Ivan Kožarić: Ein Gefühl von Ganzheit

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Ivan Kožarić: Ein Gefühl von Ganzheit Ana Dević

Ana Dević über die radikale Praxis der Selbsthinterfragung des Bildhauers und die seit den 1950er-Jahren fortdauernde Transformation seines Œuvres. „Seit ich frei bin, habe ich alle möglichen Ideen. Fast alle davon gefallen mir, auch wenn sie meinen früheren Ideen widersprechen, die problemlos funktionierten und gut waren.“1 — Ivan Kožarić, Brief an das fiktive Amt für den Entzug der Freiheit, 1976 Bildhauer, Anti-Bildhauer, Nicht-Bildhauer Ende der 1950er-Jahre begann Ivan Kožarić, ein künstlerisches Paradigma nach dem anderen aufzustellen, nur um dieses zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzugeben. Es scheint, als sei er davon getrieben, stets neue Ausdrucksformen für seine Kunst zu finden und dabei immer wieder die Richtung zu wechseln. Die Dialektik und Widersprüchlichkeit dieser komplexen künstlerischen Haltung hat Ješa Denegri mit dem Satz „Bildhauer, Anti-Bildhauer und Nicht-Bildhauer in einer Person“ umrissen.2 Sicherlich ist Kožarić vor allem Bildhauer, doch sein Werk umfasst neben öffentlichen Monumenten und Installationen auch konzeptuelle Deklarationen, textuelle Arbeiten, Zeichnungen und Gemälde. Oft verwendet er Ready-mades, experimentiert bisweilen mit Videos oder verwendet performative Elemente. Die permanenten Transformationen seines Œuvres sind jedoch nicht medialer oder stilistischer Natur, sie vollziehen keine Bewegung vom Gegenständlichen zur Abstraktion oder zu einer konzeptuellen Herangehensweise.

Ivan Kožarić, Covjek koji sjedi (Sitzender Mann), 1954, Bronze, 61 × 65 × 23,4 cm, Courtesy Atelijer Kožarić © Ivan Kožarić, Foto Darko Bavoljak

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Vielmehr sind sie ein kreativer Prozess voller Umbrüche, in dem vorhandene Skulpturen und Werkzyklen ständig wiederverwendet, umgestaltet, verworfen, neu zusammengestellt und neu bewertet werden. Ebenso wie andere herausragende kroatische Künstler — etwa Dimitrije Bašičević Mangelos oder Tomislav Gotovac (auch bekannt als A. G. Lauer) — arbeitet Kožarić an einem eigenen Kunstsystem, in dem er die eigenen Werke permanent zueinander in Beziehung setzt. Während Gotovac sein System der „paranoiden“, auf die großen Narrative des Films, der Kunst, der Politik und der Geschichte bezogenen Weltsicht als „global orientiert“ bezeichnete,3 hat Kožarić kein konkretes intellektuelles Programm: Kein Rahmen, kein Kriterium fügt hier die einzelnen Teile seines Schaffens zu einem Ganzen zusammen. Ungeachtet dessen, einer paranoiden Weltsicht, die historische oder gerade deswegen, verfügt er über jene besondere Begabung, Materialien und Dinge so zu verändern, dass scheinbar zufällig zusammengewürfelte,disparate Elemente und Prozeduren — gleichsam intuitiv — ein Gefühl von Ganzheit vermitteln: durch Ablagerungen künstlerischer und menschlicher Lebenserfahrung;4 durch ein ausgeprägtes Gespür für den urbanen Raum, etwa wenn die Straßen plötzlich zum Atelier des Künstlers werden; vor allem aber durch Kožarićs ambivalentes und anarchisches Verständnis der Bildhauerei, das auf der Erweiterung von Grenzen, auf der Ablehnung jeglicher Hierarchie sowie auf einer Affirmation der Anti-Form basiert.

Ivan Kožarić, Osjećaj cjeline (Gefühl von Ganzheit), 1953 — 54, Gips, Eisen, Holzsockel, 38 × 21 × 22,5 cm, Courtesy Atelijer Kožarić und Museum für zeitgenössische Kunst Zagreb — MSU Zagreb © Ivan Kožarić, Foto Darko Bavoljak In seinem Frühwerk vor 1960 — also vor seinem Beitritt zur Künstlergruppe Gorgona — nimmt die Skulptur Osjećaj cjeline (Gefühl von Ganzheit, 1953—54) eine Sonderstellung ein. Hier kündigen sich bereits jene widersprüchlichen Tendenzen an, die in der Folge sein künstlerisches Schaffen prägen werden. Diese einfache, länglich-runde Form aus Gips, diagonal durchstoßen von einem Eisenstab, erinnert an einen ausrangierten Gegenstand von unbestimmter Funktion. Auch wenn Osjećaj cjeline zu einer Zeit entsteht, als Kožarić noch hauptsächlich

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gegenständlich arbeitet, wird es erst 1981 in der Gruppenausstellung „Abstract Tendencies in Croatian Art 1951—1961“ in der Modern Gallery Zagreb erstmals gezeigt. Sicherlich könnte man es als frühes Beispiel abstrakter Bildhauerei in Jugoslawien auffassen, doch lässt sich in Kožarićs künstlerischem Schaffen zu jener Zeit keinerlei einheitliche Tendenz feststellen, so dass Osjećaj cjeline eher als grundlegendes Experiment im Rahmen der kreativen Suche nach einem gegenständlichen Paradigma zu interpretieren ist. Nichtsdestotrotz ist es ein Schlüssel zum Verständnis jener abrupten Richtungsänderungen und bisweilen diametral entgegengesetzten Arbeitsprinzipien, die der Künstler in seinem Werk offenbart.

Ivan Kožarić, Skulptura 1954 — 2000 (Skulptur 1954 — 2000), 2000, verschiedene Materialien, variable Abmessungen, Courtesy HDLU, Zagreb © Ivan Kožarić, Foto Darko Bavoljak Dieses Fehlen jeglicher Regeln, das Osjećaj cjeline beispielhaft symbolisiert, ist prägend für Kožarićs gesamtes Œuvre. Es ist ein System, das sich — ebenso wie dieses Einzelwerk — nicht systematisieren lässt und sich grundsätzlich jeglicher Hierarchisierung widersetzt; seine Grundprinzipien sind Dialektik und Widerspruch, und es basiert auf einer „anarchischen kreativen Diskontinuität“, die „stets nur den unsicheren Leidenschaften der […] eigenen Intuition folgt“. 5 Das kollektive Kunstwerk Kožarićs Zeit in der Avantgarde-Künstlergruppe Gorgona in den 1960erJahren markiert einen der Wendepunkte in seinem Schaffen. Das schwer fassbare, aber dennoch synergetische kollektive Ethos der Gruppe sowie ihre unkonventionellen Ideen von der Auflösung der Kunst bewirkten zweifellos auch bei Kožarić eine Radikalisierung der Projekte und künstlerischen Konzeptionen. Zwischen 1959 und 1966 fanden unter dem Dach der Gorgona-Gruppe Künstler und Kunsthistoriker zusammen, deren gemeinsame Projekte visuell zwar nicht übermäßig radikal, aber doch von hohem intellektuellen Anspruch waren.6 Sie tauschten ihre Konzepte untereinander aus und korrespondierten miteinander sowie

