Nancy H端nger Ski f端r den Sommer
Was ich mir denn wünsche. Zwei Monate zuvor setzen die ersten Wehen der Weihnachtshysterie ein, beginnt die Tyrannei des Wünschens. Zwei Monate zuvor müssen alle gefragt werden, muss ich gefragt werden, muss ich eine Telefonkette einrichten und auch alle fragen, da das Wünschen zu einer anstrengenden Aufgabe, einem schwierigen Rätsel geworden ist, das uns ebenso verzweifeln lässt wie einst der verflixte Zauberwürfel, den wir doch alle, alle haben wollten. Und überdies habe ich, haben wir ganz vergessen, dass uns etwas Gutes angetan, eine sogenannte Freude bereitet werden soll, während wir uns, gehetzte Rehe auf der Treibjagd, gequält, genervt und maßlos überfordert fühlen. Staubsauger, ist mein erster Impuls, Staubsauger, möchte ich meiner Mutter sagen, denn der heult seit Jahren über den Fußboden wie eine gichtkranke Katze und prustet alles aus, was er schluckt. Staubsauger, erschrecke ich und frage mich, wann denn diese Verrohung des Wünschens begonnen hat, mir die herznahen, weil im besten Sinne nutzlosen oder gar unpraktischen Wünsche ausgegangen sind. Staubsauger, denke ich und stelle mir das seltsame Geschenk unter dem Weihnachtsbaum vor, das jede gute Beziehung ins Wanken bringen könnte, zumindest was mich angeht. Ich krame lieber meine jährliche Bücherliste aus, um die Titel artig unter den Verwandten zu verteilen, achte darauf, dass die Poesie besonders gut vertreten ist, denn nutzloser geht es – glaubt man den Leuten – nun wirklich nicht. Aber was ist mit dem Wünschen, was ist mit mir, mit uns geschehen, wann haben wir das Wünschen verlernt? Weit, sehr weit muss ich zurück, in jene Abstellkammern des Gedächtnisses, die schon ein wenig verschüttet, ein wenig vermüllt sind, um zu wissen, wie Weihnachten, wie das Wünschen begann, irgendwann vor 30 Jahren. Nicht irgendein Weihnachten, nicht DAS WEIHNACHTEN, nein, mein kleines, in völliger Bedenkenlosigkeit von fast allem christlichen Tam-Tam freigeschaufeltes Familienfest, in Glitzer und Tand, mit Kartoffelsalat, Würstchen und den kitschigen Weihnachtshits der 90er Jahre, die wir, obwohl unser ganzes musikalisches Verständnis bereits bei den ersten Klängen laut aufjault, alle lieben. Mein kleines Weihnachten, das mir immer das teuerste und liebste aller Feste war, da ich aus Herzenslust in Rührseligkeit zerfließen und gegen Abend das befreiende Drei-Generationen-Geheul der Guttzeitschen Frauen anstimmen kann, das die Männer des Hauses immer noch befremdet. Das Geheul ist geblieben, wir haben schließlich immer etwas zu beweinen, aber die Geschenke sind eingeschrumpft auf Größe und Form eines weißen Kuverts. Ich erinnere mich tatsächlich an meine ersten Geschenke sehr viel deutlicher als an alle folgenden: zum einen an die überdimensionale Püppi, der man winzige Schallplatten in den Rücken einlegen konn-
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te, nur war der Miniaturplattenspieler in Püppis Rücken defekt, ich bin mir nicht einmal gewiss, ob ich je hörte, was sie sagte. Aber die Püppi hat noch jahrelang in Muttis selbstgenähtem Modechic überlebt, kleine Fehler haben wir schließlich alle, dachte ich. Zum anderen bekam ich einen richtig tollen Flitzer, ein sogenanntes ferngesteuertes Auto, es war orange mit grünen Sportstreifen und einem sehr kurzen Fernsteuerungskabel, an dem die Bedienung hing, hinreißend unpraktisch, wie es sich gehört. Leider haben wenige Jahre später das Westfernsehen und das hämische Gewieher meiner Freunde meine Anschauung von Fernsteuerung dramatisch korrigiert. Ich habe die Autofahrerei schließlich schmollend meinem Bruder überlassen. Diese beiden Dinge waren eigentlich das einzige, das es in der Schaufenstereinlage des kleinen Spielund Schreibwarengeschäftes »Geist« in Bad Berka gab, an dessen Fenster ich meine Nase so gern rieb, um zu erspähen, was mir der Bärtige denn bringen solle, sonst gab es wenig und wenn es mehr gab, wusste ich glücklicherweise nichts davon. Und auch die anderen wussten nichts, die Kinderschar der Kleinstadt durfte sich alljährlich über die gleichen Geschenke freuen, tauschte fröhlich die Erfahrungen aus und niemand von uns hätte glücklicher sein können. Hernach wurde es zunehmend schwieriger. Damals war ich geradezu besessen von bestimmten Sachen, zum Beispiel einen Tutu, nichts sonst brauchte ich, um meine große Karriere beim Berliner Fernsehballett zu starten, natürlich noch befeuert von Anna Pelzers dramatischem Schicksal, das allabendlich ins gemütliche Wohnzimmer strahlte. Ballett war schließlich Ballett, wer wollte sich da entscheiden? Eine Karriere, die ich verfrüht aufgeben musste, weil meine Ballettstange den Geist aufgab, die für meine Eltern nur ein schnödes Waschbecken war, auf das ich vorm Zu-Bett-Gehen so gern meine Beine (am liebsten gleichzeitig) schwang, schließlich war ich im Training, bis sich selbiges mit mir hinabschwang und wir für eine gefühlte Ewigkeit auf den Knien, über die Badewanne gebeugt, die Zähne putzen mussten. Ich entschied mich ein Jahr darauf für eine häuslich weitaus ungefährlichere Karriere: Skispringen oder Skifahren, wer wollte sich da entscheiden? Schon die Namensverwandtschaft mit Heiko Hunger konnte nur ein unmissverständliches Omen sein, ich verstand sofort und wünschte mir also Ski. Unbedingt rote mussten es sein, für Bad Berkas ach so schneereiche Winter, die ich verbissen in der Auffahrt auf dem Schotter einfuhr, denn an Winterurlaub war nicht zu denken. Oberhof war so weit entfernt wie Länder, deren Namen ich nicht einmal kannte. Das war mein letztes großes Projekt, vielleicht auch mein letzter großer Lebensentwurf, der im Keller verstaubte. Die Wünsche wurden mehr und mehr, doch waren sie irgendwie leidenschafts-
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los, es fehlte ihnen die große Vision, die Anbindung an meine ruhmreiche Zukunft, sie waren schlicht dem Fernsehen abgeschaut, das mir in langen Nachmittagssitzungen meine Weihnachtsliste zwischen den Märchen einflimmerte, schwer vorstellbar wie das alles noch in drei Haselnüsse passen sollte. War es nicht der Fernseher, waren es plötzlich die Freundinnen, die mir tadelnd einbläuten, was mir alles zum Spielen fehle: das, und das auch und das natürlich. Und plötzlich wurden Sets erfunden, tausende kleine Dinge, die zu einem großen Ganzen gehörten. Alles musste bis ins Detail gesammelt werden und bekam man nicht alles, taugte auch der Rest sehr wenig. Mit dem Spielen war es nicht mehr weit her, vermehrten sich die schlanken Püppis noch so reichlich, manche rochen sogar nach Schokolade, andere fuhren selbst ein Auto oder wohnten gar in einem Haus, so kamen sie und gingen auch einfach wieder, überlebt hat keine von ihnen, denn bleiben durfte nur die eine, die Püppi in Muttis schönem Strick. Und irgendwann, schwer zu sagen in welchem Jahr, verlor ich in dieser ganzen Anstrengung wohl den Überblick, wechselte mir nichts dir nichts vom Kinder- auf den Erwachsenenkanal und sagte, gefragt nach den großen Wünschen, nur noch gelangweilt: Geld, obwohl ich alles hätte wünschen können. Und von dem Geld kaufte ich mir einen Staubsauger, der jetzt langsam in die wohlverdiente Rente krächzt. Ich muss mich also fragen, bevor Mutti, Omi, Bruder, Schwester, Schwiegermama und wieder die Mutti anrufen, bevor das Geheul der Guttzeitschen Frauen beginnt, schließlich sind wir sehr nah an der Ilm gebaut, wo sind meine, sind unsere schönen Geschenke hin, gibt es für mich, für uns vielleicht nichts mehr zu wünschen, abseits von Gesundheit, Weltfrieden und allem moralisch Gebotenen, wo sind die Geschenke die nicht klüger machen, die den Haus- oder Gartenputz, unsere Arbeit nicht erleichtern wollen, ohne Display und Tastatur, jene, die zu wirklich nichts und gar nichts nütze sind, außer vielleicht uns eben dadurch zu erfreuen, uns glücklich zu machen, wo ist unser ferngesteuertes Auto mit Kabel, unsere Püppi mit leichtem Defekt, wo ist meine, ist unsere Karriere als übergewichtige Balletttänzerin, an die sich doch bedingungslos glauben ließ? Mir scheint, wir haben nicht nur das Wünschen verlernt, sondern auch, was es für uns zu hoffen gab, wir haben uns gemütlich eingerichtet, einen beschaulichen Platz in der Welt gefunden und zwischen der neusten Ausgabe des IKEA-Katalogs ganz vergessen, dass wir doch einmal etwas anderes wollten, uns etwas anderes vorgestellt hatten: FÜR UNS. Und ich muss sehr angestrengt nachdenken, auch mein Zimmer gründlich inspizieren, ob etwas überlebt hat, ob ich mir etwas in mein zweites Leben herüberretten konnte und stelle fest, ich bin noch nicht ganz verloren: Da sitzt einer, auf meiner
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Couch, ein knopfäugiges Äffchen, ein Wunschäffchen, mein Äffchen trägt fast 100 Jahre auf dem Buckel und mimt ein altersschwaches Schaf, wenn man es drückt, weiß man wieder, wie Wünschen geht.Auf dem Schrank steht ein Muff in Ton eingeschlossen, gegenüber ein kleiner Elefant, der nur aus zwei Hinterteilen besteht, beides Geschenke befreundeter Künstler, und ich weiß nichts, aber auch gar nichts damit anzufangen, aber ich bin erstaunlich glücklich, wenn ich sie sehe. Vielleicht sollte ich mir meine Püppi zurückwünschen, die bei dem ersten Umzug ins zweite Leben aussortiert wurde und gerettet auf Mutters Dachboden ein sehr einsames Dasein fristet. Ich sollte mir einen Tutu wünschen, überlege ich flüchtig, weiß aber doch, angesichts der strammen Schenkel: Das hat sich nun wirklich erledigt, Fräulein! Ich bleibe tatsächlich bei der Poesie, ich bleibe bei meinen geliebten Gedichten, davon kann man nie und nimmer genug haben, erzähle ich Mutti, denn das ist es doch, kommt es mir allmählich in den Sinn, ich wollte wohl einmal Dichterin werden, viel lieber noch als Balletteuse, vielleicht nur um Ihnen das Wünschen zu wünschen, dass es wieder hoffnungslos verzaubert sei. Wie wäre es z. B. mit Ski für den Sommer, eine Jahreskarte fürs Deutsche Fernsehballett oder ein Bändchen Gedichte für die Liebste oder den Liebsten, um zu sagen: Erinnere Dich, was es für uns zu hoffen gab, erinnere Dich und glaub nur, es kehrt alles zurück.
Die edition Azur hat das Wünschen nicht verlernt: Allen Lesern, Freunden und Kollegen ein frohes Weihnachtsfest! www.edition-azur.de
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