen des Gebrauchs vergleichbaren Ichden weiß auch nicht, wie ich da Zweckbestimmungen, drauf gekommen bin. welche es beim Instrumentalisieren erst meinem zu überwinden gilt. So Ich habe so viele Zettel an Schreibtisch bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben hängen und als ich die gesehen habe, da dachte ich, Äste als Stock: die„Menschen kann ich nehmen, die sind aus Papier. begannen spätestens denn seit der Steinzeit, in der auch Natur vorgefunIchdene habe halt Klebezettel geklebt, wo Materialien mitdie dem Ziel der Verbesserung dahin von Überlebensstrategien Insofern verbindetwar, sich derund Impulsdie zu Problemlösungen daseinzusetzen: Papier(…) nicht genug auch zum Zumamit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes Gegebenes für nur chen genommen ... Praktisch, weil dieund eigentlich 20 Das Instrumentalisieren die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“ selbst wo dran halten sollen, und nicht zum Verder Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst. schließen von was da sind – können tun sie’s aber schon. Ich hab’ das Papier jetzt nicht zerschnitten, weil ich irgendwie dachte, dass du das nochmal für
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
„Instrumentalisierung setzt diewäre Fähigkeit wen anders brauchst ... Sonst das auch voraus, gegangen ... Ich hätte auch noch andere gehabt, Ein Verwendungsmöglichkeiten zuIdeen erkennen: finde die Idee aber cool. Bin zufrieden, weil man potentieller folgt beim Instrument keinen TesaBenutzer braucht. Man hätte auch was auf den nie draufschreiben können ... Man hätte mit einfachKarton Gebrauchsregeln. Das Befolgen vonauch Regeln können, wenn man’s sehr sehr bunt setzt Filzer bereitsdraufmalen voraus, dass er die besondere mentale und farbenfroh mag. Oder Küchenrolle benutzen. Dann Disposition ein draufmalen Objekt alskönnen. etwasOder anderes hätte man besitzt, noch Punkte ... Helmar Schramm: (sieht einen Stadtplan auf dem Schreibtisch) eine zu sehen.“ „Instrumente in Kunst und Wissenschaft“ * Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
Stadtkarte, die man nicht mehr braucht, die hätte Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Verman nehmen können. Man hätte Improvisation auch ganzund viele wandtschaft zwischen den Worten Vision.Bonbonpapiere raufkleben können. Die funktioniert Bonbons hätte Die Suche nach der Lösung des Problems durch einman ja aberverändertes erstmal alle essen müssen (lacht). Oder man Hinschauen, durch eine bewusste Suchmaske, mit der wir die Umgebung und alle uns umgebenden Gegenstände „scanhätte die Bonbons einfach so aufgeklebt. Dann hätte nen“. DerFuttern, Moment, indem zu suchen beginnen, bewirkt, der was zum demwir man das schenkt. Man dass hätte sich nicht nur unsere Wahrnehmung der Umwelt, sondern vielmehr auch alles voller Aufkleber machen können. Aber die auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: gebe ich nicht soansteigenden gern herWaldweg ... Man hätte auch ’ne „Man geht einen hinauf und sieht um sich, umalte Zeitschrift nehmen können undverwenden die Seiten rausreiseinen Ast zu finden, den man als Stock könnte. Der Augensen und benutzen. Kochrezepte Beispiel, wenn blick, in dem man den Entschluss gefasstzum hat, sich solcherart umzusehen, hat nicht allein zur Folge,dann daß sich das bisherige Ausblicken aufnicht den derjenige gut kocht, wäre das Geschenk Wald vollkommen verändert, sondern daß sich das Aussehen des Waldes gerade unelegant.“ ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“18
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Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
E3/Martha 10 Jahre, Schülerin
18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materialien als jener der Gegenstände zugeordnet, und rufen so ohnehin oft zum freien Verwenden und Gestalten auf.19 Sie besitzen keine mit den Dingen des Gebrauchs vergleichbaren Zweckbestimmungen, welche es beim Instrumentalisieren erst zu überwinden gilt. So bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben Äste als Stock: „Menschen begannen spätestens seit der Steinzeit, in der Natur vorgefundene Materialien mit dem Ziel der Verbesserung von Überlebensstrategien einzusetzen: (…) Insofern verbindet sich der Impuls zu Problemlösungen mit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes und Gegebenes für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“20 Das Instrumentalisieren der Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst.
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
* Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
„Instrumentalisierung setzt die Fähigkeit voraus, Verwendungsmöglichkeiten zu erkennen: Ein potentieller Benutzer folgt beim Instrument nie einfach Gebrauchsregeln. Das Befolgen von Regeln setzt bereits voraus, dass er die besondere mentale Disposition besitzt, ein Objekt als etwas anderes Helmar Schramm: zu sehen.“ „Instrumente in Kunst und Wissenschaft“
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Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Verwandtschaft zwischen den Worten Improvisation und Vision. Die Suche nach der Lösung des Problems funktioniert durch ein verändertes Hinschauen, durch eine bewusste Suchmaske, mit der wir die Umgebung und alle uns umgebenden Gegenstände „scannen“. Der Moment, indem wir zu suchen beginnen, bewirkt, dass sich nicht nur unsere Wahrnehmung der Umwelt, sondern vielmehr auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: „Man geht einen ansteigenden Waldweg hinauf und sieht um sich, um einen Ast zu finden, den man als Stock verwenden könnte. Der Augenblick, in dem man den Entschluss gefasst hat, sich solcherart umzusehen, hat nicht allein zur Folge, daß sich das bisherige Ausblicken auf den Wald vollkommen verändert, sondern daß sich das Aussehen des Waldes ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“18 Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
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Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materialien als jener der Gegenstände zugeordnet, und rufen so ohnehin oft zum freien Verwenden und Gestalten auf.19 Sie besitzen keine mit Dingen Gebrauchs vergleichbaren Zweckbestimmungen, „Daden ich die des Vase ja weiterhin angucken möchte, habe welche es beim Instrumentalisieren erst zu überwinden gilt. So ich natürlich versucht es so zu lösen, dass man sie bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben weiterhin sehen kann – deswegen diese transparente Äste als Stock: Folie, alsobegannen einfach Frischhaltefolie dievorgefunden Charme „Menschen spätestens seit der Steinzeit, in der Natur derdene Vase weiterhin ermöglicht. dachte gleich an Materialien mit dem Ziel der VerbesserungIch von Überlebensstrategien einzusetzen: (…) Insofern verbindet der Impuls zu Problemlösungen etwas, das transparent istsichund daher war die Frischmit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes Gegebenes haltefolie natürlich naheliegend. und Schön istfürauch, die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“20 Das Instrumentalisieren dass man das Wasser sehen kann, durch dieses kleine der Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst. Fenster, das durch die Folie entstanden ist. Das gibt dem Ganzen ein neues Design, einen neuen Pfiff. Und dadurch kann man natürlich auch den Stengel sehen,
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
„Instrumentalisierung setzt die Fähigkeit voraus, das ist besonders schön. Das hätte man bei einer Vase, die kein Loch hat, nicht. Von daher die Vase so Verwendungsmöglichkeiten zuist erkennen: Ein natürlich besser als vor dem Unfall. An der Technik potentieller Benutzer beimnoch Instrument nie mit der Folie muss man folgt allerdings feilen, ein nässt sie nämlich. Aber solange bietet sich einfachwenig Gebrauchsregeln. Das Befolgen von Regeln Untertellerchen an, um sie salonfähig zu machen setzt ein bereits voraus, dass er die besondere mentale und man muss halt ein bisschen vorsichtig sein, aber Disposition besitzt, einRand Objekt alsdie etwas anderes das ist okay. Oben am habe ich FrischhalteHelmar Schramm: ein wenig aufplüschend drapiert, das dem zugibt sehen.“ „Instrumentefolie in Kunst und Wissenschaft“ * Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
Ganzen einen futuristischen Look. Ja, schön.“ Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Verwandtschaft zwischen den Worten Improvisation und Vision. Die Suche nach der Lösung des Problems funktioniert durch ein verändertes Hinschauen, durch eine bewusste Suchmaske, mit der wir die Umgebung und alle uns umgebenden Gegenstände „scannen“. Der Moment, indem wir zu suchen beginnen, bewirkt, dass sich nicht nur unsere Wahrnehmung der Umwelt, sondern vielmehr auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: „Man geht einen ansteigenden Waldweg hinauf und sieht um sich, um einen Ast zu finden, den man als Stock verwenden könnte. Der Augenblick, in dem man den Entschluss gefasst hat, sich solcherart umzusehen, hat nicht allein zur Folge, daß sich das bisherige Ausblicken auf den Wald vollkommen verändert, sondern daß sich das Aussehen des Waldes ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“18
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Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
E1/Nina
36 Jahre, Förderschullehrerin 18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
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Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materia„Eslien war mirderdirekt klar, dass und ichrufen eine irgendwie als jener Gegenstände zugeordnet, so ohnehin oft 19 Sie besitzen keine mit zum freien Verwenden und Gestalten auf. geartete Säule brauchen würde, um diesen ... Glasden Dingen des Gebrauchs vergleichbaren Zweckbestimmungen, pickel abstellen zu können. So eine Säule aus Pappe welche es beim Instrumentalisieren erst zu überwinden gilt. So zum Beispiel. Eine normale Klorolle war leider zu bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben lang. Ohne Wein war das okay, aber nach dem ersten Äste als Stock: Einschenken wurde dieseitGeschichte wegen des hohen „Menschen begannen spätestens der Steinzeit, in der Natur vorgefunSchwerpunkts instabil. habe ich dann noch dene Materialien mit dem Ziel derDeswegen Verbesserung von Überlebensstrategien einzusetzen:ein (…) Drittel Insofern verbindet sich der Impuls zu Problemlösungen ungefähr abgeschnitten. Und so ist das mit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes und Gegebenes für noch dann tatsächlich sehr stabil, als das Glas nur die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“20 Das Instrumentalisieren auf der Zweidrittel-Rolle stand. Und das abgeschnitder Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst. tene Drittel kann als Tropfenfänger genutzt werden, das ist clever. Wobei das ganze eigentlich ziemlich doof ist – ich hätte eigentlich so machen müssen ...
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
„Instrumentalisierung die Fähigkeit voraus, (steckt das Glas in diesetzt Weinflasche) ... eigentlich ist das die eleganteste Lösung. Die Lösung mit der KloVerwendungsmöglichkeiten zu erkennen: Ein papierrolle ist für Babys, die mit der Flasche ist potentieller Benutzer folgt beim nie für richtige Männer, die machen dasInstrument so. Das ist total Das sieht schick aus es ist wirklich viel einfachtoll: Gebrauchsregeln. DasundBefolgen von Regeln stabiler als die erste Idee. Super. Finde ich sehr setzt bereits voraus, dass er die besondere mentale gut so, das ist die perfekte Lösung. Schön. Ach, ein Disposition ein Objekt etwas ganz neuesbesitzt, Objekt irgendwie, dasals gehört zuranderes Flasche Helmar Schramm: dazu. Die einfachste und schönste Lösungzu istsehen.“ die, die „Instrumente in Kunst und Wissenschaft“ * Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
total nahe liegt. Super, ich wundere mich, dass es Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Versowas als Glas auch gar nicht gibt, wobei – okay, na wandtschaft zwischen den Worten Improvisation und Vision. gut ...Die (lacht) aber es istdeswirklich ein sehrdurch schönes Suche nach der Lösung Problems funktioniert ein Ding. verändertes Komisch Hinschauen, aber, dass mir die IdeeSuchmaske, erst zum durch eine bewusste mitSchluss der wir die Umgebung und über alle unsmeine umgebenden Gegenstände gekommen ist, als ich erste Lösung „scanrefleknen“. Der Moment, indem wir zu suchen beginnen, bewirkt, dass tiert habe. Ich hab’ das gemerkt, als ich es erklärt nicht nur unsere Wahrnehmung Umwelt, sonderngesucht vielmehr habe, sich dass ich eigentlich so der ein Element auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: habe, wo der Stiel reinpasst. Und dann war das mit der „Man geht einen ansteigenden Waldweg hinauf und sieht um sich, um Papprolle albern, genau istkönnte. ja schon das einen Ast zu finden,denn den man als Stockhier verwenden Der AugenElement, brauche. In dem Moment, dem ich blick, das in demich man den Entschluss gefasst hat, sich solcherartin umzusehen, hat erklärt nicht allein zur Folge, ist daß sich dasdie bisherige Ausblicken auf deneindir das habe, mir andere Lösung Wald vollkommen daß sich das Aussehen Waldes gefallen, da hab’ verändert, ich siesondern irgendwie vor mirdes gesehen. ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Das fand ich auch interessant.“ 18 Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“
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Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
E2/Marcel 42 Jahre, Illustrator
18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materialien als jener der Gegenstände zugeordnet, und rufen so ohnehin oft zum freien Verwenden und Gestalten auf.19 Sie besitzen keine mit den Dingen des Gebrauchs vergleichbaren Zweckbestimmungen, welche es beim Instrumentalisieren erst zu überwinden gilt. So bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben Äste als Stock: „Menschen begannen spätestens seit der Steinzeit, in der Natur vorgefundene Materialien mit dem Ziel der Verbesserung von Überlebensstrategien einzusetzen: (…) Insofern verbindet sich der Impuls zu Problemlösungen mit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes und Gegebenes für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“20 Das Instrumentalisieren der Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst.
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Doch wie genau kommt es zu diesem freiheitlichen Akt? In Momenten der bewussten Umnutzung vergessen wir nicht etwa, welche Funktionen die Gegenstände ihrer Intention nach besitzen, dennoch betrachten wir sie gewissermaßen mit anderen Augen, mit einem fremden Blick.
* Der britische Naturforscher Sir Francis Galton beschäftigte sich in seiner Forschung Mitte des 19. Jh mit dem „visuellen Denken“, einer seiner Meinung nach essentiellen Fertigkeit bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme, und setzte sich für die „Weiterentwicklung und Nutzbarmachung der Vorstellungskraft“ ein.
„Instrumentalisierung setzt die Fähigkeit voraus, Verwendungsmöglichkeiten zu erkennen: Ein potentieller Benutzer folgt beim Instrument nie einfach Gebrauchsregeln. Das Befolgen von Regeln setzt bereits voraus, dass er die besondere mentale Disposition besitzt, ein Objekt als etwas anderes Helmar Schramm: zu sehen.“ „Instrumente in Kunst und Wissenschaft“
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Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich besteht eine Verwandtschaft zwischen den Worten Improvisation und Vision. Die Suche nach der Lösung des Problems funktioniert durch ein verändertes Hinschauen, durch eine bewusste Suchmaske, mit der wir die Umgebung und alle uns umgebenden Gegenstände „scannen“. Der Moment, indem wir zu suchen beginnen, bewirkt, dass sich nicht nur unsere Wahrnehmung der Umwelt, sondern vielmehr auch die Umwelt selbst zu wandeln scheint: „Man geht einen ansteigenden Waldweg hinauf und sieht um sich, um einen Ast zu finden, den man als Stock verwenden könnte. Der Augenblick, in dem man den Entschluss gefasst hat, sich solcherart umzusehen, hat nicht allein zur Folge, daß sich das bisherige Ausblicken auf den Wald vollkommen verändert, sondern daß sich das Aussehen des Waldes ebenso vollkommen verändert. Ein Beispiel dafür, dass der Anblick eines Dings davon abhängt, wie wir es ansehen.“18 Für das jeweilige Problem entsteht im Kopf, vor dem inneren Auge,* eine Lösungsidee, ein Muster, welches umherblickend mit den uns umgebenden Gegenständen abgeglichen wird. Diese Suche kann die Suche nach einer bestimmten Form sein, nach etwas mit einer gewissen Materialität oder Oberflächenbeschaffenheit, die Suche nach einem Ding bestimmten Gewichts, Länge oder Größe. Dabei ist der eigentliche, spezifische Zweck des Dings selbst völlig irrelevant, solange es eben derart beschaffen ist, dass es sich für uns in einer bestimmten Situation zur Bewältigung eines bestimmten Problems anbietet. So ändert sich schließlich das Ausblicken auf die Umwelt: Wir sehen die Dinge nicht mehr als das, was sie sein sollen oder was sie uns vorgeben zu sein. In Momenten der Improvisation oder bewussten
18 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 63
Umnutzung kommt es zu einer Auflösung der gewohnten Mischung aus Erscheinung, intendiertem Zweck, Konventionen und kulturellen Vorstellungen, die den herkömmlichen Gebrauch der Gegenstände prägt. In diesen Momenten gelingt es uns, Dinge wahrlich nur noch als die Summe ihrer Eigenschaften zu betrachten, wir sehen sie also nunmehr einfach als das, was sie sind. Nachdem durch eine derart freie Betrachtungsweise der uns umgebenden Gegenständen deren gängige Zweckvorgaben quasi aufgehoben wurden, schrumpfen auch die Vorschriften, die uns das Ding macht. Unser Handlungsspielraum ist hingegen beträchtlich gewachsen: Alles, was man sich ausdenkt, mit einem Gegenstand assoziiert, alles was seine Materialeigenschaften zulassen, ist plötzlich möglich.
Foto: Architekturbüro Kornmeyer
Die „Umnutzung“ ist ein Begriff aus dem Bereich des Baurechts. Jedes Gebäude hat eine genehmigte Nutzart – Wohnhaus, Museum, Bahnhof. Bestehende aber ungenutze Gebäude können durch das Umnutzen einem neuen Zweck zugeführt werden.
Viel unmittelbarer ist dieses Phänomen noch, betrachtet man Objekte der Natur: Sie sind für uns viel intuitiver der Kategorie der Materialien als jener der Gegenstände zugeordnet, und rufen so ohnehin oft zum freien Verwenden und Gestalten auf.19 Sie besitzen keine mit den Dingen des Gebrauchs vergleichbaren Zweckbestimmungen, welche es beim Instrumentalisieren erst zu überwinden gilt. So bauen wir Burgen aus Sand, Männer aus Schnee oder nutzen eben Äste als Stock: „Menschen begannen spätestens seit der Steinzeit, in der Natur vorgefundene Materialien mit dem Ziel der Verbesserung von Überlebensstrategien einzusetzen: (…) Insofern verbindet sich der Impuls zu Problemlösungen mit einer uralten Fähigkeit des Menschen, Gefundenes und Gegebenes für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.“20 Das Instrumentalisieren der Umwelt ist also beinahe so alt wie der Mensch selbst.
19 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 32 20 Brandes, Uta (et al.): Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphose der Dinge, Basel 2009, S. 10
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Betrachtet man Gegenstände also vornehmlich als Materialien, so sind sie auch in allererster Linie Stoffe oder Teile, die als „Mittelzu-Etwas“ dienen. In dieser Hinsicht verwundert es auch gar nicht, wenn beispielsweise Dinge wie Bücher, wohl aufgrund der Analogie zu Bausteinen, häufig eine Zweckentfremdung erfahren. Ob einzeln als Türstopper genutzt, gestapelt als Tritt zum Erreichen von Höhergelegenem oder als Beistelltisch neben dem Lesesessel, als Briefbeschwerer oder als Blumenpresse umfunktioniert, scheinen ihre Verwendungsmöglichkeiten schier unbegrenzt. Heinz Erhardt etwa beginnt die Einleitung seines großen Gesamtwerks mit begrüßenden Worten unter dem Titel „Leitanweisung oder Gebrauchsfaden für die Benutzung des vorliegenden Buches“. Dort veröffentlicht er Tips und Richtlinien zur Verwendung von Büchern, und erst im letzten Seitendrittel zählt er das Lesen derselben auf.21
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Hat man ein unkonventionelles Problem zu bewältigen, findet also eine eigenschaftenspezifische Suche statt. Diese kann sowohl frei umherblickend als auch durch gezieltes Nachdenken zum Erfolg führen. Doch genau wie der „richtige“ Gebrauch von Dingen oftmals unbewusst verläuft, steuert sich manches Mal auch der „falsche“ – sprich der instrumentalisierte Gebrauch – durch ganz ähnlich ablaufende unterbewusste Prozesse: Das Lineal zum Rückenkratzen, ein Bleistift als Lesezeichen, der langgezogene Ärmel als Topflappenersatz, all das können Automatismen sein. Zum einen kann dies an einer bereits vonstatten gegangenen Gewöhnung, an der „Übung“ liegen, oder aber es liegt daran, dass – wie Flusser behauptet – es sich schlicht um „die menschliche Fähigkeit“22 schlechthin handelt.
21 Vgl.: Erhardt, Heinz: Das große Heinz-Erhardt-Buch, Gütersloh 1972, S. 6 22 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, a.a.O., S. 17
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Natürlich gibt es auch hier Gegenbewegungen: Veranstaltungen zum gemeinsamen und angeleiteten Reparieren bieten die sog. Repair Cafés (www.repaircafe.org) und im Internet finden sich von Nutzern für Nutzer erstellte Reparaturanleitungen für beinahe Alles (z.B. www.ifixit.com).
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Bei einer rational ausgelegten Betrachtungsweise von improvisierten Problemlösungsstrategien lassen sich einige ökonomische Aspekte entdecken. Auf welche Art können diese Ausdruck finden? Wo kommen ihre Auswirkungen zum Tragen und wie weitreichend können sie sein? Wenn wir auf ein Problem treffen und ein konventioneller Lösungsweg aus bestimmten Gründen gerade nicht möglich ist, brilliert die Improvisation oft damit, dass sie mit Zuhandenem arbeiten kann. Das Zuhandene meint dabei die Verwendung von Objekten, welche sich schon in unserem Besitz befinden oder im unmittelbaren Umfeld vorhanden sind. Geht uns beispielsweise etwas zu Bruch – oder stellen wir fest, dass etwas fehlt, das wir aber genau jetzt dringend bräuchten – erfahren wir schnelle Abhilfe durch improvisatorische Problemlösung – auch außerhalb von Ladenöffnungszeiten. Wirtschaftlich gesehen kann hier für denjenigen, der sich einer solchen Lösungsvariante bedient, ein finanzieller Vorteil ausgemacht werden. Und tatsächlich kommen viele Improvisationen aus genau jenem Grund zustande: Das Einsparen einer Besorgung, Neuanschaffung oder Reparatur. Allein die eigene Interaktion im Kreislauf bereits angeschaffter Materie steht zwischen Problem und Lösung. Nicht selten kommen dabei Elemente zum Einsatz, die schon als Abfall galten, denen nun aber gewissermaßen ein zweites Leben geschenkt wird. Ein derartiges Improvisieren kann daher auch im Kontext der Ressourcenschonung eine wichtige Rolle spielen – besonders in Zeiten des stetigen Wachstums, in denen eigenhändige Modifikationen wie die der Reparatur nicht mehr zu den populärsten Techniken unserer kulturellen Praxis zu gehören scheinen.+Die Untersuchung des Konsumverhaltens stellt schon lange einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der Sozialwissenschaften dar, und Forscher üben in recht einheitlichem Kanon Kritik an der in den Industriestaaten weitverbreiteten Wegwerfmentalität.
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„Meine Frau bekam von ihrer Schwester eine kleine Espressomaschine geschenkt. Nach einigen Tagen fiel das Kännchen runter und der Plastikgriff brach ab. Da war meine Frau ganz traurig, so dass ich mich spontan bereit erklärte, das Maschinchen zu reparieren. Zwischen dem Unfall und der Reparatur lagen dann nur Stunden. Ich habe das Gesicht meiner Frau gesehen und dann wusste ich, ich muss was unternehmen ... Und da war die erste Idee, das aus Holz zu machen, dann ist es auch eine solide Sache. Zum Glück hatte ich noch einige Holzreste in der Garage, darunter ein Stück Buchenholz. Wir haben damals, als wir unser Haus aufgestockt haben, eine neue Treppe montiert, das ganze Holz der alten Treppe aber aufgehoben ... Das Haus wurde Anfang der sechziger Jahre gebaut, die Treppe war also noch nicht besonders alt und auch aus abgelagertem, guten Buchenholz.
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Solches Holz verzieht sich ja nicht mehr großartig, sowas wirft man ja nicht weg. Naja, also: Die Bruchstücke des alten Griffs habe ich dann wieder zusammengelegt und als Schablone benutzt. Das habe ich dann grob ausgesägt und dann mit Feile und Schmirgelpapier so lange bearbeitet, bis es genau gepasst hat. Und da Holz ein schlechter Wärmeleiter ist, hat die Espressomaschine auch gut funktioniert. Bei einer rational ausgelegten Betrachtungsweise von improvisierten Problemlösungsstrategien lassen sich einige ökonomische Aspekte Da ich aber alles perfekt machen will - wer ist entdecken. Auf welche Art können diese Ausdruck finden? Wo denn heute noch so geartet - habe ich den Holzkommen ihre Auswirkungen zum Tragen und wie weitreichend griff mit Olivenöl bearbeitet. Damit sah das können sie sein? unlackierte Holz gleich viel besser aus. Pech nur,Wenn dass der auf wirbeim auf ein Erhitzen Problem treffen und Espressomaschine ein konventioneller Lösungsder weg Herdplatte das Olivenöl heiß wurde und veraus bestimmten Gründen gerade nicht möglich ist, brilliert die Improvisation oft damit, dass sie mit Zuhandenem arbeiten kann. so dampfte ... Das Kännchen war nicht anzufassen, Das Zuhandene meint dabei die Verwendung von Objekten, heiß wurde das Öl. Beim ersten Versuch habewelche ich sich schon in unserem Besitz befinden oder im unmittelbaren mir zwei Brandblasen an die Finger geholt. Hätte Umfeld vorhanden sind. Geht uns beispielsweise etwas zu Bruch ich –nicht gedacht, dass das wird. Naja, oder stellen wir fest, dass etwas fehlt,Öl dasso wir heiß aber genau jetzt drinda lernt man was. Gott Dank war dasimprovisatoriÖl nach gend bräuchten – erfahren wirsei schnelle Abhilfe durch dem sche sechsten oder –siebten Espresso aber verdampft. Problemlösung auch außerhalb von Ladenöffnungszeiten. Danach konnte man wieder gefahrlos Espresso Wirtschaftlich kann Finger hier für denjenigen, der sich einer solchen kochen, ohne gesehen sich die zu verbrennen.“ Lösungsvariante bedient, ein finanzieller Vorteil ausgemacht werden. Und tatsächlich kommen viele Improvisationen aus genau jenem Grund zustande: Das Einsparen einer Besorgung, Neuanschaffung oder Reparatur. Allein die eigene Interaktion im Kreislauf bereits angeschaffter Materie steht zwischen Problem und Lösung. Nicht selten kommen dabei Elemente zum Einsatz, die schon als Abfall galten, denen nun aber gewissermaßen ein zweites Leben geschenkt wird. Ein derartiges Improvisieren kann daher auch im Kontext der Ressourcenschonung eine wichtige Rolle spielen – besonders in Zeiten des stetigen Wachstums, in denen eigenhändige Modifikationen wie die der Reparatur nicht mehr zu den populärsten Techniken unserer kulturellen Praxis zu gehören scheinen.+Die Untersuchung des Konsumverhaltens stellt schon lange einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der Sozialwissenschaften dar, und Forscher üben in recht einheitlichem Kanon Kritik an der in 53 Jahre, Bundesangestellter den Industriestaaten weitverbreiteten Wegwerfmentalität.
E2
„Ich bin der totale Pragmat ... (verlässt die Küche, um etwas zu suchen, kehrt zurück) Aber gerade bin ich ein Pragmat ohne Gaffatape, deshalb muss ich mir was anderes überlegen. Die erste Idee war, ich hole Gaffatape und klebe das einfach. Das mache ich bei allen Sachen, die kaputtgehen – kleben. Die zweite Idee war dann, irgendwas zu finden, wo man das Glas abstellen kann. Erst dachte ich an einen Blumentopf, damit es richtig da drin steckt. Aber dann hatte ich im Schrank diese Flasche auf Augenhöhe und dachte, die nehm’ ich, die geht ja auch. Was ich daran so gut finde ist, dass beides aus Glas ist. Die Flasche kann ja auch wieder kaputt geh’n, also, sie soll es ja sogar – ist ja so eine Einwegflasche, da war mal Tomatensoße drin. So habe ich aus zwei Abfallprodukten ein Ganzes gemacht. Das finde ich daran gut. Und ... ich finde gut, dass das jetzt auch so geht ... (versucht, freihändig aus dem Glas zu trinken – lacht) nee, geht doch nicht. Aber man könnte auch damit anstoßen, so ein bisschen (simuliert ein Anstoßen) und ja, ich find’s eigentlich ganz schön.
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Wie das für mich war? Naja, so was ist sehr befriedigend, wenn es denn geht. Also, dann denkt man sich: okay! Aber es wäre alles noch viel lustiger, wenn man betrunken wäre. Dann wäre auch ganz sicher, dass man damit irgendwann anstoßen wollen würde, und dann würd’s richtig kaputt gehen und überall wäre Rotwein. Hier an der Wand haben wir auch Rotweinflecken ... einer rational Betrachtungsweise (lacht)BeiSowas gehtausgelegten ja immer schnell.“ von improvisierten Problemlösungsstrategien lassen sich einige ökonomische Aspekte entdecken. Auf welche Art können diese Ausdruck finden? Wo kommen ihre Auswirkungen zum Tragen und wie weitreichend können sie sein?
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Wenn wir auf ein Problem treffen und ein konventioneller Lösungsweg aus bestimmten Gründen gerade nicht möglich ist, brilliert die Improvisation oft damit, dass sie mit Zuhandenem arbeiten kann. Das Zuhandene meint dabei die Verwendung von Objekten, welche sich schon in unserem Besitz befinden oder im unmittelbaren Umfeld vorhanden sind. Geht uns beispielsweise etwas zu Bruch – oder stellen wir fest, dass etwas fehlt, das wir aber genau jetzt dringend bräuchten – erfahren wir schnelle Abhilfe durch improvisatorische Problemlösung – auch außerhalb von Ladenöffnungszeiten. Wirtschaftlich gesehen kann hier für denjenigen, der sich einer solchen Lösungsvariante bedient, ein finanzieller Vorteil ausgemacht werden. Und tatsächlich kommen viele Improvisationen aus genau jenem Grund zustande: Das Einsparen einer Besorgung, Neuanschaffung oder Reparatur. Allein die eigene Interaktion im Kreislauf bereits angeschaffter Materie steht zwischen Problem und Lösung. Nicht selten kommen dabei Elemente zum Einsatz, die schon als Abfall galten, denen nun aber gewissermaßen ein zweites Leben geschenkt wird. Ein derartiges Improvisieren kann daher auch im Kontext der Ressourcenschonung eine wichtige Rolle spielen – besonders in Zeiten des stetigen Wachstums, in denen eigenhändige Modifikationen wie die der Reparatur nicht mehr zu den populärsten Techniken unserer kulturellen Praxis zu gehören scheinen.+Die Untersuchung des Konsumverhaltens stellt schon lange einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der Sozialwissenschaften dar, und Forscher üben in recht einheitlichem Kanon Kritik an der in 27 Jahre, Creative Director den Industriestaaten weitverbreiteten Wegwerfmentalität.
E2/Sophia
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Natürlich gibt es auch hier Gegenbewegungen: Veranstaltungen zum gemeinsamen und angeleiteten Reparieren bieten die sog. Repair Cafés (www.repaircafe.org) und im Internet finden sich von Nutzern für Nutzer erstellte Reparaturanleitungen für beinahe Alles (z.B. www.ifixit.com).
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Bei einer rational ausgelegten Betrachtungsweise von improvisierten Problemlösungsstrategien lassen sich einige ökonomische Aspekte entdecken. Auf welche Art können diese Ausdruck finden? Wo kommen ihre Auswirkungen zum Tragen und wie weitreichend können sie sein? Wenn wir auf ein Problem treffen und ein konventioneller Lösungsweg aus bestimmten Gründen gerade nicht möglich ist, brilliert die Improvisation oft damit, dass sie mit Zuhandenem arbeiten kann. Das Zuhandene meint dabei die Verwendung von Objekten, welche sich schon in unserem Besitz befinden oder im unmittelbaren Umfeld vorhanden sind. Geht uns beispielsweise etwas zu Bruch – oder stellen wir fest, dass etwas fehlt, das wir aber genau jetzt dringend bräuchten – erfahren wir schnelle Abhilfe durch improvisatorische Problemlösung – auch außerhalb von Ladenöffnungszeiten. Wirtschaftlich gesehen kann hier für denjenigen, der sich einer solchen Lösungsvariante bedient, ein finanzieller Vorteil ausgemacht werden. Und tatsächlich kommen viele Improvisationen aus genau jenem Grund zustande: Das Einsparen einer Besorgung, Neuanschaffung oder Reparatur. Allein die eigene Interaktion im Kreislauf bereits angeschaffter Materie steht zwischen Problem und Lösung. Nicht selten kommen dabei Elemente zum Einsatz, die schon als Abfall galten, denen nun aber gewissermaßen ein zweites Leben geschenkt wird. Ein derartiges Improvisieren kann daher auch im Kontext der Ressourcenschonung eine wichtige Rolle spielen – besonders in Zeiten des stetigen Wachstums, in denen eigenhändige Modifikationen wie die der Reparatur nicht mehr zu den populärsten Techniken unserer kulturellen Praxis zu gehören scheinen.+Die Untersuchung des Konsumverhaltens stellt schon lange einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der Sozialwissenschaften dar, und Forscher üben in recht einheitlichem Kanon Kritik an der in den Industriestaaten weitverbreiteten Wegwerfmentalität.
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Ein derartiges Verhalten prägt unsere moderne Gesellschaft, wird durch ständig wechselnde Moden weiter verstärkt und hat einen hohen Ressourcenverbrauch zur Folge23: „Die Bindung zwischen Konsument und Ware nimmt ab und der moralische Verschleiß ersetzt den physischen in nahezu allen Bereichen des Daseins“.24 Das ständige Wegwerfen und Neukaufen liegt nicht nur in wechselnden Moden, sondern oft auch darin begründet, dass viele Güter nicht mehr auf Haltbarkeit ausgelegt sind. So hat sich seit den 1920er Jahren bei Herstellern und Ingenieuren ein auffälliger Paradigmenwechsel vollzogen: Sah es die „alte Schule“ noch als ihre Aufgabe an, Haltbares zu produzieren, wurden die darauffolgenden Generationen nun überwiegend durch den Markt gesteuert.25 Der so entstandene kalkulierte und vorzeitige Verschleiß trägt den Namen „geplante Obsoleszenz“. Es liegt auf der Hand, dass unsere Wachstumsgesellschaft kein Zukunftsmodell darstellt, da sie letztlich auf einem Paradoxon beruht. In den Worten des französischen Ökonoms und Philosophs Serge Latouche gesprochen, lässt sich dieser Widerspruch folgendermaßen zusammenfassen: „An grenzenloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen glauben nur Verrückte und Ökonomen. Leider sind wir mittlerweile alle Ökonomen.“26 98
Das langfristige Nutzen von Gegenständen, die uns bereits umgeben, das Reparieren, Modifizieren, Zweckentfremden, das Weiterverwerten, schließlich das Erhalten der Dinge, erweist sich also nicht nur in finanzieller Hinsicht als clever, sondern kann auf Dauer auch generell zu einer ressourcenschonenden Alltagspraxis führen. Diese Dopplung spiegelt sich auch im englischen Wort „resourcefulness“ wider, was im Deutschen mit „Findigkeit“ und „Einfallsreichtum“ übersetzt wird.27 Der Improvisation ist als Werkzeug zur Kosteneinsparung und Problembewältigungsmethode in Notsituationen eine lange Geschichte nachzuweisen – als Sinnbilder fallen der Selbermacher und das Provisorium ein. Das Provisorium definiert sich klassischerweise als einstweiliger Notbehelf, als Überbrückungslösung, die nur vorläufig und behelfsmäßig ist.28 So bringt uns ein Problem als zwingender Moment zu dem Entschluss, die Situation „jetzt erstmal“ so zu lösen – was bedeutet, unter den
23 Vgl.: Schramm, Manuel: „Konsumgeschichte“, auf: www.docupedia.de, 2012 24 Ahaus, Björn; (et al., Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a. M. 2011, S. 115 25 Vgl.: Dannoritzer, Cosima: The Light Bulb Conspiracy, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 26 ebd. 27 „resourcefulness“ in: PONS GmbH: Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Veränd. Neuaufl. , Stuttgart 2008, S. 312 28 Vgl.: „Provisorium“ in: Bibliographisches Institut: Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1996
* Gerade der Nylonstrumpf als durabler Helfer ist jedoch im Laufe seines Lebens immer unzuver lässiger geworden. Nachdem der Markt 1940 von den neuen Strümpfen überflutet wurde, war die Nachfrage schnell gesättigt, da die robuste Nylonfaser „zu lange“ hielt. Der Hersteller DuPont ließ die Faser abwandeln, um einen rascheren Verschleiß zu erzielen. Neben der Glühbirne [in einer kalifornischen Feuerwache gibt es im Übrigen ein sehr frühes, noch „zu lange“haltbares Exemplar, das seit über 1oo Jahren brennt. (www.centennialbulb.org)] ist auch der Nylonstrumpf so zum „Wahrzeichen“ geplanter Obsoleszenz geworden.
gegebenen Umständen und mit den vorhandenen Mitteln eine zweckdienliche Lösung zu finden. Dabei kann nicht nur die Limitierung der Mittel, sondern oft auch jene der Zeit dazu führen, dass die so gefundenen Lösungen „durch Klarheit und Einfachheit überzeugen“.29 Als Paradebeispiel für eine derartige Lösungsstrategie lässt sich der Nylonstrumpf *nennen, der, zumindest bei PKW der älteren Generation, den gerissenen Keilriemen ersetzen und das Weiterfahren ermöglichen kann. Natürlich handelt es sich gerade in diesem Fall um ein Provisorium, das aus sicherheitstechnischen Gründen sobald als möglich durch das Normteil ausgetauscht werden sollte, doch in der Regel hält gerade das Provisorische am längsten – aus Bequemlichkeit, Gewohnheit oder weil es sich einfach bewährt. Historisches Beispiel hierfür ist unser Grundgesetz, dass 1949 eigentlich als vorläufiger Verfassungsersatz verabschiedet wurde, bis heute aber mit Ausnahme einiger Optimierungsmaßnahmen, genauso Bestand hat.
