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LXXXI Gewidmet François Avril und Nicole Reynaud, denen die Kunde von den Handschriften Unabsehbares zu danken hat
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III 20 Stundenbücher aus Paris 1460 – 1500 Vom Coëtivy-Meister, François le Barbier Fils, Polignac-Meister, Meister der Traités théologiques, Meister von Karl VIII., Meister von C. P., Meister der Chronique Scandaleuse, Gaguin-Meister, Meister der Philippa von Geldern, Gotha-Meister, Meister des Etienne Poncher, Meister der Mettler-Pèlerinage, Meister des Jean Budé III., Jean Coene
Katalog lxxxi Heribert Tenschert 2018
Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com
Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.
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Autoren: Prof. Dr. Eberhard König, Dr. Christine Seidel, Dr. h. c. Heribert Tenschert Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert Fotos: Athina Nalbanti, Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-30-2
Vorwort Entscheidend ist es, einen Blick für diese Kunst zu gewinnen. Und wichtiger noch, nicht von ihrer vermeint lichen Eingängigkeit dabei den Ausgang zu nehmen, sondern vielmehr der Zäsur zu den voraufgehenden Jahrzehnten der Handschriften-Produktion, wie sie in den Bänden I und II unseres Katalogwerks skiz ziert worden sind. Dieser Bruch – ob von Einzelnen statuiert oder strukturell unumgänglich geworden, gilt gleich – ist der Leitfaden jedes tieferen Verständnisses für eine Evolution, die nach 1460 dem Antlitz der Pariser Buchmalerei im Spiegel des Stundenbuchs das kommende Jahrhundert über seine nur ihm ei gene mimische Expressivität einzeichnet. Nicht, daß ich mich hier über Gebühr erheben möchte: aber die Möglichkeit, diese Entwicklung in vielen – und den gültigsten – Erscheinungsformen ohne namhafte Aus setzer an einem Ort zu überblicken, ist wohl noch nie in solch weitem, schönem Bogen ausgezogen worden wie in „Paris mon Amour“ I-IV, wobei der letzte Band, abermals mit 20 nennenswerten Manuskripten bestückt, jedoch der Jahre 1500 – 1550, noch in der ersten Hälfte 2018 die Reihe schließen wird. Wie denn auch anders? Im denkwürdigen Katalog „Quand la peinture était dans les livres“ von 1993 haben die beiden sublimsten französischen Kenner des Zeitraums, François Avril und Nicole Reynaud, Dedikanden dieses Bandes, auch Paris gestreift (mehr war es nicht) und insgesamt 19 Handschriften be handelt, davon ganze drei (!) Stundenbücher. Unnütz, darüber zu spekulieren, welchen Grund das hat te – es soll hier nur als Vergleichsmarke dienen, und es ist mir hinlänglich bekannt, daß Paris keinen Jean Fouquet hervorgebracht hat. Von den dort behandelten Künstlern ist nur einer hier nicht vertreten – der Meister der Apokalypsenrose (oder „Meister der Très Petites Heures der Anne de Bretagne“), der über haupt nur in fünf oder sechs Handschriften auftritt und offensichtlich seiner Arbeit auf anderen Gebieten ertragreicher nachging (Glasmalerei, Entwürfe für Metall- und Holzschnitte, „Cartons“ für Bildteppiche usw.). Dafür sehen wir seinen Lichthof – seinen „halo“ – hier in den Nummern 32, 35, 36 mit höherer Klarheit hervortreten, als dies 1993 möglich war. Alles in allem sind im vorgelegten Band etwa andert halb Dutzend Künstler vertreten, davon mehr als zwei Drittel unter griffigen (Not-)Namen, deren Fun dierung in manch glücklichem Fall sogar auf unsere Arbeit (nämlich Eberhard König als Rückg rat, aber auch Ina Nettekoven, Mara Hofmann, Caroline Zöhl u. a.) der letzten drei Jahrzehnte gegründet ist, nicht zu reden von so manchen anderen, die bei uns früher mit Meisterwerken vorstellig wurden und nur vom händlerischen Zufall an einem Erscheinen hier gehindert sind. Wer will und kann, rechne also bitte jene Potenzen den hier gruppierten hinzu, er wird auf ein hageldicht bestücktes Panorama der französischen Produktion mit weit über 250 Kleinodien kommen. Und wie viel ist trotzdem noch zu entdecken! Wenn wir einmal von so notorischen Figuren wie François Le Barbier dem Jüngeren (ehemals „Meister des Jacques de Besançon“) absehen, hier mit vier charakte ristischen, aber auch aufschlußreichen Leistungen präsent (Nummern 29 – 32), liegt der Hauptertrag des Katalogs doch im Konturieren bislang verschatteter oder sogar erstmals ans Licht tretender Charaktere beschlossen. Deshalb streife ich die Pietà des Coëtivy-Meisters in Nummer 26 nur, seine vielleicht vollendet ste Leistung – und die uns zum Träumen bringt, was aus der Handschrift hätte werden können, wenn … Vielmehr sollen jene künstlerischen „Schläfer“ besungen werden, die bisher dazu kaum Anlaß boten, hier aber mit Resultaten hervortreten, die es in sich haben. So macht das zum „Meister von C. P.“ getaufte In dividuum in Nummer 34 die fehlende künstlerische Binnenspannung durch eine so triumphierende BildGebärfreudigkeit wett, daß er erst mit 288 Bildern in einem sonst nicht über normalen Umfang hinaus reichenden Manuskript sein Auslangen findet; die Abbildungs-Tafeln zu dieser Nummer preschen mit entsprechender, sich selbst überholender Evidenz voran. Was für eine Genugtuung auch, daß dergleichen Schöpfungen vollständig geblieben sind – einer von unzähligen Gründen, weshalb ich nur das Gesamt eines
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Vorwort Manuskripts aufnehme, während so gut wie alle anderen Händler Einzelminiaturen oder gar „Cuttings“, also Bildausrisse aus einem Blatt (!), zur Grundlage ihres, eben: Geschäfts, machen. Von der Niedertracht solcher Behandlung gibt unsere Nummer 38 empörendes Zeugnis, die, 1929 bei van Zuylen komplett mit 19 großen Miniaturen versteigert, danach – im 20. Jahrhundert! – so ausgeweidet wurde, daß wir heute nur noch zwei Drittel davon gerettet nennen können. Man führe mir einen einzigen triftigen Grund für solche Schlachtorgien an, der nicht auf niedrigste Profitschneiderei weist. (Dies, wie immer, nebenbei, aber nötiger als je). Besonders sprechende Beispiele für ungeahnte Leistungen finden sich mehrfach, illuster aber in den Num mern 35 und 39, deren Maler bisher (mit Ausnahme einer unter weitgehender Aussparung der Öffent lichkeit 2016 herausgekommenen Arbeit zu zwei Manuskripten in Privathand, die beide von mir kamen) eher unter „ferner liefen“ rangierten. Nummer 35, ganz allein vom Meister Karls VIII. mit nahezu ein hundert Bildern und Hunderten eigenhändiger Bordüren überschüttet, ist ein himmelzugewandtes Beispiel, daß ein Künstler, wenn man ihm denn die Zügel schießen läßt, zu Leistungen erwachsen kann, die dem Unverlierbaren der Zeit zugeschlagen werden müssen: vor allem der Kalender und die vielen Dutzend schwarzg rundigen Partien (wohl allein seinem Ingenium entsprungen) machen aus dem intakten Manu skript einen Zauberwald, in dem der Schöpfer seinen Sommernachtstraum hundert Jahre vor Shakespeare mit Passion und dem Brio radikaler Ergründungslust auslebt. Ähnlich Rühmendes, wenn auch mit anderer Grundierung, muß zu Nummer 39 vermeldet werden, noch reicher als Nummer 35. Darin erhebt sich der uns aus vielen verstreuten, niemals wirklich bis auf den Grund überzeugenden Handschriften bekannte „Meister der Chronique Scandaleuse“ zu einem Everest der Leistung, die durchaus rechtfertigte, ihn fort an „Meister der Françoise de Bellecombe“ zu nennen. Was er hier, in einem Auftrag, dessen ungeheuren Preis wir zu kennen meinen (eintausend Livres im Jahr 1487!?), vollbringt, ist schlichtweg ohne Beispiel und wir verstehen James Mayer de Rothschild, seinen Sohn Edmond und dessen Tochter Alexandrine sehr gut, daß sie diese Zimelie über 100 Jahre gehütet haben. Die nicht anders als hypnotisch zu nennende Wirkung der Farben: das mittelmeerische Blau oder das tief-tiefe, einem Latour oder La Tache entliehene Purpur, die physiognomisch bis in die feinsten Runzeln durchgearbeiteten Evangelisten, vor allem die blü hende, bräutlich entglommene „Stifterin“ Françoise de Bellecombe, die unser Frontispiz ziert – alles macht aus diesem glückerfüllten Auftrag einen das Übermaß feiernden Farberweckungs-Gottesdienst, der den hier zu all seinen reichen Begabungen erwachten Maler in die erste Reihe der Künstler jener Zeit rückt. Eingangs wurde gesagt, daß man für diese Kunst – diese Zeit – den Blick schärfen muß. Dem ist so, und anhand unseres Buches scheint es jetzt leichter möglich, auch wenn man sich nicht allen Spielarten des Vor gestellten mit gleicher Intensität widmen mag, zumal sogar hier der eine oder andere rare Lückenbüßer auftritt, der recht besehen nur nach Maßgabe der Vollständigkeit Gastrecht bekam. Aber ist es nicht mit dieser Zeit ähnlich wie, sagen wir, dem 19. Jahrhundert? Der aus den Schneehöhen der Renaissance oder den Hainen und Auen des Ancien Régime Gekommene erkennt dort auf den ersten Blick nur Gewollt heit, Akribie am falschen Ort, Evokation des Immergleichen und eine Gratistreue zum Sujet, die ihn rat los, möglicherweise im Überdruß zurücklässt. Wenn man dann sich und seine Vorurteile zurücknimmt, treten sie allmählich aus dem Nebel: Delacroix und Caspar David F., Manet und Turner, der so geliebte Courbet und Dante Gabriel, und alle, alle anderen, in ihrem eigenen Recht, ihrer eigenen Nacht, in ihrem die Ewigkeit streifenden Glanz. Vielleicht erscheint manchem der Vergleich überzogen oder ungerecht – aber wo hätte Ungerechtigkeit einen angestammteren Platz als in der Kunst? Bibermühle, 16. Februar 2018 H. T.
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Inhaltsverzeichnis Band III Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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26 Ein Pariser Stundenbuch, das die beiden Hälften dieses Katalogs verbindet: vom Coëtivy-Meister begonnen und erst kurz vor 1500 vom Meister der Mettler-Pèlerinage unter Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse vollendet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 27 Ein Stundenbuch des Polignac-Meisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 28 Das Pariser Stundenbuch des André Salé und seiner Frau: zwischen François Le Barbier dem Älteren und dem Polignac-Meister . . . . . . . . . . . . . . 75 29 Das Lektionar des Nicaise Delorme von 1488-1494: ein charakteristisches Werk von François Le Barbier dem Jüngeren für die AugustinerChorherren von Sankt Victor in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 30 Ein Stundenbuch vom Meister des Jacques de Besançon, also François Le Barbier dem Jüngeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 31 Ein Stundenbuch von François Le Barbier dem Jüngeren mit Miniaturen im Stil des Gotha-Stundenbuchs und einem Kalender im Stil der Chronique Scandaleuse aus den Sammlungen Duc de la Vallière, Le Noir und W. Sneyd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 32 Ein ungemein anspruchsvolles Stundenbuch vom Meister der Traités théologiques und François Le Barbier dem Jüngeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 33 Ein komplettes Stundenbuch aus dem Umkreis von François Le Barbier dem Jüngeren aus den Sammlungen Huth und Dreyfus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 34 Das C. P.-Stundenbuch aus dem Besitz der Braguelongne-Montholon: eines der am reichsten illustrierten Stundenbücher der Zeit mit weit über 200 Miniaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 35 Ein herrliches Stundenbuch mit vielen schwarzgrundigen Bordüren: eines der schönsten Werke vom Meister Karls VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 36 Das Stundenbuch der Jehanne Hennequin vom Meister Karls VIII. . . . . . . . . 251 37 Das Stundenbuch der Jeanne Robert vom Gaguin-Meister . . . . . . . . . . . . . . . 265 38 Ein überströmend reiches Stundenbuch vom Gaguin-Meister mit Miniaturen vom Meister der Chronique Scandaleuse . . . . . . . . . . . . . . . . 281
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39 Das Stundenbuch der Françoise de Bellecombe mit 103 Bildern vom Meister der Chronique Scandaleuse: Manuskript 40 von Edmond de Rothschild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 40 Ein nobles Pariser Stundenbuch ungewöhnlichen Formats mit einer Miniatur vom Meister der Chronique Scandaleuse und farbfroher Ausmalung durch den Meister des Étienne Poncher in vorzüglichem Fanfare-Einband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 41 Ein Musterbuch der Zusammenarbeit von Pariser Künstlerateliers: sechs verschiedene Maler unter der Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 42 Das Stundenbuch des Piero di Filippo Frescobaldi vom Meister der Philippa von Geldern mit einer Miniatur vom Meister des Gothaer Stundenbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 43 Das Stundenbuch der Marie de Briot vom Meister des Étienne Poncher, später im Besitz des Richard Lomenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 44 Das Stundenbuch der Bastienne Mayvret vom Meister des Étienne Poncher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 45 Das reich illuminierte Amory-Stundenbuch vom Meister des Étienne Poncher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 46 Ein Stundenbuch vom Meister der Mettler-Pèlerinage, früher im Besitz des Hauses Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
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Paris eine Hauptstadt ohne einen König und ohne einen Königshof Um 1400 trugen die Nachkommen des unglücklichen Königs Johanns des Guten (1319-1364) zwar Herzogstitel, die uns große Regionen der französischen Kultur ins Gedächtnis rufen, wenn wir an die Herzöge von Berry, Burgund und Anjou oder auch an Ludwig von Orléans, den Bruder des geistig gestörten Königs Karls VI ., denken. Doch so groß auch die Bauvorhaben und die künstlerischen Aufträge dieser Herren in ihren Ländern waren, so intensiv blieb doch ihr Leben auf die Hauptstadt Paris konzentriert.1 Was Claus Sluter für Philipp den Kühnen in Dijon und Champmol schuf, hat der Bur gunderherzog kaum in Augenschein genommen; und auch der Herzog Berry hat weit mehr Zeit in Paris verbracht als in Bourges und Méhun-sur-Yèvre.2 Zumindest ihre Bü cher haben diese Herren fast ausschließlich aus Pariser Werkstätten bezogen, auch wenn Berry einzelne Künstler höchsten Ranges wie Jacquemart de Hesdin (Nr. 3)3 und später die Brüder Limburg (Nr. 4)4 in Bourges ansiedelte, um sie vom hauptstädtischen Markt fern zu halten. Dem Sieg der Engländer bei Azincourt im Jahre 1415 war 1420 die Besetzung von Pa ris durch Engländer und Burgunder unter Heinrich V. gefolgt, der von Karl VI . sogar als Erbe der Krone anerkannt wurde. Dem hatte sich der Dauphin Karl (1403-1461) wi dersetzt und nach dem Tod seiner Brüder Ludwig von Guyenne 1415 und Johann von Touraine 1417 Anspruch auf die Thronfolge erhoben. Paris hatte er verlassen müssen, um nach dem Tod seines Vaters, Karls VI ., ab 1422 zunächst als König von Bourges verlacht, dann aber doch mit der Unterstützung von Jeanne d’Arc am 17. Juli 1429 zum K önig Karl VII . gekrönt und schließlich als der Siegreiche berühmt zu werden. Für mehr als hundert Jahre mag die Hauptstadt gerade noch feierliche Einzüge der französischen Könige wie jenen Karls VII . vom 12. November 1437 erlebt haben; Paris war aber nicht mehr der Sitz königlicher Macht. Karl VII . residierte am liebsten in Méhun-sur-Yèvre bei Bourges oder ab 1444 in Plessis-lez-Tours, weit südlich von Paris; Ludwig XI . zog lange Zeit Amboise vor, wo auch Karl VIII . und Ludwig XII . neben manch anderem Sitz vornehmlich in der Loiregegend oder zeitweilig sogar in Lyon Hof hielten. Bourges, Angers und Tours, Le Mans und Troyes blühten auf; in Nantes wurde ein ehr geiziger Plan für den Neubau der Kathedrale ins Werk gesetzt. Lokale Werkstätten prä gen sehr viel stärker als zu Beginn des Jahrhunderts die französische Kunstgeschichte. Angesichts dieser Entwicklung verlor die Hauptstadt in der Realität an Bedeutung, noch mehr aber in der Wahrnehmung der Historiker. Für unser Feld, die Buchmalerei, haben François Avril und Nicole Reynaud in ihrer großen Ausstellung von 1993 die künstle rische Topographie von 1440 bis 1520 umrissen. Dabei sind sie in zwei großen Zeitab 1
Einen guten Einblick gibt der Ausst.-Kat. Paris 2004.
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Siehe das Itinerar bei Françoise Lehoux, Jean de France, duc de Berry. Sa vie, son action politique (1340-1416), Paris 1968, Bd. III , S. 423-513.
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Siehe zuletzt unser Buch von 2015.
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Siehe zuletzt unser Buch von 2016.
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Einleitung
schnitten selbstverständlich jeweils von der Hauptstadt ausgegangen, haben jedoch den Regionen weit mehr Platz eingeräumt als der Stadt Paris, nachdem sich Millard Meiss mit den drei Bänden über „French Painting in the Time of Jean de Berry“ noch ganz auf Paris konzentrieren konnte.5 Wie entschieden und wie irrig zugleich der moderne Blick Paris und die Regionen schei det, zeigt das befremdlichste Werk französischer Malerei aus der Mitte des Jahrhunderts: Jean Fouquets sensationelle Madonna für den königlichen Schatzmeister Étienne Cheva lier, heute in Antwerpen, bis 1775 in Melun, verkörpert ebenso die Kühnheit eines Ma lers, der sich wohl 1448 nach einer Italienreise in Tours niedergelassen hat, wie die fort schrittliche Gesinnung eines der treuesten Mitglieder des Kronrats, zu dessen Amt und Lebensführung das Reisen gehörte.6 Daß der Schatzmeister, der wohl in Melun geboren war, aber einer schon länger in Paris ansässigen Familie entstammte, seinen Hauptwohn sitz in einem Pariser Haus hatte, in dem er sogar König Ludwig XI . zu Gast hatte, ist der Literatur zwar nicht wirklich fremd. Daß aber im Gemälde selbst auf dieses Haus ange spielt wird, hat man übersehen oder nicht ausreichend bewertet:7 Zum ersten Mal in der europäischen Malerei überhaupt taucht in der Antwerpener Madonna aus Melun ein Mo tiv auf, das später geradezu gedankenlos vor allem bei der Darstellung von Augen wieder holt werden sollte: in zwei Knäufen von Marias Thron werden Fenster mit den Fenster kreuzen eines profanen Gebäudes reflektiert. Diesen Umstand versteht nur, wer weiß, daß Étienne Chevaliers seit langem verschwundenes Haus in der Rue de la Verrerie die ser Pariser Straße ihren noch heute gültigen Namen gegeben haben soll. Wie Guillebert de Mets in seiner Beschreibung von Paris aus dem Jahr 1434 berichtet, soll es mehr Fen ster als das Jahr Tage gehabt haben. 8 Es hatte bereits Miles Baillet (1348/50-1424), dem Schatzmeister von Karl VI ., gehört; und schon diese Kontinuität von Amt und Wohn sitz zeigt, wie vorsichtig wir mit der Vorstellung umgehen müssen, mit dem Hof seien – nach der schwierigen Zeit englischer Besetzung von Paris – die Persönlichkeiten, die das Königreich steuerten, dauerhaft der Hauptstadt entfremdet worden. Daß ein Jacques Cœur seinen Stadtpalast in Bourges während der 1440er Jahre errich tet und seinem Sohn dort zum Amt des Erzbischofs verholfen hat, versteht sich selbst verständlich aus dem zeitweiligen Gewicht, das Bourges in den ersten Jahrzehnten der Regierung von Karl VII . zukam. Der kulturelle Aderlaß, den Paris seit Azincourt hin 5
Meiss 1967-1974; siehe auch die herbe Rezension von L.M.J. Delaissé im Art Bulletin 1969, der die Konzentration auf Paris bek lagt.
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Philippe Contamine, Charles VII. Une vie. Une politique, Paris 2017, S. 403, zufolge wird Étienne Chevalier nur von acht Per sönlichkeiten im Kronrat übertroffen, darunter Jean de Dunois, Bastard von Orléans, der allerdings auch sehr viel länger mit dem Dauphin und König zusammengearbeitet hatte.
7
Das meint Châtelet 2009, S. 160-161.
8
Guillebert de Metz (sic!), Description de la Ville de Paris au XVe siècle, hrsg. von Antoine Le Roux de Lincy, Paris 1855) geht am Ende von Kap. xxv auf diesen Stadtpalast ein, nachdem er summarisch von Häusern für Bischöfe, Prälaten und viele hohe Beamte sowie Ritter gesprochen hatte: „Entre lesquelx estoit l’ostel de sire Mille Baillet en la Voirrie, qui estoit tresorier du roy; ou quel hostel est oit une chappelle où l’en célébroit chascun jour l’of fi ce divin … si y avoit des voirières autant qu’il a des jours en l’an.“ (S. 69) und im Kommentar von Le Roux de Lincy, S. XLI-XLII . Schaefer 2000, S. 294, bezieht sich auf die Er wähnung dieser Quelle bei: Champion 1931, S. 146.
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Einleitung
nehmen mußte, bleibt unbestritten; aber die Stadt war nicht nur als Sitz der Universität unbestritten die wichtigste Metropole des Handschriftenwesens; sie bot, wie wir im zwei ten Band dieses Katalogs zeigen konnten, durch die Anwesenheit der Engländer Buch künstlern nicht nur Brot, sondern auch große Herausforderungen; sonst hätte man nicht sogar Notnamen wie Bedford-Meister (Nrn. 13-15) nach den Besatzern gebildet. Keine andere Stadt als Paris hätte im Zeitraum von 1200 bis 1500 mehr Stoff für ein der artig eindrucksvolles Buch wie die beiden Bände gegeben, die Mary und Richard Rouse im Jahre 2000 veröffentlichten. Man muß bedauern, daß die beiden eminenten Köpfe aus Los Angeles nicht noch eine Generation weiter gehen mochten, nachdem sie zu Wirt schaftsbeziehungen zwischen Andry le Musnier in Paris und Peter Schöffer in Mainz, also zur Druckkunst im Pariser Buchwesen, vorgestoßen sind.9 Tatsächlich war Paris auf sonderbare Weise schon seit den Anfängen von Gutenbergs „aventur und kunst“ mit der neuen Technik verbunden: Peter Schöffer aus Gernsheim am Rhein (um 1425-1503) kam direkt aus der französischen Hauptstadt, um seit 1452 am Druck der 42zeiligen Bibel in Mainz mitzuarbeiten10 und nach Gutenbergs Ausschei den 1458 mit Johannes Fust das erste große Druckhaus zu führen.11 Noch 1449 hat er als Schreiber „in gloriosissima universitate Parisiensi“ ein im preußischen Feuer 1870 mit der Straßburger Bibliothek untergegangenes Aristoteles-Manuskript vollendet.12 Sichtlich hatte also durch ihn Pariser Schreibkultur ihren Anteil an dem, was in Mainz geleistet wurde. Von früher Aufmerksamkeit zeugt, daß der französische König Karl VII . schon im Oktober 1458 Nicolas Jenson (1420-1480) nach Mainz schickte, um die neue Kunst zu verstehen.13 Ob Jenson pflichtschuldig nach Frankreich zurückgekehrt ist, wissen wir nicht; eher wird er mit seinen bei Fust und Schöffer erworbenen Kenntnissen nach Ve nedig weitergezogen sein, wo er spätestens 1468 als Drucker bei Johannes und Wende lin von Speyer arbeitete. Der Buchdruck sollte in Paris ab 1470 zunächst in engster Beziehung zur Sorbonne Fuß fassen: Der aus Deutschland stammende Jean de La Pierre 1467 und 1470 Prior der Uni versität, spielte offenbar eine entscheidende Rolle. An ihn ist der Brief des ebenfalls an der Sorbonne tätigen Theologen Guillaume Fichet, wohl aus dem Jahr 1470, gerichtet, der dem Pariser Erstdruck, den Gasp arini Epistolae, vorangestellt ist.14 Diese bescheide nen Anfänge in der Regierungszeit Ludwigs XI . (1461-1483) haben noch kein besonde res Interesse des Königs geweckt; erst unter Karl VIII . (1470-1498), dessen Regierungs geschäfte bis 1491 von seiner Schwester Anne de Beaujeu geführt werden, entwickelte 9
Rouse und Rouse 2000, S. 320-327, direkt vor dem „Epilogue“.
10 Davon ist Cornelia Schneider überzeugt: Peter Schöffer: Bücher für Europa, Mainz 2003, S. 9. 11
Siehe unseren Katalog Biblia Pulcra von 2005.
12
Siehe die Abb. der Schlußschrift in Hellmut Lehmann-Haupt, Peter Schoeffer of Gernsheim and Mainz, Rochester 1950, Abb. 1 auf S. 3.
13
Ordonnanz vom 04. 10. 1458: „de parvenir a l’intelligence dudit art“: Alf red Swierk, Johannes Gutenberg als Erfinder in Zeug nissen seiner Zeit, in: Hans Widmann, Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-.Forschung, Stuttgart 1972, S. 80.
14
Claudin, Bd. I, 1900, S. 20-23.
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Einleitung
sich das System der königlichen Privilegien. Zwar hat sich Anne, wie wir vor allem durch das für sie illuminierte Exemplar von Vérards Grandes Heures Royales mit Almanach ab 1488 (Horae B. M. V. I, Nr. 1) wissen, der neuen Technik zugewendet. Doch erst Karl VIII . selbst hat wohl in vollem Umfang erkannt, welches Potential der Buchdruck mit sich brachte. Unabhängig davon, wo dieser König und sein immerhin in Paris gestorbener Nachfol ger Ludwig XII . (1498-1515) residierten, rückte die Hauptstadt auch durch die plötz lich lawinenhaft gesteigerte Produktion der Druckhäuser ins Interesse von König und Hof. Karl VIII . unterhielt offenbar beste Beziehungen zum Drucker Anthoine Vérard; nach dem König nennen wir seit geraumer Zeit einen Buchmaler; und es ist nicht aus geschlossen, daß hinter dessen Anonymat niemand anders als der zunächst mit Illumi nationen beschäftigte Drucker selbst steht (Nrn. 35-36). Zu unserer Kenntnis von Pariser Buchmalerei in der Inkunabelzeit Wie in vielen wichtigen Bereichen der Buchmalerei lieferte Graf Paul Durrieu eine gute Grundlage für die Beschäftigung mit Malern in der französischen Hauptstadt: 1892 ließ er ein Büchlein über Jacques de Besançon drucken; in dieser recht frühen Arbeit erfaßte der große Gelehrte viel zu großzügig, wie wir heute wissen, Handschriften und Pariser Inkunabeln, die für ihn von einer Hand illuminiert waren. Den Künstler nannte er Ja cques de Besançon; denn ein enlumineur dieses Namens hatte im Jahre 1485 der Johan nesbruderschaft an St.-André-des-Art im Pariser Quartier latin ein Lektionar mit Tex ten zu Johannes dem Evangelisten gestiftet.15 Doch schon 1898 trat ein anderer Name in den Vordergrund: Wie Louis Thuasne er kannt hatte, erwähnt Robert Gaguin, Generalminister der Trinitarier und zugleich ein bedeutender Autor, der uns hier noch beschäftigen wird, in einem Brief von 1473 an Charles de Gaucourt, Gouverneur von Amiens und Kammerherr Ludwigs XI ., einen Buchmaler. Er nennt ihn „egregius pict or Franciscus“, setzt ihn dem Apelles gleich und preist ihn wegen einer Cité de Dieu, die in der Pariser Nationalbibliothek erhalten ist.16 Laborde nahm den Hinweis auf.17 In dem Namen, der sich international in der franzö sischen Fassung als „Maître François“ durchsetzen sollte, wollte man einen Sohn Jean Fouquets in Tours ebenso wie einen Sohn von Jean Colombe in Bourges erkennen; ein anderer Maler in Tours namens Saturnin François und schließlich ein „Maître François l’enlumineur“ in Diensten Karls IV . Grafen von Maine kamen ins Spiel – alles Künstler fern der Hauptstadt. Auf Paris bestand nur Durrieu, der bereitwillig auf den gesicherten Namen eingegangen war,18 um 1915 vorzuschlagen, man solle an François Le Barbier den 15
Paris, Bibl. Mazarine, Ms. 461; die zwei darin zu findenden Miniaturen bildet Sterling 1990 auf S. 216 und 217 ab.
16
Paris, BnF, fr. 18-19: Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 16.
17
Laborde 1909, Nr. 54: Bd. II , S. 397-416, mit Taf. XLVII-LXIX;
18
Paul Durrieu, L’enlumineur et le miniaturiste, in: Académie des inscriptions et belles-lettres. Comptes rendus des séances 1910, S. 330-346; und auch in späteren Publikationen.
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Einleitung
ken.19 Doch obwohl wenigstens Richard und Mary Rouse im Jahre 2000 darauf zurück kamen,20 sollte es nach Durrieus Vorschlag fast genau hundert Jahre dauern, bis Matthieu Deldicque 2013 mit einer erneuerten, viel detailreicher präzisierten Identifizierung die Distanz zwischen archivalischer Forschung und kunsthistorischer Meinung überbrücken konnte: Aus dem egregius pictor Franciscus wurde François Le Barbier père (oder bei uns der Ältere) und aus dem inzwischen zu einem Meister des Jacques de Besançon mutierten Maler, den Durrieu 1892 vorgestellt hatte, wurde François Le Barbier fils (oder bei uns der Jüngere), die wir in den Nrn. 24 im vorigen Band und nun in Nrn. 30-32 würdigen. Der Fall des „egregius pict or Franciscus“ ist charakteristisch für die Entschiedenheit, mit der Paris um 1500 trotz der unerhörten Buchproduktion dort, die in zahllosen Inku nabeln dokumentiert ist und von Durrieu 1892 beispielhaft in seine Überlegungen ein gebunden war, für Handschriftenkundler als Herstellungsort von Bilderhandschriften ausgeschlossen wurde. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, in welchem Maße der Ausstellungskatalog, mit dem Jean Porcher 1955 die Erforschung der französischen Buchmalerei neu belebt hat, die Trennung von Hof und Hauptstadt in den Generatio nen um 1500 auf die Buchmalerei übertrug und Paris ganz aus den Augen verlor. Hand schriften aus den unterschiedlichsten Regionen präsentierte Porcher, der mit dieser Aus stellung zugleich seine eigene Tour de France, also seine langjährigen Forschungsreisen und Photokampagnen durch ganz Frankreich, krönte. Zwar war er überzeugt, daß der Touroner Jean Fouquet der Hauptstadt viel verdankte; doch daß Paris in den Genera tionen um 1500 etwas beigesteuert hätte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Den von ihm nicht sehr geschätzten Maître François spricht er, zwar mit Fragezeichen, als einen Sohn Fouquets an, ohne irgendwie von der Loire zurück an die Seine zu führen.21 Paris stand im Zentrum der Forschungen von Eleanor P. Spencer (1895-1992). Parallel dazu versuchte sich Peter Rolfe Monks, der von der Brüsseler Horloge de Sapience aus ging, aber nicht über den Rolin-Meister hinausgelangte.22 Doch war Spencer alles andere als „intoxicated by the idea of publishing“, um eine für sie typische Formulierung zu ver wenden.23 Immerhin hat sie mit ihren kurzen Beiträgen die Grundlage dafür geschaffen, die Stilgruppe, die Durrieu unter dem Namen Jacques de Besançon als pariserisch ein geführt hatte, wieder in der Hauptstadt anzusiedeln. Sie half entscheidend, die Entwick lung vom Meister des Jean Rolin (Nrn. 22-23) über Maître François (Nr. 24) zu Jacques de Besançon (Nrn. 30-32) zu verstehen, war aber nicht sehr erpicht darauf, Namen zum Werk zu finden. 19
Paul Durrieu, Oderisi da Gubbio et ce qu’on appelait à Paris au témoignage de Dante „l’art d’enluminer“, in: Mémoires de la Société de l’histoire de Paris et de l’Île de France, XLII , 1915, S. 155-170.
20 Rouse und Rouse 2000, II , S. 19. 21
Die Identifizierung als Sohn Fouquets verleitet Porcher in seinem Buch von 1959, S. 75 sogar zu einem Tadel, wenn er schreibt: „mais François Fouquet (s’il a droit à ce nom glorieux) n’a rien hérité de l’art de Jean: dur, assez vulgaire, sans variété, sa tech nique excellente, toujours égale à elle même, lui a valu pourtant un grand succès.“
22
Bisher blieb seine 1996 vollendete Monog raphie Piety and Chivalry. The World of the Rolin Master ungedruckt.
23
Siehe unsere Bibliog raphie sowie New York Times 19.11.1992, und den Nachruf von Claire Richter Sherman, Eleanor Patt erson Spencer as Educator and Scholar, in: Journal of the Walters Art Gallery 54, 1996, S. 255-266.
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Einleitung
1961 war mit der Stiftung Guy du Boisrouvray ein höchst interessantes winziges Stun denbuch in die Pariser Nationalbibliothek gelangt, das als die Très Petites Heures d’Anne de Bretagne bekannt werden sollte. Doch blieb deren inniger Bezug zum größten Werk der Flächenkunst aus der Zeit Karls VIII ., der Apokalypsenrose der Pariser Sainte Cha pelle noch über ein Jahrzehnt unbeachtet.24 1973 ist Nicole Reynaud auf eine vielverspre chende Spur gestoßen, als sie von den Entwürfen des Louvre für Troja-Teppiche ausging und eine über mehrere Generationen verteilte Stilgruppe erkannte, zu deren relativ spä ten Werken auch Anne de Bretagnes Très Petites Heures aus der Sammlung Boisrouvray gehören. Im selben Heft der Revue de l’art griff Geneviève Souchal in einem umfangreicheren Bei trag Reynauds Gedanken auf und bezog die Einhornteppiche in New York und Paris mit ein.25 Zwar dachte Reynaud bei ihren wohl in den 1460er Jahren entworfenen Troja-Tep pichen an die aus dem Norden in die Loiregegend und nach Bourges gelangten Brüder Henri und Conrad de Vulcop; sie konnte aber Entscheidendes für Paris beitragen, indem sie um die winzige Boisrouvray-Handschrift ein Œuvre gruppierte. Dem nun als „Mei ster der Très Petites Heures der Anne de Bretagne“ geführten Künstler schrieb sie eine breite Palette von Arbeiten in unterschiedlichsten Formaten und Techniken zu. Was die Nomenklatur betrifft, brach aber zugleich wieder ein Konflikt auf, denn Souchals „Mei ster der Einhornjagd“ ist wohl derselbe wie Reynauds „Meister der Anne de Bretagne“. An Souchal eher als an Reynaud knüpfte Charles Sterling 1990 mit einem monumenta len Beitrag zum Einhorn-Meister im zweiten Band seiner Peinture médiévale à Paris an. Sterling schrieb zu einer Zeit, in der sich Spencers Überzeugung durchgesetzt hatte, daß Maître François und der Meister des Jacques de Besançon nirgendwo anders als in Paris anzusiedeln sind. So standen 1990 zum ersten Mal die beiden wichtigsten Stilgruppen der spätgotischen Buchmalerei in Paris mit einigen ihrer wichtigsten Werke anschau lich nebeneinander. Doch verunklärte der eminente Kenner zugleich das Bild von der Pariser Buchmalerei, indem er versuchte, noch eine weitere bemerkenswerte Stilgruppe aus südlicheren Re gionen in die Hauptstadt zu holen: Die Jouvenel-Gruppe, bei der man heute höchstens streitet, ob sie ausschließlich in Angers oder nicht doch auch in Nantes, Poitiers oder so gar Tours tätig war, versetzte Sterling nach Paris; dort setzte er die Generationenfolge aus dem älteren Jouvenel-Meister und dem jüngeren Meister des Genfer Boccaccio mit zwei in Paris ansässigen Künstlern gleich, deren Toponyme mit Ypern und der Pikardie verbinden: André d’Ypres und Colin d’Amiens. Stilistisch gehört die Jouvenel-Gruppe an die Loire; historisch beschwören die Namen einen in den Werken nicht spürbaren 24 Paris, BnF, NAL 3120: Porcher 1961, Nr. 24, noch mit einer später nie wieder aufgeg riffenen Zuschreibung an Saturnin François aus Tours und der nicht ganz zutreffenden Behauptung, dieses sei „le plus petit qui soit, certainement, de tous les manuscrits à peintures“ (S. 115); 25
Die Revue de l’art 22, 1973, setzt mit Reynauds Beitrag auf S. 6-21 an; dann folgt Souchal, Un grand peintre français de la fin du XVe siècle: Le Maître de la Chasse à la Licorne auf S. 22-86. Beide Beiträge hat Alain Erlande-Brandenbourg im Bulletin monumental 133-1, 1975, S. 87-90, sehr positiv rezensiert.
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Bezug zum Norden. Indem er über hundert Seiten mit über hundert vorzüglichen Ab bildungen einem der Hauptstadt fremden Stil widmete, sprengte Sterling in seinem mo numentalen Buch, das in wünschenswerter Fülle die Pariser Buchmalerei der Spätgotik vor Augen führt, die Zusammenhänge.26 Kennerschaft, die sich auf die raren archivalischen Spuren verläßt, verlangt vom Publi kum Geduld. So nahm Reynaud die Namen aus Ypern und Amiens wieder auf, bezog sie durchweg auf auch von Sterling diskutierte Werke und Künstler; doch André d’Ypres machte sie nun aus dem Meister des Dreux Budé, bei dem Sterling an Conrad de Vulcop denkt, und Colin d’Amiens aus Sterlings Henry (sic) de Vulcop, den man nüchterner als den Coëtivy-Meister kennt (Nr. 26). Der Meister der Très Petites Heures der Anne de Bretagne hingegen schließt sich bei Reynaud als Vertreter einer dritten Generation an und heißt nun Jean d’Ypres. Die Schwachstelle dieser historischen Rekonstruktion ist Colin d’Amiens: Wegen dessen entweder zu kurzen oder viel zu langen Lebzeiten konn te es nicht bei Reynauds Vorschlag bleiben; doch darauf werden wir hier noch einmal zurückkommen.27 Sterling hatte 1990 im zweiten Band seiner Peinture médiévale à Paris, der in prachtvol ler Weise mit den Einhornteppichen in New York und im Cluny-Museum und den Très Petites Heures der Anne de Bretagne endet, die wichtigsten Pariser Künstler der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorgestellt, die als Buchmaler und Tafelmaler gearbeitet und Teppiche ebenso wie Glasmalerei entworfen haben. Nicole Reynaud aber hat 1993 gemeinsam mit François Avril das Augenmerk ganz auf die Buchmalerei gerichtet, die stilfremde Jouvenel-Gruppe von der Seine zurück an die Loire versetzt und damit ein wünschenswert klares Bild der Verhältnisse in Paris präsentiert: Von bleibendem Wert ist das Nebeneinander zweier Generationenfolgen, die man wohl als Künstlerdynastien ansehen kann, während die Namen, die den Künstlern zugeordnet wurden, heute, also ein Vierteljahrhundert danach, nicht mehr ganz stimmen: Vom Meister des Jean Rolin über Maître François zum Meister des Jacques de Besançon reicht die eine Stilgrup pe, die andere aber vom Meister des Dreux Budé über den Coëtivy-Meister zu jenem Künstler, der in der unendlichen Fülle seiner Arbeit eine Summe seiner Epoche zieht und der deshalb für Reynaud der Meister der Très Petites Heures der Anne de Breta gne, für Souchal und Sterling der Meister der Einhornteppiche und, wie wir noch se hen werden, für Ina Nettekoven der Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle in einem war und seltener für Handschriften, aber überwältigend für die Bebilderung von Inkunabeln gewirkt hat. 26 Sterling II , 1990, S. 76-175, Abb. 62-175; positiv aufgenommen wurde der Vorschlag nur von Ingo F. Walther und Norbert Wolf in ihrem immer wieder neu aufgelegten und in viele Sprachen übersetzten „Taschen“-Buch Codices Selecti, Köln 2001: S. 312 f. der französischen Ausgabe mit einem wenig informierten Beitrag über das Mare historiarum des Kanzlers Jouve nel des Ursins, Paris, BnF, latin 4915. Grundlegend immer noch König 1982 und Ausst.-Kat. Paris 1993, wo Avril die Nrn. 52-66 unter „L’Anjou, le Maine et le Poitou“ abhandelt. 27
Die gewichtigste Stimme dagegen ist die von Ina Nettekoven; bisher unveröffentlicht sind in dieselbe Richtung gehende Über leg ungen, die Carmen Decu Teodorescu 2013 erläuterte bei einem von Anne-Marie Legaré und Philippe Lorentz in Paris ver anstalteten Kolloquium, das als Rückbesinnung 20 Jahre nach der Ausstellung von Avril und Reynaud 1993 konzipiert war.
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Einer allgemeinen Tendenz, die auch in manch anderen Feldern zurück zu Durrieu führt, erhält der bei Jacques de Besançon endende Stil für die Buchmalerei größere Be deutung, weil man manche weitere Hand von dort beeinflußt sieht. Neben diesen bei den Hauptsträngen der Entwicklung bis etwa zum Jahr 1500 war bei Reynaud kaum noch Platz. An einige Künstler, die in unserem Katalog begegnen, war 1993 noch kaum zu denken. Das Jahr 1500, das in der Geschichte des Buchdrucks durch die Trennung von Inkuna bel- und Frühdruckzeit eine entscheidende Marke setzt, weil es die Periode abschließt, in der die neue Kunst noch in den Windeln lag, hatte zwar selbst keine einschneidende Wirkung. Die beiden Dekaden um diese Jahrhundertwende markieren aber doch einen bedeutenden Wandel, dem auch unser Katalogwerk mit der Begrenzung des hier vorge legten Bandes folgt. Dadurch wird eine wichtige Stilgruppe, obwohl sie schon um 1490 einsetzt, in den letzten Band verwiesen. Der hier versuchte Überblick wäre jedoch unvollständig, wenn wir nicht kurz beleuch teten, wie die Literatur mit Paris um 1500 umgegangen ist: Prägend war die Veröffent lichung von Ritter und Lafond aus dem Jahre 1913, die Buchmalereien für den Erzbi schof von Rouen und Kardinallegaten Georges d’Amboise28 und dessen Aufträge für König Ludwig XII . unter dem Begriff „École de Rouen“ zusammenfaßte. Die Einschät zung galt, bis 1978 durch meinen Kommentar des Stundenbuchs Christophs I. von Baden in die Literatur eine gewisse Bewegung kam. Bei dieser um 1490 entstandenen Hand schrift in Karlsruhe29 ließ sich eine Herkunft aus Rouen ebenso wenig aufrechterhalten wie der Verweis von Ellen Beer auf den Kreis von Jean Bourdichon in Tours.30 Auch für diesen Stilbereich sorgte die Pariser Ausstellung für die heute gültige Einschätzung: Der wichtigste Vertreter der sogenannten Schule von Rouen hat einen gültigen Namen erhal ten und seinen Wohnsitz in Paris: Es ist „Jean Pichore, démourant à Paris“.31 Doch späte stens an dieser Stelle spielte unser Haus entscheidend mit. Für Heribert Tenschert war Paris an der Wende zur Renaissance immer ein Hauptau genmerk, seit er als Antiquar begann, sich mit Bilderhandschriften zu beschäftigen. Eine unerhörte Miniatur der Zeit um 1500 schmückt seinen Katalog 20: Illumination und Il lustration von 1987 zum zehnjährigen Firmenjubiläum des Antiquariats, dessen Name damals noch Rabelais’ Abbaye de Thélème zum Vorbild hatte (siehe Abb. gegenüber).
28 Siehe zuletzt den vorzüglichen Ausst.-Kat. Evreux 2017. 29 Karlsruhe, BLB , codex Durlach 1: König 1978. 30
Ellen J. Beer, Initial und Miniatur. Buchmalerei aus neun Jahrhunderten in Handschriften der Badischen Landesbibliothek, 2. Aufl., Karlsruhe 1965, Nr. 73.
31
Ausgangsp unkt daf ür ist die Pariser Handschrift der Chants royaux du Puy Notre Dame d’Amiens von 1518, fr. 145 der BnF: Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 156.
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Kat. 20, Nr. 21
HORAE B. M. V. IX, S. 4011
Mehr als dreißig Jahre später mögen sich die historischen Erkenntnisse verschoben ha ben; denn heute wissen wir, daß diese eindrucksvolle Darstellung König Davids als Harf ner vom sogenannten Martainville-Meister stammt, dessen Beziehungen zu Jean Bourdichon in Tours und der Schule von Rouen inzwischen sehr viel schärfer konturiert sind. Seit 2015 haben wir auch im neunten Band der monumentalen Serie Horae den Schlüs sel zu gedruckten Varianten dieser halbfigurigen Miniatur32 erhalten, die uns lebhaft vor Augen führen, wie eng die Beziehungen zwischen traditioneller Kunst und neuer Druck kunst waren. Mit dieser Miniatur wie mit den Vergleichen aus dem ungeheuren Fundus der gedruckten Stundenbuchbilder überschreiten wir bereits die Grenze zu dem hier ge planten vierten Band, den der Martainville-Meister mit sensationellen Werken eröffnen wird. Angelegt ist die Komposition jedoch schon in unserer Nr. 41, wo der König mit der Harfe sinnend thront, zwar ohne seinen Hofstaat, jedoch in ähnlicher Weise en face. Ähnlich ineinander verwoben sind die Dinge immer wieder: So wurde in demselben Ka talog von 1987 ein stilistisch früheres Stundenbuch vorgestellt, das für den Antiquar als erste Begegnung mit dem dafür verantwortlichen Maler prägend war. Wie manch schö 32
Horae IX , Nr. 24, Abb. 13 auf S. 4011 (Pichore für Vostre in 4o, 1504-08) und Nr. 26, Abb. 15 auf S. 4024 (Pichore-Werk statt für Anabat in-8o, ca. 1508?).
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Kat. 20, Nr. 15
nes Buch aus dem späten Mittelalter blieb das Manuskript auch über die Generationen von Reformation und Religionskriegen in Zeiten der Katholischen Reform, die am er folgreichsten von den Jesuiten betrieben wurde, eine spirituelle und äst hetische Kostbar keit. Uns veranlaßte diese Nr. 15 des Katalogs 20, die für eine Marie Charlot im gedie gensten Stil der Jahre vor 1600 neu gebunden und mit deren in Gold geprägten Namen versehen war, dem unbekannten Künstler den Notnamen „Meister der Marie Charlot“ zu geben. Nachdem diese Bezeichnung in unseren Katalogen bis jetzt überlebt hat, geht es uns wie John Plummer, dem Verfasser des großartigen New Yorker Ausstellungska talogs The Last Flowering von 1982. Plummer hatte sich die anonymen Hände in fran zösischen Manuskripten des ausgehenden Mittelalters von den Beständen der Pierpont Morgan Library und der Sammlung von Henry Walters in Baltimore erschlossen und Notnamen nach einzelnen Manuskripten vergeben, um sich dann doch bekehren zu las sen, wenn ein triftigerer Grund für einen anderen Namen zu Tage trat. So werden auch wir uns verhalten und unsere Marie Charlot aus der Zeit um 1600 durch den Pariser Bischof Étienne Poncher ersetzen, um damit zugleich den allgemeinen Wildwuchs der Benennungen zu reduzieren, den wir auch deshalb bedauern, weil selbst die am besten begründeten Bezeichnungen, die wir prägen, von anderen gern übersehen werden. Unklar mag das Gebiet sein, das wir immer neu bestellen wollen; umkämpft ist es ei gentlich nicht, weil die Diskussionen selten und die Zahl der Beteiligten klein ist. Die
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Nomenklatur ist dabei ebenso ein Feld der Auseinandersetzung wie die Bibliographie; und das gilt nicht nur, soweit es ums gegenseitige Zitieren geht, sondern im gerade an gesprochenen Fall von Marie Charlot und Étienne Poncher um das Ausbleiben von bi bliographischen Titeln: Isabelle Delaunay hat in Paris eine umfangreiche Dissertation vorgelegt; doch als es darum ging, diese vielen hundert Seiten im Rahmen der Serie Ars nova bei Brepols in Turnhout angemessen zu veröffentlichen, durfte der Herausgeber nicht einmal Einblick in den Text nehmen. Unveröffentlicht wie die Londoner Disser tation von Alison Stones generiert (so sagt man das heute) die verborgene Schrift Hin weise zur Sache, ohne das Gesamtkonzept zu verraten.33 Für das Antiquariat, das inzwischen aus dem bayerischen Rotthalmünster längst in die schweizerische Bibermühle umgezogen ist, schließt sich mit den nun vorgelegten Kata logen, deren zweiter Teil noch einmal auf zwei sukzessive erscheinende Bände angelegt ist, ein Kreis: Nirgendwo in der Welt sind im Moment so viele gedruckte Stundenbü cher, die ja fast alle aus Paris stammen, neben einer solch stolzen Zahl von Handschriften versammelt wie in der Bibermühle. Die Sammlung der Inkunabeln und Frühdrucke, die nun ähnlich wie Étienne Chevaliers Fenster in der Rue de la Verrerie mehr Bände zählt, als selbst ein Schaltjahr Tage hat, ist in langen Jahren entstanden und gewachsen. Zudem können wir auf Jahrzehnte zurückblicken, in denen immer wieder Hauptwerke der Pari ser Buchmalerei über unser Haus ihren Weg in bemerkenswerte Sammlungen gefunden haben; die französische Hauptstadt stand im Titel einiger Kataloge, darunter der bahn brechende von 1992, der sich mit Boccaccio und Petrarca in Paris auseinandersetzte. In diesen Jahrzehnten förderte nicht nur die Freundschaft zwischen dem Antiquar und seinem „historien d’art-maison“, um eine kleine Unverschämtheit von Albert Châtelet34 aufzugreifen, die wachsende Vertrautheit mit dem Stoff. Wichtiger noch war die Zusam menarbeit mit wissenschaftlichen Nachwuchskräften von erstaunlichem Potential. Jede von ihnen hat mit einer Berliner Dissertation wenigstens ein bemerkenswertes Buch vor gelegt: Das begann mit Gabriele Bartz, die unsere Serie Illuminationen mit ihrer grundle genden Neuordnung des Boucicaut-Stils im ersten Band eröffnete, damit in Berlin ihren Magistergrad erhielt und inzwischen ihre Dissertation, in deren Zentrum unser Stunden buch des Guy de Laval steht, veröffentlicht hat.35 Mara Hofmann hat unser Panisse-Stun denbuch entsprechend für ihre Magisterarbeit genutzt, den Text aber leider nie veröffent licht und ist dann Paris etwas untreu geworden mit ihrem Buch zum Gesamtwerk von Jean Poyer in Tours.36 Zu diesem Kreis gehört auch die an den hier vorgelegten Bänden beteiligte Christine Seidel, deren Aufmerksamkeit zwar im Wesentlichen Jean Colombe und Bourges galt, aber auch für die Hauptstadt immer wieder Aufschlüsse brachte.37
33
Zu der Öffentlichkeit schon verratenen Bits and Pieces siehe die Bibliog raphie.
34 In der Rezension unseres Buchs über das Limburg-Stundenbuch von 2016 in: art de l’enluminure 57, 2016. S. 59. 35
Bartz 1999 und Bartz 2017.
36
Hofmann 2004.
37
Seidel 2017.
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Sehr viel enger jedoch war über viele Jahre hin die Zusammenarbeit mit Ina Nettekoven und Caroline Zöhl: Schon für ihre Dissertationen, die geradezu beispielhaft für die Schei dung der beiden hier vorgelegten Katalogbände stehen könnten, nutzten sie Handschrif ten und gedruckte Bücher der Bibermühle. Mit Nettekovens Arbeit über den Meister der Apokalypsenrose wird der wichtigste noch spätgotisch geprägte Entwerfer von gedruck ten Stundenbuchbildern gewürdigt; dabei ist der Autorin jedoch Reynauds Versuch, dem Maler einen Namen zu geben, gleichsam unter den Händen zerbrochen. Caroline Zöhl hingegen konnte mit ihrem Buch dem erst 1992 und 1993 erkannten Jean Pichore ent scheidende Konturen geben.38 Beide arbeiten weiter; so hat Ina Nettekoven zwei aus un serem Hause stammende Handschriften in einem schönen Buch veröffentlicht; darin umreißt sie unsere Kenntnis vom Meister Karls VIII ., der hier die Nrn. 35 und 36 bei gesteuert hat, in würdiger Weise.39 Vor allem den Ergebnissen dieser beiden fühlen sich Antiquar wie Kunsthistoriker verpflichtet: So heißt der Maler mit den vielen Namen hier nicht nach den Très Petites Heures und auch nicht nach den Einhornteppichen, sondern nach der Apokalypsenrose. Ihr Insistieren auf dem monumentalen Glasbild gibt dem Œuvre noch eine besondere Dimension; zudem kann Nettekoven noch auf das einzige einigermaßen verläßliche Wandbild verweisen, das des Künstlers Hand verrät, eine Wur zel Jesse in einer Chorkapelle von Saint-Séverin in Paris. Wir folgen ihr auch insofern, als wir auf die von Reynaud allzu kühn behaupteten Namen für die Generationenfolge, die zu diesem Künstler führt, bei Nr. 26 wie bei Nr. 31 verzichten. Dem unermüdlichen Engagement von Ina Nettekoven und Caroline Zöhl wird wesent lich das monumentale, nun auf neun Bände angewachsene Katalogwerk Horae B. M. V. verdankt, mit dem sich der Antiquar den Traum erfüllt hat, für jeden Tag des Jahres ein gedrucktes Stundenbuch zu präsentieren. Diesem großen wissenschaftlichen Werk gerecht zu werden, ist nun auch eine Absicht der beiden Abschlußbände über Stunden bücher aus Paris, die unterstreichen, was uns mit Paris verbindet: Paris notre amour Die einundzwanzig Handschriften und ihre Gestalter Im ersten Stundenbuch in diesem dritten Teilband unseres Katalogs Paris mon amour tritt das ganze Spektrum der Stilentwicklung im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts und unserer kennerschaftlichen Arbeit anschaulich zu Tage: Denn Nr. 26 ist um 1460 angelegt worden; erhielt zunächst nur eine Miniatur, die Pietà. Sie ist ein reifes Werk des Coëtivy-Meisters, den man vom Wiener Stundenbuch des Olivier de Coëtivy (ÖNB , cod. 1929)40 aus definiert und den wir 2007 in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter Neue Folge IV gewürdigt haben.41 Im zweiten Band nahm dieser Künstler eine bedeu tende Rolle ein; denn dort war er immerhin in gleich drei Nummern, 19 bis 21, präsent. 38
Nettekoven 2004, Zöhl 2004.
39
Nettekoven 2016.
40
Pächt und Thoss I, 1974, S. 29-32 und Abb. 32-41.
41
Ina Nettekoven in Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge IV, S. 239-294, zum Coëtivy-Meister; Dies., Der Meister der Apokalyp senrose und die Pariser Buchkunst um 1500, Turnhout 2004.
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Wir waren zudem in Nr. 19, dem frühesten dieser drei Stundenbücher, auf einen ent scheidenden Moment in seiner Karriere gestoßen. Dort hatte er sich an einem Auftrag beteiligen dürfen, den der Meister des Étienne Sauderat verwaltete. Die Art, wie er sich mit seinem ortsfremden Stil, der sichtlich aus dem Norden stammt, in einem altansässi gen Pariser Atelier einnistete, ließ erkennen, daß er frisch in die Hauptstadt gekommen war und anders, als Nicole Reynaud meint, nicht in zweiter Generation schon dort ge boren wurde. Als Bruder und nicht Sohn steht dieser fulminante Buch- und Tafelmaler, der auch Chorfenster für Saint Séverin entworfen hat, neben dem Meister des Dreux Budé, womit wir wie Ina Nettekoven zu den Namen Henry und Conrad de Vulcop für beide zurückkommen. Nach Paris bringt dieser Künstler neue Ideen, insbesondere für das Kolorit und die Naturwiedergabe. Die Plastizität dieser einen Miniatur übertrifft noch die eindrucksvollen Bilder in Nr. 20 aus LM NF IV (Abb. unten links). Im vorhergehenden Band dieses Katalogs wäre Nr. 26 in seiner gesamten Gestalt ein Fremdkörper gewesen: Die Fertigstellung erfolgte nämlich erst eine Generation später;
Kat. 68, Nr. 20
Kat. 81, Nr. 26
und mit ihr wird der Bogen geschlagen, der den nun vorgelegten dritten Band umfaßt:
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Der Meister der Chronique scandaleuse und jener Nachfolger von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren (Nr. 24), den wir nach der Mettler-Pèlerinage nennen, haben das Manuskript kurz vor 1500 erst vollenden können. Bot unser Rückblick auf die Literatur den Eindruck, es habe in Paris im Grunde nur zwei Hauptstränge von Buchmalerei in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegeben, so führt uns Nr. 27 vor Augen, wie viel noch zu tun ist, wenn man den Buchmalern, die neben dem Coëtivy-Stil und dem Stil der beiden François Le Barbier greifbar sind, ge recht werden will: Der Maler dieser Handschrift orientiert sich an deren Bildvorlagen, hat wohl beim älteren Le Barbier gelernt, dann aber selbständig neben dem jüngeren ge arbeitet. Mit eigenen Bildideen will er Aufmerksamkeit erregen. Bei ihm wirft sich im Pfingstbild ein Apostel auf den Boden und liegt bei der Eröffnung der Toten-Vesp er der Leichnam bereits im offenen Grab. In seinem köstlichsten Bild, der Marienverkündi gung, scheint Maria mit Gabriel über beider Schriftverständnis zu diskutieren. Mit sei nen erstaunlichen Farben brilliert der Maler; und er experimentiert, indem er das Blau der Annunziata mit Silber höht. Vorzügliche Arbeit leistete dieser Maler auch bei der Illuminierung von Drucken.42 2003 haben wir seine Kunst in einem Stundenbuch von 1494 gefunden und vorgeschlagen, ihn nach einem Stundenbuch in Privatbesitz Polignac-Meister zu nennen.43 Nr. 27 ist sehr viel früher als die Inkunabel entstanden und beweist mit dem Randschmuck der Bildseiten, der konsequent nach eigenen hierarchischen Prinzipien geordnet ist, daß der Maler spä testens gegen 1470 selbständig eine Werkstatt unterhielt. Er ist ein vorzüglicher Beob achter von Vögeln. Perspektive mag er nicht wirklich beherrschen; doch sie fasziniert ihn. Aber noch wissen wir wenig von diesem künstlerischen Temperament. In der fatalen Neigung der Literatur, für jede abweichende Stiltendenz gleich eine weite re Hand zu postulieren, sehen wir eigentlich eine Schwäche. So wäre es uns am liebsten, wir könnten auch in Nr. 28 den Polignac-Meister erkennen, zumal die Bebilderung die ses Stundenbuch weitgehend dieselben Vorlagen benutzt, jedoch ohne jene Motive, die Nr. 27 auszeichnen. So begnügen sich die Verkündigung und das Pfingstwunder mit den gewohnten Bildformeln. Beim Goldbrokat wechselt die Vorliebe von blauem zu rotem Grund; vor allem aber fehlt dem Kolorit die Heftigkeit. Man könnte diese Eigenschaften als Hinweis deuten, im Gefüge der Werkstätten sei der für Nr. 28 verantwortliche Ma ler ein Nachfolger des Polignac-Meisters. Doch verraten Schrift und Schriftdekor, daß Nr. 28 älter sein dürfte. Hier haben wir dieses Stundenbuch dem markanteren Werk des Polignac-Meisters nachgeordnet, weil wesentliche Grundzüge in Nr. 27 entschiedener zu Tage treten. Als konkurrierende Maler aus der Werkstatt von François Le Barbier dem Älteren gehörten beide wohl zur Generation von dessen Sohn. Näher am älteren Künst ler wird der Polignac-Meisters gewesen sein; deshalb gebührt ihm hier der Vorzug, auch 42
So gestaltete er den Pergamentdruck von Pigouchets Stundenbuch für Rom vom 23. Oktober 1494: Horae Nr. 10, Bd. I, S. 110.
43
Sotheby’s New York, 24.4.1985, lot 100, und Sotheby’s London, 20.6.1995, lot 110.
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wenn die erhaltenen Handschriften in der Chronologie für scheinbare Unordnung sor gen. Als das Pariser Stundenbuch des André Salé und seiner Frau, über die wir sonst nichts wis sen, ist Nr. 28 durch das Livre de raison ausgewiesen. Mit seinem Einband und Texten aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts bezeugt dieses Buch in seiner heutigen Gestalt die gegenreformatorische Rückbesinnung auf Stundenbücher des ausgehenden Mittel alters, die hundert Jahre später die Spiritualität mitbestimmen sollte. Nach diesen Buchmalern aus dem Umfeld der Werkstatt der Le Barbier ist es nun Zeit, zu François Le Barbier dem Jüngeren zu kommen: Er hat die traditionellere und sorgfäl
François Le Barbier der Jüngere
„Jacques de Besançon"?
tigere kleine Miniatur des Evangelisten mit dem Giftkelch im Johannes-Lektionar gemalt, das der Illuminator Jacques de Besançon 1485 der Johannesbruderschaft von Saint-An dré-des-Arts in Paris gestiftet hat. Schon früh hatte der Umstand, daß in dem schmalen Ms. 461 der Mazarine-Bibliothek ein zweites Bild, diesmal Johannes auf Patmos, von an derer Hand ist, zur umständlichen Formulierung „Meister des Jacques de Besançon“ ge führt. Daß dieser bisher anonyme Künstler nicht aus Besançon stammt, war klar;44 und Deldiques Nachweis des tatsächlichen Namens hat 2014 diese Tatsache unterstrichen. Soweit ich weiß, haben nur wir einmal eine Hypothese gewagt, wer denn nun hinter dem 44 Freilich hat Sterling II , 1990, S. 216, den Unterschied beiseite gewischt, indem er wieder von Jacques de Besançon allein sprach und die kleine Miniatur trotz der in seinen Abbildungen eklatant zu Tage tretenden Unterschiede in seiner Bildun terschrift derselben Hand gab.
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Einleitung
historischen Jacques de Besançon stecken mag. Das geschah 1993 in unserem ersten aus schließlich französischen Stundenbüchern gewidmeten Katalog Leuchtendes Mittelalter V. In Nr. 22 stehen dort Miniaturen von François Barbier dem Jüngeren neben fortschritt licheren, aber lässiger gemalten Bildern, die vage an den Stil der Chronique scandaleuse anschließen (Abb. der Johannes-Seite und der Hirtenverkündigung siehe unten). In die ser alten Nr. 22 aus Leuchtendes Mittelalter V begegnen wir also einem Gegensatz, wie er auch in Mazarine 461 zu finden ist. Am Anfang unserer eindrucksvollen Serie von Arbeiten des jüngeren François Barbier steht kein Stundenbuch, sondern mit Nr. 29 ein Lektionar für Nicaise Delorme, Abt der
Kat. 30, Nr. 22
Augustiner-Chorherren von Sankt Vict or in Paris, das zwischen 1488 und 1494 entstan den sein muß. Noch immer kann man Zuhörer verblüffen, die sich Bücher im Mittelalter nur in Mönchshänden vorstellen können, wenn man davon erzählt, wie rapide der Anteil der Klöster an der Buchproduktion im Laufe des späteren Mittelalters abgenommen hat. In diesem Falle erreicht der Rückzug monastischer Buchkunst einen besonderen Hö hepunkt: Ausgerechnet der Abt eines seit seiner Gründung im frühen 12. Jahrhundert für das Buchwesen unerhört bedeutenden Hauses war kurz vor 1500 auf die führende
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städtische Buchmalerwerkstatt angewiesen, um sein Lektionar würdig bebildert zu se hen und zwar in einer pariserisch geprägten Spätgotik, die sich den neuen Tendenzen der Renaissance noch verschließt. Die Bestimmung dieser Handschrift für Sankt Vict or ruft eher anekdotisch ins Bewußtsein, daß ausgerechnet die dortigen Augustinerchor herren engen Kontakt mit den Mainzer Druckern hatten: Bei ihnen wurde Johann Fust begraben, nachdem er vermutlich am 30. Oktober 1466 an der Pest in Paris gestorben war; für ihn stiftete sein Schwiegersohn Peter Schöffer dann eine Totenmesse an Sankt Vict or, die er mit einem Teil der Kosten für ein Exemplar seiner zweibändigen Pracht ausgabe der Hieronymusbriefe von 1470 bezahlte. Die beiden Le Barbier vertreten in Paris eine hohe spätgotische Kultur. Obwohl sie of fenbar eine ganze Anzahl von Buchmalern beeinflußt haben, ist die Abgrenzung ihres Werks gegenüber ihren Zeitgenossen ganz und gar unproblematisch. Da der jüngere den Vorlagenschatz seines Vaters geerbt und emsig benutzt hat, ist Händescheidung zwischen ihnen zuweilen nicht ganz einfach. Bei noch so intensiver Familienähnlichkeit zwischen ihren Gestalten müßte man beide auch einmal miteinander oder nebeneinan der in ein und demselben Manuskript finden; doch einen solchen Fall hat bisher niemand beobachtet; nicht einmal Grauzonen sind bemerkt worden. Der jüngere Le Barbier arbeitet mit höher aufgeschossenen hageren Figuren; dieselbe Tendenz betrifft seine Köpfe und deren Modellierung. Figurengruppen bindet der älte re in Grauwerte ein, während beim jüngeren die einzelnen Gestalten klarer geschieden sind. Interieurs wie Landschaften sind klarer gezeichnet und einfacher beleuchtet. Ins gesamt also wandeln sich von Vater zum Sohn Kolorit und Malweise. Mit Bildern, die noch einmal die Präzision und Zartheit des ausgehenden Mittelalters verkörpern, be eindrucken beide Maler. Zugleich verkörpert ihre Kunst beispielhaft einen Grundzug von Paris im Spätmittelalter: So intensiv die Stadt auch Anregungen aus Nord und Süd einlud, so lebendig blieben doch konservative Trends; und diese Tendenz bediente Fran çois Le Barbier der Jüngere fast noch verläßlicher als sein Vater. Während der Vater die großen Aufträge so gut wie immer selbständig ausgeführt hat, trifft man den jüngeren Le Barbier eher selten allein an wie in unserer Nr. 30, deren Schrift noch ganz der Pariser Tradition verpflichtet ist, während der Schriftdekor fort schrittlicher wirkt. Sehr viel häufiger hat er offenbar Zusammenarbeit mit anderen, meist jüngeren Künstlern gesucht. Wie weit er selbst die Aufgaben verteilen konnte, bleibt un geklärt; denn François Barbier der Jüngere vertritt zwar offenbar einen angesehenen äl teren Stil; er überläßt aber, wie wir es bei Nummer 32 in diesem Katalog sehen werden, die wichtigsten Miniaturen zuweilen anderen Buchmalern. Die Gestaltung des Stundenbuchs Nr. 31 dominiert François Barbier der Jüngere: Alle Miniaturen größeren Formats folgen dem Vorlagenschatz, den er bereits vom Vater über nommen hatte. Nachdem er jedoch mit Michael ein erstes Kleinbild für die Suffragien ausgeführt hatte, übergab er diesen Teil am Ende des Manuskripts einem Maler, den wir ebenfalls schon aus Nummer 22 in LM V kennen: er hat dort die Evangelisten und einige kleinere Miniaturen beigesteuert und steht dem Meister nahe, der das Gothaer
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Stundenbuch ausgemalt hat.45 Hier trifft man dasselbe Kolorit; enge Verwandtschaft ver raten die Evangelisten und die kleinen Marien- und Heiligenbilder. Auf den Gotha-Mei ster werden wir in Nummer 41 dieses Katalogs und vor allem bei Nummer 58 im vier ten Band zurückkommen. Ein ganz anderes Temperament, das François Barbier dem Jüngeren noch fremder als dem Gotha-Meister ist, verraten die zum Teil geradezu witzigen Kalenderminiaturen. Die Art, wie einige Figuren gesehen werden, ist ebenso unkonventionell wie der kräftige Farbauftrag bei den kleinen Bildchen. Entfernt kommt der Stil der Chronique scandaleuse ins Spiel; doch reizt mich die Vorstellung, man habe es hier mit derselben Hand zu tun, die im Lektionar Mazarine 461 Johannes auf Patmos gemalt hat; das wäre dann wohl der Stifter von 1485: Jacques de Besançon selbst. Von viel größerem Gewicht ist dann Nr. 32, das letzte Stundenbuch in unserer Reihe mit Miniaturen von François Le Barbier dem Jüngeren. Hier tritt er gegenüber dem Mei ster der Traités théologiques zurück, indem er genau die Aufgaben übernimmt, die in Nr. 31 von einem Meister im Stil des Gotha-Stundenbuchs erledigt wurden: Mit fünf großen Miniaturen eröffnet François Le Barbier die drei nachgeordneten Perikopen und die beiden Mariengebete am Anfang des Texts, gestaltet dann die kleinen Heiligenbil der für die Suffragien am Ende des Buchblocks in seiner bewährten Manier, sorgfältig, dem Vorlagenschatz getreu, aber ohne das Feuer, das sein kleines Michaelsbild in Nr. 31 so eindrucksvoll verriet. Alle in der Texthierarchie führenden Incipits blieben einem Künstler vorbehalten, des sen eigentliches Hauptwerk diese Miniaturen in unserer Nr. 32 sind. Die Bildseiten be anspruchen wie textlose Vollbilder die ganze Fläche des Blatts; doch stehen sie wie Jean Fouquets Malereien im Stundenbuch für Étienne Chevalier aus den 1450er Jahren auf Seiten, auf denen der Schreiber offenbar die gewohnten Incipits eingetragen hatte. Der Maler konzipiert sein eigenes Layout, indem er wie Jean Colombe im Stundenbuch für Louis de Laval, latin 920 der Pariser Nationalbibliothek, für die Incipits in die durch weg noch spätgotische Architektur farbige Sockel einfügt, auf die dann die Schrift ein gemalt wird. Die Zusammenarbeit dieses Künstlers mit dem jüngeren François Le Barbier ist spekta kulär; denn wenn wir die Pariser Buchmalerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in zwei Stränge gliedern, dann gehört der Maler der Hauptbilder in Nr. 32 zu der Linie, die vom Coëtivy-Meister zum Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle führt. Offenbar sind sich die Mitglieder der beiden Ateliers zweier nach Generationenfolgen getrennter Familien aus dem Weg gegangen; eine zweite Handschrift, in der beide Stil tendenzen vereint sind, kennen wir nicht.
45
Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 70: Ina Nettekoven und Cornelia Hopf, Das Gothaer Stundenbuch (Patrimonia 312), Gotha 2007.
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Kat. 81, Nr. 32
Privatbesitz
Innerhalb seiner Gruppe nimmt der für die Hauptminiaturen in Nr. 32 verantwortliche Künstler eine Sonderrolle ein, die Ina Nettekoven untersucht hat; sie hat die Hand nach einer Sammlung von Traités théologiques, fr. 9606 der BnF getauft. 46 Ähnlich gestaltet sind nur Hauptbilder eines Stundenbuchs in Privatbesitz,47 in dem der Meister der Traités théologiques dem Meister Karls VIII . (hier Nr. 35 und 36) die nachgeordneten In cipits mit Kleinbildern überlassen hat. Die Gestaltung mit spätgotischen Strebepfeilern läßt noch stärker an Jean Colombe denken48 (siehe Abb. oben). Dazu würde wiederum passen, daß unser Manuskript, so pariserisch die Anlage durch François Le Barbier den Jüngeren auch ist, für den Gebrauch von Rom bestimmt ist und in der Heiligenauswahl an südlichere Regionen denken läßt. Zum ersten Mal kommt in unserem Katalog mit diesem Manuskript auch der Stunden buchdruck in den Blick: denn bei David und Goliath rückt die Schlacht gegen die Phili ster in den Mittelgrund; links vorn bricht der Riese Goliath, von einem Stein aus Davids Schleuder an der Stirn getroffen, zusammen. Dieselbe Komposition wird in Nr. 38 im Stil der Chronique scandaleuse wiederkehren; entsprechend sieht ein Metallschnitt des
46 Nettekoven 2007, S. 56f.; Nicole Reynaud (Ausst.-Kat. 1993, Nr. 145) war noch unentschieden, ob die Miniaturen von ih rem Meister der Très Petites Heures der Anne de Bretag ne oder, wie wir nun meinen, von einem eigenständigen Künstler aus dessen engem Umfeld stammen. 47
Nettekoven 2016, S. 229-230 unter „Privatbesitz anonym“ und Abb. 140, 179 und 180.
48 Nettekoven 2016, Abb. 180 mit Gegenüberstellung der Miniatur aus unserem Manuskript
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Kat. 81, Nr. 38
Kat. 81, Nr. 32
HORAE B. M. V. IX, S. 3937
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Meisters der Apokalypsenrose für Dupré ca. 1489 aus.49 Die Tatsache, daß sich beide Mi niaturen seitengleich zur Graphik verhalten, ist bemerkenswert: David agiert in allen drei Beispielen gegen die Leserichtung. So sah sicher auch die Metallplatte aus, die dann beim Drucken seitenverkehrt wurde. Sind deshalb die beiden Miniaturen vom Druck abhängig? Mit Nr. 33 bleiben wir noch im Umfeld der beiden François Le Barbier. Der dafür ver antwortliche Illuminator hat von François Le Barbier dem Älteren Entscheidendes ge lernt, hat vielleicht sogar in unserem Foucault-Boccace mit ihm zusammengearbeitet.50 Vielleicht ist er der Maler des Stundenbuchs Walters 258 in Baltimore, das Jean Budé III (um 1430-1502), dem Vater des berühmten Guillaume Budé, gehört hat. Die Herkunft aus der Werkstatt der Le Barbier erklärt wohl auch die Nähe zu profaner Illustration, die vor allem François Le Barbier der Ältere pflegte. Aus dessen Malweise erklären sich das Kolorit mit üppiger Goldhöhung und die energische Abkehr von den noch bis um die Jahrhundertmitte in Paris verbreiteten weichen Draperien. So viel die Gesichts- wie auch die Körperbildung den Le Barbier verdankt, so unterscheiden sich doch die Phy siognomien ebenso wie die Proportionierung der eher gedrungenen Figuren, die nicht in die Bildtiefe vordringen. Die Art, wie der Maler den Vordergrund reliefhaft gestaltet, er reicht den überzeugendsten Effekt, wenn er sich bei den Drei Lebenden und Drei Toten ganz auf die Konfrontation von nur einem Paar vorn konzentriert. Auf ganz andere Weise verblüfft das nun folgende Stundenbuch Nr. 34 durch seine Bebil derung des Toten-Of fiziums; denn dort folgen, nach der Eröffnung durch die Geschich te vom Gastmahl des Reichen und dem Tod des armen Lazarus zu den Nokturnen neun konsequent an der Hiobsgeschichte orientierte Hauptminiaturen, die in den Bordüren von Motiven aus dem Totentanz ergänzt sind. Das Buch ist in Schrift und Schriftdekor traditionell angelegt; doch üppig eingesetztes Gold, in Folie ebenso wie mit dem Pinsel aufgetragen, zeigt, daß schon die Auftragge ber keine Kosten scheuen wollten. Zwei offenbar erst als Zusatz zu verstehende textlose Vollbilder beweisen, daß die Arbeit des Künstlers bei den Geldgebern auf Zustimmung stieß. In Konkurrenz mit dem Buchdruck, besonders Stundenbüchern von Dupré 1488 und 1489, deren Bilder in einigen Miniaturen variiert werden, bemüht sich der Maler, seine Eigenart zu beweisen. Überbordend dicht und einfallsreich illuminiert er schon den Kalender. Seine Bildphan tasie verlangt entweder Ergänzung durch Beifiguren oder durch Nebenszenen, die bei eher geläufigen Themen die Hauptminiaturen unterstützen, wobei es sichtlich auf die Menge ankommt. Selbst die beiden ganzseitigen Bilder, deren Proportionen vom Rest abweichen, sind von der Hand des für die gesamte Ausmalung verantwortlichen Künst lers: Die Farbe ist überall dünn aufgetragen und zeigt, wie graphisch gearbeitet wird. Hel le Töne und große Flächen von dünnem Pinselgold für Architekturen und Möbelstücke schaffen eine insgesamt sehr lichte Wirkung. 49
Horae IX , S. 3937, Nr. 13.
50 LM NF I: Boccaccio und Petrarca in Paris, Rotthalmünster 1997, S. 51.
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Einleitung
Zweifellos gehört das Stundenbuch Nr. 34, zu dem wir kein Parallelstück kennen, ins Umfeld der Le Barbier; deren andächtige Sorgfalt und gediegene Wiederholung erprob ter Bildkonzepte einigen Malern aber offenbar nicht mehr genügt hat. Diese Tendenz steigert sich noch beim Meister Karls VIII ., dessen Stundenbuch cod. Brev. 5 der Würt tembergischen Landesbibliothek in Stuttgart durch den dünnen Farbauftrag unserem Manuskript nahe steht. Der Meister Karls VIII . hat die Suche nach neuen Bildideen geradezu zum Prinzip sei nes Tuns gemacht. Von ihm präsentieren wir mit Nr. 35 und 36 zwei neue Werke. Zwar hat Jean Porcher 1955 nach dem französischen König, der von 1470 bis 1498 lebte, ei nen Maler benannt, der zwei hinreißende Porträts, vielleicht von Karl VIII . und Anne de Bretagne, gemalt hat.51 Wir aber nehmen den König zum Paten eines anderen Künstlers, der ein ganz außergewöhnlich bilderreiches Stundenbuch ausgemalt hat, das die Signa tur des Königs trägt. Es wurde offenbar von Anthoine Vérard für Karl VIII . angelegt und hat Ina Nettekoven sogar zu der vorsichtigen Vermutung angeregt, der Verleger, der be kanntlich von Hause aus Illuminator war, sei vielleicht der Maler selbst.52 Dafür spräche, daß die Miniaturen Graphiken des Meisters der Grandes Heures für Vérard stilistisch nahestehen, sie haben mit ihnen aber kaum eine einzelne Bildidee gemeinsam. Anders als das namengebende Werk ist Nr. 35 durch seine brillante und komplette Er haltung vielleicht das glücklichste Werk dieses Künstlers. Ungemein farbstarke Malerei führt hier ein raf finiertes Spiel mit Bildausschnitten vor, von Ganzfiguren bis zum kon sequenten Close-Up. So vielfältig ist kein weiteres Manuskript in diesem Œuvre.53 Wie der erstaunt, wie wenig sich der Meister Karls VIII . um ikonographische Konventionen schert; so liefert er mit Nr. 35 ein überbordend reich bebildertes Pariser Stundenbuch, das anschaulich macht, wie wichtig seine Kunst und sein Einfallsreichtum für das Auf blühen des ungemein bilderreichen Buchdrucks in Paris waren. Die Bildphantasie tri umphiert schon im Kalender ebenso wie sein Sinn für sonst kaum erprobte Farbeffekte, insbesondere mit schwarzen Gründen. Jedes der seltenen Werke vom Meister Karls VIII . hat unverkennbaren Charakter. Bei Nr. 36 wissen wir durch einen zwar schwer lesbaren, von Jean-Luc Deuffic aber dankens werter Weise entzifferten Eintrag, für wen das Buch geschaffen wurde, und zwar für eine Jehanne Hennequin, Großmutter einer Anne Le Conte, deren Tochter oder Sohn die se Angabe im 16. Jahrhundert in das Buch hineingeschrieben hat. Es könnte jene 1495 gestorbene Jehanne Hennequin gewesen sein, Ehefrau des 1485 verstorbenen Nicolas Mauroy, der seinerseits 1472 Lieutenant général in Troyes war. Die Mauroy gehörten zu 51
Paris, BnF, lat. 1190, Stundenbuchf ragment mit in den Einband eingelassenen Bildnissen auf Pergament: Ausst.-Kat. 1955, Nr. 340, mit Taf. XXXVII-XXXVIII .
52
Schweizer Privatbesitz: Leuchtendes Mittelalter N. F. VI , 2009, 23a; Nettekoven 2016, S. 231-233.
53
Nettekoven 2016, S. 225- 230, kennt drei Stundenbücher in der Pariser Arsenalbibliothek Ms. 414, 1176 und 1181, dazu das eben erwähnte Stundenbuch cod. Brev. 5 in Stuttgart, eine Miniatur im Brevier lat. 1289 der BnF sowie die hier beschriebe ne Handschrift. Hinzu kommen zwei Stundenbücher bei Sotheby’s London und jenes Beispiel in Privatbesitz, in dem er mit dem Meister der Traités théologiques zusammenarbeitete (zu ihm siehe hier Nr. 32).
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jenen Familien, die wie die Liboron oder die Le Peley in Troyes als Auftraggeber von Ma nuskripten und anderen Kunstwerken hervorgetreten sind. Das heißt freilich nicht, daß unser Stundenbuch in Troyes entstanden sein müßte; denn so bemerkenswert die Buch malerei in Troyes mit Künstlern wie dem von uns nach unserem Stundenbuch des Simon Liboron54, von Avril umständlich „Maître du Pierre Michault de Guyot Le Peley“ 55 ge nannten Meister auch war, so blieb doch immer ein Anreiz, sich ein solches Buch aus der Hauptstadt zu beschaffen. Dazu paßt die Litanei, deren Heiligenauswahl wirkt, als habe jemand die wichtigsten Pariser Kirchenpatrone hier vereinigen wollen. Von der Freiheit des Meisters von Karl VIII . im Umgang mit ikonographischen Konventionen zeugt das Bild zu den Bußpsalmen; dort stellt er die erste Salbung Davids durch Samuel dar, die man am prominentesten im Breviarium Grimani findet.
Kat. 31, Nr. 35
54 LM V, 1993, Nr. 23. 55
Paris, BnF, fr. 1645: Ausst.-Kat. Les Très riches heures de Champag ne, Châlons-en-Champag ne, Troyes und Reims 2007, Nr. 26.
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Den Künstler, der das nun folgende Stundenbuch der Jeanne Robert, Nr. 37, gestaltet hat und der an Nr. 38 ausführlich beteiligt war, kennt man seit 1993 als Meister des Robert Gaguin. Ausgangsp unkt der Benennung ist nicht nur für uns, die wir die namengebende Handschrift 1993 präsentieren konnten, sondern auch für Avril das Dedikationsexem plar der Übersetzung von Cäsars De bello Gallico, die Robert Gaguin für Karl VIII . vor gelegt hat (siehe Abb. S. 31). 56 Mit seiner Fassung des berühmten Textes führt der General des Trinitarier-Ordens schon im Jahre 1488 die Gruppe jener französischen Gelehrten und Literaten an, die sich in den Dekaden um 1500 – durchaus auch im Weichbild der Italien-Feldzüge von Karl VIII ., Ludwig XII . und Franz I. – neu mit der Antike beschäftigten. Ihren Höhepunkt sollte diese Bewegung in den Übersetzungen finden, die der Dichter und dann Bischof Octovien de Saint-Gelais von Ovids Heroiden und ganz im Einklang mit imperialen Ambitionen Ludwigs XII . sogar von Vergils Aeneis verfaßte (zu ihm siehe hier Nr. 51). Mit Robert Gaguin, der unserem anonymen Maler seinen Namen leihen muß, kommen wir noch einmal zu jenem Literaten zurück, der 1473 vom „egregius magister Franciscus“ berichtet und damit schließlich auch den entscheidenden Hinweis auf François Le Bar bier den Älteren gegeben hatte. Im Farbgeschmack an François Le Barbier dem Jünge ren orientiert, im Farbauftrag disziplinierter als der Meister Karls VIII . ist dieser Ma ler, dessen hinreißende Miniaturen im Stundenbuch der Jeanne Robert wir bereits im Jahre 2000 im dritten Band der Neuen Folge der Serie Leuchtendes Mittelalter als Nr. 22 vorgestellt haben. Für den Gaguin-Meister charakteristisch bleibt seine Verbindung mit dem Buchdruck; deshalb sei sogleich auf ein bisher unbekanntes und von ihm illuminiertes, erst neuer dings von der Bibermühle erworbenes Stundenbuch hingewiesen: Alle 792 Bilder, die großen Miniaturen ebenso wie sämtliche kleinen, die den Text in den Randstreifen be gleiten, hat er in dieser von Philippe Pigouchet gedruckten (und wohl auch verlegten) Ausgabe vom 19. April 1494 (GW 13177) gestaltet. Als sein arbeitsintensivstes chefd’œuvre würde das Buch, wäre es ein Manuskript, einen Ehrenplatz in diesem Katalog verdienen.57 Besonders imponiert die Freiheit, mit der die gedruckten Bilder vom Gag uin-Meister uminterpretiert sind. In Horae B. M. V. I, konnten wir bei Nr. 31, einer illu minierten Variante von Thielmann Kervers Druck für Guillaume Eustace vom 20. Juni 1500, der dort als Nr. 30 beschrieben wird, zeigen, mit welcher künstlerischen Freiheit unser Maler die nach Entwürfen des Meisters der Apokalypsenrose gestalteten Drucke ins 16. Jahrhundert hinüberführt. Doch auch das Stundenbuch der Jeanne Robert ist ein überzeugendes Beispiel für die Kunst dieses bemerkenswerten Pariser Malers. In der gewagtesten Miniatur versucht der Gaguin-Meister, die vielen Zeitgenossen zu übertreffen, die zu den Bußpsalmen nicht 56
LM VI , 1993/94, Nr. 35; Ausst.-Kat. 1993, Nr. 141 f., S. 262-264.
57
Bebildert ist der Druck mit den Metallschnitten des Meisters der Grandes Heures für Vostre: Nr. 12 in Band IX von Horae, S. 3951 ff.
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Pigouchet, 19. 4. 1494
HORAE B. M. V. I, Nr. 31
HORAE B. M. V. IX, S. 3951
HORAE B. M. V. IX, S. 3975
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Chantilly, Musée Condé, ms. 79
Kat. 81, Nr. 37
mehr wie die Le Barbiers Davids Buße, sondern den Anlaß dafür, die Verführung durch Bathseba, darstellten. Der weibliche Akt, der in Stundenbüchern höchstens in Kalenderbildern einen bescheidenen Platz hatte, wenn die Zwillinge als Liebespaar begrifen wurden, erhielt hier eine aufs höchste genutzte Chance; und sie ergrif unser Maler nicht nur in unserem Manuskript, sondern auch im Stundenbuch des Morin d’Arfeuille, in dem er neben Jean Pichore arbeitete58 (siehe Abb. oben links). Doch mit derselben Menschlichkeit wußte der Meister auch die Mondsichelmadonna zu veranschaulichen. Den Anonymus nach Robert Gaguin zu nennen, macht übrigens auch deshalb Sinn, weil die literarische Arbeit des Trinitariers in ähnlicher Weise aus der spätgotischen Tradition Frankreichs zu aus der Antike geschöpftem Neuen führt. Bei der nun folgenden Nr. 38 war der Gaguin-Meister nicht der Hauptverantwortliche; doch stammen von ihm die meisten im Buch verbliebenen Miniaturen. Doch seit diese einst sehr üppig ausgestattete Handschrift, die noch 1929 ihre komplette Bebilderung besaß, gefleddert wurde, fehlen die Eröfnung der Marien-Matutin und der Textbeginn der Bußpsalmen. Immerhin verblieb im Buch die textlose Bildseite zum 1. Bußpsalm; dort wird Davids Sieg über Goliath in derselben Komposition dargestellt, die bereits in Nr. 32 in Übereinstimmung mit einer Graphik vom Meister der Apokalypsenrose benutzt worden war. 58
Chantilly, Musée Condé, ms. 79: Fréderic Vergne, La Bibliothèque du Prince, Paris 1995, S. 276.
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Diese Miniatur ist wie die an Graphik orientierte Bildseite zur Johannes-Perikope, das Kreuzigungsbild und der Beginn der Toten-Vesp er mit kleinen Randbildern ergänzt; deren Disp osition läßt darauf schließen, daß der Beginn der Marien-Matutin und der Bußpsalmen ebenso wie die durch Reproduktion auf einer Tafel im Sotheby-Katalog von 1929 dokumentierte Eröffnung des Toten-Of fiziums als Doppelseiten angelegt wa ren. Von diesen Hauptbildern hat man dem Gaguin-Meister nur die Toten-Vesp er an vertraut. Dort hat er die architektonische Rahmung von den anderen großen Bildseiten übernommen, jedoch nicht recht verstanden. Doch die Kalenderbilder beweisen seine bemerkenswerte Bildphantasie. Seine Eigenart bestimmt alle im Manuskript verbliebe nen Bilder zu den Marienstunden und die Darstellungen in den Suffragien. Die sehr viel malerischer aufgetragene Farbe und das Kolorit mit der Vorliebe für tiefes Blau und dunkles Purpurrot, die üppig mit Gold gehöht sind, rückt die anderen großen Bildseiten ebenso wie die kleinen Evangelistenporträts in den Stilkreis der Chronique scandaleuse. Wie im 1502 datierten und mit zwölf Miniaturen geschmückten Exem plar dieser Chronik der Regierungszeit Ludwigs XI ., das Avril und Reynaud 1993 zum „manuscrit pilote“ der gesamten Stilgruppe gemacht haben,59 schafft ein Sinn für Rottöne bei Mündern und Wangen gemeinsam mit einer Vorliebe für kleine waagerechte Augen schlitze charakteristische Gesichter, an denen man den Stil physiognomisch bestimmen kann. Doch ob die Hand des Meisters zu erkennen ist, bleibt angesichts der überwälti genden Qualität im hier anschließenden Manuskript zu klären. Mit dieser Nr. 39, dem Stundenbuch der Françoise de Bellecombe vom Meister der Chronique scandaleuse, erreicht der hier vorgelegte Teilband des Katalogs Paris mon amour nach Nummer 35 seinen eigentlichen Höhepunkt. Das Buch hat einmal James Mayer de Rothschild gehört, ist deshalb eigentlich nicht ganz unbekannt; doch selbst Christo pher de Hamel hatte in seinem gescheiten Buch über die Rothschild-Handschriften kei ne rechte Vorstellung von der eindrucksvollen Qualität. 60 Damit können wir für dieses Manuskript beanspruchen, eine der großen Bilderhandschriften der Pariser Rothschilds endlich bekannt machen zu können! Zudem nimmt es im reichen Œuvre seines Schöp fers einen hohen Rang ein, zumindest als das schönste Stundenbuch mit Miniaturen sei ner Hand. Anders als die meisten Künstler, von denen hier die Rede ist, fügt sich dieser Maler nicht einfach in die Tradition der Le Barbier und des Meisters der Apokalypsenrose der Sainte Chapelle und seiner Vorgänger in Paris ein. Vom lockeren Farbauftrag her ist an Jean Poyer in Tours zu denken, der diese Buchmalerei vielleicht mitgeprägt hat. Oft verstößt der Meister der Chronique scandaleuse ähnlich wie der Meister Karls VIII . gegen die gewohnte Motivwahl. Das wird besonders deutlich angesichts des Bilderreichtums un serer Nr. 39. Zudem brilliert hier der ungewöhnliche Farbsinn des Künstlers, der in er 59
Paris, BnF, Ms. Clairambault 481, Text von Jean de Valognes mit Interpolationen von Jean de Roye: Ausst.-Kat. Paris 1993, S. 275-277.
60 Christopher De Hamel, The Rothschilds and their Collections of Illuminated Manuscripts, London 2005, S. 54 und öfter.
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ster Linie auf ein geradezu unglaublich schönes Blau und ein Purpurrot ausgerichtet ist, dessen Kraft im Zusammenspiel mit hellem Grün, Violett und feinen Grautönen, durch virtuose Goldhöhung hier vor allem im Vergleich mit Nr. 38 noch wesentlich gesteigert wird. Man müßte mehr über Françoise de Bellecombe aus dem Mâconnais wissen, deren schönes Bildnis im Buch enthalten ist, um dieses einzigartige Hauptwerk des Meisters der Chronique Scandaleuse mit der hier besonders in Anspruch genommenen Bildphan tasie mit jeweils vier Randbildern zeitlich endgültig einordnen zu können, allerdings ist der überlieferte Hinweis auf eine Schenkung von eintausend Livres im Jahr 1487 durch ihren Mann ein ernstzunehmender Anhalt. In der nun folgenden Nr. 40, einem besonders edlen Buch in vorzüglichem Fanfare-Ein band, hat der Meister der Chronique Scandaleuse nur die Verkündigung gemalt, freilich mit seinem exquisiten Sinn für malerische Wirkung und überraschendes Kolorit, so daß dieses Bild zu den erstaunlichsten Schöpfungen in unserem an vorzüglicher Malerei so reichen Katalog gehört. Die übrige Ausmalung hat er dem Meister des Étienne Poncher überlassen, den wir lange nach Marie Charlot nannten. Von diesem Maler, der für den Pariser Bischof Étienne Poncher gearbeitet hat und dem wir in den Stundenbüchern Nr. 43-45 wieder begegnen werden, zeugt vor allen anderen die schöne Bathseba im Bade. Von ganz anderer Komplexität ist dann das Stundenbuch Nummer 41, das die in der Bi bermühle seit den 1980er Jahren gewachsene Kennerschaft erschließen hilft: Mindestens fünf Maler haben daran unter der Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse in Paris um 1490 gearbeitet: Die Kalenderbilder können wir aus der Anonymität heraus lösen; denn ihren Maler kennen wir als einen um 1500 in Paris ansässigen Jean Coene. 1993 konnten wir ein isoliertes Kreuzigungsbild aus einem Missale in Quartformat er werben, das de jos coene, also von Johannes Coene signiert. 61 Den eigenartigen Namen, der eigentlich an jüdische Herkunft denken läßt, trug eine seit der Zeit um 1400 in Paris nachweisbare Buchmalerfamilie mit weit entfernten Wurzeln in Brügge.62 Für das Gesamtprojekt verantwortlich war der Meister der Chronique scandaleuse. Er hat die Verkündigung gemalt ebenso wie David als Harfner, den wir bereits oben im Zu sammenhang mit dem Stundenbuchdruck und dem Martainville-Meister erwähnt ha ben, von letzterem wurde in dieser Einleitung die Davids-Miniatur abgebildet. Man wird ihm auch die meisten großen Miniaturen zuschreiben. Hingegen verrät die Kreuzigung den von Isabelle Delaunay nach dem Pariser Bischof Étienne Poncher benannten Maler, den wir früher als Meister der Marie Charlot bezeichneten. Nach einem Stundenbuch, das von der Gothaer Bibliothek in den 1930er Jahren veräußert, durch unsere Vermitt 61
LM NF I, 1997, Abb. auf S.320. Zu ihm siehe hier die Nrn. 56 und 57.
62
Der Name Jacques Coene, dem in seiner Heimatstadt Brügge sogar eine romantische Inschriftentafel an der Onze Lieve Vrouwe Kerk gewidmet ist, geistert durch die Literatur; mein letzter Assistent, Joris Corin Heyder (Book Illumination and Jan van Eyck’s Early Years, in: Ausst.-Kat., The Road to Van Eyck, hrsg. von Friso Lammertse und Stephan Kemperdick, Rot terdam 2012, S. 62) wähnt, wir seien alle einig, das sei der Boucicaut-Meister gewesen; doch weit gefehlt! Rouse und Rouse 2000, II , S. 56 f.. Zuletzt hat sich Albert Châtelet mit Jacques, in dem er den Pariser Meister der Marienkrönung sieht, und einem ersten Jean Coene im Umfeld von Jan van Eyck auseinandergesetzt. (L’Âge d’or du manuscrit à peintures, Dijon 2000, S. 108-110 und passim zu Jacques und 275 zu Jean).
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lung aber wieder nach Gotha zurückgekehrt ist,63 haben wir einen Maler getauft, der hier beispielsweise die beiden Bilder mit dem Stall von Bethlehem und die Gefangennahme gemalt hat. Schließlich hat der Meister der Philippa von Geldern, dem wir in Nr. 42 begegnen werden, die Sufragien bebildert. Schwer einzuschätzen ist die Halbfigur des Salvators, die an ein Tafelbild in Tours, eine Neuerwerbung des Musée des Beaux-Arts, denken läßt, die ich dem Meister des Münchner Boccaccio gegeben habe.64 Noch enger verwandt ist jedoch eine Miniatur im Stundenbuch der Marguerite de Rohan in Princeton. 65 Die Version dort stammt vom Meister der Missalien della Rovere und wird in Tours entstanden sein. Die wunderbare Variante in unserer Nr. 41 könnte der Meister der Chronique scandaleuse gemalt haben; dann würde sie erneut den Bezug dieses Künstlers in Paris zu Touroner Malern um 1500 bestätigen, die wie Jean Poyer aus Fouquets Nachfolge um malerische Wirkungen bemüht waren. Mit dem Stundenbuch Nummer 41 wird deutlich, welche Vielfalt in Paris möglich war und welch führende Rolle dabei der Meister der Chronique scandaleuse spielen konnte, vielleicht weil er im Gegensatz zu den Le Barbiers sehr viel besser mit überregiona-
Princeton, UL, Garrett 55 63
Kat. 81, Nr. 41
Ina Nettekoven, Forschungsbibliothek Gotha. Das Gothaer Stundenbuch (Patrimonia 312), Gotha 2007.
64 Für Pascale Charron und Pierre-Gilles Girault (im Ausst.-Kat. Tours 2012, Nr. 31) stammt die Konzeption von Jean Bourdichon, während ich im Ausst.-Kat. Paris 2010-11, Nr. 128, für den Meister des Münchner Boccaccio plädierte (König 2010). 65
Princeton, UL , Garrett 55, fol. 114: Mara Hofmann, Le Maître des Missels della Rovere, art de l’enluminure 6, 2003, S.59; ohne Hinweis auf die Herkunft schmückt es den Deckel des von Colum Hourihane publizierten Kolloquiumsbandes Manuscripta Illuminata, Princeton 2014.
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len Trends vertraut war. Problematisch bleibt die Struktur von Werkstatt und Auftrag. Die Arbeitsverteilung ist in jeder der fünf hier beschriebenen Handschriften, Nr. 26 und Nrn. 38-41, anders strukturiert. Man wird kaum annehmen wollen, die Auftragge ber seien selbst von Werkstatt zu Werkstatt gelaufen, um ihr Stundenbuch Schritt für Schritt vollenden zu lassen. Schmerzlich wird uns bewußt, wie wenig wir wissen und wie geradezu unüberwindlich die Distanz zwischen den historischen Studien von Rouse und Rouse 2000 und der Anschaulichkeit ist, die Kennerschaft am erhaltenen Materi al zu liefern imstande ist. Zum Glück sind nicht alle Fälle so schwierig: Unsere Nr. 42, ein Stundenbuch für den sehr seltenen Gebrauch von Le Mans, das seinen Titel einem Eintrag aus der Mitte des 17. Jahrhunderts verdankt, in dem sich ein Piero di Filippo Frescobaldi, wohl der Bischof von San Miniato, als Besitzer ausgibt, hat der Meister der Philippa von Geldern gestal tet. Die einzige Miniatur fremder Hand hat der Meister des Gothaer Stundenbuchs in der Entstehungszeit hinzugefügt. Den Meister der Philippa von Geldern erkennt man an den recht kleinen Köpfen mit charakteristischem Gesichtsausdruck, der insbesondere durch die Präzision um die Augenpartie erzeugt wird. Den mächtigen Körpern in volu minösen Draperien gilt die Aufmerksamkeit des Malers. Den Horizont legt er in dieser Handschrift ebenso niedrig wie in seinem berühmten Exemplar der Danse macabre des femmes66, so daß die Häupter der Figuren in der Regel vor dem Himmel erscheinen. Für Otto Pächt und Dagmar Thoss gehörte der Maler 1977 noch zur Schule von Rouen. 67 Den Notnamen hat John Plummer 1982 von einem Exemplar von Ludolph von Sach sens Leben Jesu in französischer Fassung abgeleitet, das 1506 für Philippa von Geldern, die zweite Frau des lothringischen Herzogs René II , geschaffen wurde.68 Erst Avril und Reynaud haben im Künstler zu Recht einen Pariser Buchmaler erkannt.69 Der Meister des Stundenbuchs aus Gotha hat nur eine einzige Miniatur beigetragen, ein textloses Weihnachtsbild, das auf einer zunächst leer gebliebenen Verso-Seite der ent sprechenden Miniatur des Hauptmalers auf Recto gegenübersteht, siehe hier die Abbil dung auf S. 348 bis 349. Dieser Pariser Kollege wurde offenbar mit Wissen des beauf tragten Meisters gebeten, ein zweites Bild zu einem bereits gestalteten Thema zu malen, als gehe es hier um einen erstaunlichen Stilvergleich! Die Ausrichtung dieses Stunden buchs, das in Paris vom Meister der Philippa von Geldern mit monumentalen Miniatu ren geschmückt wurde, auf die Diözese Le Mans paßt ebenso wie die Bestimmung des Stundenbuchs der Jehanne Hennequin aus Troyes (Nr. 36) zu einer dann auch für den Stundenbuchdruck wichtigen Tendenz: Eine ganze Generation von Franzosen sollte aus weiten Teilen des Landes mit Ausnahme weniger Regionen wie dem Lyonnais und der Touraine ihre Bücher in erster Linie aus Paris beziehen. 66 Paris, BnF, fr. 995: Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 153. 67
Pächt und Thoss, Französische Schule II , Wien 1977, haben denselben Stil in Hand B der bilderreichen Handschrift der Trio mphes de Pétrarque, cod. 2581/82 der Wiener ÖNB , neben Pichore und anderen gef unden: dort S. 39.
68 Lyon, Bibl. mun., ms. 5125: von Plummer zitiert in: Ausst.-Kat. New York 1982, Nrn. 91-92. 69
Der Ludolph von Sachsen für Philippa von Geldern war in Ausst.-Kat. Paris 1993 die Nr. 152.
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Drei Stundenbücher vom Meister des Étienne Poncher, also unserem alten Meister der Marie Charlot, schließen sich an: Nr. 43 stammt aus dem Besitz einer Marie de Briot; Nr. 44 hat einen charakteristischen Einband der Zeit um 1600, auf dem in Goldprägung der Name der Besitzerin Bastienne Mayvret eingetragen ist. Schwierig ist die Bestim mung von Nr. 45; dort hat ein früherer Besitzer gemeint, Wappen einer Familie Amory vorzufinden; vielleicht aber deuten die Wappen tatsächlich auf die Familie Poncher und damit auf das Umfeld des Pariser Bischofs, der inzwischen dem Maler seinen Na men leiht. Étienne Poncher (1446-1525) wurde 1503 zum Bischof von Paris gewählt und stieg 1519 zum Erzbischof von Sens auf; unter Ludwig XII . war er von 1512 bis 1514 auch Gar de des Sceaux. Sein zweibändiges Pontifikale70 mag sich nicht so gut für Vergleiche mit Stundenbüchern eignen, ist aber eine gute Basis, auch die Wertschätzung des Malers zu beurteilen, der zuweilen gedruckte Stundenbücher illuminiert hat.71 Der Maler gehört zu jenen Künstlern aus dem Kreis der Le Barbier, die sich von deren feingliedriger Spät gotik lösten und Formen aus der Renaissance in ihr Schaffen integrierten. Er entwickelt eigene Vorlieben, hat beispielsweise begriffen, daß sich der Heilige Geist zum ersten Mal bei der Taufe Christi zeigt; deshalb ersetzt er das Pfingstwunder gern durch diese Szene. Zwischen 1490 und 1510 wird man seine Tätigkeit wohl annehmen dürfen. Seine recht einfachen Miniaturen zeugen in Nr. 43 von einer sympathischen Frische der Auffassung; deshalb halten wir diese Handschrift für ein relativ frühes Werk. In Nr. 44 spürt man eine zunehmende graphische Orientierung des Malers. Dieses Werk ist seinerseits aber bemerkenswert durch die Art, wie die großen Bildseiten in Hauptbild und Bas-de-page aufgeteilt sind. Das führt in Nr. 45, einem Werk der Spätzeit mit einfach komponierten, aber sehr treffenden und eindrucksvollen Miniaturen, zum interessanten Verstoß gegen ikonographische Konventionen, wenn dort der Reiche in der Hölle unter dem Jüngsten Gericht und nicht dem armen Lazarus in Abrahams Schoß erscheint. Das letzte Stundenbuch in diesem Teilband unseres Katalogs Paris mon amour, Nr. 46, stammt von zwei Malern, die wohl aus der Werkstatt der Le Barbier hervorgegangen sind, mit denen sich aber bisher niemand beschäftigt hat. Den Maler des Kalenders kann man schlecht orten; wir kennen und schätzen aber besonders die Hand, die alle Bilder im Buchblock gemalt hat. Sie ist uns schon seit langem durch kluge und anspre chende Illuminierung von gedruckten Stundenbüchern der späten 1480er Jahre aufge fallen72, außerdem durch einige hochstehende Miniaturen in unserer Nummer 26. Wir nennen den Maler nach seinem umfangreichsten Werk „Meister der Mettler-Pèlerinage“ und meinen damit die bedeutende Pariser Handschrift in Privatbesitz, die einmal dem 70 Paris, BnF, lat. 956-957: Leroquais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX . 71
So hat er ein Pergamentexemplar eines Stundenbuchs für den Gebrauch von Rom, für Simon Vostre, um 1505, Horae I, Nr. 40 (S. 352) ausgemalt.
72
Er hat in unserem Katalog Horae am Stundenbuch der Anne de Beaujeu mitgearbeitet (I,1) und die Nr. I,3 ausgemalt; in Bd. IV taucht er wieder auf, weil er an der Nr. Delta mitgearbeitet, Epsilon ganz illuminiert, in Kappa das Doppelbild zur Mari en-Matutin gestaltet und das dort als Lambda verzeichnete Fragment der Grandes Heures Royales von Anthoine Vérard ko loriert hat.
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Sammler Arnold Mettler-Specker aus Sankt Gallen gehört hat, was dessen Exlibris und Notizen seiner Hand bezeugen.73 Das umfangreiche Œuvre des Meisters der Mettler-Apokalypse umfaßt auf Pergament gedruckte Inkunabeln der vornehmsten Art.74 Gemeinsam mit dem Meister der Apo kalypsenrose hat er die Danse macabre für Karl VIII . bearbeitet,75 nicht den einzigen Auftrag für diesen König.76 Ein Stundenbuch mit Miniaturen von ihm ist kürzlich von Fledderern aufgebrochen und in Einzelblättern verstreut worden; als vollständiges Stun denbuch mit Bebilderung von seiner Hand ist uns nur ein weiteres Manuskript bekannt, das man in Madrid mit Kaiser Karl V. verbindet.77 Damit haben wir in diesem Katalog fast alle wesentlichen Pariser Buchmaler des späten 15. Jahrhundert versammelt. Es sind mehr, als man in den beiden großen Ausstellungs katalogen der letzten Jahrzehnte, Plummers New Yorker Last Flowering von 1982 und dem großen Pariser Panorama von Avril und Reynaud 1993 findet. Beim Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle in Paris müssen wir uns mit Nr. 32 vom eng ver wandten Meister der Traités théologiques begnügen, können aber zugleich auf die Gra phiken verweisen, die der stilprägende Künstler selbst unermüdlich für den Buchdruck entworfen hat. Sie wurden in ungezählten Varianten gedruckt und teilweise von den hier diskutierten Malern wie vom Gaguin-Meister neu interpretiert und sind in unserer Serie Horae abgebildet. Das Glück, eine Bilderhandschrift dieses ungemein subtilen Künstlers vorweisen zu können, hatten wir noch nicht. Aber wer weiß? Dieses Glück hatten wir hingegen beim Meister des Kardinals von Bourbon, den man nach einer unerhört bilderreichen Handschrift der Vie et miracles de monseigneur Saint Louis für den Kardinal Charles de Bourbon nennt78 und der hier diesmal wirklich fehlt. Er begegnete uns im Foucault-Boccace, dem 1997 der erste Band der Neuen Folge der Se rie Leuchtendes Mittelalter und damit einer unserer früheren Beiträge zur Erforschung der Pariser Buchmalerei um 1500 gewidmet war. Dort hat er unsere Aufmerksamkeit durch die grausame Darstellung der Eroberung von Jerusalem gefesselt79, siehe Abb. gegenüber, oben rechts. Vom Tod handeln auch die besten Bilder in einem erstaunlichen Frühwerk dieses Künst lers, einem Stundenbuch für den Gebrauch von Paris, das wir im Jahr 2000 als Nr. 20 im dritten Band der Neuen Folge dokumentiert haben. Faszinierend sind dort die Farb gebung, die Emotion und die Bildphantasie. Das Kreuzigungsbild ist kostbar umgeben 73
Mensing, Amsterdam 5.4.1935, lot 27; zuletzt Auktion Maurice Burrus: Christie’s London, 25.05.2016, lot 19.
74
Hierzu gehören das Wiener Exemplar von Vérards Lancelot und die Chroniques de France in Wormsley sowie ein Exemplar des Orose, Vèlins 682 der BnF.
75
Paris, BnF, Est., Te 8 fol. rés.: siehe Farbabb. 134-136 bei Nettekoven 2004.
76
So war er am Mer des Hystoires von Pierre Le Rouge für Karl VIII . (Vélins 676-677) beteiligt.
77 Madrid, Bibl. nac., Vit. 24.3: Ausst.-Kat. Les Rois Bibliophiles, Brüssel 1985, Nr. 64. 78 Paris, BnF, fr. 2829: Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 148; siehe auch die Reproduktion aller Bildseiten von Richard, Gousset und Avril, Paris 1990. 79
LM NF I, 1997, S. 222 und Abb. von fol. 184 auf S. 223.
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Kat. 38, Nr. 1
Kat. 45, Nr. 20
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von nicht weniger als neun Nebenszenen am Rand; die erstaunlichste Leistung aber bie tet die Miniatur zur Toten-Vesp er: Dort wird vor einem Spiegel das gerade beginnen de Liebesspiel eines jungen (ehebrecherischen?) Paares grausam vom Tod unterbrochen, der nächtens ins Schlafgemach eingedrungen ist und nun seinen Speer gegen die schöne Frau erhebt.80
80 LM NF III , 2000, Nr. 20; die genannten Bilder reproduziert auf S. 300 und 316.
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26 Ein Pariser Stundenbuch, das die beiden Hälften dieses Katalogs verbindet: vom Coëtivy-Meister begonnen und erst kurz vor 1500 vom Meister der Mettler-Pèlerinage unter Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse vollendet
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in schwarzer Textura, mit roten Rubriken. Paris, um 1460: CoëtivyMeister und um 1490-1495: Meister der Chronique Scandaleuse und Meister der Mettler Pèlerinage Dreizehn große Miniaturen mit Rundbogenabschluß über vier Zeilen Text, sechs da von mit einem leicht eingezogenen Rundbogen sowie variantenreichen Vollbordüren: eine Goldgrundbordüre mit farbigem Akanthus, eine traditionelle Tintenspiralbordü re mit blaugoldenem Akanthus und Blüten sowie einem dreiseitigen Zierstab alternie rend in Rot und Blau, der nur hier aus einer vierzeiligen Dornblattinitiale sprießt, zwei Akanthusbordüren auf Dornblattrest mit Blumendekor und neun Kompartimentbordü ren auf Rot, Blau, Braun, Gold und Pergamentgrund mit bunten Akanthusranken, über all belebt mit Vögeln, Insekten und vollfarbigen Grotesken auf kleinen Bodenstreifen, dazu weiße Initialen mit Banderolendekor auf Rot außen und Gold innen mit Blumendekor, eine aus grünem Astwerk geschwungene Initiale auf Rot mit CamaïeuAkanthusdekor auf rotem Grund. Jede Textseite mit einer Bordüre außen aus Akanthus und Blumenwerk auf Dornblattrest, zweizeilige Initialen in Rot oder Blau mit weißem Liniendekor auf Gold mit Akanthusdekor, einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Gold auf rotblauem Grund mit weißem Liniendekor, Zeilenfüller in der gleichen Art. Versalien gelb laviert. 191 Blatt Pergament, dazu je ein Doppelblatt als festes und fliegendes Vorsatz. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 8 (6 – Zäsur vor der Marien-Vesper), 13 (8-1 – das erste Blatt vor fol. 95, vielleicht wegen Fehler in der Litanei, ohne Textverlust entfernt), 17 (6), 22 (4 – Zäsur vor Stabat mater). Waagerechte Reklamanten am unteren Rand fast überall noch an Oberlängen erkennbar, jedoch beschnitten. Zu 15 Zeilen, rot regliert. Groß-Oktav (216 x 155 mm; Textspiegel: 112 x 71 mm). Vollständig, breitrandig und in ausgezeichnetem Zustand. In einem roten Samteinband über Holzdeckeln, auf fünf sichtbare Bünde, mit zwei Messingschließen. Gepunzter Goldschnitt wohl noch aus der Zeit um 1500. Keine Hinweise auf frühere Besitzer. Sotheby’s London, 13.12.1965, Nr. 211. Text fol. 1: MarienOfzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 1 – mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 27), Prim (fol. 40), Terz (fol. 47), Sext (fol. 52v), Non (fol. 58), Vesper (fol. 63), Komplet (fol. 71v).
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fol. 79: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 92v); die Heiligenauswahl mit Pariser Elementen, aber auch Hinweisen auf südlichere Regionen wie Limoges: bei den Märtyrern ohne Dionysius; die Bekenner enden mit Martialis, Benedikt, Germanus und Fiacrius (vor Fiacrius ein Blatt wohl schon vom Schreiber entfernt); aufällig unter den vielen hier angerufenen Frauen: Perpetua, Petronilla, Thecla, Iulienna, Anastasia, Genovefa und Brigida, am Ende Columba, Barbara, Ursia, Radegondis, Lunastica, Rosa und Martha. fol. 100v: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 100v), des Heiligen Geistes (fol. 108v). fol. 115: TotenOfzium für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 115), Matutin (fol. 123v, nicht markiert), Laudes (fol. 150, nicht markiert). fol. 164: Pro animabus deffunctis: Avete omnes anime; Suffragien: Trinität (fol. 165v), Maria, mit dem Salve regina beginnend (fol. 166). fol. 168: Stabat mater. fol. 170v: Erste Suffragiengruppe und weitere Gebete: Georg (fol. 170v), Bartholomäus (fol. 171), Matthäus (fol. 171v), Michael (fol. 172), Sebastian (fol. 172v) ; Sieben Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos (fol. 174), Herrengebete: Domine ihesu xp(rist)e qui pro nobis peccatoribus (fol. 176), weitere Suffragien: Maurus (fol. 177v), Fiacrius (fol. 178), Veronica (fol. 178v), Katharina mit Versgebet Gaude virgo katherina als Antiphon und „Canticum“ O gloriosa virgo et martir katherina am Schluß (fol. 180), Barbara (fol. 182), Heilig Geist: Veni sance spiritus als Sufragium (fol. 183). fol. 184: Zweite Suffragiengruppe: Johannes der Täufer (fol. 184), Peter und Paul (fol. 184), Petrus (fol. 184v), Andreas (fol. 185), Jakobus der Ältere (fol. 185v), Markus (fol. 186), Stephanus (fol. 186v), De reliquiis (fol. 187), De confessoribus (fol. 187v), Nikolaus (fol. 187v), Maria Magdalena (fol. 188), Valeria (fol. 188v), Plurimorum virginum (fol. 189), De martiribus (fol. 189v), De omnibus sanctis (fol. 189v), Omnium sanctorum (fol. 190v), De pace (fol. 190v), Eutropius (fol. 191). Hier besonders aufällig Valeria von Limoges und die Hervorhebung des heiligen Eutropius von Saintes am Ende der Auswahl. fol.191v: Textende. Schrift und Schriftdekor Das Buch ist in einer Textura mit deutlicher Unterscheidung von Schriftgrößen geschrieben, die schon für die Zeit um 1460 recht altertümlich wirkt; die Handschrift blieb zumindest eine Generation lang fast unbearbeitet liegen, ehe man sie mit Bordüren und Bildern schmückte. Nur die hinreißende Bildseite zum Stabat mater, fol. 168, entstand sofort nach Fertigstellung von Schrift und Initialdekor: Die Initiale ist aus einem grünen Knotenstock gebildet und mit rosafarbenem Akanthus gefüllt. Eine Zierleiste mit Blumen auf Blattgold umgibt Textfeld und Miniatur. In der rot umrandeten Vollbordüre erscheinen blau-gol-
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dener Akanthus und Blumenzweige mit Resten von Dornblatt vor Pergamentgrund, in einer um 1460 in Paris gewohnten Manier. Nicht leicht zu klären ist die Frage, wie weit der mit ähnlichen Elementen arbeitende Randschmuck der Textseiten und der anderen Bildseiten bereits aus dieser Entstehungszeit stammt. Die Grundelemente bleiben gleich; denn Reste von Dornblatt und rote Ränder sind überall zu sehen. Der blau-goldene Akanthus wirkt zwar teilweise flacher; doch besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Freilich stammen die großen Initialen unter den übrigen zwölf Miniaturen mit ihren weiß modellierten Akanthusformen ebenso wie die Groteske auf fol. 1 vom Ende des 15. Jahrhunderts. Bildfolge fol. 1: Zum Marien-Ofzium der in Frankreich gewohnte Zyklus aus Kindheitsgeschichte mit abschließender Marienkrönung: Eine dunk le Monumentalarchitektur mit Renaissanceformen deutet den Tempel als Schauplatz der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 1): Die Muttergottes sitzt in einer nach rechts fluchtenden niedrigen Kapelle, das ofene Gebetbuch auf dem Schoß, das Haupt leicht gesenkt, die Hände zum Gebet gefügt, die demütige Ecclesia verkörpernd. Von links ist der Engel in rosafarbener Dalmatika eingetreten und, ein wenig im Raum zurückgesetzt, niedergekniet. Mit dem überlangen Zeigefinger der Rechten weist er zur Taube, die von links oben prächtig aufflatternd zur Jungfrau herabfliegt. Aus der Landschaft links tritt Maria bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 27) auf die würdige Elisabeth zu, die aus dem stattlichen Steinhaus mit großem Wehrturm rechts nach vorn gekommen ist, nun in gebührendem Abstand vor der Jungfrau niederkniet und ihre Rechte weit nach dem gesegneten Leib ausstreckt. Zwei in violett getöntes Weiß gekleidete Engel mit roten Flügeln haben Maria über die hügelige Landschaft begleitet. Recht trefend ist die schlichte Landschaft unter dem leuchtend hellen Himmel gestaltet, mit schönen Schatten auf dem Weg. Wie so oft ragt der Stall von Bethlehem mit seinem Giebel von links ins Bild der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 40): Maria hat den nackten Jesusknaben auf ihren Mantelzipfel gelegt, in kunstvoller Verkürzung, ganz auf die Muttergottes ausgerichtet. Die Jungfrau kniet mit leicht zurückgenommenem Oberkörper, dessen Schlankheit sich im Mantel abzeichnet, und betet. Joseph ist derweil rechts ebenfalls ins Knie gesunken, um auf seinen Stock gestützt verwundert zu ihr zu schauen. Hinter ihm türmt sich über Felsen eine bucklige Wiese; daneben ist noch ein wenig Platz für einen dif usen Blick in blaue Ferne. Unter einem Engel, der nur blau in Blau mit wenigen goldenen Lichtern im Bogenabschluss erscheint, lauschen zwei Männer der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 47). Der eine steht barhäuptig und schaut auf, als wolle er auch die Betrachter des Bildes auf den Engel hinweisen; der andere ist im Profil niedergekniet und hat die Hände zum Gebet gefügt. Im Mittelgrund drängt sich die Herde vor einem Hügel und Felsen, zwischen denen ein Spalt den Blick in die Ferne erlaubt. Rote Beinkleider und ein roter Rock schaf-
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fen unten eine Einheit; umbrafarbene Kittel bilden darüber eine zweite Schicht; herrliches tiefes Blau kommt mit dem Schultertuch des linken Hirten hinzu und verbindet zu dem billigeren Himmelsblau. In ähnlicher Disposition wie im Bild zur Prim ragt der Stall auch bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 52v) von links in die Szene. Davor hat Maria mit dem nackten Knaben Platz genommen; ein Tüchlein bedeckt dessen Lenden, wie er sich zum ältesten König wendet, der aus der Tiefe des Raum gekommen und deshalb etwas zurückgesetzt kniet. Der mittlere König steht rechts, der jüngste ist in die Mitte gerückt. Für Landschaft ist kaum Platz. Inmitten einer Monumentalarchitektur steht bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 58) der Altar unter einem graugrünen Baldachin; dorthin ist Maria getreten, von einer Magd begleitet, die en face die Bildmitte einnimmt; in ihrem Korb tauchen die Köpfe von zwei Tauben auf. Die Muttergottes, die als einzige einen Nimbus trägt, gibt den Jesusknaben in die Hände des greisen Simeon, der rechts im Profil wartet. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 63) bemüht sich Joseph mit energischem Schritt auf dem schräg nach rechts unten führenden, mit Steinen besäten Weg weiterzukommen. Der Esel streckt seinen Kopf weit vor, während Maria mit dem munteren Jesuskind Blickkontakt hat. Hinter der Wegbiegung links wird ein Sämann von den Soldaten des Herodes nach der Heiligen Familie gefragt. Dafür, daß er die Häscher in die falsche Richtung führt, wird er göttlich belohnt; denn im Kornwunder ist seine Neusaat zu reifem Korn aufgeschossen. Der Heerhaufen, der das Kind sucht, ist gewaltig; vor dem Himmel heben sich Lanzen in unerhörter Zahl ab, ehe der Blick auf Burg und Stadt im Blau der Ferne stößt. Vom Kompositionstyp her kann die Marienkrönung zur Komplet (fol. 71v) kaum erstaunen, wohl aber von der geradezu goldschmiedehaften Präzision, mit der die einzelnen Sphären in Zeichnung und Farbe erfaßt sind: Maria kniet links vor dem himmlischen Thron, neben dem ihr schon eine Bank gerichtet ist, die das Bild nach hinten abschließt. Wolken rechts vorn und Blicke auf blaue und feurig goldene Sphären machen schon unten deutlich, daß sich das Geschehen im Himmel abspielt. Gottes Thron steht rechts und wird schräg von der Seite gesehen; ein blauer Brokat spannt sich unter einer Maßwerkrose im goldenen Bogen, von dem nur eine Hälfte gezeigt wird. Dort sitzt der greise Vater als Papst mit Tiara, in weißem Gewand mit rosafarbenem Mantel, der innen hellgrün gefüttert ist. Auf der Bank liegt ein Kissen im gleichen Grün für sie bereit. Das feurige Gold unter Gottes Füßen setzt sich oben als Zentrum der himmlischen Pracht fort, geht dann in Blau über; und in diesen farbigen Sphären wimmelt es von Engeln in farbigem Camaïeu, nicht als puttenhafte Seraphim und Cherubim, sondern in Gewänder gehüllt. Von anderer Statur sind die beiden Engel, die über Marias Haupt in violetten Dalmatiken schwebend knien und ihre Krone halten. fol. 79: Landschaftliche Dynamik macht den wesentlichen Efekt auch bei Davids Buße zu den Bußpsalmen aus: Rechts im Mittelgrund ragt ein zerklüfteter Fels auf; er hin-
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terfängt den greisen König, der vorn auf einem rauhen Weg kniet; sein Haupt ragt über den Horizont, wird aber von den Burgbergen im Hintergrund doch hinterfangen; die Wiese hinter David setzt seinen Kontur fort. Sein Blick öfnet sich genauso, wie sich die Landschaft nach links hin öfnet. Dort steht, geradezu an den linken Bildrand gelehnt, die Harfe und ragt sogar über den Horizont hinaus. Gott erscheint links oben als Halbfigur in Wolken. fol. 100v: Die Horen eröfnen mit den üblichen Erkennungsbildern: Die Kreuzigung zu den Horen von Heilig Kreuz (fol. 100v) nutzt den Querbalken des Kreuzes, um den kosmischen Himmel mit Sonne, Mond und Sternen vom irdischen abzutrennen. Links türmt sich ein Berg auf zu einer Burgruine; in der Mitte gleitet der Blick über Gewässer zu weiteren Bergen. In eindrucksvoller Dramatik sind die beiden Gruppen unter dem Kreuz einander gegenüber gestellt: Maria, Johannes und zwei weitere heilige Frauen sind von vorn gesehen. Vor dem greisen Zenturio, der Jesu Gottessohnschaft erkennt, steht ein Soldat im verlorenen Profil und scheint keckes Leugnen zu verkörpern. Den emotionalen Höhepunkt bilden die Muttergottes, die in ihrem Schmerz zusammensinkt, und Johannes, der fassungslos zu seinem toten Herrn aufschaut. Auf ganz andere Weise ist Maria Hauptfigur bei der Ausgießung des Heiligen Geistes zu den Horen vom Heiligen Geist (fol. 108v): Sie kniet links unter einem rosafarbenen Baldachin vor ihrem Betpult mit einem Buch, in dem sie gerade zurückblättert, den Blick ganz auf die Schrift gerichtet, als müsse sie in ihrem vollen Wissen erst gar nicht zur Taube aufschauen. Die ist den Aposteln erschienen, die, vom Kolorit her bereits leicht abgedunkelt, im Hintergrund des palastähnlichen dunklen Raums knien, von Petrus links angeführt. Eine Sonderrolle nimmt der Lieblingsjünger Johannes ein; er hat als einziger das Recht, mit Maria im gut ausgeleuchteten Vordergrund zu knien. fol. 71: Bilder aus der Geschichte Hiobs setzten sich als Hauptthema zum Toten-Ofzium gegen Ende des 15. Jahrhunderts immer mehr durch. Hier wird Hiob auf dem Dung gezeigt: Den Schauplatz in der Landschaft bestimmt ein abweisendes graues Gebäude links, das der Hauptfigur dadurch kompositorisch Kraft gibt. Das Gebäude ist wirkungsvoll modelliert; genau auf seine Ecke hin ist der Dulder ausgerichtet, wie er nackt, mit einem Bündel des Dungs über der Scham dasitzt und mit gekreuzten Armen zu den Freunden auf blickt, die mit Hermelinkappe und Hermelinkragen vor dem Dunghaufen niedergekniet sind, um intensiver auf ihn einreden zu können, während Hiobs Frau und ein jüngerer Mann herzutreten. fol. 168: Die Beweinung unter dem Kreuz war gegen den Wortsinn des Gebetstexts im späten Mittelalter das gewohnte Thema zum Stabat mater. Hier erweist sie sich als die schönste Miniatur des ganzen Stundenbuchs; denn sie ist ein eindrucksvolles Werk des Coëtivy-Meisters: Das Kreuz steht, wie in der Pariser Buchmalerei des dritten Jahrhundertviertels üblich, nicht auf einem Berg, sondern an einem Abhang, der nach links aufsteigt und hier zu einem pittoresken Felsen führt. In der Mitte öfnet sich der Blick über eine Senke hin zu einer Stadt, deren Mauern bildparallel die ganze Breite einnehmen,
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ehe dahinter niedrige Berge den Abschluß unter diesigem Himmel bilden. Maria sitzt zu Füßen des Kreuzes, ganz in ein herrliches Blau gekleidet, das eindrucksvoll durchmodelliert ist. Den toten Sohn hat man ihr auf den Schoß gelegt, und nun präsentiert sie ihn den Frommen, während Johannes und Magdalena Haupt und Füße des Toten mit würdigen Gesten in bitterem Schmerz verehren. Beide sind farblich aufeinander abgestimmt durch Weiß und Lila. Ein etwas kräftigerer Rotton kommt noch hinzu durch den Mantel, den eine Frau hinter Johannes um ihr Haupt gelegt hat und durch denjenigen, der Magdalena von den Schultern gesunken ist. Bunt hingegen sind die beiden Greise hinter Magdalena gekleidet, Nikodemus und Joseph von Arimathia, namentlich nicht unterscheidbar. Eine gewisse Verwandtschaft mit einem Frühwerk von Jean Fouquet, der Pietà im Pariser Stundenbuch latin 1417, fol. 191, ist unverkennbar (siehe Ausst.-Kat. Jean Fouquet, Paris 2003, Abb. S. 181). Zu den Malern Das Buch ist um 1460 in Paris angelegt worden; damals entstand die Pietà; und sie erweist sich als ein reifes Werk, in dem alle erstaunlichen Qualitäten jenes Malers vereint sind, den man als Coëtivy-Meister bezeichnet. Auf ihn sind wir in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter Neue Folge IV anlässlich der drei Nrn. 20-22 und der Nummern 19-21in diesem Katalog ausführlicher eingegangen. Er wird nach dem Wiener Stundenbuch des Olivier de Coëtivy genannt (cod. 1929 der ÖNB), wurde lange mit Henry de Vulcop identifiziert, von Nicole Reynaud inzwischen mit Colin d’Amiens, und neuerdings von Ina Nettekoven wieder mit Vulcop. Zur Kenntnis seiner Kunst trägt unsere Miniatur, gerade im Vergleich mit Nr. 20 aus LM NF IV Folgendes bei: Zuweilen hat der Maler, insbesondere indem er stärker als seine Zeitgenossen Schwarz zur Modellierung nutzte, eine Art von plastischer Durchbildung erreicht, die im Kontext der Pariser Buchmalerei erstaunt und diese eine Miniatur von den sonst gewohnten Bildern entschieden absetzt. Vom hohen Anspruch des Auftrags, der ofenbar dann doch abgebrochen wurde, zeugen die schöne Blumen-Zierleiste und die höchst ungewöhnliche Knotenstock-Initiale, die an die heraldische Tradition des Hauses Orléans seit den Zeiten des 1407 von Johann Ohnefurcht ermordeten Louis d’Orléans denken läßt: Noch im Stundenbuch der Marguerite d’Orléans, latin 1156B der BnF, Paris, kehrt das Motiv als Familienzeichen auf fol. 13 wieder (Eberhard König mit Christine Seidel, Das Stundenbuch der Marguerite d’Orléans, Luzern 2013). Unter der Leitung jenes vielbeschäftigten Pariser Malers, den Avril und Reynaud nach dem Exemplar der Chronique Scandaleuse der Sammlung Clairambault Ms. 481 in der Pariser Nationalbibliothek bezeichnet haben, wurde das Buch dann im späten 15. Jahrhundert vollendet: Der Meister der Chronique Scandaleuse ist an seinem Sinn für Zwischentöne, im Kolorit wie in der Mimik seiner Figuren, leicht zu erkennen. Ausgangspunkt kann hier die Anbetung des Kindes sein; denn deren gedeckte Farben sind ebenso wie das Antlitz des Ziehvaters für den Maler charakteristisch; dazu paßt auch die Faltengebung mit den sparsamen goldenen Lichtern und der Flächigkeit von Josephs Ge-
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wandung. Die nahräumigen Landschaften ebenso wie die dunklen Interieurs mit flachem Renaissance-Dekor verraten den Maler ebenso, so daß ihm schließlich die Marienverkündigung, das Weihnachtsbild, die Hirtenverkündigung, die Anbetung der Könige und die Darbringung im Tempel zugeschrieben werden können. Die übrigen Miniaturen sind von einem guten Pariser Buchmaler, in dessen Kunst noch viel aus der Zeit von Maître François nachwirkt, den wir inzwischen als François le Barbier den Älteren bezeichnen können (Nr. 24 im zweiten Band dieses Katalogs von 2017). Man mag ihn zuweilen fast mit dem Gaguin-Meister verwechseln. In unserem Katalog Horae B. M. V. von 2003 bzw. 2014 sind wir zum ersten Mal auf seine unverkennbare Identität gestoßen und haben versucht, seine Eigenarten zu umreißen. Sie prägen ein außergewöhnlich reich und sorgfältig ausgemaltes Exemplar der Pèlerinage des Guillaume de Digulleville, das ein Hauptstück in der berühmten Auktion Mettler 1929, Nr. 38, war und über die Sammlung Maurice Burrus 2016 in französischen Privatbesitz gelangte. Ihm, den wir als „Meister der Mettler-Pèlerinage“ eingeführt haben, sind die meisten Bilder in diesem Stundenbuch zu verdanken. Besonders herausragend erweisen sich dabei die Flucht nach Ägypten und die oben ausführlich charakterisierte Marienkrönung, die von einem künstlerischen Geist zeugen, der Dynamik und hohe Präzision auf eine Weise verbindet, die ihn vor vielen Pariser Malern seiner Zeit auszeichnet. Von seinen Qualitäten zeugt auch der David, der freilich etwas zu monumental konzipiert zu sein scheint. Ein eindrucksvolles Manuskript, im Buchblock vollständig erhalten, aber ohne Ka lender: ein Pariser Stundenbuch der Zeit um 1460, mit Textura in verschwenderi schem Umgang mit dem Pergament geschrieben, breitrandig und auf jeder Textseite mit einem Bordürenstreifen. Jedoch ein Auftrag, dessen Bearbeitung nach Vollen dung einer begeisternden Bildseite des CoëtivyMeisters abgebrochen wurde. Eine Generation später hat der Meister der MettlerPèlerinage unter Leitung des Mei sters der Chronique Scandaleuse die Ausmalung abgeschlossen. Eindrucksvoll mo numentale Bilder vom Meister der Chronique Scandaleuse stehen nun neben Minia turen, in denen der bisher kaum beachtete Mitarbeiter Dynamik und hohe Disziplin verbindet und uns zeigt, wie wenig wir noch immer von der Bandbreite der Pariser Buchmalerei um 1500 wahrgenommen haben. LI TE RATUR: Ina Nettekoven, Der Meister der Apokalypsenrose und die Pariser Buchkunst um 1500, Turnhout 2004. Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge IV, S. 239-294, zum Coëtivy-Meister. Nicole Reynaud, in Avril und Reynaud 1993, S. 274-277, zum Meister der Chronique Scandaleuse. Katalog Horae B. M. V. I, 2003, S. 32-34 und 50 und IV, 2014, mehrfach, zum Meister der Mettler-Pèlerinage. LM NF VI , Nr. 5.
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27 Ein Stundenbuch des PolignacMeisters
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot, Blau und Gold, in brauner Textura, der Name Mariens im gesamten Manuskript durchgehend in Gold. Paris, ca. 1465/70: PolignacMeister aus dem Umfeld von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren 12 große Miniaturen mit eingezogenem Rundbogenabschluß über fünf Zeilen Text, zwei davon mit vierseitigen Bordüren auf Pinselgoldgrund und drei mit KompartimentBor düren, die übrigen auf Pergamentgrund mit großen blaugoldenen Akanthus und grü nen Blattranken, dazwischen zahlreiche Streublumen, Blattranken und Früchte sowie große Vögel, Insekten und Grotesken; zwei historisierte Initialen mit dreiseitiger Bordü re gleicher Art; zahlreiche Bordürenstreifen mit eng geführten Tintenspiralen und kur zen Akanthusranken, Blüten, Blattwerk und Tieren auf allen Textseiten mit zweizeili gen Zierbuchstaben. Vierzeilige Initialen in Rot und Blau mit weißem Liniendekor auf Gold, Blüten- und Fruchtzweige im inneren Feld; ein- bis dreizeilige Initialen in Pinselgold auf Rot und Blau; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 212 Blatt Pergament, davon 7 hinzugefügte Blätter zur Texterweiterung, vorne und hinten je 1 fliegendes und ein festes Vorsatz aus altem Pergament mit Besitzvermerken des 16. Jahrhunderts. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) sowie die Lagen 10 (8-1; Bl. 7 fehlt), 11 (8-1; Bl. 4 fehlt), 24 (4) und die Endlage 26 (6). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; gelegentlich Reste horizontaler Reklamanten. Duodez (139 x 95 mm, Textspiegel: 78 x 49 mm). Bis auf zwei Blätter vollständig; die goldenen Einträge im Kalender von einem Goldschläger beschädigt. Frisch und farbkräftig erhalten. Brauner Kalblederband des 16. Jahrhunderts auf vier Bünde, Rückenkompartimente mit vergoldeten Lilienstempeln, Deckel mit gestempelten Kastenrahmen und Grotesken, an den Ecken und als zentrales Medaillon vergoldete Blattranken; zwei Schließen, Reste von Goldschnitt. Nachdem zunächst in den Mariengebeten dem Geschlecht der Betenden keine Aufmerksamkeit galt, wurden weibliche Formeln schon früh hineinkorrigiert; dem entspricht die Darstellung einer Beterin zu den XV Freuden Mariä (fol. 191). 1583 wurde das Manuskript von einem „Françoys de…“ [rasierter Familienname in den Besitzeinträgen] erworben, wie Einträge auf dem ersten fliegenden Vorsatz vorn und dem festen Vorsatz hinten verraten. Vorn wird die Formel verwendet: qui les trouvera les luy randra et il payera… Auf dem ersten fliegenden Vorsatz hat sich im 17. Jahrhundert weiterhin eine Marie desplain als Besitzerin der Handschrift eingetragen. Der Eintrag „6980 Ph“ auf dem Vorsatz weist das Stundenbuch als Besitz von Sir Thomas Phillipps (1792-1872) aus; aus dessen Sammlung ging die Handschrift 1977 über Robinson
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an H. P. Kraus, der sie an Neil F. Phillips verkaufte. Am 2. Dez. 1997 als lot 71 gelangte die Handschrift in die Sammlung Beverly A. Battersby. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstabe a in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, römische Tageszählung alternierend in Blau und Rot. Die Heiligenauswahl deutet auf Paris mit Genovefa (3.1.) und Dionysius (8.10.) als Fest. fol. 15: Perikopen: Johannes als Suffragium (fol. 15), Lukas (fol. 17), Matthäus (fol. 18v) und Markus (fol. 20). fol. 21v: Sieben Verse des Heiligen Bernhard: Illumina oculos meos. fol. 23: Mariengebete redigiert für einen Mann, allerdings mit der Hinzufügung weib licher Formen durch zeitgenössische Hand, so daß man auch famula tua (fol. 25v) lesen kann: Obsecro te (fol. 23); O intemerata (fol. 27v). fol. 33: Marienof fizium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 33, mit drei Noktur nen), Laudes (fol. 59v), Prim (fol. 72v), Terz (fol. 79), Sext (Anfang fehlt vor fol. 84), Non (Anfang fehlt vor fol. 88), Vesp er (fol. 92), Komplet (fol. 100). fol. 107: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 107) und von Heilig Geist (fol. 111). fol. 117: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 131) mit Pariser Heiligen: Stephanus, Dionysius, Perpetua und Genovefa. fol. 137: Totenof fizium, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 137), 1. Nokturn (fol. 146v mit Rubrik), Laudes (fol. 174 mit Rubrik). fol. 191: Französisches Mariengebet: Doulce dame, gefolgt vom Herrengebet: Doulx dieu (fol. 198). fol. 202: Suffragien: Christophorus (fol. 202), Sebastian (fol. 203v). fol. 204: Spätere Ergänzungen verschiedener Hände, die Initialen blieben leer: Suffragium des Heiligen Franziskus und Suffragium des Heiligen Antonius von Padua (fol. 205), gefolgt von einem Gebet an den Heiligen Gatian von Tours (fol. 206v) und einem weiteren Gebet an den Heiligen Franziskus (fol. 207). fol. 208v: Christusgebet: Ave corpus domini nostri Ihesu Christi, gefolgt von einem Gebet an die Heilige Anna (fol. 209). Schrift und Schriftdekor Das Manuskript ist in einer recht gedrungenen Textura geschrieben. Noch setzen die Psalmenverse am Zeilenanfang ein; deshalb sind viele Zeilenfüller erforderlich. Zier buchstaben von ein bis drei Zeilen Höhe werden mit dünn aufgetragenem Pinselgold auf
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abwechselnd braunroten und blauen Flächen gestaltet. Kräftige schwarze Linien dienen meist nur an zwei Seiten als Konturen, als ob eine Schattenwirkung angestrebt wäre, die jedoch anders als in zeitgenössischen Handschriften nicht einheitlich mit Licht von links oben rechnet, sondern ohne erkennbare Systematik auf anderen Textseiten Licht von rechts oben annimmt. Nur die zweizeiligen Initialen werden von Bordürenstreifen außen begleitet, die zum Textfeld hin mit einer feinen goldenen Leiste ausgestattet sind und auf Dornblatt jeweils ein großes Motiv auf weisen: meist sind es Blumen, seltener blau-goldener Akanthus und beim Monat Januar sogar auf Recto und Verso ein großer Pfau, der sein Rad schlägt. Die beiden Bild-Initialen werden von dreiseitigen Rankenklammern hervorgehoben, in denen das Dornblatt durch die farbigen Elemente weit zurückgedrängt wird. Die mit großen Miniaturen geschmückten Seiten erhalten Vollbordüren in einer klaren hierarchischen Ordnung: Die schlichteste Stufe arbeitet mit dichtem farbigen Dekor aus blau-goldenem Akanthus und stilisierten Blumen; die Felder sind zum Textspiegel mit einer feinen goldenen Linie, nach außen hingegen mit roten Linien abgegrenzt. Jeweils zwei Lebewesen beleben diese Bordüren: vorwiegend ornithologisch gut beobachtete Vögel (so beispielsweise ein prachtvoller Hahn zur Heimsuchung), ein Afe und eine Hirschkuh und nur drei Grotesken, zuweilen auf niedrigen Bodenstreifen. Die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist sowie die Toten-Vesper werden durch Kompartiment-Bordüren hervorgehoben, die mit dem Wechsel von Pergament- und Goldgrund arbeiten. Die Belebung durch Vögel und Tiere fällt weg. Nur die traditionell als Haupttexte zu verstehenden Incipits von Marien-Matutin und Bußpsalmen erhalten Randschmuck auf geschlossenem Goldgrund; hier sind dann vier Vögel zu finden. Bildfolge fol. 23: Nachdem die Perikopen bildlos geblieben waren, erhielten die beiden Mariengebete jeweils eine historisierte Initiale: In einem sechszeiligen Feld wird zum Obsecro te die Beweinung unter dem Kreuz, also die Pietà, gezeigt: Vor einem nach rechts abfallenden Hügel, der Gras und Buschwerk trägt, und vor dem nur knapp gezeigten Kreuzesstamm sitzt die Muttergottes, ganz in Blau, jedoch mit einem weißen Schleier. Starr liegt der tote Christus auf ihrem Schoß. Sie hat die Hände zum Gebet gefügt. Gegen den Ablauf des Karfreitags verstößt der dunkle Himmel mit Sternen; denn der Erlöser wurde ja bei Einbruch der Nacht bestattet. In einer nur vierzeiligen Initiale folgt zum O intemerata die Maria mit dem Kind (fol. 27v) als Halbfigur: der Knabe in Rot, sie ganz in Blau, vor rotem Grund sitzend. fol. 33: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen verraten bei aller Verwandtschaft mit der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier ein bemerkenswertes eigenes Temperament:
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Die Matutin eröfnet eine farbstarke Verkündigung (fol. 33): Gerahmt von goldenen Säulen, die einen Fries tragen, rückt die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel ganz in den Vordergrund. Die raumgreifenden Figuren lassen nur wenig vom Interieur erkennen, das eher Tempel als Palast ist; ein roter Baldachin, der auch an ein Bett denken läßt, mit einem hochgebundenen Vorhang, wie ihn Kunsthistoriker zuweilen mit der Schwangerschaft verbinden, zeichnet die Jungfrau aus. Drei Fenster sind in die bildparallele Rückwand geschnitten; rechts hingegen zeichnet sich dunkel ein Torbogen ab, durch den wohl der Engel gekommen ist; darüber zeigt sich der greise Gottvater vor Himmelblau. Marias Betpult mit geöfnetem Buch ist ein Stück in die Tiefe gerückt; es scheint aus reliefiertem Stein gefertigt zu sein und ist mit einem hellblauen Tuch bedeckt. Maria senkt ihr Haupt, weist mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer rechten Hand auf das Buch, vor dem ihre Linke erscheint, als diskutiere sie mit Gabriel über den Text. Der Erzengel, der in der Linken ein dünnes Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung hinter sich; schwer lesbar steht das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes aber schwebt winzig dem Ave voraus. Von besonderem Reiz ist der Einsatz von Metall: Gabriels Mantel und seine Flügel sind in Pinselgold angelegt und mit Rot schattiert; Marias Blau aber wird auf eine geradezu einzigartige Weise mit Silber gehöht! In der bis zum Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 59v) vor einer nach rechts abfallenden Hügellinie. Von hier ist Maria mit einer jugendlichen Magd übers Gebirge gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen. Meist tritt sie aus dem stattlichen Haus des Zacharias, hier aber sieht es so aus, als habe sie ein Stadttor verlassen. Während Maria ihre Linke nach der betagten Frau ausstreckt, hat diese ihre Hände zum Gebet gefügt; eine Berührung findet nicht statt. Zu derselben Bildtradition gehört das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 72v): Vor dem dunklen Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einer niedrigen Mauer führt, kniet Maria; den nackten Knaben hat sie auf den Saum ihres Mantels gelegt; dort richtet sich das Jesuskind auf und macht mit der Rechten eine energische Sprechgeste. Joseph ist von rechts herbeigekommen; im Begrif niederzuknien, weist er mit dem linken Zeigefinger verwundert auf das Kind. Nur der Esel taucht links hinter Maria auf. Ein rundes Tischchen mit einem kleinen Stilleben aus Brot, Zinnkanne und Becher gehört zu den ungewöhnlichen Aspekten dieses Bildes. Der Ausblick nach rechts hinten führt zu einer durch eine Mauer nach vorn waagerecht abgeschlossenen Stadtansicht voller Türme. Eine Hirschkuh und ein Stieglitz tummeln sich in der Bordüre. Selbst in der recht ofenen Landschaft der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 79) wird in der vorderen Ebene ein Figurenrelief gebildet: aus einem links am Boden hockenden Hirten, der sich mühsam aufrichtet, nachdem ihm der Hut vom Kopf gefallen ist, und einem eigentümlich starr bewegten älteren, der im Profil nach links gewendet ist. Beide blicken auf zum kleinen Engel im Bogenabschluß der Miniatur. Die Herde drängt sich
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hinter ihnen vor einem nach links steil ansteigenden Burgberg und neben einem Wäld chen; in der Ferne liegt eine ähnlich wie in der vorigen Miniatur dargestellte Stadt. Im Gegensinn zur Landschaft der Heimsuchung steigt bei der Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 92) das Gelände nach rechts an; die turmreiche Stadt liegt nun links hin ten. Von einer goldenen Säule stürzt in der Bildmitte ein heidnisches Götzenbild herab. Von derselben blonden Magd wie bei der Heimsuchung, die nun aber nur ein violettes Kleid trägt, begleitet, reitet Maria auf dem Esel. Sie hält das weiße Wickelkind in den Armen, während sich Joseph zu ihr umdreht, um ihr vermutlich eine Frucht zu reichen. Über dunklem Blau mit silbernen Wolken steht Gottes Thron; hier findet die Marien krönung zur Komplet (fol. 100) statt: Maria kniet links auf dem Blau, das die Konturen ihres Mantelsaums verunklärt. Als greiser Papst mit Tiara segnet sie Gottvater, der auf seinem schräg gestellten Thron rechts sitzt. Auf einer bis zum linken Bildrand reichen den Bank mit niedriger Rückenlehne wird die Muttergottes Platz nehmen. Das wird eher links geschehen als vor der sonderbaren vergoldeten Tafel in der Bildmitte, die in BlendMaßwerk mit Lanzetten, drei Vierpässen und einer Rose noch im Stil des Rayonnant ge schmückt ist. Ein Engel taucht hinter der Lehne auf und setzt ihr die Krone aufs Haupt. fol. 107: Zu den Horen sind auch hier die bekannten Erkennungsbilder geschaltet: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 107) setzt das Kreuz vor einen der cha rakteristischen schräg nach rechts abfallenden Hügel, hinter dem eigentümlich dunkel Jerusalem auftaucht. Das Kreuz ist nah an die vordere Bildebene gerückt; die oberen Ecken des Querbalkens werden vom Bogenabschluß der Miniatur abgeschnitten. Ma ria steht mit Johannes und einer unkenntlichen zweiten Frau links, der Zenturio, mit einem hohen Hut, in blauem Goldbrokat unter dem seitlich geschlitzten rosafarbenen Mantel, spricht zu einem jüngeren Soldaten, der sich abrupt zu ihm umdreht. Im glei chen Grau wie die Stadtsilhouette sind die vielen Helme von Soldaten gehalten, die sich hinter dem Zenturio drängen. Der schwarze Doppeladler des römischen Reichs prangt in einem Feldzeichen darüber. Radikal auf Maria als Hauptperson eingerichtet ist das Pfingstwunder zu den HeiligGeist-Horen (fol. 111): Vor einem rosafarbenen Ehrentuch erscheint sie unter der Tau be des Heiligen Geistes als Halbfigur über einem Tisch, auf dem ein Buch aufgeschla gen ist, zwischen dem jugendlichen Johannes links und dem greisen Petrus, hinter denen weitere Apostel stehen. Den Vordergrund aber nimmt ein Apostel ein, der vor Schreck sein Buch hat fallen lassen und nun auf allen Vieren am Boden verweilt und sich müht, die Augen vor dem Licht zu verbergen. fol. 117: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße in einer Palastkapelle gezeigt: Gerahmt ist das Bild von drei Bögen Maßwerk in Gold-Camaïeu, auf deren frei im Raum hängen den Basen zwei Jünglinge als weiße Statuetten einen Schwertkampf führen. Vor einem von der Schmalseite gezeigten Altar, der über einer weißen Decke ein mit Einzelfiguren geschmücktes langgestrecktes Retabel trägt, kniet David, mit einem orientalisierenden Hut, wie ihn schon der Zenturio trug, auf dem Haupt, einem rosafarbenen Umhang
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über blauem Goldbrokat (ebenfalls wie beim Zenturio) und einem Hermelinkragen betet er zu einer Lichterscheinung. fol. 137: Das Begräbnis auf einem Friedhof zur Toten-Vesper nimmt eine in Paris häufig verwendete Konzeption auf, die heute gern, aber nicht ganz zu Recht, als Blick auf den Friedhof der Innocents gilt: Mit einem durch zwei Türme flankierten Tor rechts hinten und vom Karner umschlossen ist der Friedhof, auf dem kein Kreuz oder Grabmonument steht. Der für das Bild ausgewählte Moment wird sonst kaum dargestellt: Vorn ist ein Grab ausgehoben; der in weißes Leinen eingenähte Leichnam liegt bereits darin; während zwei Totengräber bereits Erde über ihn schaufeln, liest ein Priester die Liturgie aus einem Buch, das ihm von einem kindlichen Akolythen gehalten wird; ihn begleitet ein zweiter Priester. Wie in vielen Vergleichsbildern sammeln sich die Pleurants links; ungewohnt lebendig ist das Gespräch der weltlich gekleideten Männer. Gottes Anwesenheit wird durch goldenes Licht im Bogenabschluß der Miniatur bezeichnet. fol. 191: Ein Madonnenbild und eine Gottesdarstellung eröfnen die beiden französischen Gebetsfolgen am Schluß des Bandes: Auch beim Bild der Madonna mit Beterin zu den XV Freuden Mariä (fol. 191) läßt sich der Maler etwas Besonderes einfallen: In einer Miniatur, die ganz vom Rot der ausgespannten Tücher, verschiedenen Blautönen, einem grünen Fliesenboden und dem hellen Inkarnat der Figuren bestimmt ist, steht der Jesusknabe in goldenem Kittel auf Marias Schoß; er weist seine Mutter auf die Beterin rechts, deren Kleid mit einem Hermelinkragen geschmückt ist. Hinter dem zeltartigen runden Baldachin taucht ein Engel mit einem langen Blasinstrument auf, mit dem er das Gebet begleitet. Bemerkenswert ist die Art, wie das Blau vom dunklen Ton bei Maria im Kleid der Beterin zu einer helleren Tönung wechselt, die dann den Kittel und die Flügel des Engels bestimmt. Ein Eichelhäher ist im unteren Randstreifen trefend dargestellt; ähnliche Flügel hat ein zweiter Vogel rechts außen, der jedoch nicht bestimmt werden kann. Die VII Klagen des Herrn eröfnen auf ungewohnte Weise mit einer von Psalm 109 geläufigen Darstellung der Trinität (fol. 198): Vor Silberbrokat, von je drei feurigen Seraphim flankiert, die sich leuchtend vom tief blauen Grund abheben, thronen Sohn und Vater in weißen Gewändern, von einem zartvioletten Mantel umschlossen, und halten das geöfnete Buch des Lebens; zwischen ihnen schwebt die Taube des Heiligen Geistes. Christus hat ein kleines Kreuz in der Rechten, der als Papst mit Tiara gekrönte greise Vater eine Sphaira in der Linken. Zum Stil Für die ältere Literatur, die nicht einmal überzeugt war, daß die Folge von Buchmalern, in deren Mitte der Coëtivy-Meister steht, überhaupt in Paris gearbeitet hat, stand die Pariser Kunst der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ganz im Zeichen von Maître François, in dem wir seit 2014 durch Quellennachweis von Mathieu Deldicque den recht gut in der Hauptstadt dokumentierten François Le Barbier den Älteren erkennen kön-
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nen (siehe Nr. 24). Zugleich ist diese Identifizierung mit einem Namen ohne flämisches Toponym geeignet, die in der Literatur ständig bestehende Bereitschaft zu dämpfen, al les Gute in Paris auf Gäste aus dem Norden zurückzuführen. Zu den interessanteren Malern aus dem Umfeld der beiden François Le Barbier gehört der Maler dieser Handschrift: In seinen Bildvorlagen orientiert er sich an deren Vorga ben, so daß man den Eindruck erhält, er habe wohl beim älteren Le Barbier gelernt und dann parallel zum jüngeren gearbeitet. Offensichtlich geht es ihm darum, durch verschie dene Bildideen im Rahmen des von den Auftraggebern Verlangten auf sich aufmerksam zu machen. So prangt der Doppeladler über der Kreuzigung, wirft sich ein Apostel bei der Ausgießung des Heiligen Geistes auf den Boden, liegt der Tote auf dem Friedhof be reits im offenen Grab. In der Marienverkündigung, die sicher zu den schönsten Minia turen dieses Malers gehört, spielt er mit Silber als Höhung für Blau, erreicht durch die Nähe der beiden Figuren eine eindrucksvolle Dramatik, die er auf das Schriftverständ nis bezieht, und brilliert in den Farben. Perspektive in Interieur und Landschaft inter essiert ihn, ohne daß er sie nach den zu seiner Zeit verfügbaren Regeln wirklich beherr schen würde. In der Bibermühle ist der Maler schon einmal durch seine brillante Illuminierung eines Pergamentdrucks von Pigouchets Stundenbuch für Rom vom 23. Oktober 1494 her vorgetreten (Nr. 10, Horae B. M. V. I, 2003, S. 110). Damals haben wir vorgeschlagen, ihn nach dem Polignac-Stundenbuch der Sammlung Paul Francis Webster zu benennen (Sotheby’s New York, 24.4.1985, Nr. 100: ein besonders reich von unserem Maler aus gestattetes Stundenbuch für Melchior de Polignac, 1661-1741, französischer Botschafter am polnischen Hof; später Sotheby’s London, 20.6.1995, Nr. 110). Das hier vorgestellte Stundenbuch für Pariser Gebrauch ist sicher einige Jahrzehnte früher entstanden und beweist, daß der Maler spätestens gegen 1470 selbständig gearbeitet hat. Ein eindrucksvolles Werk eines Pariser Buchmalers, der wohl aus der Werkstatt von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren, hervorgegangen ist und als ein Generationsgenosse von dessen Sohn angesehen werden muß. Dieser Mei ster des Polignac-Stundenbuchs baut auf dem Vorlagenschatz seines Lehrers auf, versteht es aber, durch interessante eigene Hinzufügungen und irritierende Bilder wie das Pfingstwunder sowie durch eine Farbenpracht, wie sie die Miniatur mit der Marienverkündigung prägt, eine eigene Note in die Pariser Kunst des letzten Drit tels des 15. Jahrhunderts einzubringen. Von besonderem Reiz ist der nach klaren hierarchischen Prinzipien geordnete Randschmuck der Bildseiten, vor allem wegen der beobachteten Vögel. So steht dieses Stundenbuch exemplarisch für einen recht glücklichen Moment der Pariser Buchmalerei und führt uns ein bemerkenswertes künstlerisches Temperament vor Augen. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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28 Das Pariser Stundenbuch des André Salé und seiner Frau: zwischen François Le Barbier dem Älteren und dem PolignacMeister
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot, Blau und Gold, in brauner Textura. Paris, ca. 1460/70: Ein Buchmaler zwischen François Le Barbier dem Älteren und dem PolignacMeister 19 Bilder, davon 15 große Miniaturen mit Rundbogenabschluß über vier Zeilen Text mit dreizeiligen DornblattInitialen: die fünf wichtigsten Incipits mit KompartimentBordü ren auf Gold und Pergament mit einfacher goldener Umrandung des Bild und Textfeldes; die zehn übrigen mit Doppelstab zum Falz hin und Zierleisten des Flächendekors unten und außen, dazu Dornblattbordüren, belebt mit blaugoldenem Akanthus in den Ecken und buntem Blütendekor und Früchten; drei siebenzeilige Kleinbilder für die Evangeli stenporträts mit Doppelstab und dreiseitiger Bordürenklammer von links; eine siebenzei lige BildInitiale mit entsprechendem Randschmuck; Psalmenanfänge mit zweizeiligen Initialen in Gold auf roten und blauen Flächen; entsprechende Psalmenverse am Zeilenbeginn; Zeilenfüller der gleichen Art; Versalien gelb laviert. 150 Blatt Pergament, dazu 1 festes und drei fliegende alte Pergamentvorsätze vorn und ein festes sowie fünf fliegende Vorsätze aus dem 16. Jh. hinten, dicht beschrieben. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die erste Kalenderlage 1 (12), die Lagen 3 (4), 11 (6-1, ohne Textverlust), 19 (6) und die Endlage 20 (2+1). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (162 x 113 mm, Textspiegel: 85 x 53 mm). Brauner Ledereinband des 16. Jahrhunderts auf vier Bünde, Rückenkompartimente mit vergoldeten Palmettenstempeln, Deckel mit geprägtem Medaillon, dieses stark abgerieben. Auf fol. 150 setzen Nachträge mit dem Charakter eines umfangreichen livre de raison und hinzugefügten Gebetstexten ein, beginnend mit einem Vertrag von André Salé und seiner Frau Marie Naslin, vom 13. November 1579, bei dem einige Juristen und Kaufleute aus Paris, offenbar aus der Pfarrei Saint-Germain-l’Auxerrois, genannt werden. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen alternierend in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe a in Gold auf Rot und Blau, römische Tageszählung alternierend in Blau, Rot und Gold. Pariser Heiligenauswahl im Kalender. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16v) und Markus (fol. 18v). fol. 19v: Mariengebet: Obsecro te (fol. 19v), redigiert für einen Mann, fol. 24/v leer.
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fol. 25: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 25), Laudes (fol. 49), Prim (fol. 61), Terz (fol. 67), Sext (fol. 71), Non (fol. 75), Vesper (fol. 78v), Komplet (fol. 81v). fol. 87: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 100), die Heiligenauswahl weist auf Paris mit Gervasius und Prothasius sowie Genovefa. fol. 104: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 104) und Heilig Geist (fol. 107v). fol. 111: Totenofzium, für unbestimmten Gebrauch: Vesper (fol. 111); die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 114), Laudes (fol. 137v). fol. 142: Französische Gebete: XV Freuden Mariä Doulce dame (fol. 142) und VII Kla gen des Herrn Doulx dieu (fol. 147v). Schrift und Schriftdekor Mit der großzügigen Textura erweist sich dieses Manuskript noch der Pariser Buchkunst der Mitte des 15. Jahrhunderts verpflichtet. Dem entspricht der traditionelle Flächendekor für ein- bis zweizeilige Initialen sowie für die Zeilenfüller. Randdekor und Bebilderung folgen wie in Nr. 27 einer strikten Hierarchie: das Mariengebet Obsecro te eröfnet mit einer siebenzeiligen Bild-Initiale; dieselben Maße haben die Bilder zu drei Perikopen. Rankenklammern genügen. Der Beginn des Johannes-Evangeliums und neun weitere, weniger prominente Incipits sind mit Doppelstab zum Falz hin und Zierleisten des Flächendekors unten und außen ausgestattet und haben dazu Dornblattbordüren, die mit blau-goldenem Akanthus in den Ecken und buntem Blütendekor und Früchten belebt sind. Nur die fünf wichtigsten Incipits erhalten Bordüren mit wechselnden Kompartimenten; dabei wird blau-roter Akanthus auf Gold gesetzt, während Blumen auf dem Pergamentgrund erscheinen. Der Dekor, der durchweg auf die Belebung durch Grotesken, Tiere und Vögel verzichtet, wirkt deutlich früher als die Ausstattung unserer Nr. 27. Bildfolge fol. 13: Die Perikopen eröfnen mit einem schönen Bild von Johannes auf Patmos: In der besten Tradition des älteren François Le Barbier wird die Insel Patmos anmutig als kleines Eiland mit einem schönen Blick auf das ferne Ufer mit der Stadt Ephesus geschildert. Ein einziger Baum markiert die kleine Anhöhe, auf der Johannes sitzt. Er schreibt nach links gewendet auf ein Schriftband; diensteifrig steht neben ihm der Adler und hält das Futteral und das Tintenfaß im Schnabel. Die sieben Zeilen hohen Kleinbilder mit den drei weiteren Evangelisten sind mit in den oberen Ecken abgerundeten Goldrahmen wie von unprofilierten Bögen umfaßt: Lukas mit dem Stier (fol. 14v) sitzt nach rechts gewendet vor einer aus großen Steinen gefügten Wand mit zwei Fenstern und einem davor gespannten roten Goldbrokat, wie er
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auch links für einen Baldachin über dem Evangelisten benutzt wird. Da sitzt der bärtige Evangelist und schreibt in ein Buch, das er auf den Knien hält; links neben ihm, räumlich in die Tiefe gerückt, steht ein niedriger Tisch mit einem zweiten geöfneten Buch. Aufmerksam schaut der Stier zum Evangelisten auf. Der Türbogen rechts hinter dem Tier schaf t den Eindruck, das Interieur, das in einigen anderen Miniaturen wiederholt wird, sei eigentlich für ein Bild der Verkündigung an Maria konzipiert worden, bei der der Engel von rechts kommt; das bestätigt dann auch die Miniatur zur Marien-Matutin. Matthäus mit dem Engel (fol. 16v) ist nach links gewendet, hebt die Feder, während links der kleine Engel dienstfertig wartet. Für Markus mit dem Löwen (fol. 18v) wird die Disposition des Lukasbildes wiederholt; die wenig geschickte Gestaltung des Löwen mit den in der Luft schwebenden Vorderbeinen zeigt, wie stark die Darstellung dieses Tiers von heraldischen Formeln bestimmt war. fol. 19v: In einer sieben Zeilen hohen Initiale zum Obsecro te ein Bild von Maria mit dem Kind als Büste: der Knabe in Violett, sie ganz in Blau, vor rotem Goldbrokat nach rechts gewendet. fol. 25: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die meisten Darstellungen folgen Vorlagen, die auch für Nr. 27 benutzt worden sind: Die Matutin eröfnet eine farbstarke Verkündigung (fol. 25): Unprofiliert bleibt der goldene Rahmen, der jedoch oben einen doppelten Bogen mit einem hängenden Schlußstein ausbildet. Die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel wird ähnlich geschildert wie in Nr. 27; doch rücken die Gestalten nicht ganz so weit in den Vordergrund und lassen etwas mehr vom Interieur erkennen, das wieder eher Tempel als Palast ist. Die Bespannung des Baldachins und das bildparallele Ehrentuch sind wie bei Lukas und Markus roter Goldbrokat. Der Baldachin läßt auch hier an ein Bett denken und hat ebenfalls einen hochgebundenen Vorhang, den man zuweilen mit der Schwangerschaft verbindet. Nur zwei Fenster sind in die bildparallele Rückwand geschnitten; rechts hingegen zeichnet sich der Torbogen ab, durch den wohl der Engel gekommen ist. Göttliches dringt nur durch goldene Strahlen ein, die wie dichter Regen von rechts oben auf Maria gerichtet sind und die winzige Taube begleiten. Marias hölzernes Betpult mit geöfnetem Buch ist ein Stück in die Tiefe gerückt. Maria senkt in demütigem Gebet ihr Haupt. Der Erzengel weist wortlos mit der Rechten in die Höhe. Sein Mantel und seine Flügel sind in Pinselgold angelegt und mit Rot schattiert; Marias Blau bleibt ohne Höhung mit Metallfarben. Eine bis zum Meister des Jean Rolin (Nrn. 22-23) zurückgehende Tradition wird bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 49) variiert: Die dominante Hügellinie fällt nun nach links ab. Dort kommt ein steiniger Pfad von einem entfernten Hügel herab, auf dem Maria an einem niedrigen bildparallelen Flechtzaun vorbeigeschritten ist. Ihr tritt Elisabeth aus dem Haus des Zacharias entgegen; die betagte Frau sinkt in die Knie und streckt ihre Linke aus zu Marias gesegnetem Leib.
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Zu derselben Bildtradition gehört das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 61): Der dunkle Stall von Bethlehem steht nun bildparallel; der Giebel wird aber schräg nach rechts in die Bildtiefe verkürzt und führt hin zu einer niedrigen Mau er. Kräftige schwarze Linien in den wie aus Buntsandstein gefügten Mauern unterstrei chen den ruinösen Zustand des Stalls. Maria kniet links; den ganz unbewegten nackten Knaben hat sie auf ein rechteckiges weißes Tuch gelegt; dieses Motiv läßt an Altartü cher denken, auf die der Leib Christi in Form der Hostie abgelegt wird. Joseph kniet ein Stück im Raum zurückgesetzt, neben dem Esel, der mit seinem Zaumzeug und der Bewegung der Beine stolz wie ein Roß wirkt. Links hinter Maria taucht der Ochse auf. Der Ausblick nach rechts hinten führt zu einem schlichten Hügel und der vagen An deutung einer Stadt. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 67) folgt recht genau derselben Vorlage wie für das entsprechende Bild in unserer Nr. 27: mit einem links am Boden hockenden Hirten, der sich mühsam aufrichtet, aber noch den Hut auf dem Kopf behalten hat, und einem älteren, der im Profil nach links gewendet ist. Beide blicken auf zum kleinen Engel im Bogenabschluß der Miniatur. Die Herde drängt sich hinter ihnen vor einem nach rechts über Felsabbruch ansteigenden Berg; in der Ferne wird die Stadt ausführlicher als bei der Anbetung des Kindes dargestellt. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 71) ist der Stall genauso wie im Weihnachts bild dargestellt. Joseph und die beiden Tiere fehlen. Auf sehr ungewohnte Weise wird die Gestalt Marias wiederholt; denn sie kniet hier ebenso wie der älteste König, der ei nen offenen Kelch darbietet. Hinter beiden steht der mittlere, mit einem Ziborium in der Rechten und einer großen Geldkatze im Gürtel. Über ihm prangt, ganz ornamental, der Stern. Eigentümlich klein und ungeschickt ins Bild gesetzt ist der bartlose jüngste König. Das schon bei Lukas, Markus und der Marienverkündigung gezeigte Interieur mit rund bogiger Tür, zwei Fenstern und einem roten Goldbrokat als Ehrentuch kehrt bei der Darbringung zur Non (fol. 75) als Tempel wieder. Nun steht rechts ein Altar, ohne Bal dachin. Während eine kleine Magd, die kein Taubenopfer, sondern nur einen dünnen goldenen Stab hält, unter dem Bogen verharrt, kniet Maria vor dem Altar, über den sich der barhäuptige Priester Simeon beugt, um ihr den Knaben zurückzugeben, der begie rig ist, zur Mutter zu kommen. Die Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 78v) stimmt im wesentlichen mit dem Bild in Nr. 27 überein. Wie die Landschaft der Heimsuchung steigt bei dieser das Gelände nach rechts an; die turmreiche Stadt taucht in der Bildmitte auf. Maria reitet auf dem Esel. Sie hält den in seinen violetten Rock gekleideten Jesusknaben in den Armen, während sich Joseph nach rechts richtet. Von einer dorthin verschobenen goldenen Säule stürzt ein heidnisches Götzenbild herab. Über dunkelblauen Wolken steht Gottes Thron; hier hat die Marienkrönung zur Komplet (fol. 81v) bereits stattgefunden: Maria, die schon ihre goldene Krone trägt, kniet links auf dem Blau, das die Konturen ihres Mantelsaums verunklärt. Als greiser Papst mit
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Tiara segnet sie Gottvater, der auf seinem diesmal bildparallel gestellten Thron rechts sitzt. Auf einer bis zum linken Bildrand reichenden Bank vor einem ausgespannten Tuch wird die Muttergottes Platz nehmen. Ein Engel faßt sie behutsam am Oberarm, als sei sie vor Gottes Thron auf Fürbitter angewiesen. fol. 87: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße wie in Nr. 27 in einer Palastkapelle gezeigt, die ähnlich gestaltet ist wie die bereits beschriebenen Interieurs. Besonders eng verwandt ist der seitenverkehrt gegebene Tempel der Darbringung: Gerahmt ist das Bild von schlichtem Gold. Vor dem von seiner Schmalseite gezeigten Altar, der mit blauem Goldbrokat bedeckt ist, kniet David, mit einem orientalisierenden Hut auf dem Haupt, einem rosafarbenen Umhang über Blau und einem Hermelinkragen; er betet zu einer Erscheinung Gottes in einem Fenster, wobei die Anordnung an die Erscheinung in der Marienverkündigung von Nr. 27 erinnert. Anders als im dortigen Davidbild wird der König mit der Harfe erkennbar gemacht: Sie steht auf dem Altartisch am linken Bildrand. fol. 104: Die Horen eröfnen auch hier mit den bekannten Erkennungsbildern: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 104) setzt das Kreuz vor bestirnten Himmel, in dem – fast einzigartig – die Sonne zwischen der Gruppe von Maria mit Johannes und dem ihnen zugewandten Erlöser erscheint. Rechts steht der Zenturio mit einem hohen Hut; er hat keinen Gesprächspartner, sondern nur eine dichte Schar von Soldaten hinter sich, wie er erstaunt zum Gekreuzigten auf blickt. In vereinfachter Form kehrt das hier schon mehrfach gesehene Interieur beim Pfingst wunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 107v) wieder. Auf geradezu kuriose Weise wird die Disposition der Marienverkündigung wiederholt. Zwar drängt von links die Apostelschar, von Maria angeführt, kniend ins Bild; doch ihnen zugewendet kniet der Lieblingsjünger Johannes als eigentümliches Echo des Erzengels Gabriel. In einem Fenster in der rechten Seitenwand taucht die Taube dort auf, wo sich Gott gezeigt hatte. fol. 111: Das Bild mit dem Totenofzium in einer Kirche zur Toten-Vesper verdeutlicht, welche Probleme manche Buchmaler mit der Raumdarstellung hatten: Unser Maler hatte ofenbar gemeint, er könne sein Standard-Interieur einfach auf einen größeren Zusammenhang in einer Kirche übertragen. Das Thema verlangte den Altar mit dem davor abgestellten Katafalk und drei Geistliche beim Chorgesang. Rechts hinter den Chorsängern ist die Welt noch in Ordnung; denn bildparallel steht dort die Seitenwand mit drei Fenstern und einem roten Brokattuch davor. Dann nimmt der Katafalk eine gewagte Schräge und führt zum Altar, der links in einen Nebenraum ausweichen muß. fol. 142: Ein Madonnenbild und eine Gottesdarstellung eröfnen die beiden französischen Gebete am Schluß des Bandes: Ausgerechnet zu den XV Freuden Mariä wird die Pietà (fol. 142) gezeigt. Das Bild stammt aus dem Kontext des Mariengebets O intemerata; denn links taucht die recht kleine Gestalt Johannes des Evangelisten auf, der in manchen Versionen jenes Texts neben Maria der Adressat ist. Auf einem ornamental wirkenden runden Hügel sitzt die Mut-
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tergottes, ganz in Blau, jedoch mit einem weißen Schleier. Eigentümlich gewunden liegt der tote Christus auf ihrem Schoß. Sie hat die Hände zum Gebet gefügt. Gegen den Ab lauf des Karfreitags verstößt wie in der Bild-Initiale zum Obsecro te in Nr. 27 der dunkle Himmel mit Sternen; denn der Erlöser wurde ja bei Einbruch der Nacht bestattet. Die VII Klagen des Herrn eröffnen mit der gleichen von Psalm 109 abgeleiteten Dar stellung der Trinität (fol. 147v) wie in Nr. 27: Vor einem hohen Thronbaldachin, der in seiner schlanken Form die beiden Personen der Dreieinigkeit gegen die Weite des best irnten Himmels zusammenfaßt, sitzen Sohn und Vater in weißen Gewändern, von einem gemeinsamen violetten Mantel umschlossen und halten das geöffnete Buch des Lebens; zwischen ihren Stirnen schwebt die Taube des Heiligen Geistes. Christus hat ein Kreuz in der Rechten, der als Papst mit Tiara gekrönte greise Vater eine Sphaira in der Linken. Zum Stil Die meisten Miniaturen dieses Stundenbuchs arbeiten mit denselben Bildvorlagen, die auch in Nr. 27 benutzt wurden. Doch fehlen die dort entscheidenden Motive wie Mari as Gespräch über die Heilige Schrift in der Verkündigung oder der zu Boden gestürzte Apostel im Pfingstwunder. Bestimmte Vorlieben kehren wieder, sind aber anders gewich tet, so der Einsatz von Goldbrokat, der in Nr. 27 nur mit blauem Grund, hier vor allem mit rotem vorkommt. Während dabei sehr ähnlich gearbeitet wird, bleiben die Farben in der hier beschriebenen Handschrift dumpfer und trockener. Daß der verantwortliche Maler aus dem Umfeld der beiden François Le Barbier stammt, denen letztlich die Bildvorlagen verdankt sind, ist nicht weiter zu bezweifeln. Doch wird es sich eher nicht um dieselbe Hand wie in Nr. 27 handeln, sondern um einen zweiten Illuminator, der ebenfalls beim älteren Le Barbier gelernt und dann parallel zum jünge ren gearbeitet hat. Die enge Verbindung zum Maler des Polignac-Stundenbuchs wirft ein nicht leicht zu deutendes Licht auf dessen Anfänge: Die ikonographischen Bezüge zwischen den Miniaturen legen eigentlich eine Abhängigkeit der Nr. 28 von Nr. 27 nahe; dem widersprechen aber energisch die Schrift und vor allem der Schriftdekor, der in Nr. 28 sichtlich älterer Praxis verdankt ist. Ein vollständig erhaltenes Pariser Stundenbuch von einem Buchmaler, der wohl aus der Werkstatt von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren, stammt und Generationsgenosse von dessen Sohn wie auch des Polignac-Meisters gewesen sein dürfte. Durch den Einband, das Livre de raison und weitere Ergänzungen aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts ein bemerkenswertes Beispiel für die Rückbe sinnung auf Stundenbücher des ausgehenden Mittelalters in der Gegenreformation! LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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29 Das Lektionar des Nicaise Delorme von 1488-1494: ein charakteristisches Werk von François Le Barbier dem Jüngeren für die Augustiner-Chorherren von Sankt Vict or in Paris
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Lektionar für Sankt Victor in Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in kräftigem Rot, geschrieben in Textura. Paris, um 1490: (Meister des Jacques de Besançon:) François Le Barbier der Jüngere 15 Bilder, davon 13 Miniaturen als Rechtecke von sechs bis sieben Zeilen Höhe, am Sei tenanfang mit Rundbogenabschluß in der Bordüre; mit zweizeiligen blauen AkanthusInitialen auf purpurnen Flächen in vierseitigen Kompartimentbordüren; zwei vierzeilige Bild-Initialen derselben Art ohne Randschmuck. Zweizeilige Akanthus-Initialen bei Le sungen, einzeilige als Paragraphenzeichen und bei Incipit von anderswo aufzusuchenden Lesungen, abwechselnd in Blau auf Rot und umgekehrt. Versalien kalligraphisch hervorge hoben, aber nicht immer gelb laviert. 131 Blatt Pergament, vorne und hinten je ein Binio modernes Pergament, das äußere Blatt jeweils als festes Vorsatz. Gebunden in Lagen von acht Blatt, davon abweichend nur Lage 12 (8-1: das fünfte Blatt, mit Magdalena, fehlt nach fol. 92) sowie die Endlage 17 (4). Drei Seiten vor der Zäsur von fol. 81 und drei Endblätter leer. Übereinstimmende Kollationierung, signiert RF (Roland Folter, bei H. P. Kraus, New York) im hinteren Deckel. Reklamanten in derselben Schrift wie der Text unregelmäßig, regelmäßiger erst gegen Ende des Manuskripts. Folio (300 x 195 mm, Textspiegel: 204 x 127-130 mm). Rot regliert zu 15 Zeilen. Bis auf das Blatt nach fol. 92 vollständig; frisch und breitrandig erhalten. Die erste Miniatur wohl im 19. Jahrhundert ausgebessert; ein kleines Loch in der Initiale daneben. Gebunden auf fünf echte Bünde in schwarzes Maroquin des späten 19. Jahrhunderts, mit Si gnatur bound by riviere and son im vorderen Innendeckel; nur die Inhaltsangabe miss ale / rom anum // circa / 1470-80 / auf Rücken und Deckel mit floral-ornamentaler Blindprägung, Goldschnitt. Provenienz: Wohl schon vor 1490 in Auftrag gegeben von Nicaise Delorme, Abt der Augusti ner-Chorherren von Sankt Victor in Paris (1438-1516, im Amt 1488-1516), und 1494 voll endet. Später bei Bernard Quaritch (Facs. from Illuminated Manuscripts III, pl. 129); zu Robson. Von dort 1902 an Charles W. Dyson Perrins, dessen vergoldetes Leder-Exlibris und zwei Papierkleber, mit Nr. 46 (vorn), Nr. 86 (hinten); dessen Sale II, 1.12.1959, Nr. 79: £ 2.800,- an Mark Lansburgh, dessen Sale ebenda, 11.12.1961, Nr. 140: £ 2.500,- an Edwards. Sotheby’s, 6.12.1967, Nr. 61: £ 3.500,-. B. Breslauer, Cat. 109, 1988, Nr. 10: $ 225.000,-. H. P. Kraus, Cat. 188, 1991, Nr. 23: $ 375.000,-. Europäischer Privatbesitz. Text Temporale fol. 1: Dominica prima aduentus domini; es folgen die drei weiteren Sonntage des Ad vents, Vigilia natalis dni., In gallicantu, In aurora.
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fol. 8v: In die nativitatis d(omi)ni. Von den meist im Temporale um Weihnachten aufgenommenen Heiligen, die hier an den Beginn des Sanctorales versetzt sind, ist nur eine Rubrik und drei Anfangsworte zum Fest des Thomas von Canterbury übrig geblieben (Sancti thome mr., fol. 9v). Es folgen Do(mini)c(a) infra octabas, In circu(m)cisione d(omi)ni, Ad matutinas i(n) epyphania, In die D(o)m(ini)ca i(n)fra octab(as), In octabas epyphanie, Do(mini)c(a) i. post octabas, vier weitere Sonntage, D(o)m(ini)ca i(n) septuagesima, danach weitere Sonntage bis Do(mini)c(a) in ramis mit Verweis auf 1. Adventssonntag und dann Passion nach Mat thäus (fol. 27). fol. 38v: Feria v. i(n) cena d(omi)ni. (Gründonnerstag), In vigilia pasche. fol. 40v: In die pasche; es folgen Wochentage der Osterwoche und Sonntage bis zur Him melfahrt. fol. 50: In die ascensionis, D(o)m(ini)ca i(n)fra octabas ascensionis, In vigilia penthecost(is). fol. 52: In die sancto penthecoste(m), danach die Wochentage der Pfingstwoche, In die trinitatis mit Verweis auf Weihnachtst ext, In die sacramenti (Fronleichnam); danach die weiteren 25 Sonntage des Kirchenjahrs. fol. 79v-80v leer. Sanctorale fol. 81: Sancti stephani prothomartyris, In natale s(an)cti iohannis euang(e)l(ist)e, In natal(e) s(an)c(t)or(um) i(n)noce(n)t(i)u(m). fol. 83: S(an)c(t)oru(m) fabiani & sebastiani, Conversionis sancti pauli. fol. 84v: Purificatio beate marie, Cathedra sancti petri. fol. 86: In die annu(n)ciationis, Philippi et iacobi. fol. 88v: In dedicatione ecclesie, D(o)m(ini)ca infra octab(as), In die oct. fol. 90v: In die s(an)c(t)i ioh(ann)is bap(tis)te, die Apostelfeste nur mit Verweis auf die Texte zu Bekehrung Pauli und Cathedra Petri, Oktav der Apostel mit Rubrik „In die“ am Ende von fol. 92v. fol. 93: wegen des Blattverlusts fehlt vielleicht Vict or von Marseille (21.7.); das erhaltene Textende gehört zu Magdalena (22.7.). fol. 93v: Sancti iacobi ap(osto)li., Sa(n)cti petri ad vincula nur mit Verweis auf Cathedra Petri; Sancte Anne nur mit Verweis auf Weihnacht; In transfiguratione d(omin)ni, In die tra(n)slationis corone spinee. fol. 95v: In die assumptionis beate marie, nach drei leeren Zeilen und ausführlicher Ru brik auf Verso als Anfang der Seite; In decollacione sancti iohannis baptiste, In die nativitatis
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virginis marie mit Verweis auf Anna, Exaltatio sancte crucis, In die sancti mathei, Michaelis archangeli, Luce evangeliste. fol. 100v: In die o(mn)i(u)m s(an)c(t)orum, In die sancti andree, In die conceptionis sancte marie mit Verweis auf Anna, Thome apostoli. Commune sanctorum fol. 103: In vigilia vnius apostoli, danach die üblichen Texte mit Vigil und Fest nach der Hierarchie der Litanei; am Ende In inuentione vel translacione alicuius sancti (fol. 124), De angelis, De cruce, De sancta maria, T(em)p(or(e) pascali eu(a)ngeliu(m). Nachträge fol. 125v: Joh. 11,21-27 (in Schrift und Dekor ähnlich, mit dunklerer Rubrik). fol. 126v (in Sonderform der Antiqua mit roten Rubriken, späteres 16. Jh.): In festo S. Patris n(ost)ri. Augustini et aliorum doctorum, In conversione eiusdem S.Patris Augustini, In die S. Trinitinita (sic!). fol. 129 (in feiner Schreibschrift des 17. Jh.s): In Festo Inuentionis Stæ Crucis. fol. 130-131 leer. Schrift und Schriftdekor In großformiger Textura ist das Buch so geschrieben, daß es ohne Mühe im Gottesdienst gelesen werden konnte. Da die meisten Texte nur aus der roten Rubrik und einer Lesung aus den Evangelien bestehen, deren Versanfänge mit Versalien in gelber Lavierung be ginnen, beschränkt sich der Dekor im wesentlichen auf die zweizeiligen Anfangsbuch staben der Lesungen. Wo Incipits nur kurz angegeben werden, die anderswo im Buch aufzufinden sind, genügen einzeilige Initialen derselben Art. Farbwechsel von Rot mit Musterung in Pinselgold und Blau mit Weiß oder umgekehrt bestimmt diese Zierbuchstaben. Die Bilder sind meist nur außen und oben mit Goldlei sten umrandet, die bei Interieurs – wie für die ausführende Werkstatt charakteristisch – feine Maßwerk-Verhänge bilden. Beschränkung auf einen wesentlichen Farbklang macht die Stärke des Randschmucks aus, der nur bei den mit Bildfeldern versehenen Incipits eingesetzt wird: Das Prinzip der Kompartimente sorgt für die Einteilung in purpurrote und goldene Flächen; blaugolde ner Akanthus füllt die roten Flächen, Blumen die goldenen. Bildfolge fol. 1: Einzug in Jerusalem: Auf dem Esel reitet Jesus, bartlos, mit Johannes und Petrus im Gefolge; in der Bildmitte Bäume, in die Leute geklettert sind, rechts das Stadttor mit jungen Männern, die golden gehöhte Tücher vor dem Erlöser ausbreiten.
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fol. 8v: Thronende Trinität: In der Art der Bilder zum 109. Psalm sitzen in Jesu Gestalt Sohn und Vater [?] auf dem Thron, die Taube zwischen sich, über dem Buch des Lebens. fol. 38v: Letztes Abendmahl: Um einen runden Tisch sitzen die zwölf Apostel mit Je sus in der Mitte; an dessen Brust ruht Johannes, während Jesus dem Verräter Judas das Brot reicht, der am Griff danach und am leuchtend roten Geldbeutel erkennbar wird. Petrus hebt fragend die Hand, die anderen Apostel sind wie gewohnt nicht einzeln iden tifiziert. fol. 41: Ostermorgen: Kombiniert werden die östliche Tradition, die zu Ostern nur die Frauen am Grabe zeigte, und die westliche, die den Auferstandenen aus dem offenen Sar kophag steigend darstellte. Doch verdrängt die modernere westliche Szene, die eine in der Bibel nicht beschriebene Situation zeigt, das ältere Osterbild nach links in den Hin tergrund. Über der Stadt Jerusalem geht gerade die Sonne auf. Recht ungewohnt reagieren die Soldaten, die als Grabwächter eingeschlafen waren: Einer im Hintergrund hat seine Lanze ergriffen, die beiden vorn aber vollführen in ihrem Schrecken geradezu akrobatische Bewegungen. fol. 50: Himmelfahrt Christi: Unter flankierenden Bäumen knien die Scharen der Apo stel um den zylindrischen Hügel, von dem Christus in den Himmel aufgefahren ist. Des sen Füße haben deutliche Spuren im Gras hinterlassen. Dort knien einander zugewandt Maria und Johannes, während von Christus nur ein Stück des Gewandes mit den Füßen vor dem abrupt in kräftig dunkles Blau veränderten Himmel erscheint. fol. 52: Pfingstwunder: Unter einem roten Baldachin kniet Maria links und blickt an dächtig in das auf ihrem Pult aufgeschlagene Buch; Johannes kniet rechts, ihr zugewandt; die anderen drängen sich dicht dahinter. Nicht die Taube, sondern nur Flammen erschei nen unter der niedrigen Balkendecke und strahlen zu den Köpfen aus. fol. 81: Steinigung des Stephanus: In einer vierzeiligen Bild-Initiale betet der Diakon Stephanus kniend zu einer Erscheinung Gottes, während ein Mann hinter ihm Steine schleudert und ein anderer weitere Steine aufsammelt. fol. 83: Sebastians Pfeilmarter mit geistlichem Beter: An einen Baum links gebunden wendet sich der heilige Sebastian schmerzerfüllt von zwei Bogenschützen ab, die von rechts auf ihn zielen. Sie sind teilweise von einem Geistlichen am Betpult verdeckt, der mit Schwarz über Weiß die Tracht der Augustiner von Sankt Viktor in Paris trägt, die man mit dem Habit von Dominikanern verwechseln könnte. fol. 84v: Darbringung im Tempel: Der heilige Simeon, als Priester mit einer Mitra auf dem Haupt, hält bereits das Jesuskind und blickt über den Altar zur Muttergottes, die ihre Hände ebenso wie er mit weißem Tuch verhüllt hat. Zwei Männer blicken wie Wächter auf die Dienerin mit Taubenkörbchen und Kerze, Joseph, der hier keinen Nim bus trägt, und drei weibliche Heilige, die rechts knien und von der heiligen Monika, der Mutter des Ordensgründers Augustinus, angeführt werden.
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fol. 86: Marienverkündigung: In einem ganz ähnlich wie der Tempel der Darbringung konzipierten Raum, der durch zwei gotische Bögen oben rhythmisiert ist, kniet Maria links unter einer Art rundem Ziborium, wie es auch über Simeons Altar angebracht war, an ihrem Betpult. Mit goldenem Lilienzepter ist der als Diakon gekleidete Erzengel Ga briel niedergekniet. Das in weißen Buchstaben vor den Hintergrund geschriebene ave mar ia ragt hoch zur Gotteserscheinung in einem kleinen Fenster. fol. 88v: Kirchweih: Der Blick erfaßt eine einschiffige Kirche bis zur Apsis mit einem völlig ungeschmückten Altar. Links singt ein geistlicher Chor, in der Mitte liegen weiße Holzbretter, die sich kreuzen. Das Ende seiner Krümme nutzt ein Bischof, um gemein sam mit seinem Ministranten darauf Lettern zu schreiben, die jedoch keinen lesbaren Sinn ergeben. Vor der rechten Seitenwand des Kirchenraums stehen drei vornehm ge kleidete Jünglinge. Ein großer Bottich von Gregoriuswasser, also einem mit Wein, Salz und Asche versetzten Weihwasser, das vor allem zur Kirchweihe bereitet wurde, schiebt sich in den Raum. Ein Hund streunt vorn herum, vielleicht nur, weil der Maler zeigen will, wie gut er Schatten malen kann. fol. 90v: Predigt Johannes des Täufers: Ins Kamelfell gekleidet steht der Täufer vor ei nem Wäldchen, ihm zu Füßen sitzt das Lamm; er stützt sich auf ein Gestell aus Holz stäben und spricht zu Frauen und Männern, nicht weit von einer Stadt. fol. 96: Mariens Tod und Himmelfahrt: In einem Raum, der nach hinten in einem gro ßen Bogen zum Himmel geöffnet ist, steht das Sterbebett der Jungfrau Maria, mit dem Kopfende unter einem roten Baldachin links. Die Sterbende erhält von Petrus, der mit gekreuzter Stola als Liturg wirkt, Segen und Weihwasser, während Johannes ihr die Sterbekerze und einen großen goldenen Palmwedel reicht; ein dritter Apostel schwingt das weitgehend vom Bett verdeckte Weihrauchfaß. Vor dem Bett weilen drei Apostel, einer sitzt auf dem Boden, zwei knien, während die übrige Schar von rechts hinten her andringt. fol. 100v: Allerheiligenbild: In eindrucksvoller Dichte scharen sich drei Kreise von Hei ligen über einem schmalen Wolkenband um die Gotteserscheinung im Kreis der Se raphim. Einige sollten wohl durch Attribute bezeichnet werden; doch in der Mitte un ten weiß man nicht, ob neben Katharina Barbara mit dem Turm oder Magdalena mit dem Salbtopf gemeint ist. Links hinter König Ludwig von Frankreich hält Petrus ei nen Kelch; Franziskus fehlen die Stigmata; Petrus Martyr trägt das Schwarz der Bene diktiner. Stephanus ist an den Steinen, Laurentius am Rost zu erkennen; doch wie der Diakon zwischen beiden heißt, bleibt wieder unklar. Die für die Bestimmung unseres Manuskripts wichtigste Gestalt aber ist der heilige Vict or mit Fleurs-de-lis auf Blau am rechten Rand; er ist der Namensp atron des Pariser Augustinerklosters, für das der Band geschaffen wurde. fol. 103: Apostelschar: Petrus mit den Schlüsseln, Paulus mit dem Schwert und Johan nes mit dem Schlangenkelch stehen vor der Apostelschar, die sich hinter ihnen drängt, vor tiefblauem Grund in einer vierzeiligen Initiale.
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Zum Stil Ein Vergleich des Osterbildes auf fol. 41 mit der motivisch schlichteren Initiale aus ei nem heute verlorenen Chorbuch (Paris, Musée de Cluny) führt zu jenem Ausgangsp unkt, von dem aus Paul Durrieu 1896 eine Stilgruppe um Jacques de Besançon bestimmt hat, die damals noch all das umfaßte, was heute zwischen dem Meister des Jean Rolin (Nrn. 22-23), dem lange als Maître François bekannten François Le Barbier dem Älteren und dem nicht mit Jacques de Besançon selbst, sondern nur mit dem nach ihm benannten anonymen Meister, hinter dem sich François Le Barbier der Jüngere verbirgt, aufgeteilt wird. Zweifellos hat man es hier mit derselben Hand zu tun, die das schöne Clipping im Cluny-Museum geschaffen hat. In durchweg guter Qualität präsentiert sich diese Hand in unserem Manuskript. Dessen stolze Größe macht uns klar, daß auch in den Hochzeiten des persönlichen Ge betbuchs zunehmend kleinen Formats edle Bände für den liturgischen Gebrauch geschaf fen wurden. Die klare Formensprache von François Le Barbier Fils fügt sich vorzüglich in die Aufgabe, mit den Bildern durch die Feste des Kirchenjahrs zu führen. Von ganz besonderer Bedeutung ist die Bestimmung des Manuskripts für den Abt von Sankt Vic tor: Die Augustinerchorherren, die dort schon im Jahre 1113 durch Ludwig VI . ange siedelt waren, haben seit der Gründung ihrer Abtei im Buchwesen der Hauptstadt eine führende Rolle gespielt. Für Vertreter des frühesten Buchdrucks bildete ihr Kloster eine entscheidende Anlaufstelle in Paris; schließlich wurde Johann Fust aus Mainz, der auf einer Handelsreise mit Büchern von Fust und Schöffer in Paris gestorben ist, dort begra ben. Die Verhältnisse hatten sich in der Zeit gegen 1500 so weit umgekehrt, daß selbst eine solche für das monast ische Buchwesen über mehrere Jahrhunderte führende Abtei von dem nun aufblühenden weltlichen Buchwesen Zimelien wie dieses Lektionar bezog, das der seit 1488 amtierende Abt der Augustiner-Chorherren Nicaise Delorme in Auf trag gegeben hat. Mit seiner stattlichen Größe und seinem Reichtum an guten, für die Entstehungszeit charakteristischen Bildern könnte dieses Lektionar für Nicaise Delorme, Abt der Augustiner-Chorherren von Sankt Viktor in Paris, geradezu Ausgangsp unkt einer Sammlung oder doch wenigstens einer Erkundung der Pariser Buchmalerei an der Schwelle zum 16. Jahrhundert sein. Als charakteristische Arbeit vom Meister des Jacques de Besançon, in dem wir François Le Barbier den Jüngeren erkennen dür fen, vertritt es eine späte Phase der ganz pariserisch geprägten Spätgotik vor dem Einbruch der Renaissance. In seiner Bebilderung bündig, überzeugend und nobel, verkörpert der Band eine große Tradition, die um die Wende zum 16. Jahrhundert sehr selten geworden war und neuen Tendenzen Platz machen mußte. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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30 Ein Stundenbuch vom Meister des Jacques de Besançon, also François Le Barbier dem Jüngeren
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Schwarz, geschrieben in Textura. Paris, um 1480/90: François Le Barbier der Jüngere (Meister des Jacques de Besançon) 13 große Miniaturen über drei Zeilen Text mit dreizeiligen Initialen in Blau auf Ton in Ton und mit Gold dekoriertem roten Grund, in vierseitigen KompartimentBordüren, drei davon mit goldenen Kompartimenten mit Blüten auf rotem Grund mit blaugolde nem Akanthus; die übrigen mit blaugoldenen Akanthusranken auf Pergamentgrund und Blumen auf dünnem Goldgrund, zahlreichen Vögeln und Grotesken; dazu Bordürenstrei fen in Höhe des Textspiegels gleicher Art auf allen Textseiten. Kleinere Initialen in flüssigem unkonturierten Gold auf roten und blauen Flächen: zweizeilig zu Psalmen, einzeilig zu Psalmenversen, Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 156 Blatt Pergament, festesVorsatz als Doublüre mit Rahmenvergoldung, zusammen mit dem fliegenden Vorsatz aus Papier mit brauner Seide bezogen, weiterhin vorn ein fliegendes Vorsatz aus Papier, hinten aus altem Pergament. Die unregelmäßige Lagenordnung kann aufgrund der engen Bindung nicht bestimmt werden. Rot regliert zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen; die erste und letzte Zeile der Textblätter über die ganze Breite des Blattes regliert. Oktav (163 x 120 mm, Textspiegel: 88 x 64 mm), vereinzelt horizontale Reklamanten in unregelmäßiger Schrift. Komplett, farbstark und auch in den Randmalereien unbeschadet erhalten. Schwarzer Samtband über Holzdeckeln mit einer Schließe, Goldschnitt. Der frühere, völlig zerstörte und deshalb hier ersetzte Einband wurde wohl zwischen 17801820 für die Sammlung der Earls of Harewood angefertigt, womöglich für Henry Lascelles, 2nd Earl of Harewood (1767-1841); allerdings enthält das Manuskript keine Besitzeinträge. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache; nicht jeder Tag besetzt: einfache Heiligentage in Braun, Feste in zwei unterschiedlichen Rottönen. Die Heiligenauswahl nicht leicht zu bestimmen, aber selbst wenn Genovefa unerwähnt bleibt, mit Pariser Patronen wie Marcellus, Opportuna und Dionysius; die Orthographie stark dialektal gefärbt; am 16.12. „O sapientia“. fol. 13: Marienofzium für den Gebrauch von Paris, mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 13), Laudes (fol. 24), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 35v) und Heilig Geist (fol. 37), Marien-Prim (fol. 38v), Terz (fol. 45), Sext (fol. 49v), Non (fol. 54), Vesper (fol. 58), Komplet (fol. 62).
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fol. 69: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 81), von Pariser Prägung mit den Heiligen Gervasius und Prothasius sowie Dionysius. fol. 87: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris. fol. 118: Johannesperikope als Sufragium. fol. 120: Mariengebet Obsecro te, für einen Mann redigiert. fol. 125: Französisches Gebet: Doulce dame, gefolgt von weiteren Perikopen: Lukas (fol. 130v) zur Marienverkündigung, ohne Rubrik, Matthäus (fol. 132), ohne Rubrik, Markus (fol. 133v), ohne Rubrik. fol. 134v: Passio Christi nach Johannes. fol. 136v: Herrengebete, mit französischen Rubriken: Domine Ihesu xpe qui hanc sacratissimam carnem… (fol. 136v), Anima xpi sancissima sancifica me (fol. 137), O bone ihesu (fol. 138). fol. 139v: Suffragien: Michael (fol. 139v), Johannes der Täufer (fol. 140), Petrus und Paulus (fol. 140v), Andreas (fol. 141), Katharina (fol. 141v), Margarete (fol. 142), Magdalena (fol. 142v). fol. 143: verschiedene Mariengebete: Gaude virgo (fol. 143), Deus qui beatissimam virginem mariam (fol. 143v), Salve regina (fol. 144); O intemerata (fol. 144v). fol. 148: Herrengebete: Doulx dieu, gefolgt vom kurzen Gebet Sainte vraye crois aouree qui du corps dieu fus aournee. Et de la sueur arousee… (fol. 151v). fol. 152: Gebet an den heiligen Franziskus: Salve p(ate)r patrie lux forma minorum…, gefolgt von einem Mariengebet Tres certaine esperance et defenderesse et dame de tous ceulx qui attendent… (fol. 152v). Vorsatz hinten (fol. 153): im 16. Jahrhundert nachgetragenes Gebet Vexilla Regis. Schrift und Schriftdekor Die eng gesetzten, recht steilen Buchstaben stehen in guter Tradition der Textura, die sich noch eine Weile für Stundenbücher und nicht nur für Liturgica wie unsere Nr. 29 behauptet hat. Während der Schreiber der gotischen Grundkonzeption dieser Schrift treu bleibt, sind die Initialen sehr viel fortschrittlicher als in unserer Nr. 31; denn der Flächen- und Akanthusdekor wird nicht mit Blattgold und harten Tintenkonturen, sondern flüssig mit dem Pinsel herausgearbeitet. Damit löst man sich von einer Tradition, die bis in die Anfangsjahre des 15. Jahrhunderts in Frankreich zurückreicht. Der von schlichten roten Linien konturierte Randdekor mit Kompartimenten auf Pergament- oder der mit schwarzen Konturen umrissene Goldgrund ist fast überall im Manuskript einheitlich. Er kennt nur die Vollbordüre für Bildseiten und den Randstreifen in Höhe des Textspiegels im normalen Textverlauf; doch sind drei Incipits, die Marien-
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Matutin, die Bußpsalmen und – ungewöhnlicher Weise – auch das Toten-Ofzium mit roten und goldenen Kompartimenten umgeben. Sonst sorgt der Umstand, daß Akanthus grundsätzlich blau-golden ist, dafür, daß Akanthus auf Pergamentgrund, Blumen aber auf mattem Pinselgoldgrund liegen. Tiere dienen der Belebung. Es gibt keine kleinen Miniaturen im Textspiegel oder in Bordüren. Bei den großen Miniaturen genügen einfache rote Grenzlinien; Interieurs erhalten recht breite Goldränder nur in der Senkrechte, die unterhalb des Bogens mit kleineren Bögen und Maßwerkformen spielen. Unter ihnen gibt es besagte hierarchische Stafelung, die wie gewohnt die Marien-Matutin und den Beginn der Bußpsalmen sowie die Toten-Vesper hervorhebt. Bildfolge fol. 13: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen stehen in der Tradition der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier; sie sind im kühleren Kolorit des Sohnes gehalten: Die Matutin eröfnet mit der Verkündigung (fol. 13): Von goldenen Säulen gerahmt, die einen Bogen tragen, findet die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel in einem Palastraum statt; ein rotes Ehrentuch und ein runder Baldachin, außen rot, innen grün, wie er über Altären zu finden ist, zeichnen die Jungfrau aus. Fensterlos ist die recht schmale bildparallele Rückwand mit einem hellgrünen vertieften Steinspiegel gegliedert; rechts ist die Wand, durch die der Engel gekommen sein müßte, geschlossen; darüber zeigt sich der greise Gottvater vor Himmelblau. Marias hölzernes Betpult, das mit Maßwerk verziert ist, setzt mit der Schmalseite an der vorderen Bildfläche an. Maria blickt von ihrem geöfneten Buch zum Erzengel, dessen Haupt niedriger als ihres erscheint. Gabriel, der in der Linken ein dünnes Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung hinter sich; in großer goldener Textura steigt das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes aber schwebt winzig dem Ave voraus. Maria ist ganz in Blau gekleidet, der Engel als Diakon in eine violette Dalmatika; nur sie ist mit Gold gehöht; senfgelb sind seine Flügel. In der bis zum Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 24) vor einer nach rechts abfallenden Hügellinie. Von hier ist Maria mit dem greisen Joseph, der zum Gruß seinen Hut zieht, übers Gebirge gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen. Meist tritt sie aus dem stattlichen Haus des Zacharias, hier aber sieht es so aus, als habe sie ein Stadttor verlassen. Die betagte Frau streckt beide Hände zum Leib der Jungfrau aus. In Violett und ein leicht bräunliches Rot sind der Ziehvater und die Base gekleidet; diese mit Gold gehöhten Farben rahmen das reine Blau Marias. Ein kräftigeres Rot für Beinkleider und Hut kommt bei Joseph hinzu, während Elisabeth eine schwarze Haube und schwarze Schuhe trägt. fol. 35v: Die Erkennungsbilder zu den Horen unterbrechen den Kindheitszyklus: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 35v) setzt das Kreuz geradezu in einen Weg, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt; an Jerusalem ist nicht gedacht;
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denn links oben bekrönt eine Burg die Landschaft. Die oberen Ecken des Querbalkens berühren fast den Bogenabschluß der Miniatur. Maria, Johannes und eine von beiden fast ganz verdeckte zweite Frau stehen links; ohne erkennbaren Zenturio drängen links die Soldaten, durchweg jüngeren Alters; einer von ihnen hat seinen plastisch als Fratze modellierten gelben Schild neben sich auf den Boden gestellt. Das Pfingstwunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 37) spielt nahezu in demselben Interieur wie die Verkündigung: Links kniet die Muttergottes mit verhüllten Haaren vor dem Ehrentuch unter dem runden Baldachin und vor ihrem Betpult. Doch ist das Holzgewölbe um 90 Grad gedreht, so daß die Wand mit der Bogenöfnung zum Himmel nun in die Bildtiefe gerückt ist. Wie der Erzengel Gabriel bewegt sich der Lieblingsjünger Johannes von rechts auf Maria zu, sinkt ins Knie und führt die Schar der, wie an den Nimben abzulesen, elf Apostel an, die mit Petrus als zweitem Anführer der Jungfrau Maria gegenübergestellt sind. Statt die Taube erscheinen zu lassen, begnügt sich der Buchmaler mit Flammen, die durch das Fenster in den Raum strahlen, nicht aber über den einzelnen Köpfen aufflammen. Wie bei den Le Barbier gewohnt, ist das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 38v) eingerichtet: Vor dem Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einem bildparallelen Flechtzaun, diesmal aber nicht zu einer niedrigen Mauer führt, kniet Maria. Den ganz unbewegten nackten Knaben hat sie auf ein rechteckiges weißes Tuch gelegt; dieses Motiv läßt an Altartücher denken, auf die der Leib Christi in Form der Hostie abgelegt wird. Joseph kniet in ähnlicher Haltung wie Maria, parallel zu ihr, die Hände zum Gebet gefügt. Der Ochse hockt links neben der Muttergottes, der Esel hingegen zwischen ihr und dem Ziehvater. Der Ausblick nach rechts hinten führt hinter einem runden Hügel zu einer Stadt. Von jugendlicher Heiterkeit zeugt die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 45): Nur junge Leute lauschen dem Engel, der aus einer tief blauen Wolke eine ofenbar sehr ausführliche Botschaft verkündet, die unlesbar auf zwei Zeilen eines langen Spruchbandes steht. Mit kräftig roten Flügeln und gelbem Gewand vor dem Blau bringt die Erscheinung einen starken Farbakkord ins Bild, der in blauen Hirtentaschen und rotem Beinkleid nachklingt, auch wenn die Hirten in zurückhaltend gefärbte Kleider gehüllt sind. Hauptfigur ist eine junge Frau, die einen Blütenkranz flicht. Die Herde verteilt sich in zwei Ebenen hinter ihnen, wobei die meisten Schafe entfernt auf einer Anhöhe grasen. Rechts liegt eine sehr diferenziert dargestellte Stadt. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 49v) wird der Stall aus dem Weihnachtsbild ebenso wie der Blick auf die Stadt rechts hinten wiederholt; doch ist der Flechtzaun nun durch eine solide Mauer ersetzt. Joseph und die beiden Tiere fehlen. Maria sitzt mit dem nackten Knaben auf dem Schoß, der sich von ihr wegdreht, um in die vom ältesten König dargebotene Schatzkiste zu greifen. Hinter diesem steht der mittlere, mit einer Art Monstranz in der Rechten; sehr elegant wirkt der bartlose jüngste König. Goldene Strahlen gehen vom Stern aus, der unter dem Bogen erstrahlt.
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Wie in der Marienverkündigung und im Pfingstbild schmückt ein runder Baldachin den Raum der Darbringung zur Non (fol. 54), nun über dem Altar links. Simeon, durch einen Nimbus als Heiliger kenntlich, hält den nackten Jesusknaben auf einem Tuch in den Händen. Rechts kniet Maria vor dem Altar, gefolgt von einer Frau mit dem Taubenopfer; wegen deren modischer Haube könnte man meinen, eine junge Dame, für die das Buch bestimmt war, sei in die Rolle dieser Dienerin der Muttergottes geschlüpft. Im Gegensinn zur Landschaft der Heimsuchung steigt bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 58) das Gelände nach rechts an; die turmreiche Stadt liegt nun links hinten. Von einer goldenen Säule stürzt in der Bildmitte ein heidnisches Götzenbild herab. Gefolgt von einer Magd mit weißer Schürze, die einen Korb mit Essen auf dem Kopf mit der Rechten festhält und eine Flasche in Flechtwerk mit der Linken trägt, reitet Maria auf dem Esel. Sie hält den betenden, in einen rotgoldenen Rock gekleideten Jesusknaben auf dem Schoß in den Armen, während Joseph, auf einen Stock gestützt, mühsam voranschreitet. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 62) steht Gottes Thron links vor einem Bogen, der an das Interieur der Verkündigung erinnert. Mit Christi Zügen thront vor einem grünen Ehrentuch Gott als Papst in Chormantel und der Tiara auf dem Haupt. Maria kniet rechts über silbern modellierten hellblauen Wolken. Ein von rechts hereinschwebender Engel bringt die Krone. Bildparallel wartet eine Bank mit einem Kissen auf die jugendlich gezeig te Muttergottes. Über deren mit Maßwerk dekorierter Rückenlehne drängen feurige Seraphim und geben dem Bild den entscheidenden Farbakzent, zu dem die vielen warmen Töne des Holzes und der Gewandung der Gottheit passen. fol. 69: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße im mit Bücherregal und Drehpult ausgestatteten Arbeitszimmer des auch als Autor berühmten Königs gezeigt; es ist ähnlich gestaltet wie die bereits beschriebenen Interieurs. Besonders eng verwandt ist der Tempelraum der Darbringung: Gerahmt ist das Bild von Säulen und einem Bogen in Gold. Statt des Altars steht links ein nackter Holzkasten, ebenso von der Schmalseite her gesehen. Darauf hat David seine Harfe neben einer roten Tafel abgestellt, die an die Gesetzestafeln gemahnt. Davor kniet David, mit einem Pelzhut auf dem Haupt, und betet zu einer Erscheinung Christi in einem Fenster, die sehr viel sprechender wirkt als der greise Gott in der Marienverkündigung. fol. 87: Totengedenken auf dem Friedhof zur Toten-Vesper: Vor einem aus zwei Flügeln eines Karners gebildeten Raumeckmotiv stehen rote Friedhofskreuze und Grabtumben. Ein Franziskaner und hinter ihm ein Dominikaner knien neben einem mit einem Gisant versehenen Grab eines Bischofs. Ihnen schließt sich ein junger Laie an, während eine Frau weiter hinten zu einem Friedhofskreuz gewendet ist. Aus den Laubengängen des Karners blicken Leute herüber. fol. 148: Die VII Klagen des Herrn eröfnen mit der von Psalm 109 geprägten Darstellung der Trinität: Vor feurigen Seraphim, die den ganzen Fond bilden, steht der mit Maßwerk dekorierte steinerne Thron, auf dem Sohn und Vater, beide mit Jesu Gesichts-
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zügen, in weißen Gewändern, von einem rosafarbenem Mantel umschlossen sitzen und das geöffnete Buch des Lebens halten; zwischen ihnen hat sich die Taube des Heiligen Geistes auf dem Mantel niedergelassen. Christus hat sein Kreuz aufgerichtet in der Rech ten, die zweite Gottesgestalt hält eine Sphaira in der Linken. fol. 152: Einem aus der allgemeinen Ikonographie geläufigen Schema folgt die Stigma tisation des heiligen Franziskus zu dem vermutlich als Nachtrag zu verstehenden Fran ziskusgebet: Vorn sinkt der Heilige ins Knie, weil ihm von links oben das mit drei Sera phim verbundene Kreuz (ohne eine Darstellung Jesu) erscheint und die blutroten Linien zur Stigmatisation aussendet. Am Fuß des Hügels, der nach rechts oben zu einer Ein siedelei ansteigt, hockt der Franziskanerbruder, den die Berichte von dem Ereignis er wähnen und schaut, ohne etwas zu bemerken, ins Leere. Zum Stil Der Gesamtcharakter der Handschrift mit ihren Kompartiment-Bordüren verrät den Stil jenes Malers, von dem aus Paul Durrieu 1896 eine Stilgruppe um Jacques de Besan çon bestimmt hat. Den Stand der Kenntnis haben Avril und Reynaud 1993, S. 256-262, schlüssig dokumentiert. Sterling (II , 1990, S. 216-217) ist auf den Eigennamen Jacques de Besançon zurückgekommen. Doch können wir seit Deldicque 2014 sicher sein, daß François Le Barbier der Jüngere jener Maler war, der in der Nachfolge des Buchmalers, den man bisher als Maître François kannte, eine hohe Kultur spätgotischer Formen in Paris lebendig gehalten hat. Alle Miniaturen in unserem Stundenbuch folgen dem Vor lagenschatz, den dieser bereits von seinem Vater geerbt hatte. Kolorit und Malweise las sen an der Zuschreibung keinen Zweifel. Komplett erhalten, bietet das Manuskript ein sehr einheitliches Bild von der noch entschieden spätgotischen Pariser Buchkultur des späten 15. Jahrhunderts, für die Maître François und der Meister des Jacques de Besançon, als Vater und Sohn Fran çois Le Barbier, stehen: Während die Schrift noch ganz der Pariser Tradition ver pflichtet ist, wird der Schriftdekor fortschrittlicher gestaltet. Mit Bildern, die noch einmal die Präzision und Zartheit des ausgehenden Mittelalters verkörpern und je nen eher konservativen Trend behaupten, der in der Pariser Buchkultur immer wie der erstaunt, ist dieser Kodex wundervoll evident ausgestattet. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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31 Ein Stundenbuch von François Le Barbier dem Jüngeren mit Miniaturen im Stil des GothaStundenbuchs und einem Kalender im Stil der Chronique Scandaleuse aus den Sammlungen Duc de la Vallière Le Noir und W. Sneyd
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Blau, Festtage in Gold, in Textura, mit beigebundenen gedruckten Texten der Mitte des 16. Jahrhunderts. Paris, um 1480: François Le Barbier der Jüngere (Meister des Jacques de Besançon), als Hauptmaler, mit Kleinbildern im Stil des GothaStundenbuchs und einem Ka lender im Stil der Chronique Scandaleuse Insgesamt 56 Bilder: 15 große Kopf bilder über vier Zeilen Text mit dreizeiligen Dorn blattInitialen in Vollbordüren mit Kompartimenten, belebt von Grotesken, Vögeln und Insekten: auf Pinselgold Blumen, auf Pergamentgrund blaugoldener Akanthus; der ge samte übrige Randschmuck ebenfalls in dieser Art. 17 quadratische Miniaturen von sie ben Zeilen Höhe im Textspiegel mit dreiseitigen Bordürenklammern von außen. 24 Ka lenderbilder, sieben Zeilen hoch, in Bordürenstreifen außen. Bordürenstreifen auf jeder Textseite. Psalmenanfänge mit zweizeiligen Dornblatt-Initialen. Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 184 Blatt Pergament und 38 Blatt Papier, vorne 5 und hinten 6 fliegende Vorsätze sowie feste Vorsätze vorn und hinten aus Papier. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend der Kalender; eine Kollationierung des Textblocks ist nicht möglich. Vollständig erhalten. Rot regliert zu 17 Zeilen im Text und im Kalender. Oktav (165 x 108 mm, Textspiegel: 95 x 67 mm). Dunkelolivgrüner Maroquinband des 16. Jahrhunderts auf flachen Rücken, dieser in doppeltem Filetenrahmen mit Lorbeerzweigen, Deckel in ebensolcher Bordüre, im Zentrum großes Rautenornament aus Lorbeerzweigen und floralen Stempeln, Goldschnitt. Provenienz: Eintragung im Innendeckel: „2. 84“ 7 chez le Duc de la Valière / achetté par moi / Le noir“. Das Manuskript wurde als Nr. 322 der berühmten Sammlung des Duc de la Vallière am 7.2.1784 für 19 livres 19 sous an Herrn Le Noir verkauft. Dieser ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Jean-Charles-Pierre Le Noir (1732-1807), Staatsrat und „Lieutenant de police de Paris“, ein bedeutender Büchersammler seiner Zeit, vgl. Guigard II, Sp. 309-311. Später bei Sir Walter Sneyd, siehe die Auktion Sotheby’s 18.5.1902, Nr. 587 (Sammellot). Zuletzt europäischer Privatbesitz. Text fol. 1: Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe A als Kompartiment-Initiale in Gold, S in der Farbe des Heiligennamens.
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Die Schreibweise dialektal gefärbt; die Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa (3.1.), Leonus und Ägidius (1.9.), Dionysius (9.10.), Marcellus (3.11.). fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 17v). fol. 18v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 18v), O intemerata (fol. 22v). fol. 26: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 26), Laudes (fol. 49), Prim (fol. 60), Terz (fol. 66), Sext (fol. 71), Non (fol. 75), Vesper (fol. 79), Komplet (fol. 86). fol. 91: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 103), darunter für Paris charakteristisch Gervasius und Prothasius und Genovefa, aber auch mit Leobin von Chartres. fol. 109: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 109) und Heilig Geist (fol. 116). fol. 127: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris. fol. 167: Französische Gebete: XV Freuden Mariä: Doulce dame, gefolgt von VII Klagen des Herrn: Doulx dieu (fol. 173). fol. 176v: Suffragien: Michael (fol. 176v), Johannes der Täufer (fol. 177), Jakobus der Ältere (fol. 177v), Christophorus (fol. 178), Laurentius (fol. 179), Sebastian (fol. 179v), Nikolaus (fol. 180), Antonius (fol. 180v), Katharina (fol. 181v), Barbara (fol. 182), Margarete (fol. 182v), Apollonia (fol. 183). fol. 183v: Textende des Manuskripts. fol. aai-Biiii (Bl. 185 im gesamten Buchblock): spätere Hinzufügung der gedruckten Commendationes defuncorum ofcium singulare et devotum, die dem Totengedenken dienen, sowie ab Bl. Ai Gebete zur Vorbereitung auf den Empfang des Sakraments (Kolophon: Imprimé à Paris par Joland Bonhomme demourant en la rue Saint Jacques à la licorne M.D.lvij), 1557. Danach ein weiterer gedruckter Text: fol. Ai-Biiii (Bl. 211 im gesamten Buchblock): Les quinze oraisons S. Brigide. La premiere oraison: O tresdoulx Jesus eternelle doulceur de ceulx qui ayment iubilation… (ohne Kolophon), dazu auf Bl. A(v) zu Oraison de saince Barbe eine kleine Graphik mit der Enthauptung der hl. Barbara vom Meister der Apokalypsenrose. Schrift und Schriftdekor Textura behauptet sich in der Entstehungszeit außer in echten Liturgica wie unserer Nr. 29 noch für Stundenbücher. In dem hier beschriebenen Manuskript wirken ihre Buchstaben gedrungen, nicht sehr stark stilisiert, und lassen somit die gotische Grundkonzeption dieser Schrift zunehmend außer Acht. Die Initialen in Flächen- und Dornblattdekor stellen den Text in eine gute Tradition, die bis in die Anfangsjahre des 15. Jahrhunderts in Frankreich zurückreicht.
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Der von schlichten roten Linien konturierte Randdekor mit Kompartimenten auf Pergament- oder mit schwarzen Konturen umrissenem Goldgrund ist überall im Manuskript einheitlich und nur von seiner Ausdehnung her der Hierarchie der Incipits verpflichtet. Der Umstand, daß Akanthus grundsätzlich blau-golden ist, führt dazu, daß Akanthus auf Pergamentgrund, Blumen aber auf mattem Pinselgoldgrund liegen. Die Kompartimente folgen auf Recto und Verso desselben Blatts in der Regel einem einheitlichen Entwurf. Tiere sorgen für Belebung, besonders aufällig ist der mit einer goldenen Leine festgehaltene Bär im Randschmuck der Darbringung, wo die goldfarbenen Kompartimente als Herzen geformt sind. Die Eule bei der Hirtenverkündigung mag darauf verweisen, daß das Ereignis bei Nacht stattgefunden hat. Die kleinen Miniaturen im Textspiegel sind mit sehr schmalen roten Rahmen umgeben, die mittig mit Gold gehöht werden. Bei den großen Miniaturen genügen hingegen einfache rote Grenzlinien; Interieurs erhalten recht breite Goldränder nur in der Senkrechte, die unterhalb des Bogens mit kleineren Bögen und Maßwerkformen spielen. Unter ihnen gibt es keine hierarchische Stafelung, die beispielsweise die Marien-Matutin und den Beginn der Bußpsalmen hervorhöbe. Bildfolge fol. 1: Sieben Zeilen hohe Bilder sind in den Bordürenstreifen auf dem äußeren Rand untergebracht; so kann man auf den Recto-Seiten die Monatsbilder und auf den VersoSeiten die Tierkreiszeichen im Jahreslauf verfolgen: Besonders reizvoll ist der Bildausschnitt im Januar: Man blickt dem wohlhabenden Mann beim Speisen geradezu über die Schulter auf den Eßtisch und die im Kamin lodernde Flamme. Der Wassermann ist ein nackter Knabe in der Landschaft. Ein Reicher am Kamin bezeichnet den Februar. Zwei Fische tummeln sich über dem Wasser und unter dem Himmel. Beschneiden der Weinstöcke gehört zum März. Der schneeweiße Widder wird brillant ausgeleuchtet und schattiert. Ein Mädchen mit ofenem Haar flicht einen Blumenkranz im April. Der Stier tritt am Waldesrand ins Freie. Zum Liebespaar im Mai gehört das Mädchen aus dem April. Als nacktes Liebespaar tauchen die Zwillinge auf. Juni ist Heumonat; also beugt sich ein Schnitter über das hohe Gras. Rot liegt der Krebs auf blauem Wasser. Bei der Kornmahd im Juli stehen die hohen Garben schon. Der Löwe wirkt vor dunkler Mauer wie ein heraldisches Bild. Zum Dreschen im August liegen die Garben in der Scheune. Die Jung frau vor einer Mauer hält einen Palmzweig. Die Weinkelter gehört zum September. Eine Magd mit weißer Schürze, gleichsam eine heilige Martha, hält die Waage. Der Sämann im Oktober wirkt, als wolle er auf einen Feldweg seine Saat streuen. Der Skorpion ist ein schwarzes Krustentier auf der Wiese. Der Schweinehirt im November schlägt Eicheln für seine Herde ab. Als Kentauren hat man oft den Schützen dargestellt. Schweineschlachten ist für den Dezember charakteristisch. Aus einem roten Ammonshorn tauchen Kopf und Vorderteil vom Steinbock auf. fol. 13: Alle vier Perikopen erhalten ein sogenanntes Evangelistenporträt; nur Johannes auf Patmos (fol. 13) gesteht man eine große Miniatur zu: Auf dem runden Eiland, das
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sich mit Felsrand über dem Wasser erhebt, sitzt der jugendliche Autor und wendet sich nach links, wo der Adler, sein Attributswesen, das Schreibzeug hält. Die Miniatur beweist die Landschaftskunst der Le Barbier. Quadratische Kleinbilder von 7 Zeilen Höhe nehmen die anderen Evangelisten auf: Lukas mit dem Stier (fol. 14v), Matthäus mit dem Engel, zu dem er sich umdreht (fol. 16), und Markus mit dem Löwen (fol. 17v). fol. 18v: Auch die beiden Mariengebete sind durch entsprechend bemessene Kleinbilder aufndbar gemacht; dabei folgt man einem bewährten Schema: Zum Obsecro te zeigt man thronend Maria mit Kind (fol. 18v), zum O intemerata hingegen die Beweinung un ter dem Kreuz (fol. 22v). fol. 26: Das MarienOfzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen stehen in der Tradition der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier; sie sind im kühleren Kolorit des Sohnes gehalten: Die Matutin eröfnet mit der Verkündigung (fol. 26): Von einem Goldrand gerahmt, der im oberen Abschluß zu einem doppelten Bogen mit Maßwerk wird, findet die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel in einem Palastraum statt; ein rotes Ehrentuch zeichnet die Jungfrau aus. In einem Fenster in der bildparallelen Wand vor dem blauen Himmel erscheint Gott in Jesu Gestalt. Von seinem Leib oder sogar von der Sphaira gehen goldene Strahlen aus, auf denen die Taube ins Gemach schwebt. Im Raumeckmotiv wird auf die Wand rechts, durch die der Engel gekommen sein müßte, verzichtet. Marias hölzernes Betpult, das mit Maßwerk verziert ist, setzt mit der Schmalseite an der vorderen Bildfläche an. Maria kniet und blickt mit fassungslos erhobenen Händen von ihrem geöfneten Buch zum Erzengel, dessen Haupt niedriger als ihres erscheint. Gabriel, der in der Linken ein Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung über sich; in weißer Textura steigt das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes schwebt dem Ave voraus. Maria ist ganz in Blau gekleidet, der Engel als Diakon in eine violette Dalmatika; beide sind mit Gold gehöht; mit Rot modelliert sind seine goldenen Flügel. In der auf den Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 49) vor einem Hügel. Maria ist mit dem greisen Joseph, der barhäuptig ist und die Hände verbirgt, gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen, mit dem stattlichen Haus des Zacharias hinter sich. Die betagte Frau streckt beide Hände betend aus. In Rosa und Violett ist der Ziehvater gekleidet, in einen Goldton die Base; beider mit Gold gehöhten Farben rahmen das reine Blau Marias. Wie bei den Le Barbier gewohnt, ist das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 60) eingerichtet: Vor dem Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einer rissigen bildparallelen Mauer führt, kniet Maria links. Den nackten Knaben, der mit dem rechten Zeigefinger auf seinen Mund zeigt, hat sie auf ein rechteckiges weißes Tuch gelegt; dieses Motiv läßt an Altartücher denken, auf die der Leib Christi in Form der Hostie abgelegt wird. Joseph kniet ein Stück im Raum zurückgesetzt, mit zum Gebet gefalteten Händen. Der Ochse hockt links hinter der
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Muttergottes und schaut nach links, der Esel hingegen rechts und blickt zu Maria und Joseph. Der Ausblick nach rechts hinten führt auf eine schlichte Wiese. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 66) ist nahräumiger konzipiert: Zwei junge Männer, dieselben wie in Nr. 30, nun ohne die Hirtin, lauschen dem Engel, der aus einer hellen Wolke das gut lesbare Gloria mit einem Spruchband verkündet. Auf starke Farben ist verzichtet, weil die Hirten in zurückhaltend gefärbte Kleider gehüllt sind. Die Herde drängt sich hinter ihnen. Nur eine weit entfernte Burg zeugt von Behausung. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 71) wird der Stall aus dem Weihnachtsbild ebenso wie der Blick auf Wiesen rechts hinten wiederholt. Joseph und die beiden Tiere fehlen. Maria sitzt mit dem nackten Knaben auf dem Schoß, der auf ihren Knien steht, um in die vom ältesten König dargebotene Schatzkiste zu greifen. Hinter diesem steht der mittlere; eleganter wirkt der bartlose jüngste König. Goldene Strahlen gehen vom Stern aus, der unter dem Bogen erstrahlt. Wie in der Marienverkündigung wird der Raum der Darbringung zur Non (fol. 75) von goldenen Leisten, die sich zu Bögen fügen, gerahmt; diesmal mit gestafelter dreiteiliger Form. Hinter dem Altar links steht Simeon ohne Nimbus; mit bloßen Händen faßt er den nackten Jesusknaben, der zu dem Tuch strebt, das die Mutter hält. Rechts kniet Maria vor dem Altar, gefolgt von einer recht jungen Frau mit einer sehr hohen brennenden Kerze und dem Taubenopfer. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 79) steigt das Gelände nach rechts an; eine turmreiche Stadt liegt links hinten. Von einer dicken weißen Säule in der Bildmitte stürzt der braungoldene Götze herab, als sei er lebendig. Maria auf dem Esel hält den mit ihr sprechenden, in einen rotgoldenen Rock gekleideten Jesusknaben auf dem Schoß, während Joseph auf einen Stock gestützt, rüstig voranschreitet. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 86) steht Gottes Thron links vor einem rosafarbenen Ehrentuch, dessen rechteckige Rahmung an das Interieur der Verkündigung erinnert. Mit Christi Zügen und in dessen Rock, ohne Krone, thront Gott. Maria kniet rechts über silbern modellierten hellblauen Wolken. Bildparallel wartet eine Bank mit einem Kissen auf die jugendlich gezeigte Muttergottes. Ein Engel beugt sich von rechts darüber und bringt die Krone. Über der mit Maßwerk dekorierten Rückenlehne drängen feurige Seraphim und geben dem Bild den entscheidenden Farbakzent, zu dem die vielen warmen Töne des Holzes und des violetten Rocks Jesu passen. fol. 91: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße in einem Raum gezeigt, der engstens mit dem Tempel der Darbringung verwandt ist und ebenfalls von einem gestafelt dreiteiligen Bogen bekrönt ist. Links steht wie ein Altar eine Holztruhe mit einem rundbogigen Bild von Moses mit den Gesetzestafeln. