ECM - Eine kulturelle Archäologie: Essay von Okwui Enwezor

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Great Big Ears: ECM – Eine kulturelle Archäologie – Anmerkungen zu einer Ausstellung Okwui Enwezor

Barbara Wojirsch, ohne Titel, Coverdesign, 1993 John Abercrombie Trio, Speak Of The Devil (ECM 1511)


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Anfänge In den 1960er Jahren befand sich das System der Künste inmitten einer radikalen Neuorientierung, konzeptuellen Umwälzung und grundlegenden Transformation. Künstler aller Disziplinen erschlossen neue Räume des künstlerischen Denkens und der künstlerischen Praxis, die ebenso vielgestaltig wie zutiefst umstritten waren. Allein in der zeitgenössischen Kunst stellten die fortlaufenden Interjektionen neuer Ausdrucksformen in der Pop Art und das Überdenken der Skulptur, die im Minimalismus auf ihre industrielle Grundlage zurückgeführt wurde, zwei diametral entgegengesetzte Reaktionen auf die Moderne dar: Die eine wurzelte in Bildern des Konsumdenkens und der Warenkultur, die andere implizierte durch eine reinigende ästhetische Reduktion, die sich auf das Verhältnis von Objekthaftigkeit und Subjekthaftigkeit im Raum der Kunst konzentrierte, eine Distanz zu eben dieser Kultur. Doch obwohl Pop Art und Minimalismus als Teil des Erbes der Moderne verstanden wurden, antizipierten sie in den Praktiken, die auf ihre Anfänge folgten, deren Auflösung. Die 1960er Jahre waren folglich das Jahrzehnt, in dem zahlreiche große Ideale der Moderne infrage gestellt wurden. Parallel zu dieser Infragestellung weigerten sich die Künstler, die ererbten Vermächtnisse des modernen Formalismus zu übernehmen, der das Ethos der Spätmoderne von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die späten 1950er Jahre bestimmt hatte. Der Wettstreit um die Bedeutung dessen, was man als die Politik und die Ästhetik der Form (zwei parallele Positionen künstlerischer Praxis, die infolge der neuen ästhetischen Modelle aufkamen) bezeichnen könnte, erreichte in der Nachkriegszeit, als sich der bipolare ideologische Wettbewerb zwischen dem sozialistischen Kollektivismus und dem kapitalistischem Konsumismus im Kalten Krieg zuspitzte, seinen Höhepunkt. In dieser Zeit setzten sich zeitgenössische Künstler mit neuen Modellen der Kunstproduktion auseinander – Modelle, deren Ausgangspunkt darin bestand, über verschiedene disziplinäre und theoretische Formationen hinweg die Struktur des Kunstwerks durch vielfältige Prozesse der Umstrukturierung und Auflösung der Form zu öffnen. Von Fluxus bis zu Happenings, von der Pop Art bis zum Minimalismus, vom Postminimalismus bis zur Anti-Form, vom Konzeptualismus bis zur prozessbasierten Kunst, von der feministischen Kunst bis zur Performance: Das

Experimentieren mit Vorstellungen von Komposition, Materialität und Indexikalität, die Hinwendung zum Archivarischen in performanceorientierten Verfahren und das Linguistische und Lexikalische in der AntiobjektPosition der konzeptuellen Kunst – alles hat dieses Zeitalter unauslöschlich geprägt. Das Vermächtnis der Auflösung, Umstrukturierung und Entmaterialisierung des Kunstwerks, das auf die 1960er Jahre zurückgeht, ist noch heute spürbar. In vielen Fällen wurden diese Herangehensweisen von nachfolgenden Künstlergenerationen, die sich weiterhin mit dem Status des Kunstwerks auseinandersetzen, fortgeführt. Abgesehen von der nostalgischen Rückkehr zu einer romantischen, aber übersteigerten spätmodernen Vorstellung vom Künstler als sensiblem Formgeber in der kurzlebigen neoexpressionistischen Kunst der 1980er Jahre haben heutige kritische Verfahren, die auf die Experimente der 1960er Jahre reagieren – von den antiästhetischen Positionen der 1980er Jahre 1 bis zu den Theorien der Institutionskritik der frühen 1990er Jahre 2 und der relationalen Ästhetik der mittleren 1990er Jahre 3 –, allesamt Brüche mit Distanzvorschriften ausgelöst, von denen die museologischen Systeme geprägt waren. All diese Überlegungen der aktuellen Kunst haben allgemeine Annahmen über das Richtige in der Kunst infrage gestellt. Und sie erinnern uns immer noch an das fruchtbare Terrain einer fünfzig Jahre zurückliegenden kritischen Praxis, die das Denken der jungen Künstler jener Generation auf ähnliche Weise beeinflusst hat 4. Ich möchte den bedeutenden Beitrag des Plattenlabels ECM (Edition of Contemporary Music), entstanden in den 1960er Jahren, auf dem Gebiet der Musik, vor dem Hintergrund der eingangs beschriebenen Zersplitterung künstlerischer Kategorien untersuchen. Die Gründe hierfür sind offenkundig: Die aktuelle Ausstellung ECM – Eine kulturelle Archäologie wurde im Kontext einer Institution für zeitgenössische Kunst (Haus der Kunst) organisiert, die die Nachbarschaft künstlerischer Disziplinen als Grundlage jeder zeitgenössischen Kunst wiederholt in Szene gesetzt hat. In diesem Sinne bietet die Ausstellung eine Analyse von ECM anhand dieser Nachbarschaft. Und hier ist der historische Moment der 1960er Jahre entscheidend. Der kulturelle und künstlerische Kontext von ECM: Eine kulturelle Archäologie ist folglich eingebettet in die


Umbrüche, die die Entscheidungen von Künstlern bei der Entwicklung ihrer Arbeit in den 1960er Jahren begleiteten. Das Independent-Plattenlabel ECM, das 1969 von dem Musiker Manfred Eicher und dem in München ansässigen Geschäftsmann Karl Egger 5 in dieser Stadt gegründet wurde, entstand zu einer Zeit, als das Produzieren und Veröffentlichen einer rigoros improvisierten, avantgardistischen Jazzmusik in Europa eine Neuorientierung erforderte und nach einem anderen künstlerischen Bezugssystem verlangte. Manfred Eicher war 1969 ein wenig bekannter, 26-jähriger deutscher Bassist, der in verschiedenen Jazzbands gespielt und bei mehreren Aufnahmen in München als Produzent fungiert hatte. Er produzierte anfangs Musik für Calig Records und mehrere andere Plattenfirmen, darunter die legendäre Deutsche Grammophon. Karl Egger war Partner in einer Einrichtung namens Jazz by Post, einem Musik-Versandhandel in München, der Jazzmusik neu verpackte und vertrieb. Jazz by Post diente als ein erster Kanal, um die Platten von ECM in der allgemeinen zeitgenössischen Musikkultur zu platzieren. 6 Auch wenn der zentrale Gedanke von ECM zum Zeitpunkt seiner Gründung vielleicht noch unklar wirkte, 7 zeigte sich rasch, dass Eicher innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur eine Position etablieren wollte, indem er eine neue Art der Aufnahme und Präsentation des zeitgenössischen Jazz einführte und indem er mit jungen Musikern zusammenarbeitete, die neue Gebiete der Improvisation erforschten. ECM war allerdings nicht das einzige neue IndependentPlattenlabel in Deutschland, das mit der Absicht gegründet wurde, die Gebiete der Improvisation zu erkunden. Im gleichen Jahr, in dem Eicher ECM lancierte, wurde in Berlin von einem Kollektiv deutscher Musiker, die sich der Improvisation widmeten, das konkurrierende Label Free Music Production (FMP) gegründet. Unter der Leitung von Peter Brötzmann und Jost Gebers entwickelte sich FMP aus den Aktivitäten des Total Music Meeting 1968 und dem Workshop Freie Musik 1969. Der Workshop Freie Musik bot an drei Abenden ein Programm von Living Music und zwar im Rahmen einer Minimal ArtAusstellung, die von der Akademie der Künste, dem langjährigen Partner des Workshops, verantwortet war. So kam es durchaus zu ästhetischen Affinitäten zwischen improvisierter Musik und neuen Formen zeitgenössischer Kunst. Diese parallelen Aktivitäten von

FMP, Total Music Meeting und Workshop Freie Musik verliefen über mehrere Jahrzehnte als alljährlich in Berlin organisierte Veranstaltungen und endeten 1999 beziehungsweise 1998. Ein Vergleich der Arbeit dieser beiden Plattenfirmen, die beide unter ihren Akronymen bekannt sind und mit ihren Herangehensweisen an die Improvisation zwei unterschiedliche künstlerische Intentionen und Produktionsvorstellungen anstrebten, ist daher unvermeidlich. In einem Interview mit Manfred Eicher thematisiert Steve Lake die vermeintliche Konkurrenz zwischen den beiden führenden Independent-Plattenlabels, indem er einen Vergleich zwischen ECM und FMP zieht: Wenn man die beiden in Deutschland ansässigen Plattenfirmen betrachtet, die die Entwicklung der improvisierten Musik beeinflusst haben – da ist auf der einen Seite ECM, und auf der anderen FMP. […] Die Richtung von FMP scheint sich für meine Ohren – und ich verallgemeinere hier natürlich – eher an Cecil Taylors Methode der klanglichen Verdichtungen zu orientieren, während sich die Herangehensweise von ECM aus der weitläufigeren, offeneren Art von Paul Bley und Don Cherry entwickelt hat. 8 Lakes Kommentar erscheint als ein Vergleich der Sounds und der unterschiedlichen Herangehensweisen und Einstellungen zur improvisierten Musik, die die beiden Labels übernahmen, wobei die einen auf klanglicher Dichte und Schichtung (FMP), die anderen auf einer räumlichen Öffnung der Musik und einer Dekomprimierung des Klangs (ECM) beruhten. Eichers Reaktion auf Lakes Analyse schien jedoch das jeweilige Grundprinzip der beiden Labels zu verdeutlichen. Eicher sagt: Das sehe ich auch so, aber das Konzept von Free Music Production gefiel mir auch sehr, und ich habe ihre Veranstaltungen und Treffen im Quasimodo und im Quartier Latin in Berlin besucht und war sehr inspiriert von Pharoah Sanders und Sonny Sharrock und Gunter Hampel und all diesen originellen Musikern, und natürlich von Peter Kowald und Peter






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Barbara Wojirsch, ohne Titel, Coverdesign, o. J. Shankar, Who’s To Know (ECM 1195) Barbara Wojirsch, ohne Titel, Coverdesign, 1990 Jan Garbarek, I Took Up The Runes (ECM 1419)

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Barbara Wojirsch, ohne Titel, Coverdesign, 1990 Jon Balke / Oslo 13, Nonsentration ( ECM 1445) Barbara Wojirsch, ohne Titel, Skizze, o. J. Jon Balke / Oslo 13, Nonsentration ( ECM 1445)


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Garbarek, Charlie Haden, Don Cherry, Marion Brown, Leo Smith, Terje Rypdal, Eberhard Weber und andere. Doch darüber hinaus schuf Eichers Konzeption des Studios, mit seiner Herangehensweise an das Aufnehmen und Mischen des Klangs, eine unverwechselbare, schwer nachzuahmende Strahlkraft und Transparenz der Produktionen von ECM. Die Musik zu hören, während man zugleich den Raum der Musik einnimmt, war eine der zentralen Innovationen, die als Transparenz der Aufnahmen von ECM bezeichnet wird. Um ein solches Kunststück zu vollbringen, musste nicht nur die Aufnahmetechnik verändert werden; es bedeutete auch, größere Anstrengungen bei der Organisation der Aufnahmen auf sich zu nehmen, die Eindringlichkeit der Musik zu steigern und sie zu modellieren, um ihre volle Komplexität herauszuarbeiten. Sein umfangreiches Wissen und die Beharrlichkeit seiner Vision (überraschend für einen unbekannten, gleichsam aus dem Nichts kommenden Produzenten) bildeten die Grundlage für das, was sein Lebenswerk werden sollte. In den mehr als vierzig Jahren seit seiner Gründung von ECM sollte das Label einige der fähigsten Musiker einer Generation von Komponisten und Instrumentalisten erfassen, die aus der Avantgarde-Szene des Jazz und der Minimal Music der 1960er Jahre hervorgingen. Der Produzent als Auteur Es gibt in der Geschichte der aufgezeichneten Musik nur sehr wenige Beispiele, bei denen fast die gesamte Produktion eines Plattenlabels so stark mit den Anstrengungen und der Vision einer einzigen Person verflochten und verknüpft ist, wie bei Manfred Eicher und ECM. Zwar konzentrierte sich ECM anfangs intensiv auf Aufnahmen von avantgardistischem Jazz und Improvisationen, als beide Formen aus dem radikalen Bruch hervorgingen, den der Free Jazz in den 1960er Jahren ausgelöst hatte; doch in den darauf folgenden Jahren – so 1984 mit der Gründung der New Series, die der zeitgenössischen notierten und klassischen Musik gewidmet war – erweiterte sich das musikalische Vermächtnis von ECM, um ein sorgfältig kuratiertes Spektrum von Stilen und Traditionen, Musikern und Komponisten zu umfassen, die alle von einer künstlerischen Betrachtungsweise der Musik geprägt waren. Mit der ersten Aufnahme der New Series, Arvo Pärts Meilenstein Tabula Rasa (1984, ECM 1275), begann Eicher die Reihe auf dem höchstmöglichen Niveau, indem er mit einem der weltweit be-

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deutendsten lebenden Komponisten zusammenarbeitete. Nach seiner Feststellung, dass ECM die vorherigen fünfzehn Jahre damit verbracht hatte, Jazz und improvisierte Musik aufzunehmen (auch wenn man die Produktion des Labels nicht in so reduktiven Begriffen klassifizieren kann), erfasst Paul Griffiths gleichwohl die bahnbrechende Bedeutung der Einführung der New Series: Dann passierte etwas Merkwürdiges: die New Series. Was bis dahin vorwiegend, in Ermangelung eines besseren Begriffs, ein Jazz-Label gewesen war, war nun auch ein Haus für, in Ermangelung eines besseren Begriffs, klassische Musik. Dies wurde in gewisser Hinsicht vorbereitet durch die Veröffentlichung von Aufnahmen New Yorker Musiker, deren Werk weitgehend komponiert war: Steve Reich und Meredith Monk. Doch als 1984 Arvo Pärt erschien, öffnete das alle möglichen neuen Türen: für Verbindungen zu anderen Komponisten aus der bereits an Kraft verlierenden Sowjetunion; für Bach, ob gespielt von Keith Jarrett oder von Thomas Demenga; für Alben aus den großartigen frühen Jahren des österreichischen Kammermusikfests Lockenhaus; für Troubadour-Lieder, gesungen von Paul Hillier; für Stockhausen und für Schubert. 16 Die New Series markierte für das Label also nicht nur eine neue Richtung, sondern vereinte und erweiterte für Eicher plötzlich alle Aspekte seiner komplexen musikalischen Geschichte und seines intellektuellen Erbes. Arvo Pärts Tabula Rasa war daher viel mehr als eine neue Platte und ein Neubeginn für den Komponisten, der außerhalb der Sowjetunion (hinter dem so genannten Eisernen Vorhang) im Westen selten mit Bedacht gehört worden war. Das Erscheinen der Platte bei ECM verschaffte Pärts Musik endlich ein größeres Publikum, sowohl im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung als auch im Sinne einer höheren Popularität. Zwischen Pärt und Eicher besteht eine Art Symbiose. Wie Griffiths feststellte, „bekam der Komponist durch die Veröffentlichung bei ECM sehr viel mehr Zuhörer und mehr Chancen. Für ihn war es ein Neuanfang, Tabula rasa.


Und für das Label ebenso. Die New Series war geboren und bot neu komponierter Musik voller Geschichte und älterer Musik, die mit Frische aufgeführt wurde, eine Heimat.“ 17 Musik voller Geschichte und mit Frische aufgeführt. Es ging bei der New Series nicht nur um die Suche nach dem Neuem, nach dem, was aktuell und deshalb dazu bestimmt ist, zur Normalität zu werden. Es ging vielmehr darum, das Engagement des Produzenten für die ozeanische Kunst der Musik zu vertiefen und sich von der Musik an jeden Ort und in jede Epoche führen zu lassen. Die Geschichte der Aufnahmen von ECM und Eichers strenge Produktionsstandards lassen sich wie ein immenses, umfassendes, aber beharrlich durchdachtes Œuvre deuten. In diesem Œuvre ist die Imprimatur des Produzenten ebenso charakteristisch wie seine Wahl der Musik. Selbst die Bilder und die typografische Nüchternheit, die die Albumcover prägen, entgehen nicht der Abneigung des Produzenten gegen laute Werbung. Der Grund hierfür ist ziemlich offensichtlich: Eichers künstlerische Vision umfasst nicht nur die Production Values der Musik, sondern auch die Logik, dass die Musik für eine komplexe Reihe von Ideen und künstlerischen Werten steht, die nicht durch die Verpackung zurückgenommen werden können. Seine inszenatorische Vorgehensweise bei der Wahl des Materials und der Reihenfolge, in der die Kompositionen gehört werden, sowie die enge Zusammenarbeit mit jedem Künstler sorgen dafür, dass jede Aufnahme auf die anspruchsvollsten Ideen der Komposition reagiert und diesen entspricht, und zwar in einer Weise, die die Rezeption und den Charakter der Musik verbessert und verstärkt. Alle ernsthaften Überlegungen zur Arbeit von ECM haben den Schwerpunkt zu Recht auf die Musik gelegt. Das ist zu erwarten. Es gibt jedoch eine Tendenz, die Arbeit von ECM als den Heiligen Gral anspruchsvoller und hervorragender Handwerkskunst der Aufnahme zu betrachten, als eine Musik, die fast vom Standpunkt reiner Autonomie und frei vom kommerziellen Erfolgsdenken produziert wird. Trotz der wohlverdienten Auszeichnungen, mit denen ECM überhäuft wurde, wäre es ein Fehler, die Sichtweise, dass „allein die Musik zählt“, weiter zu verfolgen, ohne die beträchtlichen konzeptuellen Überlegungen, die in die gesamte Repräsentation (die Musik) und die Präsentation (die Verpackung) der Aufnahmen einflossen, zu untersuchen.

Historisch betrachtet, stellt ECM ein Unternehmen dar, in dem einige der avanciertesten und oft schwierigsten nichtkommerziellen Formen zeitgenössischer Musik einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden, das hierfür offen und bereit ist, sich für das Hören dieser Musik Zeit zu nehmen. Um die Musik rezipierbar und zugänglich zu machen, mussten jedoch eine Identität und ein unverwechselbares visuelles Programm entwickelt werden. Auch dies war prägend für Eichers Vision. Das Design, die Fotografie und die Typografie der Platten- und CD-Cover wurden im Sinne einer charakteristischen, sparsamen grafischen Sprache eingesetzt, die die Ästhetik von ECM von jener anderer Labels dieser Zeit unterscheidet. Die ikonografische Sprache von ECM wurde zu einer Art visuellem Code für die Ernsthaftigkeit der Musik und zugleich für die Entrümpelung des visuellen Felds, in dem die Musik präsentiert wird. 18 Barbara Wojirschs schlicht gehaltene Entwürfe und ihre abstrakte Bildsprache erzeugten ein eigenes visuelles Feld, das leicht wiederzuerkennen war. Wojirschs Gestaltungen vermieden eine spezielle Formel, die sich ad nauseam wiederholen würde. Sie ging vielmehr an jeden Entwurf so heran, wie es eine Künstlerin tun würde. Daher war jedes Plattencover so gestaltet, dass es die gewünschte visuelle Strenge bewahrte, aber trotzdem individuell war. Ein vergleichbares Beispiel auf diesem Gebiet wären Peter Savilles großartige Entwürfe der späten 1970er und 1980er Jahre für Factory Records, durch die die elektronische Pop-Musik des Labels eine aufregende, modische, minimalistische Ästhetik erhielt. Es muss allerdings gesagt werden, dass ECM bereits vor Factory Records existierte. Auch wenn das Label und der Produzent zwei verschiedene Dinge sind, könnte die Wechselbeziehung zwischen Eicher als dem Produzenten und künstlerischen Leiter des Labels ECM und seiner Beziehung zu den Musikern, Komponisten und Toningenieuren 19 dazu führen, seine Konzeption von ECM im Sinne der Arbeit eines Auteur zu untersuchen. Über neunzig Prozent der rund 1.200 Alben, die bei ECM erschienen sind, wurden von Eicher alleine produziert, eine gewaltige Leistung, die die Überlegung, seine Arbeit unter dem Gesichtspunkt des Produzenten als Auteur zu betrachten, nur bestärken kann. Der AuteurBegriff kam in den 1950er Jahren in der französischen Filmkritik auf. Er wurde anfangs von Autoren und Filmemachern wie André Bazin, François Truffaut, JeanLuc Godard, Éric Rohmer und Claude Chabrol verwendet,


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die der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma verbunden waren; die Idee war, dass der Regisseur die Bedingungen schafft und alle unterschiedlichen Aspekte der kollektiven, industriellen Produktion eines Films zu einer erkennbaren künstlerischen Geschlossenheit verbindet. Zumeist handelt es sich bei solchen Filmen um Produktionen, bei denen der Regisseur die ästhetische Kontrolle ausübt und Produktionsentscheidungen fällt, um den Final Cut zu bestimmen und einen unverkennbaren, persönlichen Ansatz zu verwirklichen. Man könnte Eichers unverkennbare, persönliche Herangehensweise an seine Produktionen von ECM-Platten mit der sehr persönlichen Sichtweise eines Auteur-Filmemachers vergleichen. Tatsächlich ist die Verbindung zwischen dem Phänomen des Auteur und Eicher nicht nur ein Hinweis auf stilistische Affinitäten, sondern findet sich auch in seiner eigenen Vorliebe für bestimmte Formen des Kinos, vor allem die Filme der französischen Nouvelle Vague der 1960er Jahre, zu deren einzigartigen Figuren Jean-Luc Godard zählte, aber auch die Filme von Ingmar Bergman. Godard und Bergman verkörperten ebenso die heroische Figur des idiosynkratischen Auteur wie den Antihelden des populären, kommerziellen Kinos. Eichers langjährige, über zwei Jahrzehnte dauernde Zusammenarbeit mit Godard zeigt überdeutlich, wie sehr seine Motivationen als Produzent denen des AuteurFilmemachers entsprechen (er nahm Soundtracks für Godards Filme auf und produzierte sie, er war Herausgeber und Verleger der monumentalen Histoire(s) du Cinema [1997, ECM 1706], der DVD- und Audio-Versionen von Godards Film Nouvelle Vague [1990, ECM 1600] und anderer Soundtracks, unter anderem für Godards Notre Musique [2004], usw.). Dies ist ein Zeichen des tiefen Respekts und der Liebe zu den Werten von Godards Kunst, aber auch eine stillschweigende Anerkennung der Tatsache, dass die Stringenz seiner kreativen Vorstellungen nicht nachlassen darf, wenn ECM erfolgreich sein und sein musikalischer Beitrag auf diesem Feld Bestand haben soll.

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und hat die Musik und die Aufnahmen zu etwas Bleibendem gemacht. Trotz der Ansicht, dass die Figur des Auteur-Produzenten die Arbeit der Musiker unschwer überschatten oder den Produzenten über den Komponisten erheben könnte, ist es dennoch angebracht, sich auf dieses Konzept in jeder Hinsicht zu berufen, in der Eichers Arbeit mit ECM die grundlegenden Beziehungen zwischen künstlerischen Disziplinen in Musik, Film, Performance, Theater, Grafikdesign, Fotografie und zeitgenössischer Kunst berührt. Wenn wir ECM - Eine kulturelle Archäologie als eine Ausstellung betrachten, die um den Zusammenhang inszeniert ist, in dem die künstlerischen Disziplinen – durch eine Verbindung von bildender Kunst, Tanz, Performance und Musik, die sich seit den 1960er Jahren entwickelt hat – in einigen der am weitesten reichenden und interessantesten Synthesen zusammenkommen, werden wir sehen, warum es sinnvoll sein könnte, den bemerkenswerten Beitrag und die Arbeit des Produzenten als wesentlich zu erachten, um die kreativen Energien zu verstehen, die während einer Aufnahme im Spiel sind. Als ich anfing, über diese Ausstellung nachzudenken, lautete die grundlegende Frage nicht, wie man Musik präsentiert. Noch ging es ausschließlich darum, die Geschichte eines Plattenlabels (und noch dazu eines Labels, das für seine nichtarchivarischen Vorlieben berühmt-berüchtigt ist) allein anhand von Dokumenten und Artefakten auszustellen. Ein wichtiges Anliegen war, wie man das monumentale Werk von Manfred Eicher und ECM (Edition of Contemporary Music) in angemessener Weise für das Publikum darstellt und gleichzeitig deutlich macht, dass das Werk ebenso monografisch wie mehrdeutig ist. Die Idee war von Anfang an, von einer streng monografischen Behandlung des Themas abzuweichen und stattdessen die Mittel der Welterzeugung zu untersuchen, die im Zentrum des künstlerischen Vorhabens von ECM stehen, nämlich der kooperative Charakter des Musikmachens, und die Reichweite der Ideen zu zeigen, die die Musik enthält und verkörpert.

ECM ausstellen Die Aufgabe dieser Ausstellung besteht also darin, das gedankliche Netzwerk nachzuvollziehen, das Eicher als Auteur-Produzent, ECM sowie die Musiker und Komponisten miteinander verbindet. Jeder hat das Material beigetragen, das diese Kooperationen prägte,

Ich wollte die Beziehung von ECM zu vielfältigen künstlerischen Disziplinen wiedergeben: von den Filmen von Jean-Luc Godard, Theodor Kotulla und Peter Greenaway über die Konzerte von Keith Jarrett und The Art Ensemble of Chicago, die Aufführungen von Meredith Monk, Steve Reich, Arvo Pärt und Codona bis zu den


Grafikdesigns von Barbara Wojirsch und den Fotografien von Dieter Rehm, Roberto Masotti, Ralph Quinke, Andreas Raggenbass, Deborah Feingold und anderen. Die Idee einer Untersuchung der Arbeit von Eicher und ECM beruht daher auf den Verfahren der Archivierung und Revision, auf der Befreiung des Archivs aus der archäologischen Ablagerung. Ein solches Verfahren setzt Grabungsarbeiten auf den kulturellen Feldern voraus, die das Label besetzt; Grabungen, bei denen, anstatt eine Einzigartigkeit herauszudestillieren, eher nach Verbindungen und Affinitäten gesucht wird. Die Absicht der Ausstellung war immer, das AufnahmeProjekt von ECM an der Schnittstelle musikalischer und visueller Welten zu inszenieren, und besonders jener Welten, die zu einer Betrachtung der Reaktionen einiger zeitgenössischer Künstler auf jene musikalische Landschaft anregen könnten, die ECM mit geprägt hat. Wir führen diese Untersuchung allerdings nur in begrenztem Umfang durch, indem wir einige wenige zeitgenössische Künstler einbeziehen, deren Interesse am Free Jazz eine Parallele zu den Produktionen von ECM darstellt. Die Ausstellungsbesucher werden in Stan Douglas’ Installation Hors-champs (1992) und in Anri Salas Film Long Sorrow (2005) künstlerische Bezüge zum Free Jazz finden, die die Musikereignisse der 1960er Jahre mit aktuellen Anliegen künstlerischer Archäologie in der Praxis zeitgenössischer Künstler verbinden. Renée Green, deren Arbeit in diesem Projekt nur in einer essayistischen Notation und einer Serie von Drucken im Katalog präsent ist, geht der Erfahrung nach, über viele Jahre hinweg Aufnahmen von ECM zu hören. Die Otolith Group entwickelt in ihrem neuen Video-Essay New Light (2012) eine netzartige Untersuchung der Transkulturalität des Trios Codona (Don Cherry, Collin Walcott und Naná Vasconcelos) – in einer Auftragsarbeit, die die Beschäftigung mit Materialien aus dem ECMArchiv und Interviews mit Manfred Eicher und anderen inszeniert, die einen Bezug zur Arbeit dieses Trios haben. Ästhetik und die Politik der Form: ECM und „Great Black Music“ Ich habe diesen Essay damit begonnen, an den schwankenden Boden der Künste in den 1960er Jahren zu erinnern. Und ich sollte ihn nicht beenden, ohne darüber hinaus einige Fragen zu erörtern, die von der Tragweite der politischen, kulturellen, künstlerischen und intel-

lektuellen Veränderungen jener Zeit aufgeworfen werden. Bei den Überlegungen zu dieser Ausstellung ging es also nicht allein darum, wie man eine Reihe objektiver Fakten und eine begleitende Dokumentation sichtbar macht, um zu zeigen, was und wo, wann und mit wem ECM etwas getan hat. Ein zentrales Vorhaben bestand darin, die zugrunde liegende konzeptuelle Architektur des Projekts in dem Rahmen zu präsentieren, in dem auch alles andere steht. Doch die Architektur kann auch als ein Kompass fungieren, der uns in die komplexen Geografien formaler künstlerischer Entscheidungen und Programmpunkte soziokultureller Debatten in der Musik führt. Wenn das Art Ensemble of Chicago die Bezeichnung „Great Black Music“ als Banner für seine Art des Experimentierens und des Klassizismus verwendet, wie gehen wir mit dem Schweigen um, das diese Bezeichnung umgibt? Wenn wir aus dieser Bezeichnung die emanzipatorische Positionierung einer bedrängten kulturellen Gruppe heraushören, dann scheint ihre Bedeutung darin zu bestehen, den Exil-Status der schwarzen Avantgarde innerhalb der Vorstellungen großer Kulturtraditionen und westlich dominierter künstlerischer Bewegungen zum Ausdruck zu bringen. Der exilhafte, das heißt marginale Status „großer schwarzer Musik“ innerhalb der etablierten Institutionen und kanonischen Systeme erfüllte das Art Ensemble of Chicago und zahlreiche afroamerikanische Künstler mit dem dringenden Bedürfnis, die kulturelle Glaubwürdigkeit und künstlerische Bedeutung ihrer Musik geltend zu machen. Frank Kofsky betont dies in seinem Buch Black Nationalism and the Revolution in Music, geschrieben inmitten der Revolution des Jazz, die von Künstlern wie Ornette Coleman, John Coltrane, Albert Ayler, Pharoah Sanders, Sun Ra, Cecil Taylor und anderen angeführt wurde. 20 Dies galt insbesondere für jene Künstler, die zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren Bekanntheit erlangten. Selbst in Europa, wo es eine weit verbreitete Rezeption der Musik afroamerikanischer Künstler gab, ist ihre bleibende Spur in den Geschichten der Innovationen der 1960er Jahre verwischt oder sind ihre Spuren gar ausgelöscht. Wie der Posaunist und berühmte Jazzforscher George Lewis in seiner monumentalen Geschichte des afroamerikanischen AvantgardeKollektivs Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) 21 schrieb, „wurden die Aktivitäten schwarzer Post-Bebop-Musiker der 1960er Jahre, trotz ihres enormen und nachhaltigen Einflusses auf das


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kulturelle Leben von Paris, in historischen oder fiktiven Darstellungen selten erwähnt.“ 22 Lewis bemerkt weiterhin, dass die „Zeit seit den 1960er Jahren, was die Geschichten des afroamerikanischen Paris angeht, tatsächlich ein schwarzes Loch zu sein scheint.” 23 Das Gleiche gilt für andere europäische Länder und Städte, wie etwa Schweden (Stockholm), die Niederlande (Amsterdam), Dänemark (Kopenhagen) und Deutschland (Berlin, München, usw.). Ungeachtet dieser Lücken leistete ECM in Europa einen der stärksten Beiträge zur Kanonisierung der Arbeit afroamerikanischer Musiker, die in den 1960er Jahren bekannt wurden. Tatsächlich bringen die Aufnahmen von ECM die lebhaften Farben der Errungenschaften dieser Künstler in hohem Maße zur Geltung. Die erste Veröffentlichung von Mal Waldron (ehemals musikalischer Leiter von Billie Holidays Band) bei ECM, Free at Last (1969, ECM 1001), bildet einen starken Kontrast zu Lewis‘ Feststellung, dass der Beitrag des afroamerikanischen Jazzmusikers zum Pariser Kulturleben jener Zeit ausgelöscht worden sei. In seiner Einleitung zu Horizons Touched: The Music of ECM sieht Steve Lake im Titel von Mal Waldrons Album Free At Last einen Versuch, den Glauben an ein freies Spielen aufzubauen, womit er Improvisation meint. 24 Während freies Spielen sicher auf die Freiheit hindeutet, beim Musikmachen unkonventionelle Wege zu gehen, hat der Titel von Waldrons Free at Last eine tiefer liegende Bedeutung, bei der es um viel mehr geht als darum, frei zu spielen. Angesichts der historischen Bedeutung dieser Platte als erster in einer Reihe von herausragenden Aufnahmen ist es notwendig, die wesentliche, tiefere Bedeutung des Titels nicht zu überspielen. „Free at last“ ist mehr als nur ein Ausdruck des Wunsches, frei zu spielen. Als Titel der Wahl eines afroamerikanischen Musikers, der seine letzten Jahre des Exils in Europa – genauer gesagt, in München – verbrachte, kann dieser Titel nur nach einer revisionistischen Neubewertung verlangen. Es ist an dieser Stelle womöglich hilfreich, kurz auf AACM zurückzukommen. Die Arbeit dieses Kollektivs und die Entwicklung avantgardistischer afroamerikanischer Musik um die Mitte des 20. Jahrhunderts ging aus der frühen Migration von Afroamerikanern aus dem ländlichen Süden Amerikas in die urbanen Zentren und Städte des Nordens hervor – ein Vorgang, der heute als Große Migration (Great Migration) 25 bekannt ist. Von den 1920er bis in die

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1950er Jahre suchten Menschen, die im überwiegend ländlichen Süden in schwarzen Communities lebten, in den Städten im Norden Schutz vor der Rassentrennung und der Gewalt, die von den staatlichen und lokalen Jim-Crow-Gesetzen herrührte. 26 Doch die lange, abenteuerliche Reise der Großen Migration brachte nicht nur Musiker und ihre Familien in nördliche Städte wie New York, Philadelphia, Baltimore und Chicago; sie war zugleich eine Migration von Klängen, Formen und Kulturen. Dieser demografische Wandel kulminierte 1969, als acht Mitglieder von AACM, jenes 1965 in Chicago gegründeten avantgardistischen Bandkollektivs afroamerikanischer Musiker (deren Familien häufig aus dem ländlichen Süden in den Norden gezogen waren), zum ersten Mal nach Europa reisten. Die Gruppe kam zufällig im selben Jahr nach Europa, in dem Manfred Eicher ECM gründete und durch die Aufnahmen des Labels die Beziehung zwischen afroamerikanischer Avantgardemusik und Europa beeinflussen und verändern sollte. Auch wenn weder ECM noch Manfred Eicher ausdrücklich über die Bedeutung des Zusammenfließens von Geschichten gesprochen haben, die ebenso kulturelle wie politische Implikationen haben, spricht das umfassende transkulturelle Interesse von ECM-Veröffentlichungen für diese entscheidende Wechselwirkung. Eicher, der zurückhaltend und bescheiden ist, wenn er über seine Errungenschaften spricht, bemerkte: „Diejenigen, denen es ernsthaft um Kultur geht, werden versuchen, sich an der Peripherie zu verorten und sehen, wie sie von dort gespiegelt werden.“ 27 Mal Waldron verweist in einer kurzen Notiz, die als Einführung dieser ersten Veröffentlichung bei ECM dient, auf den Bassisten der Aufnahme, Isla Eckinger, mit den Worten, er habe „riesengroße Ohren, das heißt die Fähigkeit, alles zu hören und auf alles zu reagieren, was in der Musik passiert.“ 28 Er hätte auch den Produzenten dieses Albums beschreiben können. Niemand hat ein größeres Ohr als Eicher, und diese besondere Wahrnehmungsfähigkeit geht einher mit einer tiefen Empathie und Affinität zu großer Musik und großen Musikern. Wie Eicher über seine Arbeit schrieb: Die Neugier […] bringt uns immer wieder dazu, aus den entlegensten klassischen und modernen Quellen Anregungen zu ziehen. Der Rückzug in die nähere Umgebung bedeutet, zwischen Kulturen und Sprachen, aber auch in die


R端ckseite des Albums Free at Last (ECM 1001) von Mal Waldron


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Notenblatt zu „Rat Now“ aus Free at Last (ECM 1001) von Mal Waldron

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Geschichte zu reisen. Das Ergebnis ist eine Neigung zum Umherschweifen, eine sich ständig verändernde Zeitgenossenschaft mit Altem und Neuem, mit den Komponisten des Mittelalters und der Moderne gleichermaßen. 29 Free Jazz und „Free at Last“: Das Unbehagen in der Tradition Es sollte betont werden, dass das Umherschweifen, von dem Eicher spricht, nicht Vagabundieren oder Herumziehen meint. Dies bringt uns zurück auf Free at Last und die Idee des freien Spiels zwischen Tradition und Moderne, Formalismus und Experiment. In einer seltsamen Koinzidenz hatte der Jazzsaxofonist Albert Ayler auf dem Album New Grass (Impulse Records, 1968) einen wenig bekannten, eher popmusikalischen Song mit dem Titel „Free at Last“ aufgenommen. Diese Formulierung kursierte also bereits in der Welt der Jazzmusik. Wie könnten wir nun den Begriff der Freiheit innerhalb und jenseits der Musik eines afroamerikanischen, im Exil lebenden Jazzmusikers wie Mal Waldron übersetzen, der in München ansässig war und in den kleinen, aber florierenden Jazzclubs der Stadt auftrat? Es gibt mindestens drei Denkansätze, nach denen die Formulierung „free at last“ interpretiert werden kann. Der Titel von Waldrons Album streift in verkürzter Form eine Reihe von Fragen, die die Mehrheit der avancierten afroamerikanischen Künstler Ende der 1960er Jahre beschäftigten, weist jedoch auch ausdrücklich auf diese Fragen hin. Die erste betraf das Schicksal experimenteller Formate zeitgenössischer Praxis und die Räume der Produktion, Rezeption und Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Formen von Musik; die zweite drehte sich um die umstrittenen Formate des Free Jazz, eine Wendung, auf die Steve Lake in seinem Hinweis auf das freie Spiel hindeutete; die dritte waren die emanzipatorischen Prozesse, die in den USA durch die Bürgerrechtsbewegung und durch die Entwicklungen des Postkolonialismus und der Entkolonialisierung der 1960er Jahre in Gang gesetzt wurden. Lassen Sie uns jeden dieser drei Aspekte kurz betrachten. Der emanzipatorische Nachdruck von Waldrons Plattentitel spricht zweifellos die Möglichkeit kreativer Freiheit an, die im Gegensatz zu Prozessen der Verdinglichung stehen kann. Künstler im Bereich des Free Jazz wider-