E3
In dieser Phase des Auf- und Umbruchs war das Provisorische jedoch politisch gewollt.
In der Geschichte Deutschlands begegnet uns derlei Einfallsreichtum des Öfteren, da durch ihn über lange Zeiträume finanzielle und materielle Defizite ausgeglichen wurden: Die Mangelgesellschaften in den Nachkriegszeiten sowie der DDR bewältigten viele ihrer Probleme durch die massenhafte Um- und Ausnutzung des Zuhandenen. Hatte die Bevölkerung in den Nachkriegszeiten mit existenzieller Armut zu kämpfen, ging es in der DDR seit den 1960er Jahren eher um eine Kompensation der mangelnden Produkt- und Materialvielfalt. Neben den vielen individuellen improvisatorischen Problemlösungen gab es auch Zeitschriften, die sich eigens mit diesem Thema auseinandersetzten. Die seit 1967 erscheinende „practic“ beispielsweise gab, mit reger Beteiligung der Leser, Tipps für Alltägliches, von der einfachen Umnutzung bis zur Bauanleitung. „Der Anlass das Geschenk ... also,ausdas ist für ’nen So wurde zumfür Beispiel berichtet, dass Reflektoren Aluminium auch als Backform sein können, wie man aus einem Kumpel. Da sinddienlich Blinker drin.oder Diese Angelköder. Das Fotostativ, einem Fön und einem Plastikeimer eine Trockenhaube ist ’ne Sammelbox. Ich habe einen leichten Bezug zum bauen kann.30 Geschenkeinhalt hergestellt durch die Beschriftung und die Wellenform des Wassers, die mit dem Geschenkpapier angedeutet wird. Es könnte auch Theodore ein Fluss Roosevelt Jr. sein, das lässt Interpretationsfreiraum. Am Anfang Eine derich wohlnoch berühmtesten undwie’s kleinsten wusste nicht, amMangelgesellschaften Ende aussieht. Das der Literatur, finden wir in Daniel Dafoes „Robinson mit dem Reißen, das ist ein KlassikerCrusoe“ bei . mir: die Zwar wurde das Werk bereits im 18. Jahrhundert verfasst, jedoch Risstechnik. So. Und dann wird das nämlich nur teilthematisierte es schon damals eine Problematik, die uns bis heute weise verpackt. Ich hatte auch erst Sorge, dass der Platz für die Schrift nicht reicht. Hat aber gerade so gepasst, echt knapp.
„Do what you can, with what you have, where you are.“
29 Vgl.: Havemann, Antje: „Was können Provisorien?“ in: derive - Zeitschrift für Stadtforschung, Ausgabe 21/22, Wien 2006 30 Vgl.: Brandes, Uta; (et al.): Design durch Gebrauch, a.a.O., S.42 f.
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Ein derartiges Verhalten prägt unsere moderne Gesellschaft, wird durch ständig wechselnde Moden weiter verstärkt und hat einen hohen Ressourcenverbrauch zur Folge23: „Die Bindung zwischen Konsument und Ware nimmt ab und der moralische Verschleiß ersetzt den physischen in nahezu allen Bereichen des Daseins“.24 Dieses Klebeband benutze ich ganz gerne zum Verpacken. Dasmit ständige undhabe Neukaufen nicht nur in wechUnd das derWegwerfen Schrift ich liegt auch schon ein paar selnden Moden, sondern oft auch darin begründet, dass mal gemacht, ,Herzlichen Glückwunsch‘ oder viele so habe Güter nicht mehr auf Haltbarkeit ausgelegt sind. So hat sich seit ich damit geschrieben. Und da es ja ein Anglerbedarf den 1920er Jahren bei Herstellern und Ingenieuren ein auffälliger ist, kam da Petri Heil drauf. Petri Heil,noch mit AusParadigmenwechsel vollzogen: Sah es die „alte Schule“ als ihre rufezeichen. Ich hatte irgendwie Gefühl, dass Aufgabe an, Haltbares zu produzieren, wurdendas die darauffolgenden 25 gut. ich das schnellnun machen muss. Aber das war auch Generationen überwiegend durch den Markt gesteuert. Der soschnell entstandeneimprovisieren. kalkulierte und vorzeitige Verschleiß trägt denauch Man muss Vielleicht hat Namen „geplante Obsoleszenz“. dieser Zeitdruck ein bisschen zur Idee verholfen. Das Es liegt auf der Hand, dass unsere Wachstumsgesellschaft kein läuft bei mir immer so. Auch wenn ich Stunden vorZukunftsmodell darstellt, da sie letztlich auf einem Paradoxon her weiss, dades noch ’was verpacken muss, beruht. dass In den ich Worten französischen Ökonoms und Philo-mach’ ich’s immer erst kurzgesprochen, vorher.lässt Die vor Weihnachsophs Serge Latouche sichNacht dieser Widerspruch ten ist jedes Jahr stressig.“ „An grenzenloses Wachstum auf folgendermaßen zusammenfassen: einem Planeten mit begrenzten Ressourcen glauben nur Verrückte und Ökonomen. Leider sind wir mittlerweile alle Ökonomen.“26 100
Das langfristige Nutzen von Gegenständen, die uns bereits umgeben, das Reparieren, Modifizieren, Zweckentfremden, das Weiterverwerten, schließlich das Erhalten der Dinge, erweist sich also nicht nur in finanzieller Hinsicht als clever, sondern kann auf Dauer auch generell zu einer ressourcenschonenden Alltagspraxis führen. Diese Dopplung spiegelt sich auch im englischen Wort „resourcefulness“ wider, was im Deutschen mit „Findigkeit“ und „Einfallsreichtum“ übersetzt wird.27 Der Improvisation ist als Werkzeug zur Kosteneinsparung und Problembewältigungsmethode in Notsituationen eine lange Geschichte nachzuweisen – als Sinnbilder fallen der Selbermacher und das Provisorium ein. Das Provisorium definiert sich klassischerweise als einstweiliger Notbehelf, als Überbrückungslösung, die nur vorläufig und behelfsmäßig ist.28 So bringt uns ein Problem als zwingender Moment zu dem Entschluss, die Situation „jetzt erstmal“ so zu lösen – was bedeutet, unter den
23 Vgl.: Schramm, Manuel: „Konsumgeschichte“, auf: www.docupedia.de, 2012 24 Ahaus, Björn; (et al., Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a. M. 2011, S. 115 25 Vgl.: Dannoritzer, Cosima: The Light Bulb Conspiracy, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 32 Jahre, Erzieher 26 ebd. 27 „resourcefulness“ in: PONS GmbH: Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Veränd. Neuaufl. , Stuttgart 2008, S. 312 28 Vgl.: „Provisorium“ in: Bibliographisches Institut: Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1996
E3/Niklas
In dieser Phase des Auf- und Umbruchs war das Provisorische jedoch politisch gewollt.
In der Geschichte Deutschlands begegnet uns derlei Einfallsreichtum des Öfteren, da durch ihn über lange Zeiträume finanzielle und materielle Defizite ausgeglichen wurden: Die Mangelgesellschaften in den Nachkriegszeiten sowie der DDR bewältigten viele ihrer Probleme durch die massenhafte Um- und Ausnutzung des Zuhandenen. Hatte die Bevölkerung in den Nachkriegszeiten mit existenzieller Armut zu kämpfen, ging es in der DDR seit den 1960er Jahren eher um eine Kompensation der mangelnden Produkt- und Materialvielfalt. Neben den vielen individuellen improvisatorischen Problemlösungen gab es auch Zeitschriften, die sich eigens mit diesem Thema auseinandersetzten. Die seit 1967 erscheinende „practic“ beispielsweise gab, mit reger Beteiligung der Leser, Tipps für Alltägliches, von der einfachen Umnutzung bis zur Bauanleitung. So wurde zum Beispiel berichtet, dass Reflektoren aus Aluminium auch als Backform dienlich sein können, oder wie man aus einem Fotostativ, einem Fön und einem Plastikeimer eine Trockenhaube bauen kann.30
„Do what you can, with what you have, where you are.“ Theodore Roosevelt Jr. Eine der wohl berühmtesten und kleinsten Mangelgesellschaften der Literatur, finden wir in Daniel Dafoes „Robinson Crusoe“. Zwar wurde das Werk bereits im 18. Jahrhundert verfasst, jedoch thematisierte es schon damals eine Problematik, die uns bis heute
* Gerade der Nylonstrumpf als durabler Helfer ist jedoch im Laufe seines Lebens immer unzuver lässiger geworden. Nachdem der Markt 1940 von den neuen Strümpfen überflutet wurde, war die Nachfrage schnell gesättigt, da die robuste Nylonfaser „zu lange“ hielt. Der Hersteller DuPont ließ die Faser abwandeln, um einen rascheren Verschleiß zu erzielen. Neben der Glühbirne [in einer kalifornischen Feuerwache gibt es im Übrigen ein sehr frühes, noch „zu lange“haltbares Exemplar, das seit über 1oo Jahren brennt. (www.centennialbulb.org)] ist auch der Nylonstrumpf so zum „Wahrzeichen“ geplanter Obsoleszenz geworden.
gegebenen Umständen und mit den vorhandenen Mitteln eine zweckdienliche Lösung zu finden. Dabei kann nicht nur die Limitierung der Mittel, sondern oft auch jene der Zeit dazu führen, dass die so gefundenen Lösungen „durch Klarheit und Einfachheit überzeugen“.29 Als Paradebeispiel für eine derartige Lösungsstrategie lässt sich der Nylonstrumpf *nennen, der, zumindest bei PKW der älteren Generation, den gerissenen Keilriemen ersetzen und das Weiterfahren ermöglichen kann. Natürlich handelt es sich gerade in diesem Fall um ein Provisorium, das aus sicherheitstechnischen Gründen sobald als möglich durch das Normteil ausgetauscht werden sollte, doch in der Regel hält gerade das Provisorische am längsten – aus Bequemlichkeit, Gewohnheit oder weil es sich einfach bewährt. Historisches Beispiel hierfür ist unser Grundgesetz, dass 1949 eigentlich als vorläufiger Verfassungsersatz verabschiedet wurde, bis heute aber mit Ausnahme einiger Optimierungsmaßnahmen, genauso Bestand hat.
29 Vgl.: Havemann, Antje: „Was können Provisorien?“ in: derive - Zeitschrift für Stadtforschung, Ausgabe 21/22, Wien 2006 30 Vgl.: Brandes, Uta; (et al.): Design durch Gebrauch, a.a.O., S.42 f.
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Ein derartiges Verhalten prägt unsere moderne Gesellschaft, wird durch ständig wechselnde Moden weiter verstärkt und hat einen hohen Ressourcenverbrauch zur Folge23: „Die Bindung zwischen Konsument und Ware nimmt ab und der moralische Verschleiß ersetzt den physischen in nahezu allen Bereichen des Daseins“.24 Das ständige Wegwerfen und Neukaufen liegt nicht nur in wechselnden Moden, sondern oft auch darin begründet, dass viele Güter nicht mehr auf Haltbarkeit ausgelegt sind. So hat sich seit den 1920er Jahren bei Herstellern und Ingenieuren ein auffälliger Paradigmenwechsel vollzogen: Sah es die „alte Schule“ noch als ihre Aufgabe an, Haltbares zu produzieren, wurden die darauffolgenden Generationen nun überwiegend durch den Markt gesteuert.25 Der so entstandene kalkulierte und vorzeitige Verschleiß trägt den Namen „geplante Obsoleszenz“. Es liegt auf der Hand, dass unsere Wachstumsgesellschaft kein Zukunftsmodell darstellt, da sie letztlich auf einem Paradoxon beruht. In den Worten des französischen Ökonoms und Philosophs Serge Latouche gesprochen, lässt sich dieser Widerspruch folgendermaßen zusammenfassen: „An grenzenloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen glauben nur Verrückte und Ökonomen. Leider sind wir mittlerweile alle Ökonomen.“26 102
Das langfristige Nutzen von Gegenständen, die uns bereits umgeben, das Reparieren, Modifizieren, Zweckentfremden, das Weiterverwerten, schließlich das Erhalten der Dinge, erweist sich also nicht nur in finanzieller Hinsicht als clever, sondern kann auf Dauer auch generell zu einer ressourcenschonenden Alltagspraxis führen. Diese Dopplung spiegelt sich auch im englischen Wort „resourcefulness“ wider, was im Deutschen mit „Findigkeit“ und „Einfallsreichtum“ übersetzt wird.27 Der Improvisation ist als Werkzeug zur Kosteneinsparung und Problembewältigungsmethode in Notsituationen eine lange Geschichte nachzuweisen – als Sinnbilder fallen der Selbermacher und das Provisorium ein. Das Provisorium definiert sich klassischerweise als einstweiliger Notbehelf, als Überbrückungslösung, die nur vorläufig und behelfsmäßig ist.28 So bringt uns ein Problem als zwingender Moment zu dem Entschluss, die Situation „jetzt erstmal“ so zu lösen – was bedeutet, unter den
23 Vgl.: Schramm, Manuel: „Konsumgeschichte“, auf: www.docupedia.de, 2012 24 Ahaus, Björn; (et al., Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a. M. 2011, S. 115 25 Vgl.: Dannoritzer, Cosima: The Light Bulb Conspiracy, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 26 ebd. 27 „resourcefulness“ in: PONS GmbH: Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Veränd. Neuaufl. , Stuttgart 2008, S. 312 28 Vgl.: „Provisorium“ in: Bibliographisches Institut: Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1996
In dieser Phase des Auf- und Umbruchs war das Provisorische jedoch politisch gewollt.
* Gerade der Nylonstrumpf als durabler Helfer ist jedoch im Laufe seines Lebens immer unzuver lässiger geworden. Nachdem der Markt 1940 von den neuen Strümpfen überflutet wurde, war die Nachfrage schnell gesättigt, da die robuste Nylonfaser „zu lange“ hielt. Der Hersteller DuPont ließ die Faser abwandeln, um einen rascheren Verschleiß zu erzielen. Neben der Glühbirne [in einer kalifornischen Feuerwache gibt es im Übrigen ein sehr frühes, noch „zu lange“haltbares Exemplar, das seit über 1oo Jahren brennt. (www.centennialbulb.org)] ist auch der Nylonstrumpf so zum „Wahrzeichen“ geplanter Obsoleszenz geworden.
gegebenen Umständen und mit den vorhandenen Mitteln eine zweckdienliche Lösung zu finden. Dabei kann nicht nur die Limitierung der Mittel, sondern oft auch jene der Zeit dazu führen, dass die so gefundenen Lösungen „durch Klarheit und Einfachheit überzeugen“.29 Als Paradebeispiel für eine derartige Lösungsstrategie lässt sich der Nylonstrumpf *nennen, der, zumindest bei PKW der älteren Generation, den gerissenen Keilriemen ersetzen und das Weiterfahren ermöglichen kann. Natürlich handelt es sich gerade in diesem Fall um ein Provisorium, das aus sicherheitstechnischen Gründen sobald als möglich durch das Normteil ausgetauscht werden sollte, doch in der Regel hält gerade das Provisorische am längsten – aus Bequemlichkeit, Gewohnheit oder weil es sich einfach bewährt. Historisches Beispiel hierfür ist unser Grundgesetz, dass 1949 eigentlich als vorläufiger Verfassungsersatz verabschiedet wurde, bis heute aber mit Ausnahme einiger Optimierungsmaßnahmen, genauso Bestand hat.
In der Geschichte Deutschlands begegnet uns derlei Einfallsreichtum des Öfteren, da durch ihn über lange Zeiträume finanzielle und materielle Defizite ausgeglichen wurden: Die Mangelgesellschaften in den Nachkriegszeiten sowie der DDR bewältigten viele ihrer Probleme durch die massenhafte Um- und Ausnutzung des Zuhandenen. Hatte die Bevölkerung in den Nachkriegszeiten mit existenzieller Armut zu kämpfen, ging es in der DDR seit den 1960er Jahren eher um eine Kompensation der mangelnden Produkt- und Materialvielfalt. Neben den vielen individuellen improvisatorischen Problemlösungen gab es auch Zeitschriften, die sich eigens mit diesem Thema Die seit 1967 erscheinende „Fehlen tut mirauseinandersetzten. auch immer mal wieder was. Als „practic“ beispielsweise gab, mit reger Beteiligung der Leser, Tipps für ich in meiner Dienststelle angefangen habe, Alltägliches, von der einfachen Umnutzung bis zur Bauanleitung. fehlte uns Tablett so etwasausähnliches, So wurde zumein Beispiel berichtet,oder dass Reflektoren Aluminium um auch gleichzeitig viersein oder fünf zwials Backform dienlich können, oderAktenordner wie man aus einem schen den einem Büros dem Archiv hin her zu Fotostativ, Fönund und einem Plastikeimer eineund Trockenhaube bauen kann. tragen. Wir30 haben eigentlich immer irgendwelche Kartons da gehabt, die man für den Aktentransport verwenden konnte. Aber oft sind die Theodore auch Roosevelt Jr. verschwunden, denn wenn irgendeiner Altpapier hatte, ist auch mal und wurde Eine der wohldas berühmtesten und darin kleinsten gelandet Mangelgesellschaften mitsamt demfinden Karton dann jemand der Literatur, wir inentsorgt. Daniel DafoesWenn „Robinson Crusoe“ . Zwar wurde das Werk bereits im 18. Jahrhundert verfasst, jedoch themaeinen Schwung Akten transportieren wollte, und tisiertemal es schon damals eine Problematik, uns bis heute derjewieder kein Karton da war, die dann musste nige sehen, wo er blieb. Wie schafft man das also, dass der Karton nicht immer weggeworfen wird?
„Do what you can, with what you have, where you are.“
29 Vgl.: Havemann, Antje: „Was können Provisorien?“ in: derive - Zeitschrift für Stadtforschung, Ausgabe 21/22, Wien 2006 30 Vgl.: Brandes, Uta; (et al.): Design durch Gebrauch, a.a.O., S.42 f.
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Ein derartiges Verhalten prägt unsere moderne Gesellschaft, wird durch ständig wechselnde Moden weiter verstärkt und hat einen hohen Ressourcenverbrauch zur Folge23: „Die Bindung zwischen Konsument und Ware nimmt ab und der moralische Verschleiß ersetzt Man den muss ihn in kennzeichnen. Ich dann aus dem 24 physischen nahezu allen Bereichen deshabe Daseins“. Supermarkt einen neuen Bananenkarton mitgebracht, ihn durch Aufkleber gekennzeichnet, damit Das ständige Wegwerfen und Neukaufen liegt nicht nur in wechselnden Moden, sondern oft auch darin begründet, dass viele ersichtlich ist, wozu er dient ... Und dank der Güter nicht mehrdurch auf Haltbarkeit ausgelegt sind.hat So hater’s sich seit Kennzeichnung die Aufkleber bis den 1920er Jahren bei Herstellern und Ingenieuren ein auffälliger heute geschafft. Mittlerweile hat der Karton sein Paradigmenwechsel vollzogen: Sah es die „alte Schule“ noch als ihre 25-jähriges Dienstjubiläum und wird Aufgabe an, Haltbares zu produzieren, hinter wurden diesich darauffolgenden 25 von Generationen allen Kolleginnen und Kollegen nun überwiegend durch den Marktgerne gesteuert.genutzt um Sachen damit zu transportieren. Damitträgt beweist Der so entstandene kalkulierte und vorzeitige Verschleiß den Namen „geplante Obsoleszenz“. sich die alte Weisheit: Nichts ist so beständig wie liegt auf der Hand, dass unsere Wachstumsgesellschaft kein ein Es Provisorium.“ Zukunftsmodell darstellt, da sie letztlich auf einem Paradoxon beruht. In den Worten des französischen Ökonoms und Philosophs Serge Latouche gesprochen, lässt sich dieser Widerspruch folgendermaßen zusammenfassen: „An grenzenloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen glauben nur Verrückte und Ökonomen. Leider sind wir mittlerweile alle Ökonomen.“26 104
Das langfristige Nutzen von Gegenständen, die uns bereits umgeben, das Reparieren, Modifizieren, Zweckentfremden, das Weiterverwerten, schließlich das Erhalten der Dinge, erweist sich also nicht nur in finanzieller Hinsicht als clever, sondern kann auf Dauer auch generell zu einer ressourcenschonenden Alltagspraxis führen. Diese Dopplung spiegelt sich auch im englischen Wort „resourcefulness“ wider, was im Deutschen mit „Findigkeit“ und „Einfallsreichtum“ übersetzt wird.27 Der Improvisation ist als Werkzeug zur Kosteneinsparung und Problembewältigungsmethode in Notsituationen eine lange Geschichte nachzuweisen – als Sinnbilder fallen der Selbermacher und das Provisorium ein. Das Provisorium definiert sich klassischerweise als einstweiliger Notbehelf, als Überbrückungslösung, die nur vorläufig und behelfsmäßig ist.28 So bringt uns ein Problem als zwingender Moment zu dem Entschluss, die Situation „jetzt erstmal“ so zu lösen – was bedeutet, unter den
23 Vgl.: Schramm, Manuel: „Konsumgeschichte“, auf: www.docupedia.de, 2012 24 Ahaus, Björn; (et al., Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a. M. 2011, S. 115 25 Vgl.: Dannoritzer, Cosima: 53 The Light Bulb Conspiracy, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 Jahre, Bundesangestellter 26 ebd. 27 „resourcefulness“ in: PONS GmbH: Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Veränd. Neuaufl. , Stuttgart 2008, S. 312 28 Vgl.: „Provisorium“ in: Bibliographisches Institut: Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1996
In dieser Phase des Auf- und Umbruchs war das Provisorische jedoch politisch gewollt.
In der Geschichte Deutschlands begegnet uns derlei Einfallsreichtum des Öfteren, da durch ihn über lange Zeiträume finanzielle und materielle Defizite ausgeglichen wurden: Die Mangelgesellschaften in den Nachkriegszeiten sowie der DDR bewältigten viele ihrer Probleme durch die massenhafte Um- und Ausnutzung des Zuhandenen. Hatte die Bevölkerung in den Nachkriegszeiten mit existenzieller Armut zu kämpfen, ging es in der DDR seit den 1960er Jahren eher um eine Kompensation der mangelnden Produkt- und Materialvielfalt. Neben den vielen individuellen improvisatorischen Problemlösungen gab es auch Zeitschriften, die sich eigens mit diesem Thema auseinandersetzten. Die seit 1967 erscheinende „practic“ beispielsweise gab, mit reger Beteiligung der Leser, Tipps für Alltägliches, von der einfachen Umnutzung bis zur Bauanleitung. So wurde zum Beispiel berichtet, dass Reflektoren aus Aluminium auch als Backform dienlich sein können, oder wie man aus einem Fotostativ, einem Fön und einem Plastikeimer eine Trockenhaube bauen kann.30
„Do what you can, with what you have, where you are.“ Theodore Roosevelt Jr. Eine der wohl berühmtesten und kleinsten Mangelgesellschaften der Literatur, finden wir in Daniel Dafoes „Robinson Crusoe“. Zwar wurde das Werk bereits im 18. Jahrhundert verfasst, jedoch thematisierte es schon damals eine Problematik, die uns bis heute
* Gerade der Nylonstrumpf als durabler Helfer ist jedoch im Laufe seines Lebens immer unzuver lässiger geworden. Nachdem der Markt 1940 von den neuen Strümpfen überflutet wurde, war die Nachfrage schnell gesättigt, da die robuste Nylonfaser „zu lange“ hielt. Der Hersteller DuPont ließ die Faser abwandeln, um einen rascheren Verschleiß zu erzielen. Neben der Glühbirne [in einer kalifornischen Feuerwache gibt es im Übrigen ein sehr frühes, noch „zu lange“haltbares Exemplar, das seit über 1oo Jahren brennt. (www.centennialbulb.org)] ist auch der Nylonstrumpf so zum „Wahrzeichen“ geplanter Obsoleszenz geworden.
gegebenen Umständen und mit den vorhandenen Mitteln eine zweckdienliche Lösung zu finden. Dabei kann nicht nur die Limitierung der Mittel, sondern oft auch jene der Zeit dazu führen, dass die so gefundenen Lösungen „durch Klarheit und Einfachheit überzeugen“.29 Als Paradebeispiel für eine derartige Lösungsstrategie lässt sich der Nylonstrumpf *nennen, der, zumindest bei PKW der älteren Generation, den gerissenen Keilriemen ersetzen und das Weiterfahren ermöglichen kann. Natürlich handelt es sich gerade in diesem Fall um ein Provisorium, das aus sicherheitstechnischen Gründen sobald als möglich durch das Normteil ausgetauscht werden sollte, doch in der Regel hält gerade das Provisorische am längsten – aus Bequemlichkeit, Gewohnheit oder weil es sich einfach bewährt. Historisches Beispiel hierfür ist unser Grundgesetz, dass 1949 eigentlich als vorläufiger Verfassungsersatz verabschiedet wurde, bis heute aber mit Ausnahme einiger Optimierungsmaßnahmen, genauso Bestand hat.
29 Vgl.: Havemann, Antje: „Was können Provisorien?“ in: derive – Zeitschrift für Stadtforschung, Ausgabe 21/22, Wien 2006 30 Vgl.: Brandes, Uta; (et al.): Design durch Gebrauch, a.a.O., S.42 f.
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beschäftigt und scheinbar umso aktueller wird, je weiter sein Erscheinungsdatum zurückliegt. Neben dem Plot der Robinsonade, einem Abenteuerroman, in dem der Protagonist findig mit dem spärlich Vorhandenen über Jahre sein Leben bewerkstelligt, geht die kritische Botschaft des Romans oft unter: Schon vor knapp dreihundert Jahren kritisierte der Autor die Entfremdung von den Dingen, die mit der Zivilisation einhergehe.31 Die hier aufgezählten Beispiele des Weiter- und Umnutzens begründen sich allesamt in einer Notsituation. Sie entstehen aufgrund eines zwingenden Moments, der uns über in den Dingen versteckte Mehrzwecke nachdenken lässt. Da es aber in Zeiten des Wohlstands oft gar nicht zum Aus-nutzen, zum Zu-Ende-Nutzen kommt, macht so mancher Gegenstand heute schon von sich aus auf sein so geartetes Potential aufmerksam. Im Vorhangentwurf „Curtain with cut-out pattern“ der niederländischen Designerin Djoke de Jong beispielsweise ist die Weiterverwertung schon insofern vorprogrammiert, dass der Baumwollstoff mit dem Schnittmuster einer Jacke bedruckt ist. Die so erzielte Dekoration birgt gleichzeitig den neuen Verwendungszweck: Nimmt man eines Tages einen Gardinenwechsel vor, kann der Großteil des alten Vorhanges als neues Kleidungsstück weiterleben. 108
Dieses Foto wurde auf den Philipinen aufgenommen und zeigt Schalentiere, die auf der cleveren Erweiterung der Grillfläche in Form eines ausgedienten Computerterminalgehäuses Platz finden.
Ein populäres Beispiel für eine eingeschriebene Aufforderung zur Weiternutzung ist darüberhinaus das Senfglas mit Henkel. Der Henkel am Glas ist ein klares Zeichen für die Verwendung als Trinkgefäß, was sich natürlich nicht auf die anfängliche Senffüllung bezieht, sondern vielmehr darauf, dass bereits auf das Leben nach dem Senf hingewiesen wird.
31 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, München 2013, S. 133
In aller Regel „bedarf “ es noch der Probleme und Nöte, die etwa durch den Verschleiß eines Gegenstandes oder durch ein Fehlen oder einen Mangel an etwas entstehen, damit Improvisation zum Einsatz kommt. So erzwingen „problematische“ Situationen zudem eine bewusste Auseinandersetzung mit den Gegenständen – die gegenständlichen Manifestationen des improvisatorischen Handelns werden gewissermaßen zu einem Denkmal dieser essentiellen Fertigkeit.
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beschäftigt und scheinbar umso aktueller wird, je weiter sein Erscheinungsdatum zurückliegt. Neben dem Plot der Robinsonade, einem Abenteuerroman, in dem der Protagonist findig mit dem spärlich Vorhandenen über Jahre sein Leben bewerkstelligt, geht die kritische Botschaft des Romans oft unter: Schon vor knapp dreihundert Jahren kritisierte der Autor die Entfremdung von den Dingen, die mit der Zivilisation einhergehe.31 Die hier aufgezählten Beispiele des Weiter- und Umnutzens begründen sich allesamt in einer Notsituation. Sie entstehen aufgrund eines zwingenden Moments, der uns über in den Dingen versteckte Mehrzwecke nachdenken lässt. Da es aber in Zeiten des Wohlstands oft gar nicht zum Aus-nutzen, zum Zu-Ende-Nutzen kommt, macht so mancher Gegenstand heute schon von sich aus auf sein so geartetes Potential aufmerksam. Im Vorhangentwurf „Curtain with cut-out pattern“ der niederländischen Designerin Djoke de Jong beispielsweise ist die Weiterverwertung schon insofern vorprogrammiert, dass der Baumwollstoff mit dem Schnittmuster einer Jacke bedruckt ist. Die so erzielte Dekoration birgt gleichzeitig den neuen Verwendungszweck: Nimmt man eines Tages einen Gardinenwechsel vor, kann der Großteil des alten Vorhanges als neues Kleidungsstück weiterleben. 110
Dieses Foto wurde auf den Philipinen aufgenommen und zeigt Schalentiere, die auf der cleveren Erweiterung der Grillfläche in Form eines ausgedienten Computerterminalgehäuses Platz finden.
Ein populäres Beispiel für eine eingeschriebene Aufforderung zur Weiternutzung ist darüberhinaus das Senfglas mit Henkel. Der Henkel am Glas ist ein klares Zeichen für die Verwendung als Trinkgefäß, was sich natürlich nicht auf die anfängliche Senffüllung bezieht, sondern vielmehr darauf, dass bereits auf das Leben nach dem Senf hingewiesen wird.
31 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, München 2013, S. 133
In aller Regel „bedarf “ es noch der Probleme und Nöte, die etwa durch den Verschleiß eines Gegenstandes oder durch ein Fehlen oder einen Mangel an etwas entstehen, damit Improvisation zum Einsatz kommt. So erzwingen „problematische“ Situationen zudem eine bewusste Auseinandersetzung mit den Gegenständen – die gegenständlichen Manifestationen des improvisatorischen Handelns werden gewissermaßen zu einem Denkmal dieser essentiellen Fertigkeit.
E4
„Einer der frühen Gedanken war, ob ich die einfach Ecke abschneide und zunähe. Dann habe ich wiederum gedacht, dass das Volumen nicht besonders groß ist. Da würde bestimmt so ... ein Achtel des Volumens wegfallen. Das kann ich mir nicht erlauben, ich bin ja auf jedes Achtel angewiesen. Ich sag’ nur: Einkauf. Auf jeden Fall dachte ich, der Fleck sieht echt gut aus und er hat mich an eine Wolke erinnert. Obwohl der Bildausschnitt suggeriert natürlich ... also, eine Wolke wäre ja oben. Die hier ist ja aber so weit unten. ,Tiefdruckgebiet’ dacht’ ich da gleich, da hängen die Wolken ja auch ganz tief unten. Und die Aussenkanten dieses Flecks, die sind ja schon ziemliche Action-Aussenkanten, das ist also keine freundliche Wolke. Mit einem wasserfesten Stift hab’ ich dann so Pustelippen und Pustebacken und zusammengekniffene Augen gemalt. Ach, ’ne Wolke, die pustet ordentlich Wind, dann dachte ich an ein Tiefdruckgebiet und dann hab ich sofort an Sturm gedacht. Und naja, ab neun Beaufort fängt Sturm an, glaube ich. Moment, ich schaue mal nach ... Neun Beaufort: Sturm. Hah,
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beschäftigt und scheinbar umso aktueller wird, je weiter sein Erscheinungsdatum zurückliegt. Neben dem Plot der Robinsonade, einem Abenteuerroman, in dem der Protagonist findig mit dem spärlich Vorhandenen über Jahre sein Leben bewerkstelligt, geht die kritische Botschaft des Romans oft unter: Schon vor knapp dreihundert Jahren Beaufort kritisierte derist Autordann die Entfremdung von den war richtig. Zwölf ein Orkan, zum 31 Dingen, die mit der Zivilisation einhergehe. Beispiel. Ich segle manchmal. Und diese stricheligen Pustelinien, die wollte ich eigentlich malen, aber Die hier aufgezählten Beispiele des Weiter- und Umnutzens begründas sollte ja recht fein werden, was bestimmt verden sich allesamt in einer Notsituation. Sie entstehen aufgrund eines laufenzwingenden wäre auf dem Stoff. Und dann dachte ich, dass Moments, der uns über in den Dingen versteckte Mehrman das Sticken könnte. ich nicht wirklich zwecke nachdenken lässt. DaObwohl es aber in Zeiten des Wohlstands oft gar nicht Aus-nutzen, macht so weiß, wie daszum geht, aber zum am Zu-Ende-Nutzen Ende siehts kommt, okay aus. Ich mancher Gegenstand heute schon von sich aus auf sein so geartetes habe aber ganz normales Nähgarn benutzt, und das Potential aufmerksam. Im Vorhangentwurf „Curtainnicht with cut-out vierfach genommen. War dann natürlich einpattern“ der niederländischen Designerin Djoke de Jong beispielsfach, das alles durch die Nadel durchzupopeln. Es weise ist die Weiterverwertung schon insofern vorprogrammiert, gibt ja diese Drahteinfädler, aber sowas besitze ich dass der Baumwollstoff mit dem Schnittmuster einer Jacke bedruckt halt einfach nicht. Da musste ich improvisieren ist. Die so erzielte Dekoration birgt gleichzeitig den neuen Verwen-und dungszweck: Nimmt man eines Tages einen Gardinenwechsel vor,und kann habe sowas selbst gebastelt könnte man sagen, der Großteil des alten Vorhanges als neues Kleidungsstück weiterleben. mit so einem ganz ganz feinen Nähgarn eine Schlaufe gemacht und die anderen Fäden da durchgezogen. Das Dieseswar Fotoalso wurde auf den nochmal ein Problem auf dem Weg zur Lösung Philipinen aufgenommen des eigentlichen Problems, für das man sich was einund zeigt Schalentiere, die fallen lassen musste. auf der cleveren Erweiterung Das wirkt jetzt natürlich alles recht lustig und der Grillfläche in Form eines nett, aber das finde ich auch total gut so. Ich mache ausgedienten Computergern Illustrationen terminalgehäuses Platz finden. und verändere gern Dinge. Ich wüsste wahrscheinlich gar nicht, was Beaufort sind, würde ich mich nicht für’s Segeln interessieren. Und das alles summiert sich ein bisschen in dieser Tasche, in der Art und Weise, wie ich das Problem gelöst habe.“
Ein populäres Beispiel für eine eingeschriebene Aufforderung zur Weiternutzung ist darüberhinaus das Senfglas mit Henkel. Der Henkel am Glas ist ein klares Zeichen für die Verwendung als Trinkgefäß, was sich natürlich nicht auf die anfängliche Senffüllung bezieht, sondern vielmehr darauf, dass bereits auf das Leben nach dem Senf hingewiesen wird.
E4/Julian
30 Jahre, Grafikdesigner 31 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, München 2013, S. 133
In aller Regel „bedarf “ es noch der Probleme und Nöte, die etwa durch den Verschleiß eines Gegenstandes oder durch ein Fehlen oder einen Mangel an etwas entstehen, damit Improvisation zum Einsatz kommt. So erzwingen „problematische“ Situationen zudem eine bewusste Auseinandersetzung mit den Gegenständen – die gegenständlichen Manifestationen des improvisatorischen Handelns werden gewissermaßen zu einem Denkmal dieser essentiellen Fertigkeit.
„Ich kann fast alles reparieren, zumindest kann ich mir helfen, einen Ausweg zu finden, wenn ein Defekt auftritt. Auch aus diesem Grund wurde ich für den Einsatz auf der internationalen Raumstation ISS im Weltraum ausgesucht. … Dort oben kann man keinen Klempner anrufen und an Bord bestellen, da muss man, wenn etwas kaputt geht, es auch wieder instand setzen können. Don’t ask, fix it, hieß es immer. Deswegen Ulrich Walter, Physiker und ehem. war Scotch Tape unser Favorit.“ dt.Wissenschaftsastronaut
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Die Spezialisten
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Für die Bewältigung mancher Alltagsaufgaben stellt eine Zweckentfremdung oder irgendwie geartete Improvisation oft die beste Lösung dar. Derlei Techniken avancieren beinahe zur Tradition, immer dann, wenn das „richtige“ Produkt für einen bestimmten Zweck gerade nicht zur Hand ist oder ein solches womöglich sogar (noch) gar nicht existiert. Einige dieser vermeintlichen Lücken sollen jedoch auch mithilfe neuer und stark spezialisierter Produkte geschlossen werden. Es stellt sich dabei immer die Frage, ob die gängigen und bisweilen spannungsgeladenen Behelfsmethoden – oft schon Gebräuchlichkeit aus den frühen Kindertagen – jemals wirklich abgelöst werden können, betrachtet man beispielsweise „...eine spezielle Zange zum Herausziehen von Milchzähnen. Wieder mal ist das eine so dermaßen offensichtliche Erfindung wie seinerzeit „Tisch“ oder „Haus“, dass man sich tagelang an die Stirn schlägt vor Ärger, nicht selber darauf gekommen zu sein. (...) Einziger Trost: Auch die Hersteller der herkömmlichen Geräte für den selben Zweck (Faden und Türklinke, kräftige Ohrfeige, hartes Brot) wurden kalt erwischt.“32
„Spezialisten sind Sklaven“
Richard Buckminster Fuller, US-amerikanischer Architekt, Designer und Schriftsteller
Kann in einer Welt, die sich sowohl durch eine schier unendliche Vielfalt als auch eine schnelle und allgegenwärtige Verfügbarkeit ihrer Produkte auszeichnet, das Pflegen eines improvisatorischen Umgangs mit den Dingen – fernab von Notsituationen – überhaupt von Vorteil sein? Begreift man die Improvisation als ein nützliches Werkzeug, das den freien und selbstbestimmten Umgang mit Alltagsgegenständen ermöglicht, so zeigt sich, wie allein durch diese Umgangsform ein Mehrwert innerhalb eines Gegenstands entstehen kann.