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mit internationalen Künstlern, denen sie nahe standen (z. B. Piero Manzoni, Robert Rauschenberg und Lucio Fontana). Zwischen 1961 und 1966 erschienen elf Ausgaben des als Künstlerbuch konzipierten, nur wenige Seiten umfassenden „Anti-Magazins” Gorgona, das von den Mitgliedern der Gruppe oder von eingeladenen Künstlern wie Victor Vasarely, Harold Pinter und Dieter Roth gestaltet wurde. Natürlich besaß jedes Mitglied eine eigene, charakteristische Handschrift. Und doch lässt sich an gemeinsamen Aspekten wie Absurdität, Humor, Ironie, Leere, Zen-Philosophie und anti-künstlerische Haltung eine gewisse Seelenverwandtschaft der Gruppe um den spiritus movens Josip Vaništa erkennen, die sie in die Nähe der Poetik von Fluxus oder Neo-Dada rückt. Die Werke der Gruppenmitglieder waren zudem oft von ephemerer Natur: Zusammenkünfte, Konferenzen, Spaziergänge, Mail Art, das erwähnte AntiMagazin sowie selbst organisierte und finanzierte Ausstellungen — eine Praxis künstlerischen Experimentierens, die später als Konzeptkunst kanonisiert werden sollte. Man stellte den Status des Kunstobjekts infrage und verhandelte die Grenzen der Kunst neu, stets auf der Suche nach künstlerischer und intellektueller Freiheit.

Ivan Kožarić, Neobični projekt — Rezanje Sljemena (Ungewöhnliches Projekt — Durchschneiden des Sljeme), 1960, Fotomontage, 19 × 25,5 cm, Courtesy Atelijer Kožarić © Ivan Kožarić Als sich Kožarić 1960 der Gruppe Gorgona anschloss, war er mit 39 Jahren bereits ein reifer Künstler.7 Heute bezeichnet er diese Zeit als seine zweite Jugend. Die Plastik Unutarnje oči (Innere Augen, 1959—60), die er während eines kurzen Aufenthalts in Paris in einem Hotelzimmer begonnen hatte, sollte hierbei eine wichtige Rolle spielen: 1961 verwendete Kožarić sie für das Cover seiner Ausgabe des Gorgona-Magazins (Nr. 5). Die verschiedenen Versionen von Unutarnje oči lassen sich als AntiPorträts oder fragmentierte „Porträts“ des negativen Raums im Inneren eines Kopfes interpretieren. Schon 1955, noch als vorwiegend gegenständlicher Künstler, betrachtete Kožarić „die Menschen als Ein- und Ausbuchtungen ihrer Eigenheiten“.8

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Diese Wahrnehmung übersetzte er später, während seiner Zeit bei Gorgona, in ein bildhauerisches Konzept: So entwickelte er enorme symbolische Negativräume, gleichsam als Ergänzung des externen, konkreten Raums — der Landschaft, der Stadt, des Erdballs und der sichtbaren Wirklichkeit an sich. In Neobični projekt — Rezanje Sljemena (Ungewöhnliches Projekt — Durchschneiden des Sljeme, 1960) beispielsweise schlug er vor, einen Teil des Berges Sljeme — eines beliebten Ziels für Wanderer aus Zagreb — zu kappen und so die Umwelt, den externen Raum in bildhauerisches Material zu verwandeln, dessen Ein- und Ausbuchtungen manipuliert werden konnten. Ein weiteres Werk dieser Art ist Kolektivno djelo (Kollektives Werk, 1963), ein Vorschlag, das Schädelinnere aller Gorgona-Mitglieder in Gips zu gießen, ebenso wie den Innenraum von Autos, Ateliers und „allen bedeutenden Hohlräumen unserer Stadt“. Eine Weiterentwicklung fand Kolektivno djelo später in dem Text Proglas (Aufruf, 1963—1986): „Bildhauer der Welt, lasst uns einen Abguss des Erdballs machen.” Diese radikalen Vorschläge sind zugleich formale, konzeptuelle Manifeste, utopische Projekte und konkrete Ideen. Sie fordern unsere Vorstellungskraft heraus, sie als realisierbar zu erachten.

Ivan Kožarić, Oblici prostora (Raumformen), 1965, Courtesy Atelijer Kožarić © Ivan Kožarić, Foto Darko Bavoljak Müll und Gold: Das Ende mündet im Anfang „Wäre ich nicht Bildhauer, so wäre ich gern Küchengehilfe oder Straßenkehrer, mit diesem wunderschönen Karren!“9 — Ivan Kožarić Für seine künstlerische Arbeit lehnt Kožarić jegliche chronologische oder evolutionäre Ordnungsprinzipien ab. Seinen Werken fehlen oft Signatur oder Datum; eine Form geht spontan in eine andere über; mal werden sie in Zyklen arrangiert, dann wieder neu gruppiert, und mitunter wiederholt Kožarić ein Werk mehrfach. So wurde seine paradigmatische Plastik Covjek koji sjedi (Sitzender Mann, 1954) zunächst in die Installation Skulptura 1954—2000 (Skulptur 1954—2000) integriert und später gemeinsam mit dieser einem anderen Zyklus zugeordnet, nämlich

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der Serie Privremene skulpture (Temporäre Skulpturen, 1975—fortlaufend). Als im Jahr 2000 Skulptura 1954—2000 im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung im Haus des kroatischen Künstlerverbands HDLU in Zagreb gezeigt wurde, verlängerte Kožarić den linken Arm der sitzenden Figur um ein 350 Meter langes Gebilde aus Aluminiumfolie, das durch den Ausstellungsraum mäanderte. Am Ende der Ausstellung zerschnitt er es und verteilte die einzelnen Stücke unter den Besuchern. Eine mögliche Interpretation dieses Werks ist die einer geistreichen Negation jener Dichotomie von Gegenständlichkeit und Abstraktion, um die im sozialistischen Jugoslawien der 1950er-Jahre hitzige Diskussionen geführt wurden. Tatsächlich hat sich Kožarić vom Gegenständlichen nie ganz losgesagt: Obwohl er sich Ende der 1960er-Jahre immer mehr der Abstraktion zuwendet, finden sich in einer Vielzahl späterer Werke noch immer gegenständliche Ausdrucksformen, so etwa in der herrlichen Porträtplastik Smirenost industrijskog radnika na putu za svoje selo (Gelassenheit eines Industriearbeiters auf dem Weg in sein Dorf) von 1979. Der Humor, den Kožarić in seinem Werk offenbart, reicht von feiner Ironie und Absurdität bis zu Spott und karnevalesken Elementen. Durch unerwartete und oft surreale Gegenüberstellungen und Verschiebungen — insbesondere bei seinen Arbeiten im öffentlichen Raum, etwa dem Heuhaufen, den er im historischen Zentrum von Dubrovnik aufschichtete (Stog sijena (Heuhaufen), 1996) — ermöglicht er dem Betrachter einen Perspektivwechsel. Zweifellos nährt sich die außerordentliche Vitalität seines Œuvres aus einer spielerischen Freiheit. Von noch größerer Bedeutung ist hier aber der radikale Zweifel am eigenen „abschließenden Vokabular”,10 der ihn dazu bewegt, die Rolle der Kunst, aber auch den Begriff der Wirklichkeit selbst neu zu bedenken: „Ich bin kein Künstler, aber dafür ein schlechter Bildhauer. Ich bin durch Forschen dahin gelangt, sagen zu können, dass ich der Kunst auf der Spur bin, und das reicht mir.”11 Diese Aussage des Künstlers ist nicht nur selbstironisch aufzufassen, sondern auch als ehrliche und wohlüberlegte Reflexion, in der jener radikale Zweifel zutage tritt. Die systematische, unablässige Infragestellung des eigenen Werks ist es auch, die Kožarić immer wieder dazu treibt, ein Paradigma bis ins letzte Detail zu untersuchen, um sodann ein neues zu generieren oder aber die Notwendigkeit eines Paradigmas grundsätzlich zu negieren. Dies gilt insbesondere für seine zyklische Auffassung der Zeit. Bereits 1962 bemerkte Radoslav Putar, damals ebenfalls Mitglied der Gorgona-Gruppe, man könne in Kožarićs Werk „keinen wirklich lesbaren Rhythmus der ‚Entwicklung’ erkennen”.Viele Jahre später prägte der Kurator Želimir Koščević den Begriff der „anarchischen kreativen Diskontinuität“, um die bewusste Eliminierung klarer zeitlicher Abfolgen in Kožarićs reichem Œuvre zu beschreiben.12 1984 stellte Kožarić fest: „Ich zerstöre immer, was ich gemacht habe. Heute denke ich manchmal, dass ich noch immer nichts gemacht habe,

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dass all [meine Werke] nichts anderes waren als Versuche, Versuche, Versuche.”13 Einer dieser radikalen „Versuche“ ist 1971 der Beschluss, sein berühmtes, mit Skulpturen, Objekten und Alltagsgegenständen vollgestelltes Atelier in der Medulićeva ul. 12 in Zagreb beinahe komplett mit Gold zu übermalen. Indem er seine Kunstwerke — darunter Meisterwerke des geometrischen Zyklus wie Oblici prostora (Raumformen, 1962—fortlaufend) und Isječak rijeke (Ausschnitt eines Flusses, 1959) sowie frühere Porträtskulpturen wie Glava djevojke (Kopf eines Mädchens, 1954) — mit nichtkünstlerischen Gegenständen wie Schuhen oder Möbelstücken gleichsetzt, negiert auf radikale Weise sein Werk und affirmiert es zugleich. Die unbemalten Teile seines Ateliers umhüllt er mit Stoff, so dass vorübergehende „antimonumentale“ Bündel entstehen. Diese Objektserie nennt er Pinkleci (ein dialektaler Ausdruck für „Bündel”) und lässt sie auf dem Atelierboden liegen wie zufällige aufgehäufte, anonyme Gegenstände. Kožarić zerstört damit absichtlich den sakrosankten Raum seines Werks, schreibt dessen Geschichte neu und setzt sich bewusst — auf sowohl nihilistische wie affirmative Weise — in einen antihierarchischen Kontext. Damit suggeriert er nicht nur, dass Müll und Gold Hand in Hand gehen, sondern dass der künstlerische Prozess reversible Transformationen von Müll in Gold (d.h. in Kunst) oder Kunst in Müll (d.h. etwas Wertloses, Zufälliges und Anonymes) umfasst. Es wird für ihn immer wichtiger, die Grenzen der Präsentationsformen seiner Werke auszuloten. Einige Monate später geht er sogar noch einen Schritt weiter und fordert (ganz im Geiste der früheren Gorgona-Manifeste), man solle sämtliche Fassaden und Straßen der Stadt in Gold übermalen.14 Im Anschluss an die späten 1960er-Jahre driften die Phasen von Kožarićs Werk in verschiedene Richtungen: Einige bleiben unverändert, andere werden buchstäblich über den Haufen geworfen, so dass ein neues Werk entsteht. Für den von Putar kuratierten jugoslawischen Pavillon der Venedig-Biennale 1976 „recycelte“ Kožarić wieder einmal frühere Werke und trieb damit ihre Konzeptualisierung auf die Spitze. Als Reaktion auf Putars Einladung, sich an diesem nationalen Repräsentationsapparat zu beteiligen, sprengte Kožarić die institutionalisierte Kunst sowie den nationalen Auswahlmodus der Biennale ebenso wie sein eigenes Werk. In einer Art Anti-Retrospektive stellte er zwei Serien von Arbeiten aus: Hrpe (Haufen, 1976—fortlaufend) und Privremene skulpture (Temporäre Skulpturen, 1975—fortlaufend). In Hrpe gruppierte er „erfolgreiche” und „erfolglose” Plastiken achtlos zu willkürlichen Ansammlungen, als warteten sie nur darauf, weggeworfen zu werden. Privremene skulpture, die zum ersten Mal gezeigt wurden, bestanden aus ephemeren Materialien wie Alufolie oder Papier, deren Form sich mit jeder neuen Realisierung veränderte. Oft wurden diese Skulpturen nach Beendigung der Ausstellung zerstört. Kožarićs „Haufen” im jugoslawischen Pavillon war eine mutige künstlerische und kuratorische Geste, die das Werk des Künstlers ebenso wie die Bedingungen seiner Ausstellung infrage stellte. 1976, Hrpe war noch im Entstehen begriffen, erläuterte Kožarić seine Auffassung von der Vorläufigkeit seines Werks wie folgt: „Jetzt habe ich das Gefühl, dass

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ich am Anfang stehe, denn das ist es, was ich gesucht habe. Manchmal weiß ich wirklich nicht, wo ich bin, denn ich bin mir selbst zu nahe. Am Ende läuft alles auf jahrelange Erfahrung hinaus: Man sucht, macht sich lang und schließlich gelangt man irgendwohin.”15 Dies Aussage ist nicht nur eine Geste des Künstlers Kožarić, mit der er bewusst den Anfang seines Schaffens mit dem Ende verbindet: Vielmehr offenbart sich hier eine Wahrnehmung, deren Grundlage der Prozess ohne Fortschritt ist. Diese Auffassung teilt er mit einem anderen Gorgona-Mitglied, Julije Knifer, der sein ganzes Leben lang Mäander malte. Kožarić verdankt seine Vitalität seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion. Anstatt die Kunstwelt oder sein eigenes Werk als gegeben zu akzeptieren, ist er stets bereit, alles, was er erreicht hat, zu zerstören oder umzuarrangieren. Wenn Chaos, Zufall, Witz und Übertreibung Kožarićs Werk charakterisieren, so bedeutet das, dass es für den künstlerischen Ausdruck keinen „richtigen“ Weg gibt.

Ivan Kožarić, Unutarnje oči (Innere Augen), 1959 — 60, Gips, 31,5 × 25 × 29,7 cm, Courtesy Atelijer Kožarić © Ivan Kožarić, Foto Darko Bavoljak Dass diese künstlerische Praxis über die Bildhauerei hinausreicht, belegt Studio Kožarić, das Atelier des Künstlers, sein „Labor für Belebung“.16 Als lebendiger künstlerischer Organismus sowie als Lebenswerk verkörpert das Atelier die Idee künstlerischer Totalität. Immer wieder ist es Transformationen unterzogen worden. Nachdem er es zunächst in Gold bemalt hatte, vollzog Kožarić 1993 seine nächste Geste und verlegte das gesamte Atelier in die Zvonimir-Galerie in Zagreb. Anlass dieser Aktion war eine Einzelausstellung des Künstlers, im Verlaufe derer er in seinem Atelier weiterarbeitete. 2002 wurde Studio Kožarić im Rahmen der Documenta11 in Kassel gezeigt. Selbst die Aufnahme in die permanente Sammlung des Museums für zeitgenössische Kunst in Zagreb setzte diesem Transformationsprozess kein Ende. Am Vorabend der Eröffnung des Museums im Jahre 2009, als sämtliche Skulpturen gereinigt und in säurefreies Papier verpackt auf ihren Abtransport ins Museum warteten, beschloss der Künstler in einem Anfall von Begeisterung, sie in dieser Verpackung auszustellen und somit gleichsam „unsichtbar“

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zu machen.17 Ein Jahr später wurden die Exponate dann aber doch enthüllt. Angesichts dieses hartnäckigen Widerstands gegen jegliche Musealisierung ist davon auszugehen, dass Studio Kožarić noch weitere Inkarnationen erleben wird. Als Metapher für einen kontinuierlichen, fruchtbaren und immer wieder überraschenden Prozess der Realisierung von Freiheit erinnert uns dieser Gestus daran, dass sich Kožarićs Kunst noch auf dem Gipfel der Anerkennung jeglicher Systematisierung widersetzt und somit der Kunst zwar enge, aber doch vorhandene Wege aufzeigt, immer wieder anders zu werden. Die Autorin dankt Radmila Iva Janković, Kuratorin des Studio Kožarić am Museum für zeitgenössische Kunst Zagreb, Evelina Turković, Boris Greiner, Filip Kožarić, Antun Maračić und dem SCCA Institut für zeitgenössische Kunst, Zagreb. Der Artikel von Ana Dević erschien ursprünglich unter dem Titel: „Ivan Kožarić: A Feeling of Wholeness”, in: Afterall [ http://afterall.org/journal/  ], Ausgabe 31, Herbst/ Winter 2012, S. 39 — 47.

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Ivan Kožarić in: Ivan Kožarić (Auss. Kat.), Belgrad: Museum für zeitgenössische Kunst Zagreb — MSU Zagreb, 1976, nicht paginiert. Übersetzung der Zitate aus dem Englischen. 2 Ješa Denegri, „Sculptor, Anti-Sculptor and Non-Sculptor in the Same Time, in the Same Person”, in: Matica Hrvatska (Hrsg.), Ivan Kožarić (Auss. Kat.), Sisak: The National Library, 2006, nicht paginiert. 3 Mit dem Begriff „Paranoia View Art” bezeichnete Gotovac sein Konzept einer paranoiden Weltsicht, die historische Ereignisse als Teil einer „global gesteuerten“ Verschwörung interpretiert. 4 Vgl. Evelina Turković, „My Studio is a Laboratory for Vivification”, in: Antun Maračić and E. Turković (Hrg.), The Kožarić Studio, Zagreb: Idea Imago, 1996, S. 87. 5 Želimir Koščević, Kožarić (Übers. v. Leonarda Čanić), Zagreb: Naklada Naprijed, 1996, S. 67. 6 Neben Kožarić zählten zur Gorgona-Gruppe die Maler Josip Vaništa, Marijan Jevšovar, Julije Knifer and Đuro Seder, der Architekt Miljenko Horvat, die Kunsthistoriker Radoslav Putar und Matko Meštrović sowie der Kunsthistoriker, Künstler und Kurator Dimitrije Bašicević Mangelos. 7 „Als ich 1960 aus Paris zurückkehrte, wo ich einige Monate verbracht hatte, baten mich Jevšovar und Vaništa, mich der Gruppe anzuschließen. Vielleicht war es auch keine richtige Gruppe … Jedenfalls baten sie mich, Gorgona beizutreten.“ Ivan Kožarić in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist, in: H.U. Obrist, Zagreb 16/6/01, Zagreb: WHW & Arkzin, 2001, S. 31. 8 Ivan Kožarić, zitiert in: “The Five About Themselves and Their Work”, Narodni list, 30. Januar 1955, S. 3. 9 Radmila Iva Janković, „Filozofija hrpe”, 15 dana, Nr. 3, 2009, S. 22. 10 Vgl. Richard Rorty, Contingency, Irony and Solidarity, Cambridge: Cambridge University Press, 1989. 11 Ivan Kožarić, Interview mit Zdenko Rus, Život umjetnosti, Nr. 14, 1971, S. 90—96. 12 Radoslav Putar, Ivan Kožarić (Auss. Kat.), Zagreb: Gallery of Contemporary Art, 1962, nicht paginiert. 13 Želimir Koščević, ebenda, S. 67. 14 Ivan Kožarić (Interview), „I Am Trying to Be an Ordinary Sculptor”, Vjesnik, 7. Dezember 1984. 15 Diese Erklärung machte er 1971 beim 6. Zagreb Salon (einer lokalen Ausstellung mit einer neuen Generation junger Konzeptkünstler, die später mit dem Namen „nova umjetnicka praksa“ — „Neue künstlerische Praxis“ — bekannt wurden). Vgl. Ivan Kožarić, Zagreb: Gallery of Contemporary Art, 1971. 16 Zitiert in: Ivan Kožarić (1976), ebenda. 17 Vgl. E. Turković, „My Studio is a Laboratory for Vivification”, in: The Kožarić Studio, ebenda, S. 80. 18 Dies berichtete R. I. Janković der Autorin persönlich. 1

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