setzten sich der Unternehmensstruktur, die mit dieser Verdinglichung einherging, und versuchten, der Logik einer standardisierten Produktion einförmiger kommerzieller Produkte in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomie zu entkommen. Die Kritik der Warenform war zu dieser Zeit, wenigstens vom Standpunkt der Neuen Linken und der marxistischen Theorie, das Gebiet aller fortschrittlichen Bestrebungen. Zeitgenössische Künstler verschiedener Disziplinen und Denker von unterschiedlichem Schlag stritten darüber, wie sich die Merkmale dieses mit der künstlerischen Autonomie zusammenhängenden Gebiets gestalten und beschreiben ließen. Freies Spiel wäre in diesem Sinne ein Synonym für absolute kreative Freiheit gewesen. Diese kreative Freiheit zu haben, ohne den Strapazen des Markts ausgesetzt zu sein, machte ECM für Künstler so anziehend. Und mit einem Produzenten zusammenzuarbeiten, der diese Freiheit zu einem Teil seines Credos machte, was das Verhältnis zwischen Produzent und Musiker anging, festigte diese Beziehung. Die Tatsache, dass die meisten Vereinbarungen zwischen ECM und seinem Künstlerstab mit wenig mehr als einem Handschlag und ohne Verträge über die gesamte Geschichte des Labels hielten, spricht gleichfalls für das immense persönliche und professionelle Vertrauen, das beiderseits erworben wurde. In einer Zeit, als der zeitgenössische Jazz der Kommerzialisierung erlegen zu sein schien – eine Situation, die dazu führte, dass man den „Tod des Jazz“ 30 verkündete –, zeigte ECM die Lebendigkeit des Jazz. Der zweite Aspekt, den der Begriff der Freiheit andeutet, verweist direkt auf jene radikale Form der Improvisation (freies Spielen), die beinahe ein Jahrzehnt zuvor aufgekommen war, als Ornette Colemans Doppelquartett (eine Gruppe, der Musiker wie Don Cherry, Billy Higgins, Ed Blackwell und Charlie Haden angehörten, die später eng mit ECM zusammenarbeiten sollten) 1960 das monumentale, bahnbrechende Album Free Jazz: A Collective Improvisation vorlegte. Free Jazz entfachte nicht nur eine Diskussion über die Struktur der Jazzmusik, sondern auch über ihre Beziehung zu älteren kanonischen Werken früherer Stilrichtungen des Jazz, wie etwa Bebop, Hard Bop, modaler Jazz und so fort. Im Zentrum des Free Jazz stand der Gedanke der Improvisation und der Gruppendynamik, aus der einzelne Positionen autonom hervortraten, aber trotzdem auf das Kollektiv reagierten. Eine solche Gruppendynamik drückte eine wahrhaft radikale Vorstellung von Freiheit aus, die den gemein-


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schaftlichen Geist nicht an den Rand drängte. Free Jazz war kein „Jeder-für-sich-allein“-Vorhaben, sondern eine Herangehensweise, bei der Einzelne Gebiete erschlossen und den Boden für andere bereiteten. 31 Waldron war, was dies betrifft, unmissverständlich. In seinem Covertext schreibt er: „Wie Sie sehen und hören können, markiert dieses Album für mich eine andere Herangehensweise an meine Musik. Es stellt meine Begegnung mit dem Free Jazz dar. Free Jazz bedeutet für mich nicht völlige Anarchie oder ungeordneten Klang. In meinem Wortschatz bedeutet ungeordneter Klang immer noch Lärm. Und vergessen Sie nicht, dass die Definition von Musik organisierter Klang ist.“ 32 Schließlich kommen wir zu dem Problem, das unübersehbar im Raum steht: Politik und Kunst, ein Thema, das in den Debatten um ECM nur selten zur Sprache kommt. Der britische Jazzkritiker John Fordham streift diese Frage in seinem Essay „ECM and European Jazz“ flüchtig, wenn er schreibt: Viele Improvisatoren in Europa, aus deren Sicht das Verfahren [Free Jazz] ebenso politisch wie ästhetisch motiviert ist (so wie die Association for the Advancement of Creative Musicians aus Chicago, Sun Ras Arkestra oder die Jazz Composers’ Orchestra Association in den Vereinigten Staaten), haben angefangen, alternative Infrastrukturen aufzubauen, die rasch europaweite Kontakte entwickelten, um die Vorherrschaft etablierter JazzPromoter und Plattenlabels anzufechten. 33 Dass ein Plattenlabel mit europäischem Eigentümer mit Musikern über kulturelle und politische Gräben hinweg harmonisch zusammenarbeitet, ist nicht neu. Es gehört in der Plattenindustrie vielmehr zur gängigen Praxis, die oftmals die Spannung zwischen jenen, die das Produkt besitzen, und jenen, denen die Produktionsmittel gehören, steigert. Es ist wohl unstrittig zuzugeben, dass die Jazzmusik, insbesondere in Europa, nicht frei vom Dilemma der Exklusion und Marginalisierung ist, die historisch das Leben afroamerikanischer Künstler beeinflusst hat. Am Ende ihres Interviews fragte Steve Lake, als er auf den politischen Kontext der Entwicklung des Free Jazz zu sprechen kam: „Hatte der Free Jazz

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in den 1960er Jahren eine politische Bedeutung für Sie – wie für einige der Musiker –, oder war Ihr Interesse rein klanglicher Natur?“ Eichers Antwort war eine charakteristische Nichtantwort. Seine Erwiderung drang vielmehr tiefer in die schwierige Frage nach dem Ort des Politischen im freien Spielen vor: „Ich fühlte mich heimisch in dieser Musik, weil sie mit meinem Denken in Einklang stand – mit der Art, wie ich über die Gesellschaft und das Leben dachte. Andererseits fühle mich sehr heimisch in der Musik, weil Musik für mich Freiheit ist – gleichgültig, wie streng die Form ist.“ 34 Alle Überlegungen zum Vermächtnis von ECM und zum Stellenwert von Waldrons Album in dieser Geschichte sind daher untrennbar verknüpft mit dem spezifischen Moment, als das Label als Fürsprecher und Sachwalter einer Reihe von Künstlern auftrat, die den Stellenwert der Improvisation in der zeitgenössischen Musik überdachten. ECM wurde am Ende einer historisch bedeutenden und herausfordernden Dekade gegründet, zu einer Zeit, als die brisanten Fragestellungen, die durch ein emanzipatorisches politisches und kulturelles Denken aufgeworfen wurden, nicht nur die moderne Gesellschaft umgestalteten, sondern auch die Künste transformierten. Keine Abhandlung zur Kunst der 1960er Jahre kann die politischen Wirren und gesellschaftlichen Umwälzungen, die kulturelle Instabilität, ökonomische Ungewissheit und ideologische Starre des Kalten Krieges außer Acht lassen, die diese Epoche prägten. Die Ideen von einem dominierenden imperialen System und von kolonialer Macht waren – angesichts der Ruinen des Zweiten Weltkriegs und des darauf folgenden umfassenden Wiederaufbaus in Europa – dem Untergang geweiht. Rund um den Globus – von Indochina und Indonesien bis zu Algerien und Indien – gingen aus dem schwelenden Gebäude des Kolonialismus neue Gesellschaften und Nationen hervor, während die Regeln kultureller Subjektivität neu geschrieben wurden. Das „moderne Weltsystem“, wie der Soziologe und politische Theoretiker Immanuel Wallerstein die neu entstehende Weltordnung bezeichnete, machte eine epistemologische Transformation durch. An dieser Stelle müssen wir auf „free at last“ zurückkommen, jene Wendung, mit der Martin Luther Kings mitreißende Rede „Ich habe einen Traum“ endete, die er am 28. August 1963 während des historischen „Marsches auf Washington“ der Bürgerrechtsbewegung


hielt. Der Marsch endete auf der Washington Mall vor dem Lincoln Memorial, wo die Rede vor über 200.000 Demonstranten gehalten wurde. 1970 komponierte James Furman das Oratorium I Have a Dream als Hommage an King, der am 4. April 1968 ermordet worden war. Gegen Ende seiner 17-minütigen Rede hatte King die Idee der Freiheit in einer Reihe von Refrains evoziert, die auf die Kämpfe verwiesen, die Afroamerikaner seit den Zeiten der Sklaverei für ihre Gleichberechtigung in den Vereinigten Staaten geführt hatten. Den Höhepunkt der Rede bilden die letzten Zeilen, in denen King die Hoffnungen der Afroamerikaner mit dem Freiheitsgedanken verknüpfte, der einem Negro-Spiritual eines früheren Jahrhunderts entstammt: And when this happens, when we allow freedom to ring, when we let it ring from every village and every hamlet, from every state and every city, we will be able to speed up that day when all of God‘s children, black men and white men, Jews and Gentiles, Protestants and Catholics, will be able to join hands and sing in the words of the old Negro spiritual, „Free at last! free at last! Thank God Almighty, we are free at last! 35 An diesen letzten Zeilen von Kings Rede ist leicht zu erkennen, warum Waldrons Evokation der Themen dieser Rede über das freie Spielen hinausgeht und zu den Wurzeln kreativer Autonomie und individueller politischer Freiheit führt. Ein kursorischer Überblick über die 1960er Jahre lässt daher ein Feld erkennen, das infolge von Revolutionen der Dritten Welt, Entkolonialisierung, Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, Arbeiteraufständen, Studentenunruhen und vielfältigen Formen intellektuellen und künstlerischen Aufruhrs sehr offen war. Die Felder von Musik, Performance und Theater und die Welt der Literatur, Theorie und Philosophie – kurzum, ein ganzes Universum von Ideen – kämpften für den Bruch mit einem antiquierten System der aufgezwungenen Konformität und des institutionellen Gehorsams. In der zeitgenössischen Kunst setzten sich Künstler neue Ziele zwischen dem, was man als Ästhetik der Form einerseits und Politik der Form andererseits bezeichnen könnte. Die Dialektik von Ästhetik und Politik kennzeichnete intellektuelle Bündnisse wie Kriterien für künstle-

rische Formate gleichermaßen. In der zeitgenössischen Kunst führte die Skepsis gegenüber dem Humanismus zu neuen Überlegungen, die von der protopostmodernen Ironie der Pop Art bis zur distanzierten Repetition und Serialität des Minimalismus reichen. In der aktuellen Ausstellung werden – wenn auch zurückhaltende – Spuren der Ideen dieser Avantgarde die schimmernden, transparenten Aufnahmen von ECM durchdringen. ECM und Formen des Interdisziplinären Lassen Sie mich mit einem anderen wichtigen Schnittpunkt der Arbeit von ECM schließen: zeitgenössische Kunst, Musik und Performance. Im Sommer 2010 war ich zu einer Performance von Mitgliedern der Merce Cunningham Dance Company eingeladen; die Aufführung fand in den Ateliers der Kompanie statt, die in der weitläufigen Westbeth-Wohnanlage in Manhattans West Village liegen. Der Anlass zu dieser Performance, die ein Jahr nach dem Tod Cunninghams vor geladenen Gästen aufgeführt wurde, war der Beginn eines Archivprojekts, das auf die Bewahrung von Cunninghams erstaunlichem Œuvre abzielt. Die Performance einer Gruppe von sechs Tänzern, die an diesem Sommernachmittag stattfand, war das selten aufgeführte Rainforest, ein Tanzstück, das Cunningham 1968, nur ein Jahr vor der Gründung von ECM, choreographiert hatte. Rainforest wurde begleitet von einer elektronischen Komposition David Tudors, und das Bühnenbild stammte von Andy Warhol, dessen mit Helium gefüllte Silberkissen durch den Tanzraum schwebten. Die muskulösen Tänzer, die auf die Tanzfläche sprangen, vollführten kraftvolle, lebhafte Bewegungen, deren Wildheit auf das archaische Knurren, Brüllen, Zischen und Stammeln von Tudors Musik reagierte. Die energischen Bewegungen der Tänzer und ihre Darstellung sinnlicher Provokationen zu beobachten, erweckte – zusammen mit den von der elektronischen Musik simulierten Klängen und Farben der natürlichen Welt – den Eindruck, dem Anbruch der ersten Nächte beizuwohnen. Tudors ausschließlich aus elektronischen Klängen bestehende Musik war ebenso unvergesslich wie der Tanz selbst. Die Erinnerungen an diese Aufführung sind auch nach zwei Jahren noch lebendig. Die Erinnerung an diesen Nachmittag in New York brachte mich kürzlich zum Nachdenken darüber, wie jemand


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wie Manfred Eicher, ein Visionär und Erneuerer von Musikaufzeichnungen, der ECM in einer Zeit des grenzenlosen Experimentierens gründete, in die Polyfonie künstlerischer Strukturen der 1960er Jahre passt, als Rainforest choreografiert wurde. Eichers Debut als Produzent auf seinem eigenen Label war 1969 kein bloßer Begleitumstand seiner künstlerischen Begeisterung für das Neue, für die radikalsten ästhetischen Formen, die die Räume der zeitgenössischen Musik transformierten und für die Spannung, die zwischen dieser Musik und kanonischen Formen herrschte – sei es Jazz, notierte Musik oder das klassische Repertoire europäischer Kompositionen. ECM war vielmehr als Träger einer wohlüberlegten musikalischen Idee konzipiert: die experimentellsten und ambitioniertesten Künstler einer Epoche unter den rigorosesten und sorgfältigsten Bedingungen der Studioproduktion aufzunehmen, um allein die künstlerische Qualität der Musik zu fördern. Eicher glaubte, dass eine neue Art, Musik aufzunehmen, ihre Rezeption beeinflussen und beizeiten zu einem tieferen Verständnis der unterschiedlichen Klangvorstellungen führen würde, auf denen sowohl die Aufführungen wie auch das Hören dieser Musik beruhen. Eichers wesentliche Innovation und die Grundlage seines Einflusses bestanden darin, die Art und Weise zu verändern, wie Musik produziert und gehört wurde. Dennoch deutete zunächst nichts auf den Einfluss hin, den seine Arbeit innerhalb sehr kurzer Zeit ausüben sollte. Die Verbindung zwischen Cunninghams Tanz, Tudors Musik, Warhols Bühnenbildern und dieser Ausstellung, ECM - Eine kulturelle Archäologie, mag auf den ersten Blick nicht offensichtlich sein. Sie sind jedoch Teil einer vernetzten Welt interdisziplinärer Grenzüberschreitungen, die ein Merkmal der Beziehung zwischen bildender Kunst und anderen Disziplinen war. Das Gefühl, das die Betrachtung von Rainforest und das Hören von Tudors Musik bei mir hinterlassen hatten, kehrte jüngst zurück, als ich Theodor Kotullas See the Music (1971) sah, den selten gezeigten Film eines Auftritts von Marion Brown, Leo Smith, Manfred Eicher, Fred Bracewell und Thomas Stöwsand in einem kleinen Münchner Nachtclub. Der Film zeigt eine Gruppe von Musikern auf der Bühne in einem Rausch autonomer Improvisationen, die über die gesamte Zeit der Aufführung den Charakter eines gemeinschaftlichen Projekts behielten. Die Bühne, auf der die Vorstellung stattfindet, ist so organisiert, dass sie an das Genre der Kunstinstallation denken lässt. Eine Vielzahl von Musikinstrumenten ist horizontal über den

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Raum verteilt, darunter an Metallgestellen aufgehängte Küchenutensilien und flache, dünne Metallbleche auf dem Boden, aber auch traditionelle Musikinstrumente wie Kontrabass, Fagott, Trompete, Trommeln und so fort. Eingestreut in den Film der Performance sind Interviews von Brown und Smith, die über ihre Arbeit sprechen. Der Schauplatz von See the Music erinnerte, ebenso wie die Musik und die Aufführung, die im Zentrum des Films standen, stark an Rainforest. Die 1960er und 1970er Jahre waren voll von solchen vielschichtigen Interaktionen. Philip Glass’ Oper Einstein on the Beach (1976), John Adams’ Oper Nixon in China (1987) und unzählige Tanztheater-Produktionen von Pina Bausch vermitteln allesamt einen Eindruck von der musikalischen und künstlerischen Umwelt, in der ECM lebte. Es ist daher entscheidend, nicht nur an diese Korrespondenzen zu erinnern, sondern sie als Zugänge zur Arbeit von ECM vorzuschlagen. Es erscheint mir unvorstellbar, dass sich eine Betrachtung von Eichers Arbeit als Produzent und der Aufnahmen von ECM allein auf das Gebiet von Avantgarde-Jazz, Improvisation und zeitgenössischer notierter Musik begrenzen lässt. Eichers Arbeit und die des Labels stellen unter den kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts ein bedeutendes Vermächtnis dar. Die Arbeit von ECM nimmt in der zeitgenössischen kulturellen Vorstellungswelt einen immensen, ebenso einzigartigen wie exemplarischen Raum ein. An jenem Nachmittag des Jahres 2010 Cunninghams Rainforest zu sehen, ließ mich nicht nur an die enorm aufgeladene Landschaft der Künste denken, die in den 1960er Jahren in allen Disziplinen aufkamen, sondern auch an das horizontale Feld von Kooperationen zwischen Künstlern, Komponisten, Musikern, Choreografen, Tänzern, Filmemachern und Autoren, die die Experimente und Transformationen des ästhetischen Denkens unterstützten. Eicher gehört einer Generation von kreativen Denkern an, deren Praktiken auf unser Verständnis von zeitgenössischer Kultur seit den 1960er Jahren einen tiefen Einfluss ausgeübt haben. Dass für ECM und Eicher inzwischen das fünfte Jahrzehnt dieses Experiments für das Denken, Komponieren, Spielen und Zuhören begonnen hat, ist erst recht ein Grund, diese Ausstellung zu inszenieren, die kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag stattfindet. In all diesen Jahren hat sich Eicher seine „great big ears“ bewahrt. Seine Leidenschaft für große Musik und für Klänge, die noch ungehört sind, ist so stark wie immer.


Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Hess

FUSSNOTEN 1 Siehe Hal Foster (Hrsg.), The Anti-Aesthetic: Essays on Postmodern Culture, Seattle: Bay Press, 1983. 2 Siehe Alexander Alberro und Blake Stimson (Hrsg.), Institutional Critique: An Anthology of Artists’ Writings, Cambridge, MA: MIT Press, 2009. 3 Siehe Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon: Les presses du réel, 2002. 4 Für eine Untersuchung des Einflusses der 1960er-Jahre auf das Werk heutiger zeitgenössischer Künstler, siehe James Meyer, „Return of the Sixties in Contemporary Art and Criticism“, in: Antinomies of Art and Culture: Modernity, Postmodernity, Contemporaneity, hrsg. von Terry Smith, Okwui Enwezor und Nancy Condee, Durham, NC: Duke University Press, 2008, S. 324 — 332. 5 Siehe Steve Lake, „Introduction“, in: Horizons Touched: The Music of ECM, hrsg. von Steve Lake und Paul Griffiths, London: Granta Books, 2007, S. 1. Für eine detaillierte Chronologie der Geschichte von ECM konsultieren Sie bitte Lakes Chronologie von ECM in diesem Band. 6 JAPO Records, benannt nach Jazz by Post, war ein Sublabel von ECM, das von 1970 bis 1984 bestand. Die Aufnahmen des Labels umfassten Produktionen von Steve Lake, Jack DeJohnette, Manfred Eicher und Håken Elmquist, wobei die Mehrzahl der Projekte von Thomas Stöwsand betreut wurde. 7 Siehe die Roundtable-Diskussion in diesem Band. 8 Lake und Griffiths, Horizons Touched, S. 219. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich mehrere Ausstellungen damit beschäftigt, die Sprache des Multiples und der Edition in der zeitgenössischen Kunst zu untersuchen. Darunter sind erwähnenswert die Ausstellung „Works of Art in Editions“ im Museum of Modern Art, New York 1965, und „Ars Multiplicata. Vervielfältigte Kunst seit 1945“, Ausstellung des Wallraf-Richartz Museums in der Kunsthalle Köln, 13. Januar bis 15. April 1968. Dies war die erste Überblicksausstellung von Multiples. Siehe Germano Celant (Hrsg.), The Small Utopia: Ars Multiplicata, Venedig: Fondazione Prada, 2012. 12 Lake und Griffiths, Horizons Touched, S. 220. 13 Paul Griffiths, „Bread and Water“, in: ECM: Catalogue 2009/10, München: ECM, 2009, S. 1. 14 Siehe die Roundtable-Diskussion in diesem Band. 15 Lake, „Introduction“, in: Horizons Touched, S. 1 — 4. 16 Griffiths, „Bread and Water“, S. 2. 17 Paul Griffiths, „Now, and Then“, in: Arvo Pärt: Tabula Rasa, München und Wien: ECM Records und Universal Edition, 2010, S. 5. 18 Die Gestaltungen der Platten- und CD-Cover von ECM, darunter auch der Einsatz von Fotografie und Typografie, sind mehrfach untersucht worden. Siehe Lars Müller (Hrsg.), Windfall Light: The Visual Language of ECM, Baden: Lars Müller Publishers, 2010. Siehe auch Manfred Eicher, Sleeves of Desire: A Cover Story, hrsg. von Lars Müller, Baden: Lars Müller Publishers, 1996. 19 In der Geschichte von ECM haben zwei Toningenieure, der in Ludwigsburg ansässige Martin Wieland und der in Oslo lebende Jan Erik Kongshaug, wesentlich zur Gestaltung der so genannten Transparenz des Klangs von ECM beigetragen. 20 Siehe Frank Kofsky, Black Nationalism and the Revolution in Music, New York: Pathfinder, 1970. 21 Zwischen dem Namen der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) und dem der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurde, um die politischen Interessen von Afroamerikanern in den USA zu vertreten, besteht ein nicht vordergründiger Zusammenhang. 22 George E. Lewis, A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music, Chicago und London: University of Chicago Press, 2008, S. 220. 23 Ebd. 24 Lake, „Introduction“, in: Horizons Touched, S. 1 — 4. 25 Für eine aktuelle Darstellung des heroischen Charakters der Großen Migration, geschildert anhand der Lebensgeschichten von vier afroamerikanischen Familien, siehe Isabel Wilkerson, The Warmth of Other Suns: The Epic Story of America’s Great Migration, New York: Vintage Books, 2011. 26 Lewis, A Power Stronger Than Itself, S. 220. 27 Manfred Eicher, „The Periphery and the Center“, in: Horizons Touched, S. 8. 28 „[G]reat big ears meaning the ability to hear and respond to everything that happens inside the music.“ Mal Waldron, Free at Last, München: ECM Records, 1969. Die Anmerkung steht auf der Coverrückseite der Original-LP und auf der Innenseite der CD-Hülle. 29 Eicher, „The Periphery and the Center“, S. 8. 30 Die Rede vom Tod des Jazz könnte in gewisser Weise mit poststrukturalistischen und postmodernen Theorien der späten 1960er Jahre zusammenhängen, als versucht wurde, sukzessive den Tod des Autors, den Tod Gottes, den Tod der Malerei und so fort zu erklären. Siehe Roland Barthes, „Der Tod des Autors” [1967], aus dem Französischen von Matias Martinez, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis u. a., Stuttgart: Reclam, 2000, S. 185 — 193.

31 Im Hinblick auf die Philosophie, die dem „freien Spielen“ zugrunde liegt, bietet Jarrett eine besonders nachdenkliche Reflexion der kreativen Kraft, die hinter dem improvisierten Werk steht. Für eine differenziertere Interpretation des Akts der Improvisation siehe Keith Jarrett in seinem Essay „Inside Out: Thoughts on Free Playing“, in: Horizons Touched, S. 239 — 243. 32 Waldron, Free at Last. 33 John Fordham, „ECM and European Jazz“, in: Horizons Touched, S. 13 f. 34 Lake, „The Free Matrix: An Interview with Manfred Eicher“, in: Horizons Touched, S. 224. 35 Martin Luther King, Jr. in seiner Rede „I Have a Dream“ am 28. August 1963. Der Volltext ist einzusehen unter: <http://www.americanrhetoric.com/speeches/ mlkihaveadream.htm>, abgerufen am 13. Oktober 2012. Deutsch: „Und wenn dies geschieht, wenn wir die Freiheit erklingen lassen, wenn wir sie aus jedem Dorf und jedem Weiler, aus jedem Staat und jeder Stadt erklingen lassen, wird der Tag schneller anbrechen, an dem alle Kinder Gottes, schwarze Menschen und weiße Menschen, Juden und Nichtjuden, Protestanten und Katholiken, sich die Hände reichen und in den Worten des alten Negro-Spirituals singen können: `Endlich frei! Endlich frei! Dank sei dem allmächtigen Gott, wir sind endlich frei!`“

Stills aus See the Music von Theodor Kotulla, 1971


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