32 Scholz, Aleks: „Von Markt- und Zahnlücken“, in: Friebe, Holm (et al., Hg.): Riesenmaschine. Das Beste aus dem
brandneuen Universum, München 2007, S. 181
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Betrachten wir die Objekte, die uns umgeben, auf eine, der Improvisation eigene, losgelöste Art und Weise, dann erscheinen sie uns wie von selbst weniger starr oder „fertig“. In diesem Modus scheint es, als könnten wir uns die Gegenstände plötzlich „wirklich“ zu eigen machen, uns ihrer bedienen, sie auf unsere individuellen Bedürfnisse angepasst instrumentalisieren und modifizieren. Diese uns eigene Art des Hinterfragens und der Abkehr von Konvention und Zweckbestimmung zeigt uns das über die Produktintention hinausreichende Potential der Dinge unserer Umwelt auf und verleiht ihnen einen multidimensionalen und -funktionalen Charakter. Als Beispiel dazu lässt sich bereits ein simpler Gegenstand wie das klassische Wasserglas anführen: Sein angedachter Nutzen ist zweifelsfrei der eines Trinkgefäßes. Aus dem Blickwinkel der freien Verwendung jedoch, kommen uns schnell mannigfaltige andere Nutzungsformen in den Sinn. So benutzen wir es etwa das eine Mal als Kerzenständer, das andere Mal wiederum dazu, um Salzstangen in ihm anzurichten, darin Blumen zu arrangieren oder eben jene damit zu gießen. Das „einfache“ Wasserglas kann zudem zur Aufbewahrung von Knöpfen, Büroklammern oder anderem Kleinutensil wie Buntstiften, Kugelschreibern oder Zahnbürsten dienen. Oder aber man verwendet es dazu, eine Spinne zu fangen (gerade hierzu sind Gläser viel geeigneter als beispielsweise alte Joghurtbecher, da die Spinne danach zudem noch in sicherem Abstand observiert werden kann.). Wir können mit dem Glas durch die Wand ins Nachbarzimmer lauschen oder es als Gussform für Wackelpudding nutzen, einen Plätzchenteig damit ausrollen und ihn anschließend noch damit ausstechen.
Meine Großeltern bei der vorweihnachtlichen Plätzchenherstellung – traditionell wird sowohl die Kreis- als auch die Sichelform mit einem zylindrischen Wasserglas ausgestochen. Das Wasserglas bleibt oberflächlich betrachtet in all diesen möglichen Verwendungsformen ein Trinkgefäß, es ist jedoch durch unsere improvisatorische Handlungsweise und Denkart nunmehr keinem festgelegten Raum oder Verwendungszweck zugeordnet. Derart unterschiedliche Aufgaben werden jedoch selten mit nur
einem Gegenstand bewältigt, gibt es doch für fast jeden Zweck mittlerweile ein entsprechend spezialisiertes Ding.
„Im Jahre 1867 musste Karl Marx zu seiner Überraschung erfahren, (…) dass fünfhundert verschiedene Arten von Hämmern in Birmingham, England, hergestellt wurden, von denen jeder auf eine spezielle Funktion in Industrie oder Handwerk zugeschnitten war. (…)warum gibt es so George Basalla, viele verschiedene Arten von einer Sache?“ „The Evolution of Technology“
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+Der Ingenieur und Professor Henry Petroski schrieb dazu: „Da nichts vollkommen ist, und da selbst unsere Vorstellungen von Vollkommenheit tatsächlich nicht konstant sind, unterliegt im Laufe der Zeit alles dem Wandel. Ein „vollkommenes“ Erzeugnis kann es nicht geben; die zukünftige Vollendung in der Gegenwart kann nur ein Tempus sein, nicht aber etwas konkretes.“
Gerade die Produktgruppe der Gefäße zeichnet sich durch einen unglaublichen Artenreichtum aus, sie stellt aber ohnehin eine der älteste Gegenstandsfamilien schlechthin dar. Woher aber kommt diese unbändige Vielzahl an Gegenständen, die der Mensch schon hervorgebracht hat? Der Psychologe Irving Biederman schätzt, dass es auf der Welt rund 30.000 für den Erwachsenen leicht voneinander zu unterscheidende Gegenstände gebe. Dieser Wert wurde durch das Zählen gegenständlicher Substantive eines Wörterbuchs ermittelt.33 Sicherlich sind es auch hier kulturelle Eigenarten, die in ihrer Diversität schon einmal eine Menge unterschiedlicher Erzeugnisse bedingen, betrachtet man – um bei den Trinkgefäßen zu bleiben – nur all die traditionellen Biergläser und -krüge, Teetassen oder Weingläser. Hinzu kommt, dass sich mit dem Wandel der Zeit die Möglichkeiten der Produktionstechniken geändert und vermehrt haben. Wurde Glas beispielsweise in den antiken Anfängen noch frei geblasen oder manuell auf einer Drehscheibe34, ähnlich dem Töpfern, geformt, entstanden später exakter reproduzierbare Techniken: Das Glas„Mir war gleich das Reparieren Stiels blasen in Formen undklar, schließlich maschinelle Blas- unddes Pressme35 bekomme hin, ermöglichen deshalb wollte ichebenso irgendeine thoden. ich Neuenie Techniken neue Formen wie Materialien. finden. Dann habe ich mich umgesehen Artneue Halterung Innerhalb einzelner Produktgattungen die Herausbildung und gleich gegenüber stehenisteinige Dinge spezielauf der ler Eigenheiten auf der einen Seite schlicht logisch durch ihre unterFensterbank. Und dann dachte ich, ach, die Bonbonschiedliche Zweckgerichtetheit zu erklären. Diverse Henkel oder dose mit Münzen dort, die genau diemeist richtige Füße etwaden entfernen beim Trinkgefäß die hat Hand vom Getränk Größe und der Stiel wird durch die Münzen im Innern aus thermalen Gründen, ein Kaffeepott muss anders beschaffen sein als fixiert. Imoder Nachhinein hätte ich auch nichts ein Weinglas Bierhumpen. Auch lässt die Optimierung einzelneranders Produkttypen Lösungen für alteund Probleme entstehen und gemacht, dasimmer ist neue eine schnelle einfache Lösung. so entsteht die Fülle an Dingen letztlich auch immer dadurch, dass Ich musste auch nichts Anderes dafür zerschneiden, Verbesserungen am bereits Existierenden vorgenommen werden.x hätte ich zum Beispiel etwas gebastelt. Alles kann so bleiben, wie es ist, und trotzdem ist es quasi repariert. So kann ich den Deckel einfach wieder auf 33 Vgl.: Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss / Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Berlin S. 36 f.rauf machen und Alles ist wie vorher. die1994, Dose
34 Vgl.: Schneider, Helmuth: Geschichte der antiken Technik, München 2011, S. 61 35 Vgl.: Kalweit, Andreas; (et al., Hg.): Handbuch für technisches Produktdesign, Heidelberg 2006, S. 385
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Betrachten wir die Objekte, die uns umgeben, auf eine, der Improvisation eigene, losgelöste Art und Weise, dann erscheinen sie uns wie von selbst weniger starr oder „fertig“. In diesem Modus scheint es, als könnten wir uns die Gegenstände plötzlich „wirklich“ zu eigen machen, uns ihrer bedienen, sie auf unsere individuellen BedürfDas praktische auch, den Deckel der Dose nisse angepasstist instrumentalisieren und modifizieren. Diesekönnte uns eigene Art des Hinterfragens und der Abkehr von Konvention und man im Sommer auch als Schutz vor Insekten verwenZweckbestimmung zeigt uns das über die Produktintention hinden, wenn man im Freien sitzt, denn er passt exact ausreichende Potential der Dinge unserer Umwelt auf und verleiht auf’s Glas drauf. So hat nicht nur die Dose sondern ihnen einen multidimensionalen und -funktionalen Charakter. gleichAlsauch der Deckel Beispiel dazu lässt sicheine bereitsweitere ein simplerAufgabe Gegenstandbekomwie men. Und das Gewicht desanführen: neuen Sein Fußes ist durch das klassische Wasserglas angedachter Nutzendie Münzenistnatürlich hoch, Aus wasdem gerade im Freien zweifelsfrei derziemlich eines Trinkgefäßes. Blickwinkel der freien Verwendung jedoch, kommen uns schnell mannigfaltige bei Wind optimal ist. Toll, ich bin ein bisschen stolz anderedass Nutzungsformen in den Sinn. So benutzen gelöst wir es etwahabe. das auf mich, ich das so schön schnell eine Mal als Kerzenständer, das andere Mal wiederum dazu, um Großartig.“ Salzstangen in ihm anzurichten, darin Blumen zu arrangieren oder eben jene damit zu gießen. Das „einfache“ Wasserglas kann zudem zur Aufbewahrung von Knöpfen, Büroklammern oder anderem Kleinutensil wie Buntstiften, Kugelschreibern oder Zahnbürsten dienen. Oder aber man verwendet es dazu, eine Spinne zu fangen (gerade hierzu sind Gläser viel geeigneter als beispielsweise alte Joghurtbecher, da die Spinne danach zudem noch in sicherem Abstand observiert werden kann.). Wir können mit dem Glas durch die Wand ins Nachbarzimmer lauschen oder es als Gussform für Wackelpudding nutzen, einen Plätzchenteig damit ausrollen und ihn anschließend noch damit ausstechen.
Das Wasserglas bleibt oberflächlich betrachtet in all diesen möglichen Verwendungsformen ein Trinkgefäß, es ist jedoch durch unsere improvisatorische Handlungsweise und Denkart nunmehr keinem festgelegten Raum oder Verwendungszweck zugeordnet. 39 Jahre, Diplom Ökonom Derart unterschiedliche Aufgaben werden jedoch selten mit nur
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einem Gegenstand bewältigt, gibt es doch für fast jeden Zweck mittlerweile ein entsprechend spezialisiertes Ding.
„Im Jahre 1867 musste Karl Marx zu seiner Überraschung erfahren, (…) dass fünfhundert verschiedene Arten von Hämmern in Birmingham, England, hergestellt wurden, von denen jeder auf eine spezielle Funktion in Industrie oder Handwerk zugeschnitten war. (…)warum gibt es so George Basalla, viele verschiedene Arten von einer Sache?“ „The Evolution of Technology“ +Der Ingenieur und Professor Henry Petroski schrieb dazu: „Da nichts vollkommen ist, und da selbst unsere Vorstellungen von Vollkommenheit tatsächlich nicht konstant sind, unterliegt im Laufe der Zeit alles dem Wandel. Ein „vollkommenes“ Erzeugnis kann es nicht geben; die zukünftige Vollendung in der Gegenwart kann nur ein Tempus sein, nicht aber etwas konkretes.“
Gerade die Produktgruppe der Gefäße zeichnet sich durch einen unglaublichen Artenreichtum aus, sie stellt aber ohnehin eine der älteste Gegenstandsfamilien schlechthin dar. Woher aber kommt diese unbändige Vielzahl an Gegenständen, die der Mensch schon hervorgebracht hat? Der Psychologe Irving Biederman schätzt, dass es auf der Welt rund 30.000 für den Erwachsenen leicht voneinander zu unterscheidende Gegenstände gebe. Dieser Wert wurde durch das Zählen gegenständlicher Substantive eines Wörterbuchs ermittelt.33 Sicherlich sind es auch hier kulturelle Eigenarten, die in ihrer Diversität schon einmal eine Menge unterschiedlicher Erzeugnisse bedingen, betrachtet man – um bei den Trinkgefäßen zu bleiben – nur all die traditionellen Biergläser und -krüge, Teetassen oder Weingläser. Hinzu kommt, dass sich mit dem Wandel der Zeit die Möglichkeiten der Produktionstechniken geändert und vermehrt haben. Wurde Glas beispielsweise in den antiken Anfängen noch frei geblasen oder manuell auf einer Drehscheibe34, ähnlich dem Töpfern, geformt, entstanden später exakter reproduzierbare Techniken: Das Glasblasen in Formen und schließlich maschinelle Blas- und Pressmethoden.35 Neue Techniken ermöglichen neue Formen ebenso wie neue Materialien. Innerhalb einzelner Produktgattungen ist die Herausbildung spezieller Eigenheiten auf der einen Seite schlicht logisch durch ihre unterschiedliche Zweckgerichtetheit zu erklären. Diverse Henkel oder Füße etwa entfernen beim Trinkgefäß die Hand vom Getränk meist aus thermalen Gründen, ein Kaffeepott muss anders beschaffen sein als ein Weinglas oder Bierhumpen. Auch lässt die Optimierung einzelner Produkttypen immer neue Lösungen für alte Probleme entstehen und so entsteht die Fülle an Dingen letztlich auch immer dadurch, dass Verbesserungen am bereits Existierenden vorgenommen werden.x
33 Vgl.: Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss / Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Berlin 1994, S. 36 f. 34 Vgl.: Schneider, Helmuth: Geschichte der antiken Technik, München 2011, S. 61 35 Vgl.: Kalweit, Andreas; (et al., Hg.): Handbuch für technisches Produktdesign, Heidelberg 2006, S. 385
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Betrachten wir die Objekte, die uns umgeben, auf eine, der Improvisation eigene, losgelöste Art und Weise, dann erscheinen sie uns wie von selbst weniger starr oder „fertig“. In diesem Modus scheint es, als könnten wir uns die Gegenstände plötzlich „wirklich“ zu eigen machen, uns ihrer bedienen, sie auf unsere individuellen Bedürfnisse angepasst instrumentalisieren und modifizieren. Diese uns eigene Art des Hinterfragens und der Abkehr von Konvention und Zweckbestimmung zeigt uns das über die Produktintention hinausreichende Potential der Dinge unserer Umwelt auf und verleiht ihnen einen multidimensionalen und -funktionalen Charakter. Als Beispiel dazu lässt sich bereits ein simpler Gegenstand wie das klassische Wasserglas anführen: Sein angedachter Nutzen ist zweifelsfrei der eines Trinkgefäßes. Aus dem Blickwinkel der freien Verwendung jedoch, kommen uns schnell mannigfaltige andere Nutzungsformen in den Sinn. So benutzen wir es etwa das eine Mal als Kerzenständer, das andere Mal wiederum dazu, um Salzstangen in ihm anzurichten, darin Blumen zu arrangieren oder eben jene damit zu gießen. Das „einfache“ Wasserglas kann zudem zur Aufbewahrung von Knöpfen, Büroklammern oder anderem Kleinutensil wie Buntstiften, Kugelschreibern oder Zahnbürsten dienen. Oder aber man verwendet es dazu, eine Spinne zu fangen (gerade hierzu sind Gläser viel geeigneter als beispielsweise alte Joghurtbecher, da die Spinne danach zudem noch in sicherem Abstand observiert werden kann.). Wir können mit dem Glas durch die Wand ins Nachbarzimmer lauschen oder es als Gussform für Wackelpudding nutzen, einen Plätzchenteig damit ausrollen und ihn anschließend noch damit ausstechen.
Das Wasserglas bleibt oberflächlich betrachtet in all diesen möglichen Verwendungsformen ein Trinkgefäß, es ist jedoch durch unsere improvisatorische Handlungsweise und Denkart nunmehr keinem festgelegten Raum oder Verwendungszweck zugeordnet. Derart unterschiedliche Aufgaben werden jedoch selten mit nur
einem Gegenstand bewältigt, gibt es doch für fast jeden Zweck mittlerweile ein entsprechend spezialisiertes Ding.
„Im Jahre 1867 musste Karl Marx zu seiner Überraschung erfahren, (…) dass fünfhundert verschiedene Arten von Hämmern in Birmingham, England, hergestellt wurden, von denen jeder auf eine spezielle Funktion in Industrie oder Handwerk zugeschnitten war. (…)warum gibt es so George Basalla, viele verschiedene Arten von einer Sache?“ „The Evolution of Technology“
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+Der Ingenieur und Professor Henry Petroski schrieb dazu: „Da nichts vollkommen ist, und da selbst unsere Vorstellungen von Vollkommenheit tatsächlich nicht konstant sind, unterliegt im Laufe der Zeit alles dem Wandel. Ein „vollkommenes“ Erzeugnis kann es nicht geben; die zukünftige Vollendung in der Gegenwart kann nur ein Tempus sein, nicht aber etwas konkretes.“
Gerade die Produktgruppe der Gefäße zeichnet sich durch einen unglaublichen Artenreichtum aus, sie stellt aber ohnehin eine der älteste Gegenstandsfamilien schlechthin dar. Woher aber kommt diese unbändige Vielzahl an Gegenständen, die der Mensch schon hervorgebracht hat? Der Psychologe Irving Biederman schätzt, dass es auf der Welt rund 30.000 für den Erwachsenen leicht voneinander zu unterscheidende Gegenstände gebe. Dieser Wert wurde durch das Zählen gegenständlicher Substantive eines Wörterbuchs ermittelt.33 Sicherlich sind es auch hier kulturelle Eigenarten, die in ihrer Diversität schon einmal eine Menge unterschiedlicher Erzeugnisse bedingen, betrachtet man – um bei den Trinkgefäßen zu bleiben – nur all die traditionellen Biergläser und -krüge, Teetassen oder Weingläser. Hinzu kommt, dass sich mit dem Wandel der Zeit die Möglichkeiten der Produktionstechniken geändert und vermehrt haben. Wurde Glas beispielsweise in den antiken Anfängen noch frei geblasen oder manuell auf einer Drehscheibe34, ähnlich dem Töpfern, geformt, entstanden später exakter reproduzierbare Techniken: Das Glasblasen in Formen und schließlich maschinelle Blas- und Pressmethoden.35 Neue Techniken ermöglichen neue Formen ebenso wie neue Materialien. Innerhalb einzelner Produktgattungen diedas Herausbildung „Ich wollte etwas verwenden,istin ich dasspezielGlas, also ler Eigenheiten auf der einen Seite schlicht logisch durch ihre unterden Stiel, hineinstecken kann, das erschien mir so schiedliche Zweckgerichtetheit zu erklären. Diverse Henkel oder am Füße praktischsten. EsTrinkgefäß sollte die was Gefülltes etwa entfernen beim Hand vom Getränksein, meist zum Beispiel ... Gründen, keine leere Milchtüte so, sein diealswäre aus thermalen ein Kaffeepott muss andersoder beschaffen ja ein viel zu oder leicht. Als ich in die der Küche nach was zum Weinglas Bierhumpen. Auch lässt Optimierung einzelner Produkttypen immer neue Lösungen für alte Probleme entstehen und Reparieren gesucht habe, da dachte ich an das Blumenso entstehtdas die Fülle Dingensoletztlich auch immer dadurch,Es dass töpfchen, istanauch schön und klein. bleibt Verbesserungen am bereits Existierenden vorgenommen werden.x gut stehen und der Stiel bleibt fest in der Erde stecken. Man stellt das Glas nicht nur darin ab, sondern es entsteht ein richtiger neuer Fuß. Das sieht beim 33Trinken Vgl.: Petroski, Henry: Gabel, Reissverschluss / Die Evolutionaus der Gebrauchsgegenstände, auchMesser, irgendwie interessant von innen. Berlin 1994, S. 36 f. 34 Vgl.: Schneider, Helmuth: Geschichte der antiken Technik, München 2011, S. 61 35 Vgl.: Kalweit, Andreas; (et al., Hg.): Handbuch für technisches Produktdesign, Heidelberg 2006, S. 385
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Betrachten wir die Objekte, die uns umgeben, auf eine, der Improvisation eigene, losgelöste Art und Weise, dann erscheinen sie uns wie von selbst weniger starr oder „fertig“. In diesem Modus scheint es, als könnten wir uns die Gegenstände plötzlich „wirklich“ zu eigen machen, uns ihrer bedienen, sie auf unsere individuellen BedürfHätte nisse manangepasst aber vorher nochmal können, den instrumentalisieren undgießen modifizieren. Diese uns eigene Art des Hinterfragens und der Abkehr von Konvention und Klee, der ist leider ein bisschen eingetrocknet. Zweckbestimmung zeigt... uns das das über die Produktintention Aber abgesehen davon fällt mir geradehinein, ausreichende Potential der Dinge unserer Umwelt auf und verleiht ist es natürlich toll, dass ich das Glas mit einer ihnen einen multidimensionalen und -funktionalen Charakter. Pflanze habe. haben ja eigentlich Alsrepariert Beispiel dazu lässt sichPflanzen bereits ein simpler Gegenstand wie keinendas Zweck, die sind jaanführen: eher dekorativ. Aber jetzt klassische Wasserglas Sein angedachter Nutzen hat der quasi eineTrinkgefäßes. richtigeAus Funktion bekommen. ist Klee zweifelsfrei der eines dem Blickwinkel der freien Verwendung jedoch, kommen uns schnell mannigfaltige Und schön sieht es auch noch aus - klar, ist ja auch andere Nutzungsformen in den Sinn. So benutzen wir es etwa das ein Glücksklee.“ eine Mal als Kerzenständer, das andere Mal wiederum dazu, um Salzstangen in ihm anzurichten, darin Blumen zu arrangieren oder eben jene damit zu gießen. Das „einfache“ Wasserglas kann zudem zur Aufbewahrung von Knöpfen, Büroklammern oder anderem Kleinutensil wie Buntstiften, Kugelschreibern oder Zahnbürsten dienen. Oder aber man verwendet es dazu, eine Spinne zu fangen (gerade hierzu sind Gläser viel geeigneter als beispielsweise alte Joghurtbecher, da die Spinne danach zudem noch in sicherem Abstand observiert werden kann.). Wir können mit dem Glas durch die Wand ins Nachbarzimmer lauschen oder es als Gussform für Wackelpudding nutzen, einen Plätzchenteig damit ausrollen und ihn anschließend noch damit ausstechen.
Das Wasserglas bleibt oberflächlich betrachtet in all diesen möglichen Verwendungsformen ein Trinkgefäß, es ist jedoch durch unsere improvisatorische Handlungsweise und Denkart nunmehr keinem festgelegten Raum oder Verwendungszweck zugeordnet. 36 Jahre, Physiotherapeutin Derart unterschiedliche Aufgaben werden jedoch selten mit nur
E2/Kristin
einem Gegenstand bewältigt, gibt es doch für fast jeden Zweck mittlerweile ein entsprechend spezialisiertes Ding.
„Im Jahre 1867 musste Karl Marx zu seiner Überraschung erfahren, (…) dass fünfhundert verschiedene Arten von Hämmern in Birmingham, England, hergestellt wurden, von denen jeder auf eine spezielle Funktion in Industrie oder Handwerk zugeschnitten war. (…)warum gibt es so George Basalla, viele verschiedene Arten von einer Sache?“ „The Evolution of Technology“ +Der Ingenieur und Professor Henry Petroski schrieb dazu: „Da nichts vollkommen ist, und da selbst unsere Vorstellungen von Vollkommenheit tatsächlich nicht konstant sind, unterliegt im Laufe der Zeit alles dem Wandel. Ein „vollkommenes“ Erzeugnis kann es nicht geben; die zukünftige Vollendung in der Gegenwart kann nur ein Tempus sein, nicht aber etwas konkretes.“
Gerade die Produktgruppe der Gefäße zeichnet sich durch einen unglaublichen Artenreichtum aus, sie stellt aber ohnehin eine der älteste Gegenstandsfamilien schlechthin dar. Woher aber kommt diese unbändige Vielzahl an Gegenständen, die der Mensch schon hervorgebracht hat? Der Psychologe Irving Biederman schätzt, dass es auf der Welt rund 30.000 für den Erwachsenen leicht voneinander zu unterscheidende Gegenstände gebe. Dieser Wert wurde durch das Zählen gegenständlicher Substantive eines Wörterbuchs ermittelt.33 Sicherlich sind es auch hier kulturelle Eigenarten, die in ihrer Diversität schon einmal eine Menge unterschiedlicher Erzeugnisse bedingen, betrachtet man – um bei den Trinkgefäßen zu bleiben – nur all die traditionellen Biergläser und -krüge, Teetassen oder Weingläser. Hinzu kommt, dass sich mit dem Wandel der Zeit die Möglichkeiten der Produktionstechniken geändert und vermehrt haben. Wurde Glas beispielsweise in den antiken Anfängen noch frei geblasen oder manuell auf einer Drehscheibe34, ähnlich dem Töpfern, geformt, entstanden später exakter reproduzierbare Techniken: Das Glasblasen in Formen und schließlich maschinelle Blas- und Pressmethoden.35 Neue Techniken ermöglichen neue Formen ebenso wie neue Materialien. Innerhalb einzelner Produktgattungen ist die Herausbildung spezieller Eigenheiten auf der einen Seite schlicht logisch durch ihre unterschiedliche Zweckgerichtetheit zu erklären. Diverse Henkel oder Füße etwa entfernen beim Trinkgefäß die Hand vom Getränk meist aus thermalen Gründen, ein Kaffeepott muss anders beschaffen sein als ein Weinglas oder Bierhumpen. Auch lässt die Optimierung einzelner Produkttypen immer neue Lösungen für alte Probleme entstehen und so entsteht die Fülle an Dingen letztlich auch immer dadurch, dass Verbesserungen am bereits Existierenden vorgenommen werden.x
33 Vgl.: Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss / Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Berlin 1994, S. 36 f. 34 Vgl.: Schneider, Helmuth: Geschichte der antiken Technik, München 2011, S. 61 35 Vgl.: Kalweit, Andreas; (et al., Hg.): Handbuch für technisches Produktdesign, Heidelberg 2006, S. 385
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Auf der anderen Seite begründet sich die Vielfalt jedoch oft auch durch einfache Modeerscheinungen, der Befriedigung ganz individueller Bedürfnisse oder dem allgemeinen Wirtschaftswachstum. Funktional betrachtet lassen sich im Phänomen der Produktvielfalt zwei Pole identifizieren: So wie manche Dinge universell einsetzbar sind und sich mit zig Verwendungszwecken brüsten – sei es, weil sie durch ihre Komplexität viele Funktionen in sich vereinen (ein Schweizer Taschenmesser besitzt klassischerweise drei bis acht Werkzeuge), oder weil sie aufgrund ihrer Reduziertheit etliche Arten der Nutzung anbieten (der Bauhaus Klassiker „Ulmer Hocker“ bietet sechs verschiedene Nutzarten an), so existieren gleichzeitig auch viele gegenteilig konzipierte Produkte: die Spezialisten.
„Manches ausgefeilt mitvorgedachte Zeug hat zunächst einen großen Reiz und ist dann schnell abgestellt, weil Stieve, es sich zu anderem nicht eignet.“ Claus „Von den Dingen lernen“
Eine clevere Transport box für Bagels bietet die Umnutzung einer CDSpindel, welche ideal auf die Beschaffenheit des Hefegebäcks eingeht.
Foto: Rodrigo Piwonka
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Eine Spezialisierung zeigt sich einerseits in einer eingeschränkten Kompatibilität in Form eines Schlüssel-Schloss-Prinzips, so wie etwa jedes neue Tonträgerformat ein neues Wiedergabegerät mit sich zieht. Andererseits zeigen sich Spezialisierungen oft auch in sehr exklusiven Anwendungsgebieten, die uns dadurch mit einem regelrechten Widerstand begegnen. Ein passendes Beispiel bietet hier etwa das simple Kunststoffprodukt „BanaBox“, bei dem es sich um eine bananenförmige und bananengelbe Bananentransportbox handelt. Wer möchte nun schon darüber richten, ob derart monofunktionale Objekte eine Notwendigkeit besitzen oder
Die Entwicklungsschritte der Evolution treffen nicht nur auf Organisches, sondern auch auf die Entwicklung unserer Alltagsobjekte zu. Die Zweckbestimmung einer Gabel beispielsweise lässt sich so bis auf die steinzeitliche Verwendung von Stöcken zurückführen, an denen – als unempfindliche Verlängerung des Körpers – das Fleisch lange genug über dem Feuer gehalten werden konnte, um zu garen. Das wohl älteste der drei klassischen Essbestecke geht formal auf die Muschel zurück, die im Laufe der Zeit – aus durablerem Material hergestellt und mit einem Griff versehen – unseren heutigen Löffel darstellt. „Welches auch immer seine beabsichtigte Form sein mag, oft ist es allein die Form eines Gegenstandes, die neue und phantasievollere Formen anregt, so wie es der Stock bei der Gabel und die Muschelschale beim Löffel tat. Dies trifft nicht weniger auf künstlich hergestellte Dinge zu, und nur wenige Gebrauchsgegenstände sind öfter geformt, verformt und neu geformt worden als die gewöhnliche Büroklammer, [...].“36 Die Büroklammer stellt ein gutes Beispiel für eines der simplen Alltagsdinge dar, über die wir zweckuniversell verfügen. Eine Studie aus dem Jahr 1959 belegt, dass bereits damals nur jede zehnte Büroklammer jemals dazu benutzt worden ist, Papiere zusammen zu halten.37 Und auch heute ersinnen wir noch immer die unterschiedlichsten uneigentlichen Büroklammergebräuche:*Sie lässt sich, beispielsweise während eines Telefonats, zu kleinen Gebilden formen, sie dient dem Reinigen der Fingernägel, ersetzt fehlende Kugelaufhänger am Weihnachtsbaum oder Krawattennadeln und eignet sich hervorragend zum Drücken von Resetknöpfen oder zur Notentriegelung des Laufwerks am Computer. Auch für die hier beschriebenen Spezialprodukte können unsere praktischen Behelfsmaßnahmen Pate stehen: Einige der aktuell erhältlichen Smartphones besitzen ein kleines Loch, in welches zum Auswerfen der SIM-Karte eine aufgebogene Büroklammer geschoben wird – ähnlich den erwähnten Löchern am PC. Statt den Nutzer aber auf die Büroklammervariante zurückgreifen zu lassen, haben die Smartphonehersteller mittlerweile ein spezielles „SIM-Karten-Auswurf-Werkzeug“ entwickelt. Jeder Hersteller hat seine eigene Version dieses kleinen Spezialisten entwerfen lassen, der einzig und allein diesem einen Zweck dient. Auch wenn manche
Wä h re r macht im 2. Weltkrieg nd d u rch die Weh n des d e r Besetzu n g des La wurde die Büroklammer (die sich der Norweger Johan Vaaler 1899 patentieren ließ) am Sakko- oder Mantelaufschlag befestigt: So zeigten sich die Landsleute untereinander ihren Zusammenhalt – und was symbolisiert das Zusammenhalten wohl besser als eine Büroklammer? Als die Besatzer jedoch hinter die Bedeutung des Symbols kamen, wurde dieses Tragen einer Büroklammer unter Strafandrohung verboten.
nicht, hat schließlich bereits die Evolutionsgeschichte – die der Banane ihre ganz eigene, mit praktischen Sollbruchstellen ausgestattete Schale verliehen hat – gezeigt, dass Nischen zwar ein guter Platz zur Existenzsicherung sind, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit jedoch sehr wohl ebenso von Vorteil sein können.
*Die Büroklammer stellt eine Art norwegisches Nationalsymbol dar:
36 Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss, a.a.O., S. 71 37 Vgl.: ebd. S. 71
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dieser Werkzeuge formal immer noch an ihre Urahnin, die Büroklammer, erinnern – gemein ist ihnen allen, dass sie sich nicht mehr eignen, um Blätter zusammen zu heften. Vom Vermögen des drahtigen Multitools ist nur das Stochern verblieben. Das tägliche Hantieren ist im Spannungsfeld zwischen Improvisation und Perfektion, zwischen freier Verfügung und Spezialisierung angesiedelt. Das „SIM-Karten-Auswurf-Werkzeug“-Beispiel führt vor Augen, wie sehr sich die gestalteten Objekte durch eine überartige Spezialisierung vor uns versperren können. Das Beispiel vom vielfach umgenutzten Wasserglas zeigt wiederum, wie sehr die Spanne an Funktionen, die ein Objekt erfüllen kann, von uns als Nutzer abhängt. Durch den bewussten und freien Umgang mit den Gegenständen des täglichen Gebrauchs besteht die Möglichkeit, mit einem Objekt weit mehr Nutzungszwecke zu erfüllen als nur den intendierten: Ein Ding kann, was immer unser Geist und seine Eigenschaften zulassen.
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„Mir ist mal die Sohle eines Schuhs kaputtgegangen, das war 2011, während des Studiums. Das Loch kam durch einfaches Durchlatschen in den Schuh. Und ich hatte da dann direkt keine Zeit, ein neues Paar zu kaufen, und außerdem bin ich ja auch ganz pingelig bei der Schuhwahl. Und es war auch noch Winter – Winter mit Schnee und Fußschutz mit Loch. Dies hatte dann zur Folge, dass meine Füße nass wurden und ich ganz bitterlich fror. Repariert wurde das dann erstmal mit einer PVC-Socke in Form einer Plastiktüte. Die Plastiktüte kam in Frage, weil es funktioniert hat und sie in meiner damaligen Wohnung vorrätig gewesen ist. Versucht hab’ ich zuerst Tüte, dann Socke und danach dann erst Socke, dann Tüte, was wesentlich angenehmer war. Wie gesagt, es war Winter und der Schnee hat sich immer in das Loch getreten.
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dieser Werkzeuge formal immer noch an ihre Urahnin, die Büroklammer, erinnern – gemein ist ihnen allen, dass sie sich nicht mehr eignen, um Blätter zusammen zu heften. Vom Vermögen des drahtigen Multitools ist nur das Stochern verblieben. Damit lief ich sicherlich so zwei Wochen rum, bis ich Das mirtägliche neueHantieren Schuhe zugelegt habe ... Ich halte ist im Spannungsfeld zwischen Improvisation eineund Plastiktüte auf freier Erdölbasis nicht gerade für Perfektion, zwischen Verfügung und Spezialisierung „SIM-Karten-Auswurf-Werkzeug“ -Beispiel führt gut,angesiedelt. sie hat Das aber eben den Zweck erfüllen können. vor Augen, wie sehr sich die gestalteten Objekte durch eine überarDadurch, dass eine Plastiktüte so vieles sein kann, tige Spezialisierung vor uns versperren können. Das Beispiel vom also zum Beispiel nicht nur Tragetasche, sondern vielfach umgenutzten Wasserglas zeigt wiederum, wie sehr die ebenSpanne auchanFußschutz oder man macht sie von beiuns Regen Funktionen, die ein Objekt erfüllen kann, als überNutzer den abhängt. Fahrradsattel oder nimmt sie zum Rodeln als Durch Schlittenersatz – dadurch verliertdes den bewussten undund freienso Umgang mit den Gegenständen täglichen Gebrauchs besteht die Möglichkeit, mit einem sie den Charakter der Einweg-Verpackung, Objekt den sie weitso mehr Nutzungszwecke zu erfüllen nur den intendierten: Ein heute oft vermittelt. DiesealsTüten sind natürDing kann, was immer unser Geist und seine Eigenschaften zulassen. lich oft nicht dazu gedacht, wirklich nur einmal gebraucht zu werden, aber dann kommt es doch meistens so. Ich hab’ in ’ner Studie gelesen, dass eine Plastiktüte im Durchschnitt eine Einsatzzeit von gerade mal 25 Minuten hat ... Am liebsten wäre es mir, dass es Plastiktüten gar nicht gäbe, dafür aber Schuhe, die haltbarer sind.“
24 Jahre, Physikstudent
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das anonyme ding Blicken wir uns in den eigenen vier Wänden um, entdecken wir, neben vielerlei persönlichen Dingen, wahrscheinlich auch eine Reihe an „anonymen“ Gegenständen. Gerade die simplen Objekte, die uns im Alltag umgeben, scheinen insofern anonym, als dass sie neutral, schlicht oder stereotyp anmuten und darin nicht auf ihre Herkunft und/oder ihren Besitzer verweisen.
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Davon unabhängig stellen sich uns viele dieser anonymen Dinge als dienliche Mittel im Alltag zur Seite – sei es nun in Form einer Sicherheitsnadel, eines Schuhregals oder einer zylindrisch geformten, industriell gefertigten, namenlosen, weißen Kaffeetasse. Industrialisierung und Globalisierung haben dazu geführt, dass beispielsweise eben jene anonyme weiße Tasse in unserem Küchenschrank weit über Ländergrenzen verteilt noch in unzähligen anderen Küchenschränken stehen wird. Und brächte man all die weißen Tassen zurück an einen Ort, so fiele es wahrscheinlich recht schwer, die eigene in der Masse von anderen noch zu identifizieren. So anonym wie beim Neuerwerb bleiben die Dinge jedoch nur selten auf längere Dauer. Wie genau aber kommt eine Anonymisierung der Dinge überhaupt zustande, und wie löst sie sich im Nachhinein wiederum auf? Auch zu einem anscheinend anonymen Ding kann auf symbolischer und gleichzeitig unsichtbarer Ebene eine persönliche Bindung bestehen. So mögen wir mit auf den ersten Blick gesichts- und geschichtslos wirkenden Objekten Emotionales verbinden – sei es ein Pommespieker aus Plastik, der uns an das erste Date erinnert, oder eine gelbe Gießkanne, die bereits zur Studentenzeit die Fensterbank zierte. In solchen Fällen verweist das Objekt auf etwas anderes als sich selbst – ein Hinweis, der jedoch allein dem Wissenden vorbehalten ist. „Sobald wir auch nur in die Nähe individueller Aneignungsprozesse geraten, klärt sich der Vorwurf der Anonymität oder Geschichtslosigkeit industrieller Massenprodukte als ein Irrtum der Perspektive auf. Die Dinge können dann sehr wohl das Gewicht unverwechselbarer Bedeutungen
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*Der Kunstpädagoge Gert Selle schreibt 1979: „Wenn ich selber gleich nach dem Kauf die Etiketten herauslöse, Phantasie-Warennamen, Plaketten, Zierleisten, Krims-Krams entferne, so eigne ich mir die Gegenstände ein wenig gegen ihren Warencharakter an ... Ich stoße sie in die Anonymität des Massenproduktes zurück, präge ihnen die ersten Spuren meines Gebrauchs auf: Mein Gebraucher-Ich setzt sich an die Stelle einer sogenannten Marke.“
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annehmen, auch wenn es unzählige gleiche oder ähnliche gibt.“38 Eklatantere Zeichen finden sich häufig in Form von (persönlichen) Spuren. Die Spur offenbart sich dabei als eine Art hinweisgebende Hinterlassenschaft, als indirekter Zeuge von Geschehenem. Ihr Entstehen ist ein ganz alltägliches Phänomen und zeigt sich auf vielerlei verschiedene Arten.* Die kleinste Einheit einer sichtbaren „Entanonymisierung“ stellt wohl die Gebrauchsspur dar: Die Dinge erhalten als Folge unseres Gebrauchens einen „eigenen Charakter“. Der speckig glänzende Sendeplatzknopf auf der Fernbedienung des Fernsehers etwa offenbart unsere Kanalpräferenzen, und die grauen Kratzer auf dem Kaffeetassenboden zeugen vom ausgiebigen Umrühren des Heißgetränks. Wesentlich plakativere Spuren kommen in der Regel durch Schadensfälle zustande. Diese haben nicht nur einen narrativen und erinnernden, sondern auch einen appellativen Charakter. Spannend wird dies besonders dann, wenn uns der Schaden zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem defekten Gegenstand bringt. So kann eine Reparatur einen zu Schaden gekommenen Gegenstand wieder in den prä-defekten Zustand zurückversetzen, handelt es sich beispielsweise um etwas, dass durch ein neues Ersatzteil behoben werden kann. Das neue Teil – erkennbar oder verborgen – wird dabei stets Zeuge eines einstigen Defekts bleiben, ebenso wie das Ding selbst von nun an als gebrauchtes und repariertes Ding charakterisiert ist. Probleme, die sich als auswegloser erweisen und für deren Lösung auf Anhieb kein adäquates Ersatzteil zur Hand ist, zwingen uns zum Improvisieren. Durch die improvisierte Reparatur verleihen wir dem jeweiligen Objekt dabei noch eine weitere Spur: die persönliche. Durch Reparatur oder Modifikation bekommt das anonyme Ding eine „Signatur“. Die persönliche Veränderung eines Dings lässt, im gegebenen Rahmen, eigene Ideen zu: Für ein und denselben Schaden an einem anonymen Objekt können verschiedene Menschen bisweilen ganz unterschiedliche Lösungen finden. Die improvisierte Lösung wird somit immer auch Situationsdokument und Ausdrucksmittel. Durch die aus unserem eigenen Eingriff resultierende, direktere Verbindung mit dem Objekt, kann jenes für uns deutlich an Wert gewinnen. So ist die Spur investierter Auseinandersetzung mit den Dingen oft ein wichtiger Aspekt, der unsere Beziehung zu ihnen ausmacht. Doch wie stellt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Spur gemeinhin dar? Spuren an Objekten zeugen von Geschehenem und teilen uns Informationen mit. Sie können jedoch nicht nur auf den Gebrauch oder auf ein Zu-Schaden-Kommen und Reparieren hinweisen, sondern auch über die Herstellung des Objekts berichten.
38 Boehe, Jutta; Selle, Gert: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O., S. 41
Projekt „One Day Bags“ der Designerin Siba Sahabi: Reparatur, die über die rein funktionale Wiederherstellung hinausgeht und einen zusätzlichen Mehrwert entstehen lässt.
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133 Doch e dieser Spuren – ob die der Herstellung, des Gebrauchs oder der Modifikation – unterliegt einem historischen und wechselseitigen Wandel, der sowohl Lesbarkeit als auch Lesart dieser hinweisgebenden Hinterlassenschaften beeinflusst. Die ersten Spuren, die ein Ding erhalten kann, sind die Spuren der Herstellung. In der Zeit von Automatisierung und industrieller Fertigung kommen die Spuren der Herstellung indessen mehr und mehr abhanden, im wahrsten Sinne des Wortes. Schon ein einfacher Nagel ist hier dienliches Beispiel: Heute werden Nägel maschinell hergestellt, etwa aus einem Draht, aus dem durch verschiedene Arbeitsverfahren wie dem Schneiden und Pressen ein Nagelschaft, „Ach, ich da nur werden. mal so ’ne ganz 39 Dieser -spitze undhabe -kopf hergestellt Prozessschnelle verläuft in Idee umgesetzt. Was Sekunde, ja naheliegend dass ich Bruchteilen einer weswegen diegewesen uniformenwäre, Erzeugnisse ähnlich schnell ausdraufgedruckt der Maschine schießenhätte. wie Patronen einer man, einfach Farbe Da aus denkt vollautomatischen DieFarbe, makellose ach, der hat ja Schusswaffe. jede Menge daAchsensymmetrie kann er ja einund die nahezu perfekte Oberfläche verweisen auf die drucken. maschinelle Hätte fach irgendwelche Farbflächen drauf Herkunft, die uns gewissermaßen versichert, dass dieser Nagel einer man auch machen können. Oder man hätte was mit Masse von Gleichen entstammt. Stoff draufnähen können, aber ... also, ich bin hier an dieser Institution einer der Faulsten, (lacht) es muss mit wenigen Handgriffen schnell zu realisieren 39 Vgl.: Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Band 9, Stuttgart 1914, S. 559
*Der Kunstpädagoge Gert Selle schreibt 1979: „Wenn ich selber gleich nach dem Kauf die Etiketten herauslöse, Phantasie-Warennamen, Plaketten, Zierleisten, Krims-Krams entferne, so eigne ich mir die Gegenstände ein wenig gegen ihren Warencharakter an ... Ich stoße sie in die Anonymität des Massenproduktes zurück, präge ihnen die ersten Spuren meines Gebrauchs auf: Mein Gebraucher-Ich setzt sich an die Stelle einer sogenannten Marke.“
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annehmen, auch wenn es unzählige gleiche oder ähnliche gibt.“38 Eklatantere Zeichen finden sich häufig in Form von (persönlichen) Spuren. Die Spur offenbart sich dabei als eine Art hinweisgebende Hinterlassenschaft, als indirekter Zeuge von Geschehenem. Ihr Entstehen ist ein ganz alltägliches Phänomen und zeigt sich auf sein, wenn’s nach mir Arten. geht. vielerlei verschiedene * Ich hab’ das erstmal ein, Die kleinste Einheit einer sichtbaren zwei Tage ruhen lassen, und ab„Entanonymisierung“ und zu denkt stellt man dann wohl die Gebrauchsspur dar: Die Dinge erhalten als Folge an das Problem. Und dann hatte ich was mit unseres diesem Gebrauchens einen „eigenen Charakter“. Der speckig glänzende roten Faden gearbeitet – das ist nämlich KolumnenSendeplatzknopf auf der Fernbedienung des Fernsehers etwa offenschnur. man und früher, und naja - heute bartDie unserebenutzte Kanalpräferenzen, die grauen Kratzer auf dem Kaffeeauch noch, um den auszubinden. Wenn man für tassenboden zeugenBleisatz vom ausgiebigen Umrühren des Heißgetränks. den Druck die Bleilettern mit Blindmaterial - also Wesentlich plakativere Spuren kommen in der Regel durchund Schadensdas sind die Abstände zwischen den Zeilen den fälle zustande. Diese haben nicht nur einen narrativen und erinnernBuchstaben - gesetzt hat, dann wird das alles außen den, sondern auch einen appellativen Charakter. Spannend wird herum verschnürt. Das was ich da absetze ist dann dies besonders dann, wenn uns der Schaden zu einer intensiven die Kolumne, eine Zeitungsseite oder einbringt. Textblock Auseinandersetzung mit dem defekten Gegenstand So kann oder was auch immer, der Name.Gegenstand Und alswieder ich in die eine Reparatur einen zu daher Schaden gekommenen Schnurden gesehen habe, dazurückversetzen, dachte ichhandelt so, das jetzt prä-defekten Zustand es sichist beispielsetwas, dass durchgeht ein neues Ersatzteil behobenUnd werden nicht weise die um tollste Idee, aber schnell. er ist kann. Das neue Teil – erkennbar oder verborgen – wird dabei ja nun schon ein bisschen witzig, dieser Zipfelstets da. Zeuge eines einstigen Defekts bleiben, ebenso wie das Ding selbst Und damit habe ich versucht, den Fleck zu beseitigen, von nun an als gebrauchtes und repariertes Ding charakterisiert ist. von der anderen Seite sieht man ihn allerdings ein wenig,Probleme, da versteckt sich. erweisen und für deren Lösung die sich alser auswegloser Ach, im fandErsatzteil ich mich einist,bisschen aufNachhinein Anhieb kein adäquates zur Hand zwingen unsdröge zum Improvisieren. Durch die improvisierte Reparatur verleihen wir dem dabei, ich hätte schon ein bisschen mehr Hirnschmalz jeweiligen Objekt dabei noch eine weitere Spur: die persönliche. reinstecken können. Ich hab’ mir aber gedacht, mit Durch Reparatur oder Modifikation bekommt das anonyme Ding eine dieser Idee kommt so schnell keiner um die Ecke, und „Signatur“. Die persönliche Veränderung eines Dings lässt, im gegedas ist ja Rahmen, das Gute, bei Misere, so an kombenen eigeneauch Ideen zu: Fürso ein einer und denselben Schaden men dann auch Objekt einfach neue Ideen Menschen zu Stande. Gut einemja anonymen können verschiedene bisweilen ist esganz halt, weil eine Verbindung mir undLösung meinem unterschiedliche Lösungen finden. Diezu improvisierte somit immer ist, auch Situationsdokument und Ausdrucksmittel. Beruf wird entstanden durch die Kolumnenschnur.“ Durch die aus unserem eigenen Eingriff resultierende, direktere Verbindung mit dem Objekt, kann jenes für uns deutlich an Wert gewinnen. So ist die Spur investierter Auseinandersetzung mit den Dingen oft ein wichtiger Aspekt, der unsere Beziehung zu ihnen ausmacht. Doch wie stellt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Spur gemeinhin dar? Spuren an Objekten zeugen von Geschehenem und teilen uns Informationen mit. Sie können jedoch nicht nur auf den Gebrauch oder auf ein Zu-Schaden-Kommen und Reparieren hinweisen, sondern auch über die Herstellung des Objekts berichten. Doch
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62 Jahre, Fachlehrer für Drucktechnik 38 Boehe, Jutta; Selle, Gert: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O., S. 41
Foto: Arne Hendriks, Platform21
Projekt „One Day Bags“ der Designerin Siba Sahabi: Reparatur, die über die rein funktionale Wiederherstellung hinausgeht und einen zusätzlichen Mehrwert entstehen lässt.
„The point of my repairs is not to make a two day bag from a one day bag. My question is if there is still a space for these handicapped objects and their Siba Sahabi, stories.“ „One Day Bags“
jede dieser Spuren – ob die der Herstellung, des Gebrauchs oder der Modifikation – unterliegt einem historischen und wechselseitigen Wandel, der sowohl Lesbarkeit als auch Lesart dieser hinweisgebenden Hinterlassenschaften beeinflusst. Die ersten Spuren, die ein Ding erhalten kann, sind die Spuren der Herstellung. In der Zeit von Automatisierung und industrieller Fertigung kommen die Spuren der Herstellung indessen mehr und mehr abhanden, im wahrsten Sinne des Wortes. Schon ein einfacher Nagel ist hier dienliches Beispiel: Heute werden Nägel maschinell hergestellt, etwa aus einem Draht, aus dem durch verschiedene Arbeitsverfahren wie dem Schneiden und Pressen ein Nagelschaft, -spitze und -kopf hergestellt werden.39 Dieser Prozess verläuft in Bruchteilen einer Sekunde, weswegen die uniformen Erzeugnisse ähnlich schnell aus der Maschine schießen wie Patronen aus einer vollautomatischen Schusswaffe. Die makellose Achsensymmetrie und die nahezu perfekte Oberfläche verweisen auf die maschinelle Herkunft, die uns gewissermaßen versichert, dass dieser Nagel einer Masse von Gleichen entstammt.
39 Vgl.: Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Band 9, Stuttgart 1914, S. 559
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*Der Kunstpädagoge Gert Selle schreibt 1979: „Wenn ich selber gleich nach dem Kauf die Etiketten herauslöse, Phantasie-Warennamen, Plaketten, Zierleisten, Krims-Krams entferne, so eigne ich mir die Gegenstände ein wenig gegen ihren Warencharakter an ... Ich stoße sie in die Anonymität des Massenproduktes zurück, präge ihnen die ersten Spuren meines Gebrauchs auf: Mein Gebraucher-Ich setzt sich an die Stelle einer sogenannten Marke.“
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annehmen, auch wenn es unzählige gleiche oder ähnliche gibt.“38 Eklatantere Zeichen finden sich häufig in Form von (persönlichen) Spuren. Die Spur offenbart sich dabei als eine Art hinweisgebende Hinterlassenschaft, als indirekter Zeuge von Geschehenem. Ihr Entstehen ist ein ganz alltägliches Phänomen und zeigt sich auf vielerlei verschiedene Arten.* Die kleinste Einheit einer sichtbaren „Entanonymisierung“ stellt wohl die Gebrauchsspur dar: Die Dinge erhalten als Folge unseres Gebrauchens einen „eigenen Charakter“. Der speckig glänzende Sendeplatzknopf auf der Fernbedienung des Fernsehers etwa offenbart unsere Kanalpräferenzen, und die grauen Kratzer auf dem Kaffeetassenboden zeugen vom ausgiebigen Umrühren des Heißgetränks. Wesentlich plakativere Spuren kommen in der Regel durch Schadensfälle zustande. Diese haben nicht nur einen narrativen und erinnernden, sondern auch einen appellativen Charakter. Spannend wird dies besonders dann, wenn uns der Schaden zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem defekten Gegenstand bringt. So kann eine Reparatur einen zu Schaden gekommenen Gegenstand wieder in den prä-defekten Zustand zurückversetzen, handelt es sich beispielsweise um etwas, dass durch ein neues Ersatzteil behoben werden kann. Das neue Teil – erkennbar oder verborgen – wird dabei stets Zeuge eines einstigen Defekts bleiben, ebenso wie das Ding selbst von nun an als gebrauchtes und repariertes Ding charakterisiert ist. Probleme, die sich als auswegloser erweisen und für deren Lösung auf Anhieb kein adäquates Ersatzteil zur Hand ist, zwingen uns zum Improvisieren. Durch die improvisierte Reparatur verleihen wir dem jeweiligen Objekt dabei noch eine weitere Spur: die persönliche. Durch Reparatur oder Modifikation bekommt das anonyme Ding eine „Signatur“. Die persönliche Veränderung eines Dings lässt, im gegebenen Rahmen, eigene Ideen zu: Für ein und denselben Schaden an einem anonymen Objekt können verschiedene Menschen bisweilen ganz unterschiedliche Lösungen finden. Die improvisierte Lösung wird somit immer auch Situationsdokument und Ausdrucksmittel. Durch die aus unserem eigenen Eingriff resultierende, direktere Verbindung mit dem Objekt, kann jenes für uns deutlich an Wert gewinnen. So ist die Spur investierter Auseinandersetzung mit den Dingen oft ein wichtiger Aspekt, der unsere Beziehung zu ihnen ausmacht. Doch wie stellt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Spur gemeinhin dar? Spuren an Objekten zeugen von Geschehenem und teilen uns Informationen mit. Sie können jedoch nicht nur auf den Gebrauch oder auf ein Zu-Schaden-Kommen und Reparieren hinweisen, sondern auch über die Herstellung des Objekts berichten. Doch
38 Boehe, Jutta; Selle, Gert: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O., S. 41
Projekt „One Day Bags“ der Designerin Siba Sahabi: Reparatur, die über die rein funktionale Wiederherstellung hinausgeht und einen zusätzlichen Mehrwert entstehen lässt.
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137 „Ich würde ja gern so Origami können. Aber das geht nur mit Anleitung, kann sowas nicht ... jede dieser Spuren – ob dieich der Herstellung, des Gebrauchs oderWer der das Modifikation – unterliegt einem historischen und wechselseitigen Geschenk bekommt? ... mein Papa. Also, das ist ein Wandel, der sowohl Lesbarkeit als auch Lesart ich dieser ein hinweisgebenNavigationssystem. Daher könnte Auto aus dem den Hinterlassenschaften beeinflusst. Papier bauen. Ja. Ich bau’ jetzt ein Auto. Ich schenke meinem Vater jadie dieses weil Die ersten Spuren, ein DingNavigationssystem, erhalten kann, sind die Spuren der mein Vater sich, Inwenn ervon inAutomatisierung den Urlaubund fährt, auch immer Herstellung. der Zeit industrieller verfährt. Und man sagt der ja,Herstellung mit derindessen Fahrt fängt Fertigung kommen die Spuren mehr und der mehr abhanden, im wahrsten Sinne des Wortes. Schon ein einfacher Urlaub an. Und bei uns fing dann immer der Streit ist hier dienliches Heute hat, werdenund Nägeldas maschinell an,Nagel wenn Papa sich Beispiel: verfahren ging dann hergestellt, etwa aus einem Draht, aus dem durch verschiedene den ganzen Urlaub so. Und dann dachte ich, man kann Arbeitsverfahren wie dem Schneiden und Pressen ein Nagelschaft, ja -spitze das Problem an der werden. Wurzel packen und ihm insowas 39 Dieser und -kopf hergestellt Prozess verläuft schenken. glaube – weil Papa immer mit Mama BruchteilenUnd einerich Sekunde, weswegen die uniformen Erzeugnisse schimpft, wenn die Karte falsch ließt – dass er ähnlich schnell aus die der Maschine schießen wie Patronen aus einer Schusswaffe. Die auf makellose dievollautomatischen ganze Wut statt dessen das Achsensymmetrie Gerät projiziert. und die nahezu perfekte Oberfläche verweisen auf diekein maschinelle Als ich angefangen habe, stand noch richtiger Herkunft, die uns gewissermaßen versichert, dass dieser Nagel einer Plan fest. Irgendwas mit Auto und Papa. Ich hab’ das Masse von Gleichen entstammt. Auto gemacht, die Straße, und dann dachte ich, das gehört dazu, Papa und unser Haus. Also ganz ernsthaft, wenn ich das meinem Vater geschenkt hätte, 39 Vgl.: Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Band 9, Stuttgart 1914, S. 559
*Der Kunstpädagoge Gert Selle schreibt 1979: „Wenn ich selber gleich nach dem Kauf die Etiketten herauslöse, Phantasie-Warennamen, Plaketten, Zierleisten, Krims-Krams entferne, so eigne ich mir die Gegenstände ein wenig gegen ihren Warencharakter an ... Ich stoße sie in die Anonymität des Massenproduktes zurück, präge ihnen die ersten Spuren meines Gebrauchs auf: Mein Gebraucher-Ich setzt sich an die Stelle einer sogenannten Marke.“
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annehmen, auch wenn es unzählige gleiche oder ähnliche gibt.“38 Eklatantere Zeichen finden sich häufig in Form von (persönlichen) Spuren. Die Spur offenbart sich dabei als eine Art hinweisgebende Hinterlassenschaft, als indirekter Zeuge von Geschehenem. Ihr Entstehen ist ein ganz alltägliches Phänomen und zeigt sich auf vor einigen Jahren als Kind vielerlei verschiedene Arten. * oder auch heute noch – Die kleinste Einheit einer sichtbaren heute erst recht – da hätte er„Entanonymisierung“ sich gefreut, stellt weil das wohl die Gebrauchsspur dar: Die Dinge als Folge eigene unseres etwas sehr persönliches ist. Das erhalten ist meine Gebrauchens einen „eigenen Charakter“. Der speckig glänzende Handschrift, und die ist nicht da, wenn man das Sendeplatzknopf auf der Fernbedienung des Fernsehers etwa offenGeschenk ganzKanalpräferenzen, konventionell Nachteil bart unsere und dieverpackt. grauen KratzerDer auf dem Kaffeeist, man kann das nicht tassenboden zeugenGeschenkpapier vom ausgiebigen Umrühren des nochmal Heißgetränks.verwenden – es gibt ja Leute, die heben sowas immer auf. Wesentlich plakativere kommen in der Regel durch SchadensDer Vorteil ist, dass Spuren ich viel weniger Geschenkpapier fälle zustande. Diese haben nicht nur einen narrativen verwendet habe, und Papa kann sich’s auchund anerinnerndie Wand den, sondern auch einen appellativen Charakter. Spannend wird hängen, dann hat er auch noch ein selbstgebasteldies besonders dann, wenn uns der Schaden zu einer intensiven tes Bild vom Sohnemann. zumindest Auseinandersetzung mit dem Also, defektenich Gegenstand bringt. Sowürde kann es gerne hier hängen habengekommenen ... Auf dem Geschenk ist eine Reparatur einen zu Schaden Gegenstand wieder in die Urlaubsabfahrtssituation zu sehen - sich da beispielsist unser den prä-defekten Zustand zurückversetzen, handelt es weise um etwas,wie dass durch ein neues Ersatzteil behoben werden weil Haus, und Papa, er fröhlich ins Auto steigt, kann. Das neue Teil – erkennbar oder verborgen – wird dabei stets er sich auf die liebliche Stimme des neuen NavigaZeuge eines einstigen Defekts bleiben, ebenso wie das Ding selbst tionsgeräts freut. Und die Wolken ziehen weg, und die von nun an als gebrauchtes und repariertes Ding charakterisiert ist. Sonne scheint, und dann fahren wir in unseren ersten glücklichen wirund jemals hatten.“ Probleme,Familienurlaub die sich als auswegloserden erweisen für deren Lösung auf Anhieb kein adäquates Ersatzteil zur Hand ist, zwingen uns zum Improvisieren. Durch die improvisierte Reparatur verleihen wir dem jeweiligen Objekt dabei noch eine weitere Spur: die persönliche. Durch Reparatur oder Modifikation bekommt das anonyme Ding eine „Signatur“. Die persönliche Veränderung eines Dings lässt, im gegebenen Rahmen, eigene Ideen zu: Für ein und denselben Schaden an einem anonymen Objekt können verschiedene Menschen bisweilen ganz unterschiedliche Lösungen finden. Die improvisierte Lösung wird somit immer auch Situationsdokument und Ausdrucksmittel. Durch die aus unserem eigenen Eingriff resultierende, direktere Verbindung mit dem Objekt, kann jenes für uns deutlich an Wert gewinnen. So ist die Spur investierter Auseinandersetzung mit den Dingen oft ein wichtiger Aspekt, der unsere Beziehung zu ihnen ausmacht. Doch wie stellt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Spur gemeinhin dar? Spuren an Objekten zeugen von Geschehenem und teilen uns Informationen mit. Sie können jedoch nicht nur auf den Gebrauch oder auf ein Zu-Schaden-Kommen und Reparieren hinweisen, sondern auch über die Herstellung des Objekts berichten.
E3/Nico
30 Jahre, WiMi Politikwissenschaften 38 Boehe, Jutta; Selle, Gert: Leben mit den schönen Dingen, a.a.O., S. 41
Foto: Arne Hendriks, Platform21
Projekt „One Day Bags“ der Designerin Siba Sahabi: Reparatur, die über die rein funktionale Wiederherstellung hinausgeht und einen zusätzlichen Mehrwert entstehen lässt.
„The point of my repairs is not to make a two day bag from a one day bag. My question is if there is still a space for these handicapped objects and their Siba Sahabi, stories.“ „One Day Bags“
Doch jede dieser Spuren – ob die der Herstellung, des Gebrauchs oder der Modifikation – unterliegt einem historischen und wechselseitigen Wandel, der sowohl Lesbarkeit als auch Lesart dieser hinweisgebenden Hinterlassenschaften beeinflusst. Die ersten Spuren, die ein Ding erhalten kann, sind die Spuren der Herstellung. In der Zeit von Automatisierung und industrieller Fertigung kommen die Spuren der Herstellung indessen mehr und mehr abhanden, im wahrsten Sinne des Wortes. Schon ein einfacher Nagel ist hier dienliches Beispiel: Heute werden Nägel maschinell hergestellt, etwa aus einem Draht, aus dem durch verschiedene Arbeitsverfahren wie dem Schneiden und Pressen ein Nagelschaft, -spitze und -kopf hergestellt werden.39 Dieser Prozess verläuft in Bruchteilen einer Sekunde, weswegen die uniformen Erzeugnisse ähnlich schnell aus der Maschine schießen wie Patronen aus einer vollautomatischen Schusswaffe. Die makellose Achsensymmetrie und die nahezu perfekte Oberfläche verweisen auf die maschinelle Herkunft, die uns gewissermaßen versichert, dass dieser Nagel einer Masse von Gleichen entstammt.
39 Vgl.: Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Band 9, Stuttgart 1914, S. 559
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Ein Beruf, der angesichts dessen undenkbar scheint, ist der des Nagelschmieds, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer seltener wurde und heute als ausgestorben gilt, bis dahin jedoch seit dem 14. Jahrhundert noch wichtiger Bestandteil des Handwerks war. Je nach Sorte benötigte der Schmied zwischen 4 und 60 Schlägen, um einen einzigen Nagel herzustellen.40 Jeder dieser Nägel war ein handgemachtes Unikat, bei jedem ging der Schmied alle Produktionsschritte von Neuem durch, und die Oberfläche trug stets die Spuren eines jeden Schlages – in ihr konnte man lesen, wie der Nagel zu seiner Form kam. Wer damals einen solchen Nagel benutzte, überlegte sich wohl recht genau, ob bei dem, was er vorhatte, nicht doch ein Nagel ausreichen würde, oder ob es wirklich zwei sein müssen. „Natürlich kann man auf diese Art und Weise keine Wolkenkratzer bauen, das ist klar, auf der anderen Seite war der sparsame Umgang mit Ressourcen eine absolute Notwendigkeit, die jeder, der damals lebte, verinnerlicht hatte.“41 Man konnte in den Herstellungsspuren der Erzeugnisse also Hinweise auf die dafür notwendige Arbeit lesen und dadurch eher einschätzen, wie lange jemand mit dieser Tätigkeit beschäftigt war. Und in Zeiten, in denen der Warenverkehr noch eine regionalere Angelegenheit war, wusste man vielleicht sogar noch, woher genau das Produkt stammte und wer genau es gefertigt hatte. 140
Bei den aktuellen Konsumgütern führen Automatisierung und Industrialisierung durch maschinelle Herstellungstechniken und neue Materialien meist zu einer Verschleierung von Ort, Geschichte und Aufwand der Herstellung, was sich auf den materiellen und finanziellen Wert der Dinge auswirkt. Zusammen mit dem so entstehenden, schier unendlich scheinenden Vorrat des Neuen ist die Wertschätzung des einzelnen Gegenstands – vergleicht man einmal den handgeschmiedeten mit dem maschinell gefertigten Nagel – verloren gegangen. Wandel bringt stets neuen Wandel mit sich, und so führte die industrielle Revolution schließlich auch zu einem Bevölkerungswachstum, das wiederum dazu zwang, bestehende Versorgungsstrategien mitwachsen zu lassen – ein klassischer Ping-Pong-Effekt. Kritisch zu betrachten sind dabei die teilweise unverhältnismäßigen Auswirkungen vieler maschineller Herstellungsarten auf die Reparaturfähigkeit eines Objektes. Oftmals scheint man etwa im Schadensfall mit einem Neukauf besser beraten, als mit einer Instandsetzung, zumindest in Hinblick auf die eigenen Finanzen. Dieser Punkt, der besonders oft auf elektronische Geräte zutrifft, lässt sich schon allein dadurch erklären, betrachtet man einzig den Aspekt der bewussten Auseinandersetzung: Wie hoch ist diese bewusste Beschäftigung des
40 Vgl.: Kuna, Edwin: Das alte Handwerk in Vorpommern, Grambin 2013, S. 108 41 Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 142
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Menschen mit dem Gegenstand bei industrieller oder automatisierter Herstellung, und wie hoch anschließend bei einer Reparatur – welche Analyse des Problems, Finden einer Lösung und Durchführen der Instandsetzung erfordert?
„So hat die Mechanisierung des Schreibens beispielsweise aufgrund der leichteren Korrigierbarkeit von Texten zu einer Beschleunigung der Produktion und Verringerung der für die einzelnen Formulierungen Tilmann Habermass, aufgewandten Aufmerksamkeit geführt.“ „Geliebte Objekte“ Der Übergang von der reinen Reparatur zur künstlerischästhetischen „Restaurierung“ zeigt sich in der asiatischen Technik „Kintsugi“, die sich im Japan des 16. Jahrhunderts entwickelte: Porzellanscherben wurden mit Naturharz geklebt und die sichtbaren Fügestellen anschließend mit Gold ausgelegt.
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Im Umgang mit den Dingen unseres Alltags bildet die Reparatur im Grunde die Hauptmöglichkeit, das funktionale Leben eines Gebrauchsgegenstandes zu verlängern und seinen ursprünglichen Wert aufs Neue wiederherzustellen. Historisch betrachtet ging beim Thema der Reparatur eine enorme Veränderung vonstatten, war sie doch in der vorindustriellen Welt noch fester Bestandteil des Alltags. Damals gab es Berufe wie Flickschuster, Scherenschleifer oder den + sogenannten Rastelbinder. Letzterer Reparaturdienst bezog sich auf Keramikwaren. Ein zerbrochener Kaffeebecher beispielsweise wäre damals wieder in Stand gesetzt worden, indem ein fein geschmiedeter Draht netzartig um das Gefäß herumgeflochten wurde, um die einzelnen Teile an ihrem Platz zu halten.42 Heute würde eine derartige Reparatur wohl improvisiert wirken, damals war sie jedoch völlig normal. Zudem wäre ein solches Verhalten heutzutage undenkbar und völlig unwirtschaftlich. Außerdem bleibt es zudem sowohl zweifelhaft, ob der Rastelbinder die Wasserdichtigkeit der Tasse wieder gänzlich herzustellen vermag, als auch, ob der geflochtene Draht, wenn er beim Trinken den Mund berührt, eine angenehme Erfahrung darstellen würde. Davon unabhängig zeigt das Beispiel jedoch einmal mehr die ausgeprägte Achtsamkeit, mit der die Dinge einst „am Leben gehalten“ wurden. Bei den Spuren des Gebrauchs hat sich ebenfalls ein historischer Wandel vollzogen, allerdings ist hier ein von Gegensätzen geprägtes Bild entstanden: Gegenwärtig herrscht zu diesen Spuren allgemeinhin ein ambivalentes Verhältnis – obwohl es sich bei ästhetischen Fragen immer auch um individuelle Positionen handelt. Exemplarisch lässt sich die Gegenstandsgruppe der Wohnungsmöblierung heranziehen. Oft ist es schon Grund genug, Mobiliar auszutauschen, wenn es abgenutzt und gebraucht aussieht – unabhängig davon, ob es noch funktionstüchtig ist oder nicht. Unsere Zeit ist geprägt von Neuheiten und Innovationen, in immer kürzeren
42 Vgl.: Aigner, Carl; Marchsteiner, Uli (Hg.): Design auf Zeit. Haltbar bis... Immer schneller, Köln 1999, S. 24 f.
Abständen entsteht Neues für den Konsumgütermarkt, es gibt „nichts Traditionelleres als die Orientierung am Neuen.“43 Die gestalteten Objekte altern also nicht mehr nur durch materiellen Verschleiß, sondern vermehrt auch durch das Ablösen des Aktuellen durch das Neue, was sogleich wieder als veraltet gilt. Psychologisch betrachtet kommt dem Erneuern der uns umgebenden Dinge zudem immer auch ein Erneuern des eigenen Ichs gleich, ebenso wie das Abnutzen und Verbrauchen unserer Gegenstände uns stets das eigene Altern vor Augen führt.
143 „Das war an Weihnachten vor ein paar Jahren, da Dennoch schätzen wir in diesem Zusammenhang häufig auch eine waren Paten unserer Kinder Besuch. Wir zweitedie Art der Gebrauchsspuren, die uns oft zu gerade wegen ihres saßen abends schön zusammen und haben Wein Vorhandenseins wertvoll werden und sich zumeist an denjenigen getrunken. Ich weiß auf welchem Objekten entdecken lassen,sogar die nichtnoch, unserer Gegenwart entstam-Platz men, sondern die sich auf unsere eigene oder die Vergangenheit ich saß, obwohl wir keine festen Plätze haben. beziehen.hier (zeigt auf einen Küchenstuhl). IchFremder saß genau Und irgendwie war ich so schusselig, und goss diesen Wein auf meinen heiß geliebten Rock. Der hätte auf viele Kleidungsstücke kommen können, aber nicht auf diesen Rock! Es hat mir so leid getan, ich habe die passenden Stiefel dazu – das Jean Baudrillard: „Das System der Dinge: Über unser zu den alltäglichen Gegenständen“ warVerhältnis einfach mein Outfit. Das hat halt auch nicht jeder, den Rock habe ich mir ja damals anfertiWenn wir in einem Einrichtungshaus einen neuen Küchentisch generstehen, lassen. Er ist aus senfgelbem Walk– hat und nicht erwarten wir Perfektion und Makellosigkeit er schon zumeine Waschen Als passiert war,Begelässt Schrammegeeignet. sollte möglichst einedas Rabattierung erfolgen. man das natürlich nicht anmerken, dass es bensich wir uns hingegen auf der Suche nachso diesem neuen Einrichtungsstück auf den Flohmarkt, uns über ein geschichtseinem eigentlich so weh freuen tut, wir dass es gerade dieses trächtiges Möbel, welches ohne Scheu sein Alter preisgibt und das Kleidungsstück treffen musste. Dann hab’ ich ausgezogen und zuerst Salz drüber gestreut, weil
„Diese alten Objekte (…) sind Entfliehen vor dem Alltag, und keine Flucht ist so radikal wie die aus der Zeit und keine so gründlich wie die zurück in die eigene Kindheit.“
43 Bateson, Gregory: Geist und Natur, Frankfurt am Main 1982, S. 123
Menschen mit dem Gegenstand bei industrieller oder automatisierter Herstellung, und wie hoch anschließend bei einer Reparatur – welche Analyse des Problems, Finden einer Lösung und Durchführen der Instandsetzung erfordert? es heißt ja ,Rotwein und Salz’ – das zieht’s erstmal raus. Aber da hat sich nicht viel getan. Dann hab ich mich an das Doktor Beckmanns Fleckenspray in der Waschküche erinnert. Das habe ich dann drauf getan und einwirken lassen vielleicht so vier oder fünf Stunden – zu lange jedenfalls. Ich hatte noch gedacht, je länger, desto besser. Und als ich Tilmann Habermass, „Geliebte Objekte“ dann wieder runter in den Keller kam, war ich ein bisschen erschrocken, weil das ganze von Im Umgang mit den Dingen unseres Alltags bildetGewebe die Reparatur Grunde die Hauptmöglichkeit, das funktionalewar. LebenAlso, eines das dem im senffarbenen Walk wie weggeätzt Gebrauchsgegenstandes zu verlängern und seinen ursprünglichendas hat richtig Gewebe weggenommen, x Fleckenspray Wert aufs Neue wiederherzustellen. Historisch betrachtet ginghatte beim dunkelrot des Weins war weg, aber der Rock Thema der Reparatur eine enorme Veränderung vonstatten, war sie halt rosefarbene Flecken. Und dann hatte ich mir doch in der vorindustriellen Welt noch fester Bestandteil des Alltags. einiges hätteScherenschleifer etwas draufnäDamalsausgedacht. gab es Berufe wieMan Flickschuster, oder den + hen sogenannten können zum Beispiel, aber das war’sbezog einfach Rastelbinder. Letzterer Reparaturdienst sich auf Keramikwaren. Kaffeebecher beispielsweise nicht, das hätte Ein denzerbrochener Rock kaputt gemacht, weil wäre damals wiederist. in Stand gesetzt worden, indemwieder ein fein dran er so geradlinig Ich musste immer geschmiedeter Draht netzartig um das Gefäß herumgeflochten denken, das ging bestimmt drei Wochen so. 42 Eigentwurde, um die einzelnen Teile an ihrem Platz zu halten. Heute lich konnte man doch nichts mehr tun. Und dann würde eine derartige Reparatur wohl improvisiert wirken, damals habewarich mir völlig irgendwann gedacht, jetzt Verhalten nimmst du sie jedoch normal. Zudem wäre ein solches einfach deine Ölfarbe, mischst dir denAußerdem Ton genau heutzutage undenkbar und völlig unwirtschaftlich. bleibt es zudem sowohl zweifelhaft, ob der Rastelbinder die Wasserdichtigan und malst drüber, mal seh’n was passiert. Verkeit der Tasse wieder gänzlich herzustellen vermag, als auch, ob der schlimmern konnte ich die Situation ja nicht mehr. geflochtene Draht, wenn er beim Trinken den Mund berührt, eine Und danach war ich ganz begeistert. Es ist auf angenehme Erfahrung darstellen würde. Davon unabhängig zeigt jeden Fall so gut geworden, dass ich den Rock wiedas Beispiel jedoch einmal mehr die ausgeprägte Achtsamkeit, der mit angezogen Wer’s weiß, siehts auch der die Dingehabe. einst „am Lebennicht gehalten“ wurden. nicht. Da war ich natürlich happy, dass er mir Bei den Spuren des Gebrauchs sichum ebenfalls historischer erhalten geblieben ist. hat Ach, den ein wäre es wirkWandel vollzogen, allerdings ist hier ein von Gegensätzen geprägtes lich schade gewesen.“ Bild entstanden: Gegenwärtig herrscht zu diesen Spuren allgemeinhin ein ambivalentes Verhältnis – obwohl es sich bei ästhetischen Fragen immer auch um individuelle Positionen handelt. Exemplarisch lässt sich die Gegenstandsgruppe der Wohnungsmöblierung heranziehen. Oft ist es schon Grund genug, Mobiliar auszutauschen, wenn es abgenutzt und gebraucht aussieht – unabhängig davon, ob es noch funktionstüchtig ist oder nicht. Unsere Zeit ist geprägt von Neuheiten und Innovationen, in immer kürzeren
„So hat die Mechanisierung des Schreibens beispielsweise aufgrund der leichteren Korrigierbarkeit von Texten zu einer Beschleunigung der Produktion und Verringerung der für die einzelnen Formulierungen aufgewandten Aufmerksamkeit geführt.“ Der Übergang von der reinen Reparatur zur künstlerischästhetischen „Restaurierung“ zeigt sich in der asiatischen Technik „Kintsugi“, die sich im Japan des 16. Jahrhunderts entwickelte: Porzellanscherben wurden mit Naturharz geklebt und die sichtbaren Fügestellen anschließend mit Gold ausgelegt.
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41 Jahre, Verwaltungsfachangestellte 42 Vgl.: Aigner, Carl; Marchsteiner, Uli (Hg.): Design auf Zeit. Haltbar bis... Immer schneller, Köln 1999, S. 24 f.
„Sugru“ ist eine formbare Knetmasse, die sich innerhalb weniger Stunden zu einem flexiblen Kunststoff verfestigt und sich mit einer Großzahl von Materialien verbinden lässt. So kann beinahe jedes Produkt repariert oder an eigene Bedürfnisse angepasst werden. (www.sugru.com)
Foto: Arne Hendriks, Platform21
Abständen entsteht Neues für den Konsumgütermarkt, es gibt „nichts Traditionelleres als die Orientierung am Neuen.“43 Die gestalteten Objekte altern also nicht mehr nur durch materiellen Verschleiß, sondern vermehrt auch durch das Ablösen des Aktuellen durch das Neue, was sogleich wieder als veraltet gilt. Psychologisch betrachtet kommt dem Erneuern der uns umgebenden Dinge zudem immer auch ein Erneuern des eigenen Ichs gleich, ebenso wie das Abnutzen und Verbrauchen unserer Gegenstände uns stets das eigene Altern vor Augen führt.
Dennoch schätzen wir in diesem Zusammenhang häufig auch eine zweite Art der Gebrauchsspuren, die uns oft gerade wegen ihres Vorhandenseins wertvoll werden und sich zumeist an denjenigen Objekten entdecken lassen, die nicht unserer Gegenwart entstammen, sondern die sich auf unsere eigene oder die Vergangenheit Fremder beziehen.
„Diese alten Objekte (…) sind Entfliehen vor dem Alltag, und keine Flucht ist so radikal wie die aus der Zeit und keine so gründlich wie die zurück in die Jean Baudrillard: „Das System der Dinge: eigene Kindheit.“ Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“ Wenn wir in einem Einrichtungshaus einen neuen Küchentisch erstehen, erwarten wir Perfektion und Makellosigkeit – hat er schon eine Schramme sollte möglichst eine Rabattierung erfolgen. Begeben wir uns hingegen auf der Suche nach diesem neuen Einrichtungsstück auf den Flohmarkt, freuen wir uns über ein geschichtsträchtiges Möbel, welches ohne Scheu sein Alter preisgibt und
43 Bateson, Gregory: Geist und Natur, Frankfurt am Main 1982, S. 123
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dessen Gebrauchsspuren auf uns unbekannte Erfahrungen hinweisen: „An dem Umgang mit Gebrauchsspuren und deren ambivalenter Bewertung zeigt sich, dass manche Schrammen als Qualitätsbeweis dienen, andere hingegen als wirkliche Makel gelten, die nach Möglichkeit entfernt werden. In der Regel sollen Makel aber nur von früheren Besitzern stammen, während man selber keine auffallenden Gebrauchsspuren hinterlassen will.“44 Im Gegensatz zu neuen und perfekten, glatten, schmutzabweisenden und derart anonymen Dingen und Oberflächen handelt es sich bei Persönlichem und Geschichtsträchtigem um „Dinge mit Gemütswert“, die es braucht „ (...) um es mit ihnen (den perfekten Dingen) aushalten zu können und gemütlich zu haben.“45 Hier kommt die Ambivalenz des Menschen selbst zum Ausdruck, seine kontrastierenden Wünsche, das Suchen nach Sicherheit und Abenteuer, Bindung und Freiheit, und eben auch nach der glatten Masse neben dem „erfahrenen“ Charakter. Da die Ressourcen des „echten“ Alten aber nicht unerschöpflich sind, hat sich zudem ein Industriezweig gebildet, der sich allein aus modischen Gründen mit der oberflächlichen oder substanziellen Alterung von Produkten verdient macht. Diese künstliche Alterung hat teilweise eine Verkürzung des funktionalen Lebens der Dinge zur 146
Foto: Steve Woods, Nevada Music
Die „Fender Kurt Cobain Jaguar Signature Relic“etwa ist eine akribische Reproduktion der 1965er Jaguar des verstorbenen Leadgitarristen der Band Nirvana – inklusive künstlich gealterter Chromteile und den völlig identischen Abnutzungen des Lacks. 44 Wildfeuer, Bianca: Romantisches: Zur Bedeutung einer Gefühlswertigkeit am Beispiel heutiger Wohnkultur, Münster 2012, S. 95 45 Heubach, Friedrich W.: „Das Resopal Möbel (1987)“ in: Edelmann, Klaus Thomas; Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010, S. 239
Folge, und eine derartige Behandlung erfahren auf nicht nur Möbel: Dekorationsobjekte in der Ausführung „Messing gebürstet“, PKW mit Rostlackierung oder Jeanshosen à la „Stone Washed“, die aufbereitet und sowohl maschinell als auch manuell gebleicht und abgenutzt werden – ein Prozess, der als Kind monatelange Arbeit war und zudem oft Grund erhitzter Elterngemüter. Woher aber kommt diese ambivalente Einstellung zu den Gebrauchsspuren? Warum lässt es sich mit den eigenen Spuren von Abnutzen und Altern oft so schlecht leben? Liegt es einzig daran, dass viele der gegenwärtigen Produkte das Altern nicht so gut vertragen wie ihre Vorfahren? Das Küchenbuffet aus Großmutters Zeiten etwa kann bis heute eine Augenweide sein, während die zehn Jahre alte Kommode aus beschichtetem Pressspan nunmehr an einen alten Mürbekeks erinnert. Nicht gerade würdevoll altern ebenso viele der „Wunderkinder“ aus Kunststoff, denen zwar schier keine Grenzen in Form und Farbe gesetzt sind, die jedoch bekanntermaßen spröde und brüchig werden, ihre Farbenpracht verlieren oder sich manches Mal gänzlich auflösen. „Wir wollen nicht behaupten, die Entwerfenden vergangener Kulturen hätten die Gebrauchspatina als ausdruckssteigerndes Element mit geplant. Selbstverständlich nicht. Allein: Sie rechneten damit. (...) Bauen und Gestalten war nicht nur Absicht, Neues zu Schaffen – ein Irrtum, dem wir heute häufig unterliegen –, sondern auch das Streben nach dauerhaften Leistungen, zu Ergebnissen hin, die nach einem Altern in Würde Künftigen dieses Streben noch erleben lassen sollten. (...) Es könnte der Vorwurf auftreten, dies sei ein Loblied auf Schrott und Verfall. Ein größeres Mißverständnis wäre nicht denkbar, das Gegenteil im dialektischen Sinne ist gemeint: Gewahrt werden soll die Substanz, das Verhältnis der Dinge zum Menschen.“46
46 Dietel, Clauss: „Von den veredelnden Spuren des Nutzens oder der Patina des Gebrauchs (1973)“in: Edelmann, Klaus Thomas; Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010, S. 52 – 54
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Hand und Auge
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Hand und Auge sind für den Umgang mit Objekten essenzielle Instrumente und stellen besonders in ihrer Kombination einen wichtigen Schlüssel zur Erkenntnisgewinnung dar. Die Textur und Beschaffenheit einer Oberfläche beispielsweise oder etwa die Größe und Kontur eines Objekts können gleichermaßen durch Hand und Auge wahrgenommen werden. Abhängig davon, welche Art der Interaktion wir wählen, erhalten wir entweder visuelle oder haptische Daten. Nutzen wir gleich beide Arten, liefert das Ergebnis uns einen doppelten Datensatz. Dieser kann oft von Nutzen sein, da sich beide
„Auge und Finger – die bloßen Finger – sind die beiden wichtigsten Mittel, verlässliches Wissen über Materialien und Verfahren zu gewinnen (…) Ich habe deshalb kein Vertrauen zu jungen Ingenieuren, die immerzu Handschuhe tragen müssen. Handschuhe (…) sind die perfekten James Nasmyth Erfinder des Dampfhammers Nichtleiter für technisches Wissen.“ Zugänge manchmal gegenseitig bedingen, um etwas überhaupt in Gänze erfassen zu können: Im Dunkeln kann es beispielsweise schwerfallen, einen Gegenstand nur durch über das Berühren gesammelte Informationen zu identifizieren, hilfreich wäre dabei das Auge. Und umgekehrt hilft manches Mal die Hand dabei, ein Objekt zu entlarven, wenn das Auge sich hat täuschen lassen: Schon Aristoteles schätze die Hand als Werkzeug zum Erkenntnisgewinn und nannte sie ein „geistiges Organ“.47
Wenn wir uns fragen, wie viele Dinge lediglich heute schon durch unsere Hände gegangen sind – Dinge, mit denen wir hantiert haben, die uns aber nicht ins Bewusstsein getreten sind, die wir dabei
47 Aicher, Florian; Rinker, Dagmar: Gebrauch und Gebräuchlichkeiten, a.a.O., S. 91
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„Die Aufgabe war gut und witzig. Und einfach war es auch noch. Also, ich habe ein Glas auf dem Geschirrspüler gesehen ... und dann gedacht, dass man das damit machen kann. Dann hab’ ich ein Glas aus dem Schrank geholt. Als ich das in der Hand hatte, da hab’ ich gemerkt, dass das Glas zu klein sein wird, und dass die Vase richtig herum gar nicht passt. Und deswegen hab’ ich die Vase eben verkehrt rum reingestellt. Wenn’s richtig herum reingepasst hätte, wär’s nicht so gut geworden, aber es war ein
Hand und Auge
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Zufall - es ging ja nicht anders. Ob ich schon mal so eine Reparatur gemacht habe? Nein ... Aber ich habe manchmal ganz gute Ideen. Ich hab’ ’nen Fallschirm aus einer Plastiktüte und ’ner Brotdose gebaut. Für die Puppenstubenfigürchen meiner kleinen Schwester. Da habe ich eine Brotdose genommen und die mit so Seilen und Tesafilm an die Plastiktüte gebunden. Hand und Auge sind für densah Umgang Objekten essenzielle InstWie ein Heißluftballon dasmit aus ... Es konnte aber rumente und stellen besonders in ihrer Kombination einen wichtiüberhaupt nicht fliegen, (lacht) ist einfach abgegen Schlüssel zur Erkenntnisgewinnung dar. stürzt. Das hätte man aber mit einer größeren Tüte Die Textur und Beschaffenheit einer Oberfläche beispielsweise oder verbessern hatten wir aber nicht etwa diekönnen. Größe undDie Kontur eines Objekts könnenleider gleichermaßen zu Hause.“ durch Hand und Auge wahrgenommen werden. Abhängig davon, welche Art der Interaktion wir wählen, erhalten wir entweder visuelle oder haptische Daten. Nutzen wir gleich beide Arten, liefert das Ergebnis uns einen doppelten Datensatz. Dieser kann oft von Nutzen sein, da sich beide
„Auge und Finger – die bloßen Finger – sind die beiden wichtigsten Mittel, verlässliches Wissen über Materialien und Verfahren zu gewinnen (…) Ich habe deshalb kein Vertrauen zu jungen Ingenieuren, die immerzu Handschuhe tragen müssen. Handschuhe (…) sind die perfekten James Nasmyth Erfinder des Dampfhammers Nichtleiter für technisches Wissen.“ Zugänge manchmal gegenseitig bedingen, um etwas überhaupt in Gänze erfassen zu können: Im Dunkeln kann es beispielsweise schwerfallen, einen Gegenstand nur durch über das Berühren gesammelte Informationen zu identifizieren, hilfreich wäre dabei das Auge. Und umgekehrt hilft manches Mal die Hand dabei, ein Objekt zu entlarven, wenn das Auge sich hat täuschen lassen: Schon Aristoteles schätze die Hand als Werkzeug zum Erkenntnisgewinn und nannte sie ein „geistiges Organ“.47
Wenn wir uns fragen, wie viele Dinge lediglich heute schon durch unsere Hände gegangen sind – Dinge, mit denen wir hantiert haben, die uns aber nicht ins Bewusstsein getreten sind, die wir dabei
E1/Marla 10 Jahre, Schülerin
47 Aicher, Florian; Rinker, Dagmar: Gebrauch und Gebräuchlichkeiten, a.a.O., S. 91
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Hand und Auge
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Hand und Auge sind für den Umgang mit Objekten essenzielle Instrumente und stellen besonders in ihrer Kombination einen wichtigen Schlüssel zur Erkenntnisgewinnung dar. Die Textur und Beschaffenheit einer Oberfläche beispielsweise oder etwa die Größe und Kontur eines Objekts können gleichermaßen durch Hand und Auge wahrgenommen werden. Abhängig davon, welche Art der Interaktion wir wählen, erhalten wir entweder visuelle oder haptische Daten. Nutzen wir gleich beide Arten, liefert das Ergebnis uns einen doppelten Datensatz. Dieser kann oft von Nutzen sein, da sich beide
„Auge und Finger – die bloßen Finger – sind die beiden wichtigsten Mittel, verlässliches Wissen über Materialien und Verfahren zu gewinnen (…) Ich habe deshalb kein Vertrauen zu jungen Ingenieuren, die immerzu Handschuhe tragen müssen. Handschuhe (…) sind die perfekten James Nasmyth Erfinder des Dampfhammers Nichtleiter für technisches Wissen.“ Zugänge manchmal gegenseitig bedingen, um etwas überhaupt in Gänze erfassen zu können: Im Dunkeln kann es beispielsweise schwerfallen, einen Gegenstand nur durch über das Berühren gesammelte Informationen zu identifizieren, hilfreich wäre dabei das Auge. Und umgekehrt hilft manches Mal die Hand dabei, ein Objekt zu entlarven, wenn das Auge sich hat täuschen lassen: Schon Aristoteles schätze die Hand als Werkzeug zum Erkenntnisgewinn und nannte sie ein „geistiges Organ“.47
Wenn wir uns fragen, wie viele Dinge lediglich heute schon durch unsere Hände gegangen sind – Dinge, mit denen wir hantiert haben, die uns aber nicht ins Bewusstsein getreten sind, die wir dabei
47 Aicher, Florian; Rinker, Dagmar: Gebrauch und Gebräuchlichkeiten, a.a.O., S. 91
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vielleicht nicht einmal betrachtet haben – fällt auf, wie automatisiert und unbemerkt die Interaktion mit Gegenständen oft abläuft. Betrachten wir allein die Zeit zwischen dem Aufstehen am Morgen und dem Verlassen der Wohnung, fällt uns gewiss eine Vielzahl an Gegenständen ein, die wir in dieser Zeit verwendet haben. Da wären etwa der Wecker, die Pantoffeln, ein Lichtschalter, der Wasserhahn, ein Stück Seife, der Toaster, eine Milchtüte, die Kaffeemaschine und wahrscheinlich jede Menge Tür- oder Schubladengriffe. „Es gibt automatisch ablaufende Handlungen, so als hätten die Hände (und nicht der Kopf) Erinnerungen an den Umgang mit den Dingen gespeichert.“48 Dass die Extremitäten über eine autonome Selbstkontrolle verfügen, trifft streng genommen nur auf den Oktopus49, nicht jedoch auf den Menschen zu. Trotzdem gibt es viele Handlungen, an die man keinen Gedanken verschwendet, die man beinahe automatisch ausführt, wie z. B. das Zuknöpfen des Mantels oder das Schuhe binden. Auch besitzen wir oft eine erstaunliche Vertrautheit für Richtungen und Abstände: Innerhalb unserer eigenen vier Wände können wir wie blind nach etwas greifen und durchqueren nachts, auch ohne das Licht einzuschalten, stolperfrei die Wohnung.50 Doch nicht nur bei derlei unterbewussten, alltäglichen Handlungen ist die Hand eine wichtige Instanz, auch im Be-greifen der Dinge kann sie als Werkzeug der Erkenntnis dienen: Menschen können 154 Objekte mit der Intelligenz von Hand und Auge nicht nur erfahren, sondern auch verstehen. Dass sich Dinge so einfacher erschließen lassen, sehen wir beispielsweise daran, wie komplexe Sachverhalte im Schulunterricht modellhaft dargestellt werden: Erinnern wir uns nur einmal an die pflanzliche Zelle im Maßstab 6.000 : 1 aus dem Biologieunterricht oder an den Chemieunterricht, in dem Atome dadurch veranschaulicht werden, dass ihr Wesen auf ein Modell * Die beiden Modelle übertragen wird. Das Bohrsche Atommodell ebnete den Weg zum * An ihm zeigt sich, wie unterscheiden sich Verständnis des Aufbaus der Atomhülle. Elektronen um den Kern kreisen, ähnlich wie Planeten sich auf ihren jedoch eklatant: Das Bahnen um die Sonne bewegen – was uns ebenfalls aus AnschauWissen über Pflanzen ungsmodellen bekannt ist. zellen fusst auf
mikroskopischen Untersuchungen (schon 1665 wurde die Zelle das erste Mal unter einem Mikroskop sichtbar) und ist im Modell vergrößert und ver einfacht dreidimensional dargestellt. Das Bohrsche Atommodell von 1913 veranschaulicht den Aufbau von etwas, das damals gar nicht mit dem Auge zu erfassen war: Erst rund40 Jahre später war es möglich, einen Atomkern unterm Mikroskop zu „sehen“ – Bohrs Modell beruht allein auf Berechnungen und verleiht den nebulösen Fakten eine dingliche, begreifbare Form. 48 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Marburg 2012 , S. 48 49 Vgl.: Hochner, Binyamin: „Control of Octopus Arm Extension by a Peripheral Motor Program“ in Science Nr. 293, Washington D.C. 2001, S. 1.845 f. 50 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 29
Auf diese gegenständliche Art und Weise können abstrakte Sachverhalte in ihrer Komplexität reduziert und auf ein greifbares Modell heruntergebrochen werden – eine Ebene der Darstellung, auf der uns das Verstehen leichter fällt.
„Einmal – wir müssen damals elf oder zwölf gewesen sein – diskutierten wir über etwas, und ich erklärte: »Aber denken ist ja nichts anderes, als innerlich mit sich selber reden.« »Meinst du?« antwortete Bernie. »Kennst du die Kurbelwelle am Auto, die so komisch aussieht?« »Ja, warum?« »Gut, dann sag mir doch, wie beschreibst du sie, wenn du mit dir selber redest?« So lernte ich von Bernie, dass Gedanken verbal Richard P. Feynman, und visuell sein können.“ Physiker und Nobelpreisträger
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Diese Form „begreifbarer“ Logik kommt auch zum Tragen, haben wir es mit einem Defekt, etwa an einem mechanischen Apparat, zu tun. Hier kann man durch actio und reactio Probleme aufspüren, verstehen und meist direkt „sehen“, wie eine Reparaturidee beschaffen sein müsste, um rasch Abhilfe zu schaffen. Konnte man eine abgebrochene Taste an einem alten Kassettenrekorder noch einfach kleben oder die Bedienung mit einem ähnliche Eigenschaften aufweisenden Objekt improvisieren, ein Klemmen oder Haken im Innern des Rekorder-Gehäuses eventuell noch selbst „Tja blöd, weil dass immerdurch nurgenaues so kleine Reste reparieren, sichman das Problem Hinschauen und über mechanische Überlegungen rasch erschließen ließ, so sieht es hat. Also zuerst habe ich meine Bastelkistemit rausaktuellenGeschenkpapier Musikwiedergabegeräten andersich aus. Die geholt. habe nieVerbindung ausreichend da, zwischen einem mechanischen, haptischen Bemerkbarmachen von dann mache ich das immer mit irgendwelchen kleinen actio und reactio, wie etwa durch das Drücken eines Knopfes, hat Klebchen voll. Und dann hatDie man ja hochkomplexen noch Alufolie. „sensorische“ Konkurrenz bekommen: meisten Alufolie istdieecht daselektrosensorischen Beste. Und Zeitungspapier geht Gerätschaften, sich einer Steuerungstechnik immer, find’ ich ...bedienen, Ich bin aber echt kein Einpackwie dem Touchscreen sind von dieser Möglichkeit der Funktionsdurchschauung ausgeschlossen. Bei ihnen geht eben profi. Noch nie gewesen. Das Gute an der Alufolie ist jenes Verständnis, die Einsicht für Funktionsweisen, meist ja auch eigentlich, bei Alufolie brauchtverloren, man weder weil der Laie beispielsweise bei einem MP3-Player gar nicht mehr Schere noch Kleber. Immer wenn’s zu wenig ist, ist begreifen kann, wie die Verbindung zwischen dem Berühren des Alufolie mein Freund (lacht) Und Touchscreens undbester dem Starten der Musik hergestellt wird.man Ein muss einfach immer Krimskrams im seine Haus haben, den wird sensorisches Bedienfeld ist durch flexible Belegbarkeit zwar man so auch los, clever und Resteverwertung platzsparend konstruiert, sozusagen. ein logisches taktiles Feedback
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vielleicht nicht einmal betrachtet haben – fällt auf, wie automatisiert und unbemerkt die Interaktion mit Gegenständen oft abläuft. Betrachten wir allein die Zeit zwischen dem Aufstehen am Morgen und dem Verlassen der Wohnung, fällt uns gewiss eine Vielzahl an Gegenständen ein, die wir in dieser Zeit verwendet haben. Da wären Für wen Geschenk ist? Für eine gute Bekannte, etwadas der Wecker, die Pantoffeln, ein Lichtschalter, der Wasserhahn, ein Stück Seife, der Toaster, eine Milchtüte, die Kaffeemaschine und Corinna. Die hat auch nie Geschenkpapier zu Hause „Es gibt wahrscheinlich jede Menge Türoder Schubladengriffe. und packt genauso ein, man bekommt wirklich immer automatisch ablaufende Handlungen, so als hätten die Hände (und nicht Geschenke, die mit Alufolie umwickelt sind, überder Kopf) Erinnerungen an den Umgang mit den Dingen gespeichert.“48 reicht. Und dann wird immer noch was drangeklebt. Dass die Extremitäten über eine autonome Selbstkontrolle verfügen, 49 Von ihr auchnur diesen Trick ,mit triffthab’ strengich genommen auf den Oktopus nicht der jedochAlufolie auf den gelernt. In dem Geschenk ist Reiseführer, sie Menschen zu. Trotzdem gibt es vieleein Handlungen, an die man keinen Gedanken verschwendet, die man beinahe automatisch ausführt, wie fliegt jetzt nach Südafrika. z. B. das Zuknöpfen des Mantels oder das Schuhe binden. Wie entspannend sowas doch sein kann! Weil ... ach, Auch besitzen wir oft eine erstaunliche Vertrautheit für Richtungen das ist einfach diese Arbeit ... Dieses Falten und und Abstände: Innerhalb unserer eigenen vier Wände können wir Machenwie und Konzentriert das entspannt mich blind nach etwas greifensein, und durchqueren nachts, auch ohne 50 gerade.dasWeil man auch so viel die mit den Händen erfährt, Licht einzuschalten, stolperfrei Wohnung. während man schaut, wie das wohl gehen kann. Also, Doch packe nicht nurich bei derlei unterbewussten, alltäglichen Handlungen manchmal gerne ein, dann ist das wirklich ist die Hand eine wichtige Instanz, auch im Be-greifen der Dinge entspannend, aber manchmal nervt’s. Wenn ich mich kann sie als Werkzeug der Erkenntnis dienen: Menschen können 156 freue, und dann selber ganz aufgeregt bin wegen des Objekte mit der Intelligenz von Hand und Auge nicht nur erfahren, Verschenkens, istDass dassich toll. zum sondern auchdann verstehen. Dinge Weihnachten so einfacher erschließen Beispiel, unter Zeitdruck stehtSachverhalte und so viel lassen,wenn sehen man wir beispielsweise daran, wie komplexe verpacken muss, dann machtdargestellt das nicht soErinnern viel wir Spaß. im Schulunterricht modellhaft werden: uns nur einmal an die pflanzliche Zelle im Maßstab 6.000 : 1 aus dem Aber das hier gerade – das ist sehr entspannend ... oder an den demoft Atome Dieses Biologieunterricht rumbasteln, dafür hatChemieunterricht, man ja nichtinso Zeit. dadurch veranschaulicht werden, dass ihr Wesen auf ein Modell Wenn ich mal eine Idee für die Wohnung habe, oder für * Die beiden Modelle übertragen wird. Das Bohrsche Atommodell ebnete den Weg zum was zum Verschenken, dann nehme ich mirzeigt auch * Verständnis des Aufbaus der Atomhülle. An ihm sich,gern wie unterscheiden sich Zeit, das finde ich dann ganz toll.“ Elektronen um den Kern kreisen, ähnlich wie Planeten sich auf ihren jedoch eklatant: Das Bahnen um die Sonne bewegen – was uns ebenfalls aus AnschauWissen über Pflanzen ungsmodellen bekannt ist. zellen fusst auf
mikroskopischen Untersuchungen (schon 1665 wurde die Zelle das erste Mal unter einem Mikroskop sichtbar) und ist im Modell vergrößert und ver einfacht dreidimensional dargestellt. Das Bohrsche Atommodell von 1913 veranschaulicht den Aufbau von etwas, das damals gar nicht mit dem Auge zu erfassen war: Erst rund40 Jahre später war es möglich, einen Atomkern unterm Mikroskop zu „sehen“ – Bohrs Modell beruht allein auf Berechnungen und verleiht den nebulösen Fakten eine dingliche, begreifbare Form.
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48 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Marburg 2012 , S. 48 30 Jahre, Erzieherin 49 Vgl.: Hochner, Binyamin: „Control of Octopus Arm Extension by a Peripheral Motor Program“ in Science Nr. 293, Washington D.C. 2001, S. 1.845 f. 50 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 29
Auf diese gegenständliche Art und Weise können abstrakte Sachverhalte in ihrer Komplexität reduziert und auf ein greifbares Modell heruntergebrochen werden – eine Ebene der Darstellung, auf der uns das Verstehen leichter fällt.
„Einmal – wir müssen damals elf oder zwölf gewesen sein – diskutierten wir über etwas, und ich erklärte: »Aber denken ist ja nichts anderes, als innerlich mit sich selber reden.« »Meinst du?« antwortete Bernie. »Kennst du die Kurbelwelle am Auto, die so komisch aussieht?« »Ja, warum?« »Gut, dann sag mir doch, wie beschreibst du sie, wenn du mit dir selber redest?« So lernte ich von Bernie, dass Gedanken verbal Richard P. Feynman, und visuell sein können.“ Physiker und Nobelpreisträger Diese Form „begreifbarer“ Logik kommt auch zum Tragen, haben wir es mit einem Defekt, etwa an einem mechanischen Apparat, zu tun. Hier kann man durch actio und reactio Probleme aufspüren, verstehen und meist direkt „sehen“, wie eine Reparaturidee beschaffen sein müsste, um rasch Abhilfe zu schaffen. Konnte man eine abgebrochene Taste an einem alten Kassettenrekorder noch einfach kleben oder die Bedienung mit einem ähnliche Eigenschaften aufweisenden Objekt improvisieren, ein Klemmen oder Haken im Innern des Rekorder-Gehäuses eventuell noch selbst reparieren, weil sich das Problem durch genaues Hinschauen und mechanische Überlegungen rasch erschließen ließ, so sieht es mit aktuellen Musikwiedergabegeräten anders aus. Die Verbindung zwischen einem mechanischen, haptischen Bemerkbarmachen von actio und reactio, wie etwa durch das Drücken eines Knopfes, hat „sensorische“ Konkurrenz bekommen: Die meisten hochkomplexen Gerätschaften, die sich einer elektrosensorischen Steuerungstechnik wie dem Touchscreen bedienen, sind von dieser Möglichkeit der Funktionsdurchschauung ausgeschlossen. Bei ihnen geht eben jenes Verständnis, die Einsicht für Funktionsweisen, meist verloren, weil der Laie beispielsweise bei einem MP3-Player gar nicht mehr begreifen kann, wie die Verbindung zwischen dem Berühren des Touchscreens und dem Starten der Musik hergestellt wird. Ein sensorisches Bedienfeld ist durch seine flexible Belegbarkeit zwar clever und platzsparend konstruiert, ein logisches taktiles Feedback
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vielleicht nicht einmal betrachtet haben – fällt auf, wie automatisiert und unbemerkt die Interaktion mit Gegenständen oft abläuft. Betrachten wir allein die Zeit zwischen dem Aufstehen am Morgen und dem Verlassen der Wohnung, fällt uns gewiss eine Vielzahl an Gegenständen ein, die wir in dieser Zeit verwendet haben. Da wären etwa der Wecker, die Pantoffeln, ein Lichtschalter, der Wasserhahn, ein Stück Seife, der Toaster, eine Milchtüte, die Kaffeemaschine und wahrscheinlich jede Menge Tür- oder Schubladengriffe. „Es gibt automatisch ablaufende Handlungen, so als hätten die Hände (und nicht der Kopf) Erinnerungen an den Umgang mit den Dingen gespeichert.“48 Dass die Extremitäten über eine autonome Selbstkontrolle verfügen, trifft streng genommen nur auf den Oktopus49, nicht jedoch auf den Menschen zu. Trotzdem gibt es viele Handlungen, an die man keinen Gedanken verschwendet, die man beinahe automatisch ausführt, wie z. B. das Zuknöpfen des Mantels oder das Schuhe binden. Auch besitzen wir oft eine erstaunliche Vertrautheit für Richtungen und Abstände: Innerhalb unserer eigenen vier Wände können wir wie blind nach etwas greifen und durchqueren nachts, auch ohne das Licht einzuschalten, stolperfrei die Wohnung.50 Doch nicht nur bei derlei unterbewussten, alltäglichen Handlungen ist die Hand eine wichtige Instanz, auch im Be-greifen der Dinge kann sie als Werkzeug der Erkenntnis dienen: Menschen können 158 Objekte mit der Intelligenz von Hand und Auge nicht nur erfahren, sondern auch verstehen. Dass sich Dinge so einfacher erschließen lassen, sehen wir beispielsweise daran, wie komplexe Sachverhalte im Schulunterricht modellhaft dargestellt werden: Erinnern wir uns nur einmal an die pflanzliche Zelle im Maßstab 6.000 : 1 aus dem Biologieunterricht oder an den Chemieunterricht, in dem Atome dadurch veranschaulicht werden, dass ihr Wesen auf ein Modell * Die beiden Modelle übertragen wird. Das Bohrsche Atommodell ebnete den Weg zum * An ihm zeigt sich, wie unterscheiden sich Verständnis des Aufbaus der Atomhülle. Elektronen um den Kern kreisen, ähnlich wie Planeten sich auf ihren jedoch eklatant: Das Bahnen um die Sonne bewegen – was uns ebenfalls aus AnschauWissen über Pflanzen ungsmodellen bekannt ist. zellen fusst auf
mikroskopischen Untersuchungen (schon 1665 wurde die Zelle das erste Mal unter einem Mikroskop sichtbar) und ist im Modell vergrößert und ver einfacht dreidimensional dargestellt. Das Bohrsche Atommodell von 1913 veranschaulicht den Aufbau von etwas, das damals gar nicht mit dem Auge zu erfassen war: Erst rund40 Jahre später war es möglich, einen Atomkern unterm Mikroskop zu „sehen“ – Bohrs Modell beruht allein auf Berechnungen und verleiht den nebulösen Fakten eine dingliche, begreifbare Form. 48 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Marburg 2012 , S. 48 49 Vgl.: Hochner, Binyamin: „Control of Octopus Arm Extension by a Peripheral Motor Program“ in Science Nr. 293, Washington D.C. 2001, S. 1.845 f. 50 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 29
Auf diese gegenständliche Art und Weise können abstrakte Sachverhalte in ihrer Komplexität reduziert und auf ein greifbares Modell heruntergebrochen werden – eine Ebene der Darstellung, auf der uns das Verstehen leichter fällt.
„Einmal – wir müssen damals elf oder zwölf gewesen sein – diskutierten wir über etwas, und ich erklärte: »Aber denken ist ja nichts anderes, als innerlich mit sich selber reden.« »Meinst du?« antwortete Bernie. »Kennst du die Kurbelwelle am Auto, die so komisch aussieht?« »Ja, warum?« »Gut, dann sag mir doch, wie beschreibst du sie, wenn du mit dir selber redest?« So lernte ich von Bernie, dass Gedanken verbal Richard P. Feynman, und visuell sein können.“ Physiker und Nobelpreisträger Diese Form „begreifbarer“ Logik kommt auch zum Tragen, haben wir es mit einem Defekt, etwa an einem mechanischen Apparat, zu „Das ist beim Umzug passiert. Obwohl nein – stimmt tun. Hier kann man durch actio und reactio Probleme aufspüren, garverstehen nichtund ...meist Ach, das ist wie wie passiert: Man direkt „sehen“, einefolgt Reparaturidee beschaffen muss einen Schallplattenspieler manchmal sauseinja müsste, um rasch Abhilfe zu schaffen. berKonnte machen. Gerade an den Knöpfen. Der Lift-Knopf man eine abgebrochene Taste an einem alten Kassettenrekorder noch einfach kleben oder die Bedienung mit einem ähnliche für den Tonarm, mit dem man diesen Arm hoch und Eigenschaften aufweisenden Objekt improvisieren, ein Klemmen runter machen kann, ist ja der am häufigsten oder Haken im Innern des Rekorder-Gehäuses eventuell noch selbst benutzte Knopf, und gerade der ist kaputt geganreparieren, weil sich das Problem durch genaues Hinschauen und gen. Da war Überlegungen Dreck drauf den habe mechanische raschund erschließen ließ, soich siehtsauber es mit machen wollen, und dabei anders ist die Verbindung vom aktuellen Musikwiedergabegeräten aus. Die Verbindung Knopf zureinem Elektronik abgebrochen. Der Schalter zwischen mechanischen, haptischen Bemerkbarmachen von und reactio, wie etwa da, durchaber das Drücken Knopfes, hat den waractio natürlich noch man eines konnte damit „sensorische“ Konkurrenz bekommen: Die meisten hochkomplexen Mechanismus nicht mehr auslösen. Gerätschaften, die sich einer elektrosensorischen Steuerungstechnik Ich habe mich natürlich erstmal geärgert ... weil wie dem Touchscreen bedienen, sind von dieser Möglichkeit der derFunktionsdurchschauung Plattenspieler so ein wichtiges ausgeschlossen. Bei ihnenObjekt geht ebenfür mich Den habe ichfürschon lange, meist das verloren, ist ein jenesist. Verständnis, die Einsicht Funktionsweisen, sehr Plattenspieler, habe ich weilhochwertiger der Laie beispielsweise bei einem MP3-Playerden gar nicht mehr begreifen kann, wie die Verbindung zwischen dem Berühren des von meinem Vater bekommen und der hat damals an undgekostet. dem Starten der Musik wird. Ein dieTouchscreens 1000 Euro Und ja,hergestellt auf jeden Fall sensorisches Bedienfeld ist durch seine flexible Belegbarkeit zwar hätte ich ihn gar nicht mehr benutzen können, clever und platzsparend konstruiert, ein logisches taktiles Feedback
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vielleicht nicht einmal betrachtet haben – fällt auf, wie automatisiert und unbemerkt die Interaktion mit Gegenständen oft abläuft. Betrachten wir allein die Zeit zwischen dem Aufstehen am Morgen dem den Verlassen dernicht Wohnung, fällt uns gewiss eine Vielzahl an weilund man Arm manuell bedienen kann. Gegenständen ein, die wir in dieser Zeit verwendet haben. Da wären Das war ja die Misere. Kleben ging nicht, weil etwa der Wecker, die Pantoffeln, ein Lichtschalter, der Wasserhahn, es fehlte Stab, eine dieMilchtüte, Verbindung zwischen ein Stück dieser Seife, der Toaster, die Kaffeemaschine und Knopf und Elektronik, deroder war ja abgebrochen „Es gibt und wahrscheinlich jede Menge TürSchubladengriffe. ablaufende Handlungen, so als hätten die Hände (und nicht dannautomatisch ins Innenleben gefallen. Das war natürlich 48 der Kopf) Erinnerungen an den Umgang mit den Dingen gespeichert.“ schrecklich – die Vorstellung, keine Musik mehr Dasszu diekönnen. Extremitäten über eine autonome Selbstkontrolle verfügen, hören trifft streng genommen nur auf den Oktopus49, nicht jedoch auf den Da musste ich mir also was einfallen lassen. Dann Menschen zu. Trotzdem gibt es viele Handlungen, an die man keinen musste ich verschwendet, ein Objektdiefinden, mit dem ich das wie Gedanken man beinahe automatisch ausführt, benutzen kann. Irgendwann bin ich drauf z. B. das Zuknöpfen des Mantels oder das Schuhe binden. gekommen, besitzen wir oft Streichhölzer eine erstaunliche Vertrautheit für Richtungen dassAuch gerade diese außergewöhnlich und Abstände: Innerhalb unserer eigenen vier Wände können wir gut diesen Mechanismus auslösen könnten. Also, wie blind nach etwas greifen und durchqueren nachts, auch ohne ich habe nicht direkt an ein Streichholz gedacht, das Licht einzuschalten, stolperfrei die Wohnung.50 als ich was gesucht habe. Aber ich schätze, da lag damals rum. Ichalltäglichen habe halt an so Dochein nicht Streichholz nur bei derlei unterbewussten, Handlungen ein ist dünnes, langes Die Funktionsdie Hand eine wichtigeDing Instanz,gedacht. auch im Be-greifen der Dinge kann sie als Werkzeug der Erkenntnis dienen: Menschen können tüchtigkeit des Plattenspielers ist quasi abhän160 Objekte mit der Intelligenz von Hand und Auge nicht nur erfahren, gig von einem kleinen Streichholz, das nicht mal auch verstehen. Dass sich Dingewie so einfacher erschließenEs ein sondern Tausendstel so viel kostet der Spieler. lassen, sehen wir beispielsweise daran, wie komplexe Sachverhalte ist aber auch wichtig – mit dem Zündkopf geht es im Schulunterricht modellhaft dargestellt werden: Erinnern wir uns nicht, der hat die richtige Norm. nur einmal an dienicht pflanzliche Zelle im Maßstab... 6.000 : 1 aus dem Vielleicht könnte ich malChemieunterricht, versuchen, irgendwie Biologieunterricht oder an den in dem Atome an dadurch veranschaulicht werden, dass ihr Wesen das auf einStreichholz Modell diesen Knopf, den ich ja noch habe, * Die beiden Modelle übertragen wird. Das Bohrsche Atommodell ebnete den Weg zumdie zu kleben, damit man das Loch nicht sieht. Na, * des Aufbaus der Atomhülle. An ihm zeigt sich, wie unterscheiden sichNot Verständnis hat es auf jeden Fall gelindert. Das Optimum um den Kern kreisen, ähnlich wie Planeten sich auf ihren jedoch eklatant: Dasist Elektronen das natürlich noch nicht, das ist ja eine NotBahnen um die Sonne bewegen – was uns ebenfalls aus AnschauWissen über Pflanzen lösung. Aber ich habe ungsmodellen bekannt ist. mich sehr schnell an diesen zellen fusst auf Missstand gewöhnt, das ist jetzt ganz normal. Ab mikroskopischen Untersuchungen (schon 1665 wurde die Zelle das erste Mal und zu sichtbar) spiele ichund trotzdem dem vergrößert Gedanken, eine und ver Modell ist im mit unter einem Mikroskop Lösung zu finden, die es nicht ganz so schäbig 1913 von Atommodell einfacht dreidimensional dargestellt. Das Bohrsche aussehen lässt – Tja, so war das.“ veranschaulicht den Aufbau von etwas, das damals gar nicht mit dem
Auge zu erfassen war: Erst rund40 Jahre später war es möglich, einen Atomkern unterm Mikroskop zu „sehen“ – Bohrs Modell beruht allein auf Berechnungen und verleiht den nebulösen Fakten eine dingliche, begreifbare Form. 48 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, 2012 ,Heilerziehungspfleger S. 48 28Marburg Jahre, 49 Vgl.: Hochner, Binyamin: „Control of Octopus Arm Extension by a Peripheral Motor Program“ in Science Nr. 293, Washington D.C. 2001, S. 1.845 f. 50 Vgl.: Stieve, Claus: Von den Dingen lernen, a.a.O., S. 29
Auf diese gegenständliche Art und Weise können abstrakte Sachverhalte in ihrer Komplexität reduziert und auf ein greifbares Modell heruntergebrochen werden – eine Ebene der Darstellung, auf der uns das Verstehen leichter fällt.
„Einmal – wir müssen damals elf oder zwölf gewesen sein – diskutierten wir über etwas, und ich erklärte: »Aber denken ist ja nichts anderes, als innerlich mit sich selber reden.« »Meinst du?« antwortete Bernie. »Kennst du die Kurbelwelle am Auto, die so komisch aussieht?« »Ja, warum?« »Gut, dann sag mir doch, wie beschreibst du sie, wenn du mit dir selber redest?« So lernte ich von Bernie, dass Gedanken verbal Richard P. Feynman, und visuell sein können.“ Physiker und Nobelpreisträger Diese Form „begreifbarer“ Logik kommt auch zum Tragen, haben wir es mit einem Defekt, etwa an einem mechanischen Apparat, zu tun. Hier kann man durch actio und reactio Probleme aufspüren, verstehen und meist direkt „sehen“, wie eine Reparaturidee beschaffen sein müsste, um rasch Abhilfe zu schaffen. Konnte man eine abgebrochene Taste an einem alten Kassettenrekorder noch einfach kleben oder die Bedienung mit einem ähnliche Eigenschaften aufweisenden Objekt improvisieren, ein Klemmen oder Haken im Innern des Rekorder-Gehäuses eventuell noch selbst reparieren, weil sich das Problem durch genaues Hinschauen und mechanische Überlegungen rasch erschließen ließ, so sieht es mit aktuellen Musikwiedergabegeräten anders aus. Die Verbindung zwischen einem mechanischen, haptischen Bemerkbarmachen von actio und reactio, wie etwa durch das Drücken eines Knopfes, hat „sensorische“ Konkurrenz bekommen: Die meisten hochkomplexen Gerätschaften, die sich einer elektrosensorischen Steuerungstechnik wie dem Touchscreen bedienen, sind von dieser Möglichkeit der Funktionsdurchschauung ausgeschlossen. Bei ihnen geht eben jenes Verständnis, die Einsicht für Funktionsweisen, meist verloren, weil der Laie beispielsweise bei einem MP3-Player gar nicht mehr begreifen kann, wie die Verbindung zwischen dem Berühren des Touchscreens und dem Starten der Musik hergestellt wird. Ein sensorisches Bedienfeld ist durch seine flexible Belegbarkeit zwar clever und platzsparend konstruiert, ein logisches taktiles Feedback
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wie beim „Knopfdruck“ gibt es allerdings nicht mehr. Doch gerade die Natürlichkeit der Re-Aktion, die gewohnte „Rückmeldung“ der Dinge auf unsere Handlungen, gibt uns eine Rückversicherung. Bekommt man auf eine gestellte Anfrage keine Antwort, so liegt die Überlegung nahe, dass irgendwo etwas schief gelaufen sein muss. Der Mensch besitzt eine evolutionär in ihm verankerte Sehnsucht nach einem mechanischen Umgang mit den Dingen.51 Daher versuchen Touchscreengeräte dieses Sehnen und Erwarten durch eine Art vorgetäuschte Mechanik zu befriedigen, in dem sie das fehlende Nachgeben durch den von uns ausgeübten Druck durch ein Vibrations- oder Tonsignal – das akustische Feedback – ersetzen.
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Der französische Medientheoretiker und Philosoph Jean Baudrillard bemängelte schon vor knapp vierzig Jahren, dass „unsere Gegenstände immer differenzierter, unsere Gesten jedoch immer einfacher“52 werden. Technische Errungenschaften wie beispielsweise Smartphones oder Tablets erleichtern und ermöglichen Vieles im täglichen Leben, jedoch entziehen sie sich dabei oft unserem Wissen um ihre Funktion und die unmittelbare Erfahrung mit ihnen geht verloren. Diese Erfahrungen stellen uns aber in direkte Beziehung zum Objekt: Das unmittelbare Erfahren des Dings in seiner Materialität – ob im täglichen Umgang damit oder auch beim Werken – besitzt zudem einen lehrreichen Charakter. Wir lernen durch die aktive Auseinandersetzung etwas über den Gegenstand, über seine Eigenschaften, seine Funktionsweise, wir „durchschauen“ ihn – oder eben auch nicht. Der Vorteil von mechanischen oder physikalischen Überlegungen, die im Gebrauchen, beim Selbst-Herstellen oder Reparieren der Dinge entstehen, ist, wie wir etwas falsch oder richtig gemacht haben. Man könnte auch sagen, es ist eine Art geistiges Handwerken, das in der Folge zur Entstehung eines bestimmten technischen Verständnisses führt. Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman beschreibt in seiner Biografie unzählige Anekdoten, die von Reparaturen, Experimenten und Modifikationen berichten, und gerne geht er dabei im Detail darauf ein, wie simpel sich Probleme lösen lassen, wenn man die Gegenstände nur aufmerksam genug betrachtet. Einer der Berichte gibt Einblick in seine Überlegungen zur Reparatur eines Radios, die er in den 1930er Jahren durchführte, zur Zeit der großen Depression, als er gerade einmal elf Jahre alt war: „Die Schaltkreise in Radios waren damals viel leichter zu verstehen, denn alles war bequem zugänglich. Nachdem man das Gerät auseinandergenommen hatte (das größte Problem war, die richtigen Schrauben zu finden), konnte man sehen, dies ist ein Widerstand, das ist ein Konden-
51 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 89 52 Baudrillard, Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974, S. 74
sator, hier ist dies, dort ist das: Alle Teile waren beschriftet. Und wenn Wachs aus einem Kondensator herausgetropft war, war dieser zu heiß, und es war klar, dass der Kondensator durchgebrannt war. Wenn Kohle auf einem der Widerstände war, wußte man, wo der Schaden lag. Oder wenn man durch Hinsehen nicht herausfand, was los war, testete man ihn mit dem Voltmeter und schaute, ob Spannung durchkam. Die Geräte waren einfach, die Schaltkreise unkompliziert. (…) Deshalb war es für mich nicht schwer, ein Radio auf diese Weise zu reparieren: Ich verstand, was innen vor sich ging, ich stellte fest, dass irgend etwas nicht richtig arbeitete und behob den Schaden.“53
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Natürlich braucht es für derartige Überlegungen im Gegensatz zu den oft recht „selbsterklärenden“ mechanischen Problemen, wie beim Beispiel des Kassettenrekorders mit der abgebrochenen Taste, auch Vorwissen, doch dieses Wissen eignet man sich im Umgang mit den Gegenständen nach und nach an. So verlieren derlei Geräte „Ich habe überlegt, wie ichOhnmacht den Fleck weg bekomme. ihren Black-Box-Charakter, die große im Schadensfall bleibt aus. Was kann man machen? Was draufnähen, ’nen Flicken? Aber ich Nähe ja gar nicht so gut. Dann war da der Warum sich jedoch mit einfachen Grundlagen vertraut machen? Gedanke, ich färbe den ganzen Beutel einfach ein. Warum versuchen, simple Objekte oder Phänomene zu durchMitschauen, Textilfärbemittel der Drogerie, kann man von denen wir denken,aus keinen Bezug zu ihnen zudas haben? ganz einfach selbst inumder Waschmaschine machen. Und Warum versuchen, die Dinge uns herum derart zu begreifen? er Der istenglische dadurch auch schöner geworden – ich finde den Naturwissenschaftler Isaac Newton schuf 1687 mit seinen Gravitationsgesetzen eines der bedeutendsten wissenschaftBeutel jetzt besser als vorher, weil er auch nicht lichen welches zum Forschungsfundament für die darauffolmehr soWerke, jutesackmäßig aussieht. Sehr schön ist ja genden Generationen wurde. Trotz dessen, dass ihm überragendes auch, dass die Nähte nicht – das war natürlich gar Lob und großes Ansehen für seine Forschung zuteil wurde, schrieb nicht vorhersehbar – die Nähte sind nicht mitgefärbt worden ... Und erst dadurch sieht es sehr schick aus. 53 Feynman, Richard P. : Sie belieben wohl zu Scherzen, Mr. Feynman!, München 1987, S. 25
wie beim „Knopfdruck“ gibt es allerdings nicht mehr. Doch gerade die Natürlichkeit der Re-Aktion, die gewohnte „Rückmeldung“ der Dinge auf unsere Handlungen, gibt uns eine Rückversicherung. Bekommt man auf eine gestellte Anfrage keine Antwort, so liegt die Überlegung nahe, dass irgendwo etwas schief gelaufen sein muss. Es scheint mirbesitzt alsoeine eine Kunststofffaser sein, Der Mensch evolutionär in ihm verankerte zu Sehnsucht 51 Daher vernach einem mechanischen Umgang mit den Dingen. die hier Verwendung findet. Leider sind die schicken dieses Sehnen und Erwarten durch eine Nähte suchen nur Touchscreengeräte oben am Rand. Hhm ... Man könnte ihn Art vorgetäuschte Mechanik zu befriedigen, in dem sie das fehlende natürlich auf links krempeln, wie sieht denn das Nachgeben durch den von uns ausgeübten Druck durch ein Vibrawohl aus? (krempelt Beutel Feedback um) Die Ränder sehen tions- oder Tonsignal –den das akustische – ersetzen. ganz gut aus, ein bisschen wie bei einer Jeanshose. Man sieht jetzt erst richtig, wie und woJean derBaudrillard Beutel Der französische Medientheoretiker und Philosoph „unsere Gegenstände bemängelte schon vor knapp vierzig Jahren, dass Nähte hat und wie er vielleicht hergestellt wurde. 52 werden. immer differenzierter, unsere jedoch immer Ganz aufschlussreich ... Gesten Ich habe sehr einfacher“ viel über dieTechnische Errungenschaften wie beispielsweise Smartphones oder sen Beutel erfahren, was ich sonst gar nicht gewusst Tablets erleichtern und ermöglichen Vieles im täglichen Leben, hätte, jedoch hätte er nicht FleckWissen gehabt.“ entziehen sie sichdiesen dabei oft unserem um ihre Funktion
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und die unmittelbare Erfahrung mit ihnen geht verloren. Diese Erfahrungen stellen uns aber in direkte Beziehung zum Objekt: Das unmittelbare Erfahren des Dings in seiner Materialität – ob im täglichen Umgang damit oder auch beim Werken – besitzt zudem einen lehrreichen Charakter. Wir lernen durch die aktive Auseinandersetzung etwas über den Gegenstand, über seine Eigenschaften, seine Funktionsweise, wir „durchschauen“ ihn – oder eben auch nicht. Der Vorteil von mechanischen oder physikalischen Überlegungen, die im Gebrauchen, beim Selbst-Herstellen oder Reparieren der Dinge entstehen, ist, wie wir etwas falsch oder richtig gemacht haben. Man könnte auch sagen, es ist eine Art geistiges Handwerken, das in der Folge zur Entstehung eines bestimmten technischen Verständnisses führt. Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman beschreibt in seiner Biografie unzählige Anekdoten, die von Reparaturen, Experimenten und Modifikationen berichten, und gerne geht er dabei im Detail darauf ein, wie simpel sich Probleme lösen lassen, wenn man die Gegenstände nur aufmerksam genug betrachtet. Einer der Berichte gibt Einblick in seine Überlegungen zur Reparatur eines Radios, die er in den 1930er Jahren durchführte, zur Zeit der großen Depression, als er gerade einmal elf Jahre alt war: „Die Schaltkreise in Radios waren damals viel leichter zu verstehen, denn alles war bequem zugänglich. Nachdem man das Gerät auseinandergenommen hatte (das größte Problem war, die richtigen Schrauben zu finden), konnte man sehen, dies ist ein Widerstand, das ist ein Konden-
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38 Jahre, freiberuflicher Musiker 51 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 89 52 Baudrillard, Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974, S. 74
sator, hier ist dies, dort ist das: Alle Teile waren beschriftet. Und wenn Wachs aus einem Kondensator herausgetropft war, war dieser zu heiß, und es war klar, dass der Kondensator durchgebrannt war. Wenn Kohle auf einem der Widerstände war, wußte man, wo der Schaden lag. Oder wenn man durch Hinsehen nicht herausfand, was los war, testete man ihn mit dem Voltmeter und schaute, ob Spannung durchkam. Die Geräte waren einfach, die Schaltkreise unkompliziert. (…) Deshalb war es für mich nicht schwer, ein Radio auf diese Weise zu reparieren: Ich verstand, was innen vor sich ging, ich stellte fest, dass irgend etwas nicht richtig arbeitete und behob den Schaden.“53
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Natürlich braucht es für derartige Überlegungen im Gegensatz zu den oft recht „selbsterklärenden“ mechanischen Problemen, wie beim Beispiel des Kassettenrekorders mit der abgebrochenen Taste, auch Vorwissen, doch dieses Wissen eignet man sich im Umgang mit den Gegenständen nach und nach an. So verlieren derlei Geräte ihren Black-Box-Charakter, die große Ohnmacht im Schadensfall bleibt aus. Warum sich jedoch mit einfachen Grundlagen vertraut machen? Warum versuchen, simple Objekte oder Phänomene zu durchschauen, von denen wir denken, keinen Bezug zu ihnen zu haben? Warum versuchen, die Dinge um uns herum derart zu begreifen? Der englische Naturwissenschaftler Isaac Newton schuf 1687 mit seinen Gravitationsgesetzen eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Werke, welches zum Forschungsfundament für die darauffolgenden Generationen wurde. Trotz dessen, dass ihm überragendes Lob und großes Ansehen für seine Forschung zuteil wurde, schrieb
53 Feynman, Richard P. : Sie belieben wohl zu Scherzen, Mr. Feynman!, München 1987, S. 25
wie beim „Knopfdruck“ gibt es allerdings nicht mehr. Doch gerade die Natürlichkeit der Re-Aktion, die gewohnte „Rückmeldung“ der Dinge auf unsere Handlungen, gibt uns eine Rückversicherung. Bekommt man auf eine gestellte Anfrage keine Antwort, so liegt die Überlegung nahe, dass irgendwo etwas schief gelaufen sein muss. Der Mensch besitzt eine evolutionär in ihm verankerte Sehnsucht nach einem mechanischen Umgang mit den Dingen.51 Daher versuchen Touchscreengeräte dieses Sehnen und Erwarten durch eine Art vorgetäuschte Mechanik zu befriedigen, in dem sie das fehlende Nachgeben durch den von uns ausgeübten Druck durch ein Vibrations- oder Tonsignal – das akustische Feedback – ersetzen.
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Der französische Medientheoretiker und Philosoph Jean Baudrillard bemängelte schon vor knapp vierzig Jahren, dass „unsere Gegenstände immer differenzierter, unsere Gesten jedoch immer einfacher“52 werden. Technische Errungenschaften wie beispielsweise Smartphones oder Tablets erleichtern und ermöglichen Vieles im täglichen Leben, jedoch entziehen sie sich dabei oft unserem Wissen um ihre Funktion und die unmittelbare Erfahrung mit ihnen geht verloren. Diese Erfahrungen stellen uns aber in direkte Beziehung zum Objekt: Das unmittelbare Erfahren des Dings in seiner Materialität – ob im täglichen Umgang damit oder auch beim Werken – besitzt zudem einen lehrreichen Charakter. Wir lernen durch die aktive Auseinandersetzung etwas über den Gegenstand, über seine Eigenschaften, seine Funktionsweise, wir „durchschauen“ ihn – oder eben auch nicht. Der Vorteil von mechanischen oder physikalischen Überlegungen, die im Gebrauchen, beim Selbst-Herstellen oder Reparieren der Dinge entstehen, ist, wie wir etwas falsch oder richtig gemacht haben. Man könnte auch sagen, es ist eine Art geistiges Handwerken, das in der Folge zur Entstehung eines bestimmten technischen Verständnisses führt. Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman beschreibt in seiner Biografie unzählige Anekdoten, die von Reparaturen, Experimenten und Modifikationen berichten, und gerne geht er dabei im Detail darauf ein, wie simpel sich Probleme lösen lassen, wenn man die Gegenstände nur aufmerksam genug betrachtet. Einer der Berichte gibt Einblick in seine Überlegungen zur Reparatur eines Radios, die er in den 1930er Jahren durchführte, zur Zeit der großen Depression, als er gerade einmal elf Jahre alt war: „Die Schaltkreise in Radios waren damals viel leichter zu verstehen, denn alles war bequem zugänglich. Nachdem man das Gerät auseinandergenommen hatte (das größte Problem war, die richtigen Schrauben zu finden), konnte man sehen, dies ist ein Widerstand, das ist ein Konden-
51 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 89 52 Baudrillard, Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974, S. 74
sator, hier ist dies, dort ist das: Alle Teile waren beschriftet. Und wenn Wachs aus einem Kondensator herausgetropft war, war dieser zu heiß, und es war klar, dass der Kondensator durchgebrannt war. Wenn Kohle auf einem der Widerstände war, wußte man, wo der Schaden lag. Oder wenn man durch Hinsehen nicht herausfand, was los war, testete man ihn mit dem Voltmeter und schaute, ob Spannung durchkam. Die Geräte waren einfach, die Schaltkreise unkompliziert. (…) Deshalb war es für mich nicht schwer, ein Radio auf diese Weise zu reparieren: Ich verstand, was innen vor sich ging, ich stellte fest, dass irgend etwas nicht richtig arbeitete und behob den Schaden.“53
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„Also ich habe mich am Anfang ein wenig mit Freunbraucht es für derartige rumgefragt, Überlegungen im Gegensatz zu einen denNatürlich darüber unterhalten, ob jemand den oft recht „selbsterklärenden“ mechanischen Problemen, wie Tip hat, und mir so verschiedene Meinungen eingebeim Beispiel des Kassettenrekorders mit der abgebrochenen Taste, holt. meinten, was nähen soll. auch Viele Vorwissen, doch diesesdass Wissenich eignet mandrüber sich im Umgang Dasmitsind ja aber auch die Leute, die selbst nähen den Gegenständen nach und nach an. So verlieren derlei Geräte Black-Box-Charakter, große Ohnmacht im Schadensfall undihren eine Nähmaschinediehaben ... Sowas besitze ich ja bleibt aus. Aber das war auf jeden Fall schon mal gar nicht. recht kommunikativ. Dann hab’ ich gedacht, pragmaWarum sich jedoch mit einfachen Grundlagen vertraut machen? tisch bleiben. Ich könnte einfach noch mehr Flecken Warum versuchen, simple Objekte oder Phänomene zu durchmachen, Stempelfarbe – zack. konnte mir ja schauen,mit von denen wir denken, keinen BezugIch zu ihnen zu haben? vorstellen, dassdiedie Stempelfarbe gut hält. Ich habe Warum versuchen, Dinge um uns herum derart zu begreifen? englische Naturwissenschaftler Isaac Newton schuf dieDer nämlich schon eimal aus Versehen an1687 dermit Arbeit seinen Gravitationsgesetzen eines der bedeutendsten wissenschaftüber den Fußboden gekippt, und die Putzfrau hat mich lichen Werke, welches zum Forschungsfundament die darauffolgehasst dafür – denn die kriegt manfür garn nicht mehr genden Generationen wurde. Trotz dessen, dass ihm überragendes weg. Aber meine Flecken, die, die ich gemacht habe, Lob und großes Ansehen für seine Forschung zuteil wurde, schrieb die sehen ganz anders aus als der, der schon drauf war. Da ist die Farbe völlig anders in den Stoff 53 Feynman, Richard P. : Sie belieben wohl zu Scherzen, Mr. Feynman!, München 1987, S. 25
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wie beim „Knopfdruck“ gibt es allerdings nicht mehr. Doch gerade die Natürlichkeit der Re-Aktion, die gewohnte „Rückmeldung“ der Dinge auf unsere Handlungen, gibt uns eine Rückversicherung. Bekommt man auf eine gestellte Anfrage keine Antwort, so liegt die Überlegung nahe, dass irgendwo etwas schief gelaufen sein muss. gelaufen. Eigentlich der Plan, den kompletten Der Mensch besitzt einewar evolutionär in ihm verankerte Sehnsucht 51 Daher vereinem mechanischen Umgang mit denAber Dingen.diese Beutelnach mit Flecken vollzumachen. Stemsuchen Touchscreengeräte dieses Sehnen und Erwarten durch einevom pelfarbe, mit der ich das gemacht habe, die wurde Art vorgetäuschte Mechanik zu befriedigen, in dem sie das fehlende Beutel nicht gut aufgenommen. Deswegen hab’ ich’s Nachgeben durch den von uns ausgeübten Druck durch ein Vibraauch nicht fertig gemacht. Die Farbe verläuft auch tions- oder Tonsignal – das akustische Feedback – ersetzen. nicht so gut, wie ich mir das vorgestellt hatte. Aber von der Art her, wie der Stoff sich Jean anfühlt, Der französische Medientheoretiker und Philosoph Baudrillardda Gegenstände vor knappdenken vierzig Jahren, dass „unsere hätte bemängelte ich mir schon das schon können ... Durch das 52 werden. immer differenzierter, unsere Gesten jedoch immer einfacher“ Auftragen der Farbe gibt man eigentlich eine StrukTechnische beispielsweise Smartphones oder tur oder eine Errungenschaften Form vor, diewieder Fleck dann nachher Tablets erleichtern und ermöglichen Vieles im täglichen Leben, hat. Und ich wollte ja, dass es nicht so geplant ausjedoch entziehen sie sich dabei oft unserem Wissen um ihre Funktion sieht, und es die sollte zufällig wirken. wollte einen unmittelbare Erfahrung mit ihnen Ich geht verloren. KlecksDiese machen, der stellen dannuns irgendwie Erfahrungen aber in direkteverläuft, Beziehung zumsodass Objekt: Das unmittelbare Erfahren des Dings in seiner ob imFarbe man auch überrascht wird. Ging aberMaterialität nicht. –Die täglichen Umgang ungeeignet, damit oder auch beim besitzt war dafür völlig undWerken das –sah zuzudem künsteinen lehrreichen Charakter. Wir lernen durch die aktive Auseinanlich aus, das fand ich blöd. Und naja, jetzt ist die dersetzung etwas über den Gegenstand, über seine Eigenschaften, Farbe ja schon drauf ... (lacht) Das ist also eher seine Funktionsweise, wir „durchschauen“ ihn – oder eben auch eine Materialstudie geworden.oder Aber ich bin ja auch nicht. Der Vorteil von mechanischen physikalischen Überlegunjemand,gen, ich mache mir mit solchen Dingen auch nicht die im Gebrauchen, beim Selbst-Herstellen oder Reparieren der Dinge entstehen, ist, wiemich wir etwas falsch oder richtig viel Arbeit. Ich habe gefragt, also ...gemacht ich nutze Man zum könnte auch sagen, es oder ist einemal Art geistiges Handwerdiesenhaben. Beutel Einkaufen, abends, jedenken, das in der Folge zur Entstehung eines bestimmten technischen falls hat man den ja immer über der Schulter hängen, Verständnisses führt. und sieht also ohnehin nur eine Seite. Ich bin da sehr pragmatisch also ist der Plan, dass Der amerikanischeveranlagt, Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynich ihn herum trage, sodass maneinfach beschreibtimmer in seineranders Biografie unzählige Anekdoten, die vonman Reparaturen, und Modifikationen berichten, und den Fleck nichtExperimenten sehen kann. Aber ich hab’s versucht, gerne geht er dabei im Detail darauf ein, wie simpel sich Probleme das ist ja schonmal was.“ lösen lassen, wenn man die Gegenstände nur aufmerksam genug betrachtet. Einer der Berichte gibt Einblick in seine Überlegungen zur Reparatur eines Radios, die er in den 1930er Jahren durchführte, zur Zeit der großen Depression, als er gerade einmal elf Jahre alt war: „Die Schaltkreise in Radios waren damals viel leichter zu verstehen, denn alles war bequem zugänglich. Nachdem man das Gerät auseinandergenommen hatte (das größte Problem war, die richtigen Schrauben zu finden), konnte man sehen, dies ist ein Widerstand, das ist ein Konden-
E4/Katrin
30 Jahre, Bibliothekarin 51 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 89 52 Baudrillard, Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974, S. 74
sator, hier ist dies, dort ist das: Alle Teile waren beschriftet. Und wenn Wachs aus einem Kondensator herausgetropft war, war dieser zu heiß, und es war klar, dass der Kondensator durchgebrannt war. Wenn Kohle auf einem der Widerstände war, wußte man, wo der Schaden lag. Oder wenn man durch Hinsehen nicht herausfand, was los war, testete man ihn mit dem Voltmeter und schaute, ob Spannung durchkam. Die Geräte waren einfach, die Schaltkreise unkompliziert. (…) Deshalb war es für mich nicht schwer, ein Radio auf diese Weise zu reparieren: Ich verstand, was innen vor sich ging, ich stellte fest, dass irgend etwas nicht richtig arbeitete und behob den Schaden.“53
169 Foto: Patrick Stevenson
Das „Pirate Radio“ des britischen Designers Patrick Stevenson kommt ohne Antenne und Drehknopf daher: Der Konsument muss selbst ein „Bauteil“ finden, das – im Fall der Antenne – über eine gute Leitfähigkeit verfügen muss.
Natürlich braucht es für derartige Überlegungen im Gegensatz zu den oft recht „selbsterklärenden“ mechanischen Problemen, wie beim Beispiel des Kassettenrekorders mit der abgebrochenen Taste, auch Vorwissen, doch dieses Wissen eignet man sich im Umgang mit den Gegenständen nach und nach an. So verlieren derlei Geräte ihren Black-Box-Charakter, die große Ohnmacht im Schadensfall bleibt aus. Warum sich jedoch mit einfachen Grundlagen vertraut machen? Warum versuchen, simple Objekte oder Phänomene zu durchschauen, von denen wir denken, keinen Bezug zu ihnen zu haben? Warum versuchen, die Dinge um uns herum derart zu begreifen? Der englische Naturwissenschaftler Isaac Newton schuf 1687 mit seinen Gravitationsgesetzen eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Werke, welches zum Forschungsfundament für die darauffolgenden Generationen wurde. Trotz dessen, dass ihm überragendes Lob und großes Ansehen für seine Forschung zuteil wurde, schrieb
53 Feynman, Richard P. : Sie belieben wohl zu Scherzen, Mr. Feynman!, München 1987, S. 25
er bescheiden in einem Briefwechsel mit einem Kollegen, in dem es um seine Veröffentlichungen ging: „wenn er selbst weiter fortgeschritten sei, so habe er das gekonnt, weil er dabei auf den Schultern von Riesen gestanden“54 habe. Erkennen wir Hand und Auge als wichtige Werkzeuge im Umgang mit den Dingen, so stellen wir fest, dass sie dabei nicht nur der bewussten Wahrnehmung dienen, sondern uns ganz grundlegend auch beim Begreifen unserer Welt helfen. In einer Zeit, in der sich technische Geräte mehr und mehr der Vorstellungskraft des Laien entziehen, kann es nur von Vorteil sein, sich im Newtonschen Sinne auf Schultern zu stellen, seien es auch nicht gleich jene eines Riesen. Jede Problemstellung kann also als Herausforderung verstanden werden etwas zu lernen, sich Fertigkeiten anzueignen und so an Autonomie und Selbstvertrauen zu gewinnen.
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54 Rosenberger, Ferdinand: Isaac Newton und seine physikalischen Principien, Leipzig 1895, S. 115
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gen Als Thomas Edison an der Entwicklung der ersten dauerhaft funktionstüchti Glühbirne arbeitete, gab es viele Fehlschläge, etwa auf der Suche nach dem richtigen Material für den Glühdraht. Seine Mitarbeiter motivierte er jedes Mal damit, dass jeder Fehlschlag eine Möglichkeit ausschließt und sie der richtigen Lösung ein Stück näher bringt.
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Erfolgreiche Dialoge Beim Lösen gegenständlicher Probleme lassen sich oft positive pädagogische Aspekte feststellen, besonders in Situationen, die unkonventionelle Lösungen erfordern. Auf welche Art können wir von derlei Herausforderungen, die uns zum Improvisieren bringen, profitieren? Zunächst einmal kann eine derartige Problemlösungsstrategie ebenso schwierig sein und ähnlich überraschende Wendungen aufweisen wie die Täterhypothese bei einem anspruchsvollen Kriminalfilm. Kommt doch auch im Fall einer gegenständlichen Lösungsfindung zur Ermittlung bestimmter Unbekannter eine heuristische Methode zum Einsatz, bei der so lange verschiedene zulässige Antworten angetestet werden, bis ein passendes Ergebnis gefunden ist. Mit jedem Fehlschlag, der dabei durchaus in Kauf genommen wird, kommt man so dem Ziel näher. Diese Methode wurde unter anderem durch den Slogan „Versuch und Irrtum“55 durch den amerikanischen Zoologen Herbert Spencer Jennings geprägt, umgansprachlich lässt sie sich mitunter auch einfach als Ausprobieren bezeichnen.
„Erfolg ist ein Gesetz der Serie und Misserfolge sind Zwischenergebnisse. Wer weitermacht, kann gar nicht verhindern, dass er irgendwann x Thomas Alva Edison auch Erfolg hat.“ Dieses Ausprobieren findet sowohl theoretisch, durch entsprechende Überlegungen, als auch praktisch, durch sogenannte „Proben aufs Exempel“, statt – the proof of the pudding is the eating.
+
Verstehen wir ein Problem im positiven Sinne als eine uns fordernde Aufgabe, so können wir ihm häufig eine spielerische Qualität
55 Vgl.: Mitman, Gregg: The State of Nature: Ecology, Community, and American Social Thought, 1900 –1950, Chicago 1992, S. 28 ff.
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Ach, heutzutage ist das ja auch so, da hat man diese farbigen und gemusterten Tesafilmrollen. Man packt ja mitunter das Geschenk gar nicht mehr im Ganzen ein, sondern setzt eher farbige Akzente. Deshalb habe ich jetzt aus diesem Rest, der mir zur Verfügung steht, erstmal ein paar Streifen geschnitten, und die drumherum geklebt, das sieht up to date aus. Ist natürlich schön, dass das Geschenkpapier so schön geometrisch ist, das hilft einem beim akkuraten Zerschneiden, nicht wie so ein wildes Kraut-und-RübenPapier. Daher konnte ich schöne, gleichgroße und -breite Streifen schneiden. Das gefällt mir sehr gut, wenn alles im rechten Winkel ist und die gleichen Abstände hat. Ich mag’s ja ordentlich. Und dann ist jetzt noch was übrig ... Da schaue ich mal, ob ich hier aus dem kleinen Rest noch so origamimäßig ein schickes Accessoire gefaltet bekomme. Hm, vielleicht ein Schiffchen. Mal sehen, ob ich das noch kann ... mmh, peinlich, eigentlich müsste ich das können. Ach Gott, ach Gott, kann ich denn kein Segelschiff mehr? Ich konnte das doch
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gen Als Thomas Edison an der Entwicklung der ersten dauerhaft funktionstüchti Glühbirne arbeitete, gab es viele Fehlschläge, etwa auf der Suche nach dem richtigen Material für den Glühdraht. Seine Mitarbeiter motivierte er jedes Mal damit, dass jeder Fehlschlag eine Möglichkeit ausschließt und sie der richtigen Lösung ein Stück näher bringt.
Erfolgreiche Dialoge
mal. (ruft ihren Mann ) Weißt du noch, wie man ein Segelboot faltet? ... Ich weiß nicht mehr, wie man so ein Segelboot faltet! ... weiß er auch nicht. Ach, ich mache einfach ’nen Amboss, auch schön, was? Und wo klebe ich den hin? Da gibt es ja so viele, viele Möglichkeiten. Probiere ich einfach mal, was dabei so herauskommen kann ... Und dann ist immer noch ein Lösen gegenständlicher lassen noch sich oftso positive Stück Beim über. Daran kann man Probleme jetzt auch rumpädagogische Aspekte feststellen, besonders in Situationen, die falten ... jetzt sieht es zum Beispiel ein bisschen unkonventionelle Lösungen erfordern. Auf welche Art können aus wie ein Vögelchen mit einem Schnabel. Also, die wir von derlei Herausforderungen, die uns zum Improvisieren Form dieses Objekts, das darauf thront, ist so beim bringen, profitieren? Ausprobieren entstanden. Auf der Suche nach diesem Segelboot, das sich leider ergeben hat, habe Zunächst einmal kannja eine derartigenicht Problemlösungsstrategie ebenso schwierig sein und ähnlich überraschende Wendungen aufweisen auf ich hin und her gefaltet. Da waren die Dreiecke wie die natürlich Täterhypothesesehr bei einem anspruchsvollen Das Kriminalfilm. dem Papier inspirierend. mit den Kommt doch auch im Fall einer gegenständlichen Lösungsfindung drei Streifen, das ist mir direkt eingefallen, die zur Ermittlung bestimmter Unbekannter eine heuristische Methode Formen oben drauf sind aber eigentlich ohne Plan zum Einsatz, bei der so lange verschiedene zulässige Antworten entstanden. ichbisdaraus fürErgebnis mich mitnehme, was angetestetWas werden, ein passendes gefunden ist. Mit ich gelernt habe ist, dassdurchaus ich leider kein Segelboot jedem Fehlschlag, der dabei in Kauf genommen wird, kommt man so dem Zielaber näher. Diese wurde unter andemehr falten kann, das gernMethode möchte, und dass ich 55 durch den amerikanirem durch den Slogan „Versuch und Irrtum“ Spaß an Origami hätte.“ schen Zoologen Herbert Spencer Jennings geprägt, umgansprachlich lässt sie sich mitunter auch einfach als Ausprobieren bezeichnen.
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Dieses Ausprobieren findet sowohl theoretisch, durch entsprechende Überlegungen, als auch praktisch, durch sogenannte „Proben aufs Exempel“, statt – the proof of the pudding is the eating.
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Verstehen wir ein Problem im positiven Sinne als eine uns fordernde Aufgabe, so können wir ihm häufig eine spielerische Qualität
E3/Nina
36 Jahre, Förderschullehrerin 55 Vgl.: Mitman, Gregg: The State of Nature: Ecology, Community, and American Social Thought, 1900 -1950, Chicago 1992, S. 28 ff.
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gen Als Thomas Edison an der Entwicklung der ersten dauerhaft funktionstüchti Glühbirne arbeitete, gab es viele Fehlschläge, etwa auf der Suche nach dem richtigen Material für den Glühdraht. Seine Mitarbeiter motivierte er jedes Mal damit, dass jeder Fehlschlag eine Möglichkeit ausschließt und sie der richtigen Lösung ein Stück näher bringt.
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Erfolgreiche Dialoge Beim Lösen gegenständlicher Probleme lassen sich oft positive pädagogische Aspekte feststellen, besonders in Situationen, die unkonventionelle Lösungen erfordern. Auf welche Art können wir von derlei Herausforderungen, die uns zum Improvisieren bringen, profitieren? Zunächst einmal kann eine derartige Problemlösungsstrategie ebenso schwierig sein und ähnlich überraschende Wendungen aufweisen wie die Täterhypothese bei einem anspruchsvollen Kriminalfilm. Kommt doch auch im Fall einer gegenständlichen Lösungsfindung zur Ermittlung bestimmter Unbekannter eine heuristische Methode zum Einsatz, bei der so lange verschiedene zulässige Antworten angetestet werden, bis ein passendes Ergebnis gefunden ist. Mit jedem Fehlschlag, der dabei durchaus in Kauf genommen wird, kommt man so dem Ziel näher. Diese Methode wurde unter anderem durch den Slogan „Versuch und Irrtum“55 durch den amerikanischen Zoologen Herbert Spencer Jennings geprägt, umgansprachlich lässt sie sich mitunter auch einfach als Ausprobieren bezeichnen.
Dieses Ausprobieren findet sowohl theoretisch, durch entsprechende Überlegungen, als auch praktisch, durch sogenannte „Proben aufs Exempel“, statt – the proof of the pudding is the eating.
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Verstehen wir ein Problem im positiven Sinne als eine uns fordernde Aufgabe, so können wir ihm häufig eine spielerische Qualität
55 Vgl.: Mitman, Gregg: The State of Nature: Ecology, Community, and American Social Thought, 1900 -1950, Chicago 1992, S. 28 ff.
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„Erst hatte ich überlegt, das Glas einfach in etwas Zylindrisches hineinzustecken, was sicherlich auch funktioniert hätte, aber dann würde ich ja die Hälfte des Glases wegwerfen. Naheliegend wäre eine rekonstruktive Reparatur gewesen, es handelte sich aber um eine ungünstige Bruchstelle. Ich hatte auch die Idee, mit der Bohrmaschine ein Loch in die Tischplatte zu bohren, um das Glas auf dem Tisch abstellen zu können, wie man das eben macht. Dann kam mir die Idee, die beiden Bruchstücke versetzt miteinander zu verkleben. Dadurch, dass es schräg steht, entstehen zwei Auflagepunkte und man hat eine größere Klebefläche. Ich fand es interessant, das Glas wirklich zu reparieren und auch das abgebrochene Fußfragment zu verwenden.
gen Als Thomas Edison an der Entwicklung der ersten dauerhaft funktionstüchti Glühbirne arbeitete, gab es viele Fehlschläge, etwa auf der Suche nach dem richtigen Material für den Glühdraht. Seine Mitarbeiter motivierte er jedes Mal damit, dass jeder Fehlschlag eine Möglichkeit ausschließt und sie der richtigen Lösung ein Stück näher bringt.
Erfolgreiche Dialoge
Für meine Idee musste ich aber erst noch den restlichen Stiel am Kelch kürzen. Ich wollte mich nicht schneiden, und auf keinen Fall den Kelch kaputt machen, deshalb hab’ ich ihn in ein Küchenhandtuch gewickelt. Es war aber schwer, den Stiel mit dem Hammer an der richtigen Stelle abzuschlagen. Beim Kleben habe ich zwei Anläufe gebraucht. Beim ersten Beimich LösenAugust-der-Starke-Kleber gegenständlicher Probleme lassen sich oft positive das Mal habe genommen, pädagogische Aspekte feststellen, besonders in Situationen, die hat aber nicht funktioniert, denn der Kleber hielt unkonventionelle Lösungen erfordern. Auf welche Art können nicht. Als ich den Wein eingeschenkt habe, da hat wir von derlei Herausforderungen, die uns zum Improvisieren sich die geklebte Stelle gelöst und das volle Glas bringen, profitieren? ist gekippt. Das war knapp. Dann habe ich es später nochmal mit Sekundenkleber versucht – das warebenso ideal, Zunächst einmal kann eine derartige Problemlösungsstrategie schwierig sein und ähnlich überraschende Wendungen aufweisen die Klebestellen sind super stabil geworden. Sekunwie diedas Täterhypothese einem anspruchsvollen Kriminalfilm. denkleber, habe ichbei gelernt, klebt am besten unter Kommt doch auch im Fall einer gegenständlichen Lösungsfindung Druck. Und dann auch sofort. zur Ermittlung bestimmter Unbekannter eine heuristische Methode Und obwohl ichbei alle wollte, zum Einsatz, der soBruchstücke lange verschiedene verwenden zulässige Antworten ist amangetestet Schlusswerden, ist dann noch ein gefunden Stück vom Glas bis ein doch passendes Ergebnis ist. Mit übrig jedem geblieben, aber so ist das in immer: Man repariert Fehlschlag, der dabei durchaus Kauf genommen wird, kommt mansind so demam ZielEnde näher.zwei Diese Methode wurdeüber, unter andewas, und dann Schrauben und 55 durch den amerikanirem durch den Slogan „Versuch und Irrtum“ man weiß gar nicht, wo die hingehören ... (lacht) das schen Zoologen Herbert Spencer Jennings geprägt, umgansprachpassiert mir beim Auto ganz oft.“ lich lässt sie sich mitunter auch einfach als Ausprobieren bezeichnen.
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Dieses Ausprobieren findet sowohl theoretisch, durch entsprechende Überlegungen, als auch praktisch, durch sogenannte „Proben aufs Exempel“, statt – the proof of the pudding is the eating.
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Verstehen wir ein Problem im positiven Sinne als eine uns fordernde Aufgabe, so können wir ihm häufig eine spielerische Qualität
E2/Julian
30 Jahre, Grafikdesigner 55 Vgl.: Mitman, Gregg: The State of Nature: Ecology, Community, and American Social Thought, 1900 -1950, Chicago 1992, S. 28 ff.
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Genau genommen könnte man sagen, dass jedes Gespräch, ob Smalltalk oder mündliche Prüfung, Improvisation erfordert – denn wann befindet man sich schon in einer Situation, in welcher der Gesprächsverlauf bekannt, und man selbst auf jede Wendung vorbereitet ist?
abgewinnen. Ähnlich dem Lösen eines Kreuzworträtsels entsteht dabei durch unsere Interaktion ein Dialog.*Im Gegensatz zum einem einfachen Zeitungsartikel, den wir lesen, wird das Kreuzworträtsel erst durch unser Zutun schlüssig. Gerade die Rolle des Rätselns wird oft unterschätzt, handelt es sich doch um mehr als nur Kurzweile – es fördert die geistige Beweglichkeit und sorgt für eine Stabilisierung der neuronalen Verkettungen.56
E4
Auf dem Weg zur Bewältigung eines Problems wird mitunter nicht „bloß“ eine Idee generiert, gerade im Reflektieren über erste Lösungsansätze kann es zu einem regelrechten „Sprudeln der Ideen“ kommen: Während bei der Auseinandersetzung mit einer bekannten Aufgabe das geradlinige, logische Denken zum Einsatz kommt, das meist zu der einen, richtigen Lösung führt, regen dagegen „neue“ Herausforderungen ein divergentes Denken an, welches die Vielfältigkeit an unterschiedlichen Möglichkeiten der Problemlösung in den Fokus rückt. Ein improvisatorisches, quasi „ungeübtes“ Lösen eines Problems mit begrenzten Mitteln kann also auch Chance darauf sein, dass ein Zusatz entsteht, ein wie auch immer gearteter Mehrwert, etwas Neues.
Die Auseinandersetzung mit einem Problem, das Ausbilden verschiedener Lösungsideen ist eine Bedingung für das, was im Bereich der Pädagogik als Problemlösungskompetenz57 bekannt ist. Unabhängig von Größe oder Wichtigkeit des gelösten Problems trainieren wir somit unser analytisches Denken, die Fähigkeit für das,ich was Mediziner Anamnese nennen:habe, die systematische „Als den Fleck gesehen da war Befundermeine erste hebung. Die Reparatur etwa ist ein Kreislauf von Analyse, Strategie, Assoziation: Das ist ein See oder Wasser, irgendwie so Implementierung und bestenfalls dem Erfolgserlebnis. Damit sich was. Und dann ... (legt einige Skizzen auf den Tisch) eben dieser Erfolg einstellt, muss sich der Sache außerdem mit Hinja,gabe genau, dann hatte ich als erstes gewidmet werden – ein weiterer positiver Aspekt,überlegt, denn somit man 58 könnte das die kreativ lösen, undgefördert. da irgendwie ’nen See wird zudem Konzentrationsfähigkeit draus machen, und das mit Nähen, Bekleben oder Malen Handlungen, also bei etwas,... dasnaja. wir so Also, zu Während einem improvisatorischer ganzen Bild vervollständigen noch nie gemacht haben oder für dessen Verlauf wir keinen mein Beutel, den nehme ich immer mit zum See, und ich vorgefertigten Plan besitzen, kommt es – genau wie im Beispiel dachte eigentlich schon immer, dass es so unpraktisch des Rätsels – zu Momenten, in denen die eigenen Kompetenzen ist, dass ungeahnt meine Decke gar nicht In inSituationen, den Beutel passt plötzlich ausgeprägt erscheinen. in denen undwirich die immer konfrontiert unterm Arm tragen Und jetzt mit Ungewohntem werden, ziehen muss. wir die Lösunhatte dersowohl Beutel ja den resistenten Fleck bekommen, gen dabei aus dem heuristischen Versuch-und-Irrtum, aber auch aus vorausgegangenen Erfahrungen in anderen Bereichen. den ich nicht schön fand. Also habe ich gedacht, da Im Denkprozess die Erfahrungen undein auf neue, nutze ich die werden Chance und näheübertragen einfach Liegeungewohnte und freie Art eingesetzt. Auch hier kann das Kreuzworttuch dran. Ein Stück Stoff da ran zu nähen war dann ja klar. Und irgendwie muss es gefaltet werden, das war auch klar, denn die Breite des Beutels ist ja zu 56schmal Vgl.: Fellmann, „Aufs Kreuz gelegt“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin München 2014, S. 49 umMax: bequem darauf zu sitzen oder zuNr.8, liegen. 57 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 139 f. 58 Vgl.: ebd. S. 143
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Auf einer Seite habe ich das vernäht, um die Teile zu verbinden, wodurch ja gleichzeitig eine Art Außentasche entstanden ist, da kann ich ein Buch oder so rein machen – super praktisch. Und wenn ich am See ankomme, dann mache ich die Klettverschlüsse auf, und breite das aus, und zack! Da setzte ich mich drauf. Ich dachte auch daran, Knöpfe zu nehmen, aber die Klettpunkte, die hatte ich noch da. Draufmalen oder so ... das wäre so naheliegend gewesen. Aber ich wollte das irgendwie umfunktionieren. Das ist wie beim Arbeiten: Du hast eine Aufgabe, suchst dir Assoziationen dazu und daraus entwickelt sich dann etwas. Bei mir war es halt die Assoziation mit dem See, diese Geschichte, da sind immer mehr Sachen dazu gekommen. Wie so ein Produkt zum See dazu. Es ist ein Ding mit Funktionen, es kann seine Größe verändern, es ist konstruiert. Der Fehler hier, dieser Fleck, der ist dann wie eine Chance, was Neues draus zu machen. Das hat Spaß gemacht.“
E4/Nina 32 Jahre, Diplomingenieurin für Architektur
Auf dem Weg zur Bewältigung eines Problems wird mitunter nicht „bloß“ eine Idee generiert, gerade im Reflektieren über erste Lösungsansätze kann es zu einem regelrechten „Sprudeln der Ideen“ kommen: Während bei der Auseinandersetzung mit einer bekannten Aufgabe das geradlinige, logische Denken zum Einsatz kommt, das meist zu der einen, richtigen Lösung führt, regen dagegen „neue“ Herausforderungen ein divergentes Denken an, welches die Vielfältigkeit an unterschiedlichen Möglichkeiten der Problemlösung in den Fokus rückt. Ein improvisatorisches, quasi „ungeübtes“ Lösen eines Problems mit begrenzten Mitteln kann also auch Chance darauf sein, dass ein Zusatz entsteht, ein wie auch immer gearteter Mehrwert, etwas Neues. Die Auseinandersetzung mit einem Problem, das Ausbilden verschiedener Lösungsideen ist eine Bedingung für das, was im Bereich der Pädagogik als Problemlösungskompetenz57 bekannt ist. Unabhängig von Größe oder Wichtigkeit des gelösten Problems trainieren wir somit unser analytisches Denken, die Fähigkeit für das, was Mediziner Anamnese nennen: die systematische Befunderhebung. Die Reparatur etwa ist ein Kreislauf von Analyse, Strategie, Implementierung und bestenfalls dem Erfolgserlebnis. Damit sich eben dieser Erfolg einstellt, muss sich der Sache außerdem mit Hingabe gewidmet werden – ein weiterer positiver Aspekt, denn somit wird zudem die Konzentrationsfähigkeit gefördert.58
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Genau genommen könnte man sagen, dass jedes Gespräch, ob Smalltalk oder mündliche Prüfung, Improvisation erfordert – denn wann befindet man sich schon in einer Situation, in welcher der Gesprächsverlauf bekannt, und man selbst auf jede Wendung vorbereitet ist?
abgewinnen. Ähnlich dem Lösen eines Kreuzworträtsels entsteht dabei durch unsere Interaktion ein Dialog.*Im Gegensatz zum einem einfachen Zeitungsartikel, den wir lesen, wird das Kreuzworträtsel erst durch unser Zutun schlüssig. Gerade die Rolle des Rätselns wird oft unterschätzt, handelt es sich doch um mehr als nur Kurzweile – es fördert die geistige Beweglichkeit und sorgt für eine Stabilisierung der neuronalen Verkettungen.56
Während improvisatorischer Handlungen, also bei etwas, das wir so noch nie gemacht haben oder für dessen Verlauf wir keinen vorgefertigten Plan besitzen, kommt es – genau wie im Beispiel des Rätsels – zu Momenten, in denen die eigenen Kompetenzen plötzlich ungeahnt ausgeprägt erscheinen. In Situationen, in denen wir mit Ungewohntem konfrontiert werden, ziehen wir die Lösungen dabei sowohl aus dem heuristischen Versuch-und-Irrtum, aber auch aus vorausgegangenen Erfahrungen in anderen Bereichen. Im Denkprozess werden die Erfahrungen übertragen und auf neue, ungewohnte und freie Art eingesetzt. Auch hier kann das Kreuzwort-
56 Vgl.: Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr.8, München 2014, S. 49 57 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 139 f. 58 Vgl.: ebd. S. 143
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Genau genommen könnte man sagen, dass jedes Gespräch, ob Smalltalk oder mündliche Prüfung, Improvisation erfordert – denn wann befindet man sich schon in einer Situation, in welcher der Gesprächsverlauf bekannt, und man selbst auf jede Wendung vorbereitet ist?
abgewinnen. Ähnlich dem Lösen eines Kreuzworträtsels entsteht dabei durch unsere Interaktion ein Dialog.*Im Gegensatz zum einem einfachen Zeitungsartikel, den wir lesen, wird das Kreuzworträtsel erst durch unser Zutun schlüssig. Gerade die Rolle des Rätselns wird oft unterschätzt, handelt es sich doch um mehr als nur Kurzweile – es fördert die geistige Beweglichkeit und sorgt für eine Stabilisierung der neuronalen Verkettungen.56
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Auf dem Weg zur Bewältigung eines Problems wird mitunter nicht „bloß“ eine Idee generiert, gerade im Reflektieren über erste Lösungsansätze kann es zu einem regelrechten „Sprudeln der Ideen“ kommen: Während bei der Auseinandersetzung mit einer bekannten Aufgabe das geradlinige, logische Denken zum Einsatz kommt, das meist zu der einen, richtigen Lösung führt, regen dagegen „neue“ Herausforderungen ein divergentes Denken an, welches die Vielfältigkeit an unterschiedlichen Möglichkeiten der Problemlösung in den Fokus rückt. Ein improvisatorisches, quasi „ungeübtes“ Lösen eines Problems mit begrenzten Mitteln kann also auch Chance darauf sein, dass ein Zusatz entsteht, ein wie auch immer gearteter Mehrwert, etwas Neues.
Die Auseinandersetzung mit einem Problem, das Ausbilden verschiedener Lösungsideen ist eine Bedingung für das, was im Bereich der Pädagogik als Problemlösungskompetenz57 bekannt ist. Unabhängig von Größe oder Wichtigkeit des gelösten Problems trainieren wir somit unser analytisches Denken, die Fähigkeit für das, was Mediziner Anamnese nennen: die systematische Befunderhebung. Die Reparatur etwa ist ein Kreislauf von Analyse, Strategie, Implementierung und bestenfalls dem Erfolgserlebnis. Damit sich eben dieser Erfolg einstellt, muss sich der Sache außerdem mit Hingabe gewidmet werden – ein weiterer positiver Aspekt, denn somit „Das relativ schnell klar, dass 58ich das mit der wirdwar zudem die Konzentrationsfähigkeit gefördert. Kerze machen wollte. Naja ... die naheliegendste Während improvisatorischer Handlungen, also bei etwas, das wir so Lösung wäre ja das Loch - das Beschädigungsloch – zu noch nie gemacht haben oder für dessen Verlauf wir keinen verschließen, das hat aber eine sehr ungleichmäßige vorgefertigten Plan besitzen, – genau wieeinfacher, im Beispiel das Form. Daher dachte ichkommt dann,eses wäre des Rätsels – zu Momenten, in denen die eigenen Kompetenzen Loch mit der gleichmäßigeren Form zu verschließen. plötzlich ungeahnt ausgeprägt erscheinen. In Situationen, in denen Undwirjetzt wiederumkonfrontiert – womitwerden, verschließt man Löcher? mit Ungewohntem ziehen wir die LösunMitgenirgendetwas, dasheuristischen weich istVersuch-und-Irrtum, und dann aushärtet. dabei sowohl aus dem aber aus vorausgegangenen anderengekommen. Bereichen. Und Undauch deswegen bin ich Erfahrungen dann auf inWachs Denkprozess die vom Erfahrungen übertragen schon und auf neue, dieImKerze, die werden war ja Durchmesser beinah ungewohnte und freie Art eingesetzt. Auch hier kann das Kreuzwortpassend, und dann habe ich den Rand auch noch damit versiegelt. Das war der Gedanke. Also, als ich die Kerze geholt habe, da war der Plan nur, ich versuch’s 56mal Vgl.: Fellmann, Max: „Aufs Kreuzund gelegt“,schaue in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr.8, München 2014, S. 49 mit der Kerze mal, wie dick sie ist. 57 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 139 f. 58 Vgl.: ebd. S. 143
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Hätte ja auch sein können, es passt direkt, und dann wäre ich schon fertig gewesen. War aber nicht der Fall, die war zu dünn ... Ich brauchte also mehr Material zum Verstopfen. Und dann brauchte ich zwei Teile, einen zum Anzünden und Tröpfeln und noch den anderen zum Verschließen des Lochs. Tja, man hätte vielleicht auch eine zeitsparendere Lösung für’s Versiegeln finden können, aber ich fand das so stimmig. Und dann ist natürlich noch die Schwierigkeit: Wie stellt man die Vase hin? Deshalb noch die Idee mit dem Gummiring unten drunter. Das ist perfekt, weil sie dann nicht mehr wegrollt. Ist ja auch Quatsch, es erhöht nicht unbedingt die Wohnqualität, wenn man eine Vase hat, die man immer festhalten muß (lacht). Wie wäre das denn? ,Ich habe schon wieder frische Blumen geschenkt bekommen, ich kann heute Abend nicht ausgehen, ich muss zu Hause die Vase halten!‘ “
E1/Timo 38 Jahre, freiberuflicher Musiker
Auf dem Weg zur Bewältigung eines Problems wird mitunter nicht „bloß“ eine Idee generiert, gerade im Reflektieren über erste Lösungsansätze kann es zu einem regelrechten „Sprudeln der Ideen“ kommen: Während bei der Auseinandersetzung mit einer bekannten Aufgabe das geradlinige, logische Denken zum Einsatz kommt, das meist zu der einen, richtigen Lösung führt, regen dagegen „neue“ Herausforderungen ein divergentes Denken an, welches die Vielfältigkeit an unterschiedlichen Möglichkeiten der Problemlösung in den Fokus rückt. Ein improvisatorisches, quasi „ungeübtes“ Lösen eines Problems mit begrenzten Mitteln kann also auch Chance darauf sein, dass ein Zusatz entsteht, ein wie auch immer gearteter Mehrwert, etwas Neues. Die Auseinandersetzung mit einem Problem, das Ausbilden verschiedener Lösungsideen ist eine Bedingung für das, was im Bereich der Pädagogik als Problemlösungskompetenz57 bekannt ist. Unabhängig von Größe oder Wichtigkeit des gelösten Problems trainieren wir somit unser analytisches Denken, die Fähigkeit für das, was Mediziner Anamnese nennen: die systematische Befunderhebung. Die Reparatur etwa ist ein Kreislauf von Analyse, Strategie, Implementierung und bestenfalls dem Erfolgserlebnis. Damit sich eben dieser Erfolg einstellt, muss sich der Sache außerdem mit Hingabe gewidmet werden – ein weiterer positiver Aspekt, denn somit wird zudem die Konzentrationsfähigkeit gefördert.58
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Genau genommen könnte man sagen, dass jedes Gespräch, ob Smalltalk oder mündliche Prüfung, Improvisation erfordert – denn wann befindet man sich schon in einer Situation, in welcher der Gesprächsverlauf bekannt, und man selbst auf jede Wendung vorbereitet ist?
abgewinnen. Ähnlich dem Lösen eines Kreuzworträtsels entsteht dabei durch unsere Interaktion ein Dialog.*Im Gegensatz zum einem einfachen Zeitungsartikel, den wir lesen, wird das Kreuzworträtsel erst durch unser Zutun schlüssig. Gerade die Rolle des Rätselns wird oft unterschätzt, handelt es sich doch um mehr als nur Kurzweile – es fördert die geistige Beweglichkeit und sorgt für eine Stabilisierung der neuronalen Verkettungen.56
Während improvisatorischer Handlungen, also bei etwas, das wir so noch nie gemacht haben oder für dessen Verlauf wir keinen vorgefertigten Plan besitzen, kommt es – genau wie im Beispiel des Rätsels – zu Momenten, in denen die eigenen Kompetenzen plötzlich ungeahnt ausgeprägt erscheinen. In Situationen, in denen wir mit Ungewohntem konfrontiert werden, ziehen wir die Lösungen dabei sowohl aus dem heuristischen Versuch-und-Irrtum, aber auch aus vorausgegangenen Erfahrungen in anderen Bereichen. Im Denkprozess werden die Erfahrungen übertragen und auf neue, ungewohnte und freie Art eingesetzt. Auch hier kann das Kreuzwort-
56 Vgl.: Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr.8, München 2014, S. 49 57 Vgl.: Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 139 f. 58 Vgl.: ebd. S. 143
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„Übung macht den Meister“63 – doch das Meistern des Alltags hält selten viele Herausforderungen parat: Da der Konsument sich tendenziell immer weniger selbst aktiv beteiligt, immer mehr vorgefertigt kaufen kann und kauft, gehen viele der Fertigkeiten, die man sich im Alltag zu dessen Bewältigung einst aneignen musste, verloren. Dass heute niemand mehr lange in der Küche stehen muss, um eine Pizza zu backen, ist selbstverständlich, kann man sie doch fix und fertig aus dem Kühlregal nehmen. Das Selberbacken würde aus finanzieller und zeitlicher Hinsicht luxuriös wirken – zudem bräuchte es zum Gelingen einer wirklich guten Pizza auch Erfahrung. Im Falle einer preisgünstigen, aber durch langes Tragen löchrig gewordenen Socke ist der Neukauf beispielsweise wirtschaftlicher als das Stopfen – doch wie viele Menschen beherrschen die Technik des Sockenstopfens heute überhaupt noch? Diese Entwicklung der Auslagerung von Kompetenzen und Aufgaben ist in vielen Bereichen zweifelsohne lebenserleichternd, in manchen aber sicherlich auch fraglich. Immer weniger erfordert unser Zutun, immer mehr
59 Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, a.a.O., S. 45 60 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung, a.a.O., S. 160 61 Vgl.: Dr. Kipp, Kerstin: Fähigkeiten und Fertigkeiten. Learning by doing, Saarbrücken 2009, S. 31 62 Vgl.: Birklbauer,Jürgen: Modelle der Motorik, Aachen 2006, S. 490 f. 63 J ohann Heinrich Jung (gen. Jung-Stilling): Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21
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Dieses bessere Gelingen findet sich in der Improvisation wieder, betrachtet man sie als Wort: In ihr steckt der englische Ausdruck „to improve something“ – etwas verbessern.
x Eine populäre Veranschaulichung für das „motorische Gedächtnis“ finden wir im Film „Karate Kid“ aus dem Jahre 1984: Der Karatemeister Mister Myagi trägt seinem Schüler auf, zunächst sein Auto zu polieren und den Gartenzaun zu streichen – mit exakt vorg e gebe nen Bewegungen: Es sind eben jene essentiellen Bewegungsabfolgen, die von seinem Schüler für den Kampfsport verinnerlicht werden müssen, und die Basis der Karate-Praxis darstellen.
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rätsel Beispiel sein: „Im Gegensatz zur Schulprüfung wird beim Rätseln auch Wissen abgefragt, das auf den merkwürdigsten Wegen zu uns kommt. Nehmen Sie Wörter wie sternum und pilum, (...) die wissen Sie vermutlich nicht mal, wenn Sie Latein in der Schule hatten. Aber dann kommen doch erstaunlich viele auf die Lösungen ‚Brustbein‘ und ‚Speer‘ – weil es einen berühmten Asterix-Dialog gibt, in dem die auftauchen. Das verschafft beim Rätsellösen ein Erfolgserlebnis, hat aber mit klassischer Bildung nichts zu tun.“59 In Erfahrungsprozessen geht es stets um eine Einbeziehung des Unbewussten in den Lernprozess. Indem man Bezug auf eigene Erinnerungen nimmt, bildet die Erfahrung somit eine Basis unserer Handlungen. Bereits Aristoteles definierte die Erfahrung als eine „Konstellation zwischen Einsicht und Können“.60 * gelingen, das erste Mal selbst einen So mag es beispielsweise besser Estrichboden zu gießen, konnte man sich im vorrausgegangenen Leben handwerkliche Erfahrung im Umgang mit ähnlichen Materialitäten aneignen – und sei es bei der Herstellung von Cremetorten. Wie gut eine Transferleistung funktioniert, hängt aber immer davon ab, wie viele Elemente der neuen Situation (das Gießen des Estrichbodens) mit der „Trainingssituation“ (die Herstellung der Cremetorte) übereinstimmen.61 Bei Bewegungsabläufen, die derart x verinnerlicht werden, spricht man vom „motorischen Gedächtnis“. 62
kommt bereits fertig in unseren Besitz. Diesbezüglich hat sich der Autor Claus Richter zum Thema des Gimmicks geäußert: „YPS-Hefte waren mein erster Kaufrausch, meine erste Konsumsucht. Es ging soweit, dass meine Eltern dem Kiosk-Besitzer um die Ecke verboten, mir weitere Hefte zu verkaufen, was mich zu Umwegen durch die Stadt und Besuche bei Kiosken in anderen Stadtteilen zwang. YPS war jede Woche ein kleines Weihnachten, kombiniert mit dem Auftrag zum Basteln, Bauen und Spinnen [...] Das besondere war der aktive Part, den der Konsument dabei einnimmt: YPS-Gimmicks bedurften oft eines ganzen Nachmittags des Bastelns [...] heute hat eigentlich jedes [Kinderheft mit Beilage] ein Gimmick. Was dabei fehlt, ist die Bastelherausforderung. Nichts muss mehr zusammengesteckt, gefaltet, geklebt oder gar ausgeschnitten werden. Aufreißen, besitzen, wegwerfen.“64
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Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Problemen ist bisweilen sogar ein Garant für Erfolgserlebnisse – und in ihrer Folge entsteht auch eine besondere Art des Erfolgsgefühls, weswegen Problemlösungen, oft in Form von Reparaturen, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein häufig praktiziertes Mittel zur Stärkung des kreativen Selbstbewusstseins darstellen: „Natürlich kann ich solche [Erfolgserlebinsse] haben, wenn ich die schnellste Läuferin in der Schulklasse bin oder der beste Hochspringer, aber ich kann sie eben noch intensiver erfahren, wenn ich selbst etwas hergestellt habe und das auch noch als gelungen bezeichnet werden kann. Gerade wenn ich etwas mache, was ich zum ersten Mal versuche.“65 Probleme und Rätsel des Alltags bilden zudem eine Art natürlichen Quell für Innovationen. Sehen wir unseremit Lösungsfindung als Wie „Ja, wie kam ich auf die Lösung der Folie? Experiment an, erhebt sie uns nicht selten zum Forscher und Tüftler. kommt man denn auf was - ’ne Idee ist ’ne Idee. Ich hab’ Konrad Adenauer – eher dafür bekannt, der erste Bundeskanzler halt einfach den Teelöffel benutzt und damit dann die der BRD gewesen zu sein – entpuppt sich bei näherer Betrachtung Frischhaltefolie in den Vasenhals geschoben. als eine ebensolche „Erfindernatur“. Zu seinen zahlreichen Tüfte-Die Folie hatleien aber gehaftet, sooftinnen am Hals geklebt, inspirierten ihn dabei die Alltagsprobleme seiner Gattin,sodass fast nur alle seiner bestanden daher aus Modifikationen von ichund die einIdeen paar Zentimeter weit hineinbekommen Bestehendem. Etwa das Mehrzweck-Gartengerät, bei welchem er habe. Eigentlich war der Plan, die Frischhaltefolie „am Stiel eines gewöhnlichen Gartenrechens eine Art Hammerkopf aussehen viel tiefer hinein zu stecken, um den Stengel Metall anbrachte, um größere Erdklumpen zertrümmern zu können, zu können. Aber naja, finde ich so jetzt auch gut. Das ohne das Arbeitsgerät wechseln zu müssen.“ In Kooperation mit der Blumenwasser kann anauch nicht so schnell schlecht AEG arbeitete er zudem einer Kleisterbürste, die mit Elektroden werden undund riechen, weil nur wenig ist und ausgestattet in eine Flüssigkeit getaucht wurde,Platz und an welche anschließend Spannung angelegtrein wurden. Diese „Elektrosomit auch 1000 nurVolt wenig Wasser passt, und man es bürste gegen Schädlinge“ hätte unter ungünstigen Umständen aber einfach jeden Tag frisch nachfüllt. Muss man sich nicht nur tödlich für Insekten, sondern auch für den Nutzer selbst halt ein bisschen kümmern. Ach, und unten bleibt enden können.66 eine Art Fach. Da könnte man noch ein Teelicht hineinstellen, um alles zu beleuchten ... Und schmelzen 64kann Richter, Claus: Zaubereigentlich der Vorfreude“ in: Form, the Making Ausgabe 241, Basel 2011, S. 25 die „Der Folie nicht, dasof Design, Wasser kühlt ja. 65Vgl.: Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 155 66 Schmidt, Walter: „Die pfiffigen Erfindungen des Konrad Adenauer“ in: Die Welt, Ausgabe vom 18.05.2009
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x Eine populäre Veranschaulichung für das „motorische Gedächtnis“ finden wir im Film „Karate Kid“ aus dem Jahre 1984: Der Karatemeister Mister Myagi trägt seinem Schüler auf, zunächst sein Auto zu polieren und den Gartenzaun zu streichen – mit exakt vorg e gebe nen Bewegungen: Es sind eben jene essentiellen Bewegungsabfolgen, die von seinem Schüler für den Kampfsport verinnerlicht werden müssen, und die Basis der Karate-Praxis darstellen.
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Dieses bessere Gelingen findet sich in der Improvisation wieder, betrachtet man sie als Wort: In ihr steckt der englische Ausdruck „to improve something“ – etwas verbessern.
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rätsel Beispiel sein: „Im Gegensatz zur Schulprüfung wird beim Rätseln auch Wissen abgefragt, das auf den merkwürdigsten Wegen zu uns kommt. Nehmen Sie Wörter wie sternum und pilum, (...) die wissen Sie vermutlich nicht mal, wenn Sie Latein in der Schule hatten. Aber dann kommen doch erstaunlich viele auf die Lösungen ‚Brustbein‘ und ‚Speer‘ Das ist verrückt, wenn Asterix-Dialog man das macht, dass die Folie – weil es einen berühmten gibt, in dem die auftauchen. Das verschafft beim Rätsellösen ein Erfolgserlebnis, hat aber klassidurch das Kühlen nicht schmilzt. Naja, man mit darf’s 59 scher Bildung nichts zu tun.“ nun auch nicht genau drunter stellen, das ist schon In Erfahrungsprozessen geht es stets um eine Einbeziehung des klar. Cooles Phänomen ... da bin ich mir auch ziemUnbewussten in den Lernprozess. Indem man Bezug auf eigene lich sicher. Ichnimmt, habebildet das die nämlich mal in Erinnerungen Erfahrung zufällig somit eine Basis unserer irgendHandlungen. ’nem anderen Kontext gemacht, mit ’ner Tüte Bereits Aristoteles definierte die Erfahrung als eine 60 und Wasser und zwischen Feuer.Einsicht Weißund aber nicht mehr genau, „Konstellation Können“. * gelingen, ein es beispielsweise besser das erste Mal selbst einen warum So ...mag Oder man nimmt einfach LED-Licht, das Estrichboden zu gießen, konnte man sich im vorrausgegangenen ist wirklich sicher. Da ist die Brandgefahr nicht Leben handwerkliche Erfahrung im Umgang mit ähnlichen Matemehr so groß. Obwohl – wenn die Tüte schmelzen sollte, rialitäten aneignen – und sei es bei der Herstellung von Cremetordann würde Kerze ohnehinfunktioniert, gelöscht werden. Das ten. Wieeine gut eine Transferleistung hängt aber immer obere davon Endeab, der Folie kannderman wie viele Elemente neuenaußerdem Situation (dasordentlich Gießen des abschneiden, oder Schleife daraus binden Estrichbodens) miteine der „Trainingssituation“ (die Herstellung der... 61 Bei Bewegungsabläufen, die derart Cremetorte) übereinstimmen. Ist jetzt nicht so arg von Qualität geprägt, meine x62 vom „motorischen Gedächtnis“. Lösungverinnerlicht (lacht).werden, Gingspricht aberman schnell. Wunderschön ist das geworden, und das bei einem Materialaufwand von „Übung macht den Meister“63 – doch das Meistern des Alltags hält nicht selten mal viele 5 Cent.“ Herausforderungen parat: Da der Konsument sich tendenziell immer weniger selbst aktiv beteiligt, immer mehr vorgefertigt kaufen kann und kauft, gehen viele der Fertigkeiten, die man sich im Alltag zu dessen Bewältigung einst aneignen musste, verloren. Dass heute niemand mehr lange in der Küche stehen muss, um eine Pizza zu backen, ist selbstverständlich, kann man sie doch fix und fertig aus dem Kühlregal nehmen. Das Selberbacken würde aus finanzieller und zeitlicher Hinsicht luxuriös wirken – zudem bräuchte es zum Gelingen einer wirklich guten Pizza auch Erfahrung. Im Falle einer preisgünstigen, aber durch langes Tragen löchrig gewordenen Socke ist der Neukauf beispielsweise wirtschaftlicher als das Stopfen – doch wie viele Menschen beherrschen die Technik des Sockenstopfens heute überhaupt noch? Diese Entwicklung der Auslagerung von Kompetenzen und Aufgaben ist in vielen Bereichen zweifelsohne lebenserleichternd, in manchen aber sicherlich auch fraglich. Immer weniger erfordert unser Zutun, immer mehr
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59 Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, a.a.O., S. 45 60 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung, a.a.O., S. 160 61 Vgl.: Dr. Kipp, Kerstin: Fähigkeiten und Fertigkeiten. Learning by doing, Saarbrücken 2009, S. 31 28 Jahre, Masterstudent der Berufspädagogik 62 Vgl.: Birklbauer,Jürgen: Modelle der Motorik, Aachen 2006, S. 490 f. 63 J ohann Heinrich Jung (gen. Jung-Stilling): Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21
kommt bereits fertig in unseren Besitz. Diesbezüglich hat sich der Autor Claus Richter zum Thema des Gimmicks geäußert: „YPS-Hefte waren mein erster Kaufrausch, meine erste Konsumsucht. Es ging soweit, dass meine Eltern dem Kiosk-Besitzer um die Ecke verboten, mir weitere Hefte zu verkaufen, was mich zu Umwegen durch die Stadt und Besuche bei Kiosken in anderen Stadtteilen zwang. YPS war jede Woche ein kleines Weihnachten, kombiniert mit dem Auftrag zum Basteln, Bauen und Spinnen [...] Das besondere war der aktive Part, den der Konsument dabei einnimmt: YPS-Gimmicks bedurften oft eines ganzen Nachmittags des Bastelns [...] heute hat eigentlich jedes [Kinderheft mit Beilage] ein Gimmick. Was dabei fehlt, ist die Bastelherausforderung. Nichts muss mehr zusammengesteckt, gefaltet, geklebt oder gar ausgeschnitten werden. Aufreißen, besitzen, wegwerfen.“64 Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Problemen ist bisweilen sogar ein Garant für Erfolgserlebnisse – und in ihrer Folge entsteht auch eine besondere Art des Erfolgsgefühls, weswegen Problemlösungen, oft in Form von Reparaturen, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein häufig praktiziertes Mittel zur Stärkung des kreativen Selbstbewusstseins darstellen: „Natürlich kann ich solche [Erfolgserlebinsse] haben, wenn ich die schnellste Läuferin in der Schulklasse bin oder der beste Hochspringer, aber ich kann sie eben noch intensiver erfahren, wenn ich selbst etwas hergestellt habe und das auch noch als gelungen bezeichnet werden kann. Gerade wenn ich etwas mache, was ich zum ersten Mal versuche.“65 Probleme und Rätsel des Alltags bilden zudem eine Art natürlichen Quell für Innovationen. Sehen wir unsere Lösungsfindung als Experiment an, erhebt sie uns nicht selten zum Forscher und Tüftler. Konrad Adenauer – eher dafür bekannt, der erste Bundeskanzler der BRD gewesen zu sein – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine ebensolche „Erfindernatur“. Zu seinen zahlreichen Tüfteleien inspirierten ihn dabei oft die Alltagsprobleme seiner Gattin, und fast alle seiner Ideen bestanden daher aus Modifikationen von Bestehendem. Etwa das Mehrzweck-Gartengerät, bei welchem er „am Stiel eines gewöhnlichen Gartenrechens eine Art Hammerkopf aus Metall anbrachte, um größere Erdklumpen zertrümmern zu können, ohne das Arbeitsgerät wechseln zu müssen.“ In Kooperation mit der AEG arbeitete er zudem an einer Kleisterbürste, die mit Elektroden ausgestattet und in eine Flüssigkeit getaucht wurde, und an welche anschließend 1000 Volt Spannung angelegt wurden. Diese „Elektrobürste gegen Schädlinge“ hätte unter ungünstigen Umständen aber nicht nur tödlich für Insekten, sondern auch für den Nutzer selbst enden können.66 64 Richter, Claus: „Der Zauber der Vorfreude“ in: Form, the Making of Design, Ausgabe 241, Basel 2011, S. 25 65Vgl.: Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 155 66 Schmidt, Walter: „Die pfiffigen Erfindungen des Konrad Adenauer“ in: Die Welt, Ausgabe vom 18.05.2009
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„Übung macht den Meister“63 – doch das Meistern des Alltags hält selten viele Herausforderungen parat: Da der Konsument sich tendenziell immer weniger selbst aktiv beteiligt, immer mehr vorgefertigt kaufen kann und kauft, gehen viele der Fertigkeiten, die man sich im Alltag zu dessen Bewältigung einst aneignen musste, verloren. Dass heute niemand mehr lange in der Küche stehen muss, um eine Pizza zu backen, ist selbstverständlich, kann man sie doch fix und fertig aus dem Kühlregal nehmen. Das Selberbacken würde aus finanzieller und zeitlicher Hinsicht luxuriös wirken – zudem bräuchte es zum Gelingen einer wirklich guten Pizza auch Erfahrung. Im Falle einer preisgünstigen, aber durch langes Tragen löchrig gewordenen Socke ist der Neukauf beispielsweise wirtschaftlicher als das Stopfen – doch wie viele Menschen beherrschen die Technik des Sockenstopfens heute überhaupt noch? Diese Entwicklung der Auslagerung von Kompetenzen und Aufgaben ist in vielen Bereichen zweifelsohne lebenserleichternd, in manchen aber sicherlich auch fraglich. Immer weniger erfordert unser Zutun, immer mehr
59 Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, a.a.O., S. 45 60 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung, a.a.O., S. 160 61 Vgl.: Dr. Kipp, Kerstin: Fähigkeiten und Fertigkeiten. Learning by doing, Saarbrücken 2009, S. 31 62 Vgl.: Birklbauer,Jürgen: Modelle der Motorik, Aachen 2006, S. 490 f. 63 J ohann Heinrich Jung (gen. Jung-Stilling): Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21
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Dieses bessere Gelingen findet sich in der Improvisation wieder, betrachtet man sie als Wort: In ihr steckt der englische Ausdruck „to improve something“ – etwas verbessern.
x Eine populäre Veranschaulichung für das „motorische Gedächtnis“ finden wir im Film „Karate Kid“ aus dem Jahre 1984: Der Karatemeister Mister Myagi trägt seinem Schüler auf, zunächst sein Auto zu polieren und den Gartenzaun zu streichen – mit exakt vorg e gebe nen Bewegungen: Es sind eben jene essentiellen Bewegungsabfolgen, die von seinem Schüler für den Kampfsport verinnerlicht werden müssen, und die Basis der Karate-Praxis darstellen.
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rätsel Beispiel sein: „Im Gegensatz zur Schulprüfung wird beim Rätseln auch Wissen abgefragt, das auf den merkwürdigsten Wegen zu uns kommt. Nehmen Sie Wörter wie sternum und pilum, (...) die wissen Sie vermutlich nicht mal, wenn Sie Latein in der Schule hatten. Aber dann kommen doch erstaunlich viele auf die Lösungen ‚Brustbein‘ und ‚Speer‘ – weil es einen berühmten Asterix-Dialog gibt, in dem die auftauchen. Das verschafft beim Rätsellösen ein Erfolgserlebnis, hat aber mit klassischer Bildung nichts zu tun.“59 In Erfahrungsprozessen geht es stets um eine Einbeziehung des Unbewussten in den Lernprozess. Indem man Bezug auf eigene Erinnerungen nimmt, bildet die Erfahrung somit eine Basis unserer Handlungen. Bereits Aristoteles definierte die Erfahrung als eine „Konstellation zwischen Einsicht und Können“.60 * gelingen, das erste Mal selbst einen So mag es beispielsweise besser Estrichboden zu gießen, konnte man sich im vorrausgegangenen Leben handwerkliche Erfahrung im Umgang mit ähnlichen Materialitäten aneignen – und sei es bei der Herstellung von Cremetorten. Wie gut eine Transferleistung funktioniert, hängt aber immer davon ab, wie viele Elemente der neuen Situation (das Gießen des Estrichbodens) mit der „Trainingssituation“ (die Herstellung der Cremetorte) übereinstimmen.61 Bei Bewegungsabläufen, die derart x verinnerlicht werden, spricht man vom „motorischen Gedächtnis“. 62
kommt bereits fertig in unseren Besitz. Diesbezüglich hat sich der Autor Claus Richter zum Thema des Gimmicks geäußert: „YPS-Hefte waren mein erster Kaufrausch, meine erste Konsumsucht. Es ging soweit, dass meine Eltern dem Kiosk-Besitzer um die Ecke verboten, mir weitere Hefte zu verkaufen, was mich zu Umwegen durch die Stadt und Besuche bei Kiosken in anderen Stadtteilen zwang. YPS war jede Woche ein kleines Weihnachten, kombiniert mit dem Auftrag zum Basteln, Bauen und Spinnen [...] Das besondere war der aktive Part, den der Konsument dabei einnimmt: YPS-Gimmicks bedurften oft eines ganzen Nachmittags des Bastelns [...] heute hat eigentlich jedes [Kinderheft mit Beilage] ein Gimmick. Was dabei fehlt, ist die Bastelherausforderung. Nichts muss mehr zusammengesteckt, gefaltet, geklebt oder gar ausgeschnitten werden. Aufreißen, besitzen, wegwerfen.“64
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Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Problemen ist bisweilen sogar ein Garant für Erfolgserlebnisse – und in ihrer Folge entsteht auch eine besondere Art des Erfolgsgefühls, weswegen Problemlösungen, oft in Form von Reparaturen, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein häufig praktiziertes Mittel zur Stärkung des kreativen Selbstbewusstseins kann ich solche „Ich wollte versuchen, darstellen: für das„Natürlich Problem eine nicht so [Erfolgserlebinsse] haben, wenn ich die schnellste Läuferin in naheliegende Lösung zu finden. Ich wollte der das BesteSchulklasse bin oder der beste Hochspringer, aber ich kann sie eben hende verändern, dass es irgendwie einen anderen noch intensiver erfahren, wenn ich selbst etwas hergestellt habe und das Sinn ... Ich habe also diesen Fleck von der auchbekommt noch als gelungen bezeichnet werden kann. Gerade wenn ich etwas 65 Tasche – mit einer Schere – und dann hab’ mache, subtrahiert was ich zum ersten Mal versuche.“ ich das an der Stelle zugenäht. Und dann habe ich Problemedass und Rätsel Alltags bilden zudem eine Art natürli- ist ja gedacht, ichdes das noch verwenden könnte, chen Quell für Innovationen. Sehen wir unsere Lösungsfindung als kein Müll. Dieses kleine Stück habe ich nochmal als Experiment an, erhebt sie uns nicht selten zum Forscher und Tüftler. kleine Aussentasche angenäht. Den Platz, den ich da Konrad Adenauer – eher dafür bekannt, der erste Bundeskanzler durchs Abschneiden habe ich ja der BRD gewesen zu sein –weggenommen entpuppt sich bei habe, näherer den Betrachtung so als wieder raus. „Erfindernatur“. Zu seinen zahlreichen Tüfteeine ebensolche Es leien passt immernoch wunderbar DIN A4 rein. Man könnte inspirierten ihn dabei oft die Alltagsprobleme seiner Gattin, und fast alle seiner Ideen bestanden daher aus Modifikationen von durch das Nähen auch noch weitere Unterteilungen Bestehendem. Etwa das Mehrzweck-Gartengerät, bei welchem er fällt vornehmen, für eine Thermoskanne oder so, sowas „am Stiel eines gewöhnlichen Gartenrechens eine Art Hammerkopf aus ja gern um in der Tasche. Das mit dem Nähen habe Metall anbrachte, um größere Erdklumpen zertrümmern zu können, ichohne zum Mal gemacht. Da In musste ich mit aber dasersten Arbeitsgerät wechseln zu müssen.“ Kooperation der wen fragen, der mir dasangezeigt hat. Das Nähen war ungeAEG arbeitete er zudem einer Kleisterbürste, die mit Elektroden wohnt, und und ichin bin sehr ungeduldig, ausgestattet eine Flüssigkeit getaucht wurde,eigentlich. und an welche Und Volt Spannung wurden. Diese „Elektrodasanschließend mit dem 1000 Faden ganz amangelegt Anfang, dieses Einfädeln, bürste gegen Schädlinge“ hätte unter ungünstigen Umständen aberda das hab’ ich echt nicht hinbekommen. Wenn mir nicht nur tödlich für Insekten, sondern auch für den Nutzer selbst nicht wer geholfen hätte, hätte ich da schon aufgeenden können.66 geben. Ganz oft scheitern bei mir Sachen daran, dass ganz einfache Dinge, Kleinigkeiten, dass die nicht 64hinhauen. Richter, Claus: „Der Zauber der Vorfreude“ Form, aber the Making of Design, Ausgabe 241, Basel 2011, S. 25 Das Nähen hatin:mir auch Spaß gemacht, 65Vgl.: Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 155 66 Schmidt, Walter: „Die pfiffigen Erfindungen des Konrad Adenauer“ in: Die Welt, Ausgabe vom 18.05.2009
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x Eine populäre Veranschaulichung für das „motorische Gedächtnis“ finden wir im Film „Karate Kid“ aus dem Jahre 1984: Der Karatemeister Mister Myagi trägt seinem Schüler auf, zunächst sein Auto zu polieren und den Gartenzaun zu streichen – mit exakt vorg e gebe nen Bewegungen: Es sind eben jene essentiellen Bewegungsabfolgen, die von seinem Schüler für den Kampfsport verinnerlicht werden müssen, und die Basis der Karate-Praxis darstellen.
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Dieses bessere Gelingen findet sich in der Improvisation wieder, betrachtet man sie als Wort: In ihr steckt der englische Ausdruck „to improve something“ – etwas verbessern.
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rätsel Beispiel sein: „Im Gegensatz zur Schulprüfung wird beim Rätseln auch Wissen abgefragt, das auf den merkwürdigsten Wegen zu uns kommt. Nehmen Sie Wörter wie sternum und pilum, (...) die wissen Sie vermutlich nicht mal, wenn Sie Latein in der Schule hatten. Aber dann kommen doch erstaunlich viele auf die Lösungen ‚Brustbein‘ und ‚Speer‘ weil man sehenAsterix-Dialog konnte, dass annimmt. – weilschnell es einen berühmten gibt, in es demForm die auftauchen. Das verschafft beim Rätsellösen ein Erfolgserlebnis, hat aber mit Ich habe ja erst das Loch zugenäht, und dann klassinoch scher Bildung nichts außen zu tun.“59 befestigt ... Umso länger die kleine Tasche In Erfahrungsprozessen geht es stets um eine Einbeziehung des man näht, umso schneller geht’s auch. Aber das ist Unbewussten in den Lernprozess. Indem man Bezug auf eigene sicherlich nicht schlecht Und Erinnerungen nimmt, bildet diegeworden. Erfahrung somit eineich Basisglaube, unserer weil ich das jetzt gemacht habe, werdealsich Handlungen. Bereitshier Aristoteles definierte die Erfahrung eine sicherlich auchzwischen mal versuchen, ob 60 Nähen mit einer „Konstellation Einsicht und Können“. * gelingen, So mag es nicht beispielsweise besser das ersteist. Mal selbst Nähmaschine auch was für mich Und einen das Estrichboden zu gießen, konnte man sich im vorrausgegangenen alles nur wegen des Flecks. Leben handwerkliche Erfahrung im Umgang mit ähnlichen MateFür so ein Projekt in der Uni müssen wir demnächst rialitäten aneignen – und sei es bei der Herstellung von Cremetornoch so Membran herstellen, die hängt wirdaber dann auch ten.eine Wie gut eine Transferleistung funktioniert, immer genäht, das so Elemente ein wasserdichtes ...desAus davon ab,ist wie viele der neuen SituationTextil (das Gießen den Stoffresten ich mir dann (die gern ’ne Tasche Estrichbodens)würde mit der „Trainingssituation“ Herstellung der 61 Bei Bewegungsabläufen, die derart Cremetorte) übereinstimmen. nähen. Oft weiß ich, was ich gern machen würde, aber x62 verinnerlicht spricht vom „motorischen Gedächtnis“. manchmal fehltwerden, mir da dasman Handwerkliche. Und durch sowas wie die Sache mit 63der Tasche hier, da eignet „Übung macht den Meister“ – doch das Meistern des Alltags hält man sich Fertigkeiten an.“ seltenjaviele Herausforderungen parat: Da der Konsument sich tendenziell immer weniger selbst aktiv beteiligt, immer mehr vorgefertigt kaufen kann und kauft, gehen viele der Fertigkeiten, die man sich im Alltag zu dessen Bewältigung einst aneignen musste, verloren. Dass heute niemand mehr lange in der Küche stehen muss, um eine Pizza zu backen, ist selbstverständlich, kann man sie doch fix und fertig aus dem Kühlregal nehmen. Das Selberbacken würde aus finanzieller und zeitlicher Hinsicht luxuriös wirken – zudem bräuchte es zum Gelingen einer wirklich guten Pizza auch Erfahrung. Im Falle einer preisgünstigen, aber durch langes Tragen löchrig gewordenen Socke ist der Neukauf beispielsweise wirtschaftlicher als das Stopfen – doch wie viele Menschen beherrschen die Technik des Sockenstopfens heute überhaupt noch? Diese Entwicklung der Auslagerung von Kompetenzen und Aufgaben ist in vielen Bereichen zweifelsohne lebenserleichternd, in manchen aber sicherlich auch fraglich. Immer weniger erfordert unser Zutun, immer mehr
E4/Fred
59 Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“, a.a.O., S. 45 60 Vgl.: Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung, a.a.O., S. 160 61 Vgl.: Dr. Kipp, Kerstin: Fähigkeiten und Fertigkeiten. Learning by doing, Saarbrücken 2009, S. 31 62 Vgl.: Birklbauer,Jürgen: Modelle der Motorik, Aachen 2006, S. 490 f.28 Jahre, Architekturstudent 63 J ohann Heinrich Jung (gen. Jung-Stilling): Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21
kommt bereits fertig in unseren Besitz. Diesbezüglich hat sich der Autor Claus Richter zum Thema des Gimmicks geäußert: „YPS-Hefte waren mein erster Kaufrausch, meine erste Konsumsucht. Es ging soweit, dass meine Eltern dem Kiosk-Besitzer um die Ecke verboten, mir weitere Hefte zu verkaufen, was mich zu Umwegen durch die Stadt und Besuche bei Kiosken in anderen Stadtteilen zwang. YPS war jede Woche ein kleines Weihnachten, kombiniert mit dem Auftrag zum Basteln, Bauen und Spinnen [...] Das besondere war der aktive Part, den der Konsument dabei einnimmt: YPS-Gimmicks bedurften oft eines ganzen Nachmittags des Bastelns [...] heute hat eigentlich jedes [Kinderheft mit Beilage] ein Gimmick. Was dabei fehlt, ist die Bastelherausforderung. Nichts muss mehr zusammengesteckt, gefaltet, geklebt oder gar ausgeschnitten werden. Aufreißen, besitzen, wegwerfen.“64 Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Problemen ist bisweilen sogar ein Garant für Erfolgserlebnisse – und in ihrer Folge entsteht auch eine besondere Art des Erfolgsgefühls, weswegen Problemlösungen, oft in Form von Reparaturen, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein häufig praktiziertes Mittel zur Stärkung des kreativen Selbstbewusstseins darstellen: „Natürlich kann ich solche [Erfolgserlebinsse] haben, wenn ich die schnellste Läuferin in der Schulklasse bin oder der beste Hochspringer, aber ich kann sie eben noch intensiver erfahren, wenn ich selbst etwas hergestellt habe und das auch noch als gelungen bezeichnet werden kann. Gerade wenn ich etwas mache, was ich zum ersten Mal versuche.“65 Probleme und Rätsel des Alltags bilden zudem eine Art natürlichen Quell für Innovationen. Sehen wir unsere Lösungsfindung als Experiment an, erhebt sie uns nicht selten zum Forscher und Tüftler. Konrad Adenauer – eher dafür bekannt, der erste Bundeskanzler der BRD gewesen zu sein – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine ebensolche „Erfindernatur“. Zu seinen zahlreichen Tüfteleien inspirierten ihn dabei oft die Alltagsprobleme seiner Gattin, und fast alle seiner Ideen bestanden daher aus Modifikationen von Bestehendem. Etwa das Mehrzweck-Gartengerät, bei welchem er „am Stiel eines gewöhnlichen Gartenrechens eine Art Hammerkopf aus Metall anbrachte, um größere Erdklumpen zertrümmern zu können, ohne das Arbeitsgerät wechseln zu müssen.“ In Kooperation mit der AEG arbeitete er zudem an einer Kleisterbürste, die mit Elektroden ausgestattet und in eine Flüssigkeit getaucht wurde, und an welche anschließend 1000 Volt Spannung angelegt wurden. Diese „Elektrobürste gegen Schädlinge“ hätte unter ungünstigen Umständen aber nicht nur tödlich für Insekten, sondern auch für den Nutzer selbst enden können.66 64 Richter, Claus: „Der Zauber der Vorfreude“ in: Form, the Making of Design, Ausgabe 241, Basel 2011, S. 25 65 Vgl.: Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur, a.a.O., S. 155 66 Schmidt, Walter: „Die pfiffigen Erfindungen des Konrad Adenauer“ in: Die Welt, Ausgabe vom 18.05.2009
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Erheiternd in Anbetracht dieser wenig bekannten Eigenschaft des einstigen Kanzlers wirkt das CDU-Wahlplakat zur Bundestagswahl 1957, auf dem neben einem sehr ernsten Konrad Adenauer auch der Wahlspruch „Keine Experimente!“ zu lesen ist.
Foto: Bildarchiv Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus
Prototyp von Konrad Adenauers „Elektrobürste gegen Schädlinge“ welche er um 1935 entwickelte.
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Dass mit Zuhandenem ein bestehendes System verbessert werden kann, zeigt sich auch am Beispiel von Scott E. Fahlman: Der Professor für Informatik arbeitete in den achtziger Jahren an der Universität in Pittsburgh, in einer Zeit, als die E-Mail noch recht unbekannt war und etwa nur von Universitätsangehörigen zur Kommunikation verwendet wurde. Da Ironie oder Humor auf dem elektronischen Weg schlecht zu vermitteln waren, kam es ständig zu Missverständnissen, die Fahlman zu unterbinden versuchte. Schließlich schlug er „seitwärts zu lesende Markierungen“ vor, die aus den vorhandenen Satzzeichen hergestellt werden konnten: das elektronische Smiley war geboren.67 Improvisatorisches Problemlösen erweist sich im Spannungsfeld von Alltag und Experiment als clevere Fertigkeit, kann doch aus Vorhandenem Neues entstehen – sowohl in Bezug auf einen Gegenstand als auch für den Handelnden selbst. Gleichzeitig stellt es ein Training im Umgang mit unbekannten Aufgaben dar und belohnt uns im Erfolgsfall mit positiven Emotionen. :-)
67 Vgl.: Frehner, Carmen: Email - SMS - MMS: The Linguistic Creativity of Asynchronous Discourse in the New Media Age, Bern 2008, S. 78
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„Der Transport mehrerer Umzugskartons zu Fuß ist eine leidige Angelegenheit, wie ich letzte Woche feststellen musste. Die gab’s nämlich billig im Aldi, das leider nicht ums Eck lag. Circa fünf Minuten zur U-Bahn, eine Haltestelle und nochmal zehn Minuten Fußweg. Eine Freundin beriet mich vorher, ich solle die Dinger unbedingt zusammenkleben, das wäre sonst eine wahre Quälerei ... Erste Ernüchterung, als ich im Euroshop daneben kein Kreppband fand, da musste dann eine Rolle
Foto: Bildarchiv Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus
Erheiternd in Anbetracht dieser wenig bekannten Eigenschaft des einstigen Kanzlers wirkt das CDU-Wahlplakat zur Bundestagswahl 1957, auf dem neben einem sehr ernsten Konrad Adenauer auch der Wahlspruch „Keine Experimente!“ zu lesen ist. Tesafilm herhalten, die ich glücklicherweise zufällig in der Tasche hatte. Zweite Ernüchterung dann, als ich feststellte, dass die zehn Umzugskartons – so viele wollte ich besorgen - riesig schwer und auf gar keinen Fall von mir allein zu transportieren sind. Na, dann nahm ich so viele, wie ich gerade tragen konnte und wähnte mich als sehr clever und geschickt, als ich diese zusammenklebte, über Kreuz, wie bei einem Geschenk, damit nichts verrutscht. Immerhin, die Kartons rutschen mir dann tatsächlich nicht weg, dank des zusammen Klebens, aber meine Arme taten mir innerhalb kürzester Zeit sehr weh. Abgeplagt habe ich mich damit bis nach der U-Bahn. Angesichts des langen Fußmarsches danach wollte ich erst kapitulieren. mitmir Zuhandenem ein bestehendes System verbessert DannDass ist aber der Tesa eingefallen. Ichwerden kann, zeigt sich auch am Beispiel von Scott E. Fahlman: Der glaube, weil ich gegrübelt habe, wie ich Profesdiese sor für Informatik arbeitete in den achtziger Jahren an der UniversiDinger denn nun nach Hause bekomme - am besten, tät in Pittsburgh, in einer Zeit, als die E-Mail noch recht unbekannt ohnewarmeine schmerzenden Arme zu benutzen, also und etwa nur von Universitätsangehörigen zur Kommunikation gerne die Kartons irgendwo dran Dann verwendet wurde. Da Ironie oder Humor aufhängen. dem elektronischen habeWeg ich mir zu einen Henkel zurecht geklebt, sodass schlecht vermitteln waren, kam es ständig zu Missverständnissen, die Fahlman zu unterbinden versuchte. Schließlich schlug ich die Kartons prima, wie eine riesige Handtaer „seitwärts zu lesende Markierungen“ vor, die aus den vorhandenen sche, über die Schulter hängen konnte. Allerdings Satzzeichen hergestellt werden konnten: das elektronische Smiley ist Tesa dafür nicht das beste Material, wie ich war geboren.67 festellen musste – es leiert ziemlich schnell aus. Darauf war ich dann aber ziemlich sogar Improvisatorisches Problemlösen erweist sich stolz, im Spannungsfeld so, dass ichund – Experiment Achtung,alsPeinlichkeiten – doch zu Haus von Alltag clevere Fertigkeit, kann aus Vorhandenem Neues entstehen – sowohl in Bezug auf einen Gegendavon ein Foto gemacht habe und es meinem Vater als auch für den Handelnden selbst. Gleichzeitig stellt esSo ein was mit stand triumphierender Beschreibung schickte. Training im Umgang mit unbekannten Aufgaben dar und belohnt wie: Kartons schlau bezwungen!“ uns im Erfolgsfall mit positiven Emotionen. :-)
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28 Jahre, Sonderpädagogin 67 Vgl.: Frehner, Carmen: Email - SMS - MMS: The Linguistic Creativity of Asynchronous Discourse in the New Media Age, Bern 2008, S. 78
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Quellenverzeichnis
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Randnotizen
Seite 36 Vgl.: Fritz, Gerd: Einführung in die historische Semantik, Berlin 2005, S. 102 Seite 49 Buhr, Manfred; Klaus, Georg (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Berlin 1969, S. 385 Seite 52 Vgl.: Walt Disney Pictures: „The Little Mermaid“ R: Clements, Ron; Musker, John, USA, 1989 Seite 59 Vgl.: Adelung, Johann: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien 1808, S. 734 Seite 61 Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung, Berlin 1921, S. 86 Seite 61 Vgl.: Schürmann, Thomas: Tisch- und Grusssitten im Zivilisationsprozess, Münster 1994, S. 76 Seite 76 Vgl.: Roe, Ann: „A Study of Imagery in Research Scientists“ in: Journal of Personality, Issue 19, West Sussex 1951, S. 461 Seite 105 Vgl.: Dannoritzer, Cosima: „The Light Bulb Conspiracy“, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 Seite 123 Vgl.: Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss / Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Berlin 1994, S. 36 f. Seite 125 Vgl.: Heilemann, Uwe: Norge med Willy: Durch Norwegen auf den Spuren von Willy Brandt, Norderstedt 2013, S. 81 Seite 132 Vgl.: Selle, Gert: „Design auf der Suche nach Freiräumen: Produktkultur und Identität“ in: Form Nr. 88, Frankfurt am Main 1979, S. 10 Seite 188 Vgl.: Weintraub, Jerry: „Karate Kid“, R: Avildsen, John G., USA, 1984
Bücher
Ahaus, Björn; Heidbrink, Ludger; Schmidt, Imke (Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt am Main 2011 Aicher, Florian; Rinker, Dagmar: Gebrauch und Gebräuchlichkeiten – Vom Umgang mit den Dingen und ihrer Gestalt, Ulm 2000 Aigner, Carl; Marchsteiner, Uli: Haltbar bis... ...immer schneller – Design auf Zeit, Köln 1999 Basalla, George: The Evolution of Technology, Cambridge 1988 Bateson, Gregory: Geist und Natur, Frankfurt am Main 1982 Baudrillard, Jean: Das Ding und das Ich. Gespräch mit der täglichen Umwelt, Wien 1974 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge: Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt am Main 2007 Birklbauer, Jürgen: Modelle der Motorik, Aachen 2006 Brandes, Uta; Stich, Sonja; Wender, Miriam: Design durch Gebrauch – Die alltägliche Metamorphoseder Dinge, Basel 2009 Brecht, Bertold: „Die Dreigroschenoper“, in: Stücke, Band 3, Berlin 1958 Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen, kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, Hamburg 2000 Edelmann, Klaus Thomas; Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1992 Eliot, T. S.: Ausgewählte Gedichte, Übertragen von Nora Wydenbruck, Frankfurt am Main 1951 Erhardt, Heinz: Das große Heinz-Erhardt-Buch, Gütersloh 1972 Ferguson, Eugene S.: Das innere Auge: von der Kunst des Ingenieurs, Boston 1993 Feynman, Richard P. : Sie belieben wohl zu Scherzen, Mr. Feynman!, München 1987 Flusser, Vilem: Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen, Wien 1991 Frehner, Carmen: Email - SMS - MMS: The Linguistic Creativity of Asynchronous Discourse in the New Media Age, Bern 2008 Friebe, Holm; Lobo, Sascha; Passig, Kathrin; Scholz, Aleks (Hg.): Riesenmaschine. Das Beste aus dem brandneuen Universum, München 2007 Fritz, Gerd: Einführung in die historische Semantik, Berlin 2005 Goldt, Max: Vom Zauber des seitlich dran vorbeigehens, Prosa und Szenen 2002 - 2004, Hamburg 2006 Habermass, Tilmann: Geliebte Objekte, Berlin 1996 Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur, München 2013 Heilemann, Uwe: Norge med Willy: Durch Norwegen auf den Spuren von Willy Brandt, Norderstedt 2013 Jonas, Wolfgang; Romero-Tejedor, Felicidad (Hg.): Positionen zur Designwissenschaft, Kassel 2011 Jung, Johann Heinrich: Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21 Kalweit, Andreas; Peters, Sascha; Paul, Christof; Wallbaum, Reiner (Hg.): Handbuch für technisches Produktdesign, Heidelberg 2006 Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Marburg 2012 Kuna, Edwin: Das alte Handwerk in Vorpommern, Grambin 2013 Löbach, Bernd: Design durch Alle. Alternativen zur fremdbestimmten Massenproduktkultur, Braunschweig 1983 McLaughlin, Peter: What Functions Explain: Functional Explanation and Self-Reproducing Systems, Cambridge 2000 Mitman, Gregg: The State of Nature: Ecology, Community, and American Social Thought, 1900 – 1950, Chicago 1992 Norman, Donald A.: Dinge des Alltags. Gutes Design und Psychologie für Gebrauchsgegenstände, Frankfurt a. M.1989
201
Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reissverschluss / Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Berlin 1994 Poppe, Erik: Reparaturpolitik in Deutschland - Zwischen Produktverschleiß und Ersatzteilnot, Berlin 2014 Rankine, Claudia; Sewell, Lisa: American Poets in the 21st Century, Middletown 2006 Roosevelt, Theodore: The Works of Theodore Roosevelt - Volume V: : Through the Brazilian Wilderness and Papers on Natural History, New York 2006 Rosenberger, Ferdinand: Isaac Newton und seine physikalischen Principien, Leipzig 1895 Schneider, Helmuth: Geschichte der antiken Technik, München 2011 Schramm, Helmar ; Schwarte, Ludger (Hg. ): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert: Bd 2, Berlin 2006 Schürmann, Thomas: Tisch- und Grusssitten im Zivilisationsprozess, Münster 1994 Selle, Gert; Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen – Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Hamburg 1986 Sturm, Hermann: Die Tücke der Funktion, Essen 2005, S. 13 Stieve, Claus: Von den Dingen lernen – Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008 Torney, Melanie: Innovation durch Subversion, Berlin 2008 Weinschenk, Susan M.: 100 Things Every Designer Needs to Know About People, Berkeley 2011 Wildfeuer, Bianca: Romantisches: Zur Bedeutung einer Gefühlswertigkeit am Beispiel heutiger Wohnkultur, Münster 2012
Artikel und Beiträge 202
Coppey, Nicole: „L’improvisation chez les enfants : la dimension humaine de l’improvisation“ in: Schweizer Musikzeitung, 11/03, St.Gallen 2003 Dietel, Clauss: „Von den veredelnden Spuren des Nutzens oder der Patina des Gebrauchs (1973)“ in: Edelmann, Klaus Thomas; Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010 Fellmann, Max: „Aufs Kreuz gelegt“ in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr.8, München 2014 Havemann, Antje: „Was können Provisorien?“ in: derive - Zeitschrift für Stadtforschung, Ausg. 21/22, Wien 2006 Heubach, Friedrich W.: „Das Resopal Möbel (1987)“ in: Edelmann, Klaus Thomas; Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010 Hochner, Binyamin: „Control of Octopus Arm Extension by a Peripheral Motor Program“ in: Science Nr. 293, Washington D.C. 2001 Hoffmann-Axthelm, Dieter: „Nischen, Spielräume, Provisorien. Ein Plädoyer für den Auszug aus festen Behältnissen.“ in: DU - Die Zeitschrift der Kultur 643, Zürich 1994 Richter, Claus: „Der Zauber der Vorfreude“ in: Form, the Making of Design, Ausgabe 241, Basel 2011 Roe, Ann: „A Study of Imagery in Research Scientists“ in: Journal of Personality, Issue 19, West Sussex 1951 Schmidt, Walter: „Die pfiffigen Erfindungen des Konrad Adenauer“ in: Die Welt, Ausgabe vom 18.05.2009 Scholz, Aleks: „Von Markt- und Zahnlücken“ in: Friebe, Holm; Lobo, Sascha; Passig, Kathrin; Scholz, Aleks (Hg.): Riesenmaschine. Das Beste aus dem brandneuen Universum, München 2007 Selle, Gert: „Design auf der Suche nach Freiräumen: Produktkultur und Identität“ in: Form Nr. 88, Frankfurt a.M. 1979 Sullivan, Louis: „The tall office building artistically considered“ in: Lippincott‘s Monthly Magazine, Ausgabe März, Philadelphia 1896
Nachschlagewerke
Adelung, Johann: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien 1808 Bibliographisches Institut: Brockhaus-Enzyklopädie, Band 13, Mannheim 1996 Bibliographisches Institut: Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1996
Bibliographisches Institut: Duden, das Fremdwörterbuch, 9. Auflage, Mannheim 2006 Buhr, Manfred; Klaus, Georg (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Berlin 1969 Faulmann, Karl: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Norderstedt 2013 Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Band 9, Stuttgart 1914 PONS GmbH: Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Veränd. Neuaufl. , Stuttgart 2008
Andere Medie n
Deutschlandfunk: „Freistil - Improvisation als Lebensprinzip“, Manuskript zur Radiosendung vom 5. Mai 2013 Dannoritzer, Cosima: „The Light Bulb Conspiracy“, ARTE-Dokumentarfilm, 2010 Walt Disney Pictures: „The Little Mermaid“ R: Clements, Ron; Musker, John, USA, 1989 Weintraub, Jerry: „Karate Kid“, R: Avildsen, John G., USA, 1984
Netzquellen
Boisseau, Sylvie: „15. Juli: Einweihung der Volksskulptur Trampelpfad“ auf: www.filmerei.de Stand: 01.05. 2014, URL: http://www.filmerei.de/alltogether/trampelpfad_11.html Dr. Kipp, Kerstin: „Fähigkeiten und Fertigkeiten. Learning by doing“ auf: www.uni-saarland.de Stand: 03.04.2014, URL: http://www.uni-saarland.de/fak5/excops/download/FaehigkeitenundFertigkeiten.pdf Sahabi, Siba: „One Day Bags“ auf: www.platform21.nl Stand: 13.03.2014, URL: http://www.platform21.nl/page/4557/en Schramm, Manuel: „Konsumgeschichte“ in: Docupedia-Zeitgeschichte Stand: 16. 05. 2014, URL: http://docupedia.de/zg/Konsumgeschichte_Version_2.0_Manuel_Schramm?oldid=84911
Abbildungen Seite 41 Seite 62 Seite 87 Seite 108 Seite 124 Seite 139 Seite 145 Seite 146 Seite 169 Seite 196
Phillippe Starck für Alessi: Zitronenpresse „Juicy Salif “ Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Starck Network, Paris Sylvie Boisseau: „Volksskulptur Trampelpfad“ Stand: 01.05. 2014, URL: http://www.filmerei.de/allegif/Trampelpfad11_1.jpg Claudia Kornmayer: „Umnutzung“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Architekturbüros Kornmeyer, Wiesbaden Stand: 13.03.2014, URL: http://www.gagbay.com/gag/resourcefulness_level_filipino-6895/ Rodrigo Piwonka: „Bagel to go“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Rodrigo Piwonka, Santiago Siba Sahabi: „One Day Bags“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Siba Sahabi und Arne Hendriks/Platform 21, Amsterdam Reparatur mit Sugru Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Arne Hendriks, Platform21, Amsterdam Steve Wood für Nevada Music: „Fender Kurt Cobain Jaguar“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Steve Wood, Nevada Music, Portsmouth Patrick Stevenson: „Pirate Radio“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Patrick Stevenson, London Konrad Adenauer: „Elektrobürste gegen Schädlinge“ Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef
Die Rechte an allen hier nicht aufgeführten Abbildungen liegen beim Verfasser. Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Rechtsinhaber ermittelt werden.
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Vielen Dank Prof. Hardy Fischer, Dipl. Des. Ute Sickinger und Prof. Gabriele Franziska Götz für die Betreuung meiner Arbeit. Für ihre Mithilfe und Unterstützung danke ich ganz besonders herzlich Sophia und Julian, Timo, Tini, Dieter und Doris, Udo, dem Arbeitsraum R0101, Rosi und Willi, Herrn Schröder, Frau Mihm-Lutz, Herrn Budde, Frau Pauza, Ralph, Olga, Manfred und allen mitwirkenden Probanden, Erfahrungsberichterstattern und Umfrageteilnehmern der Forschungsreihe.
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Außerdem geht mein herzlicher Dank an Herrn Zimmermann von ingofonts für die freundliche Zurverfügungstellung der Schrift „Biro Script plus“.
Gebrauchsgegenstände sind meist so selbstverständlich zur Hand, dass wir kaum mehr Notiz von ihnen nehmen. Der Umgang damit geschieht meist beiläufig, beinahe blind. Was aber, wenn Vorgänge nicht reibungslos ablaufen? Was, wenn die Gegenstände nicht so funktionieren, wie sie sollen – sie defekt sind oder uns auf andere Weise vor ein Problem stellen? Beim Blick auf die Beziehung zwischen Mensch und Gebrauchsgegenstand im Spannungsfeld von Konvention und Improvisation sammelt „Das Leben nach dem Senf “ beispielhafte Antworten in Form von Texten, Fundstücken, Interviews und einer Versuchsreihe mit Probanden, um der Improvisation als Qualität und Kom petenz gewahr zu werden.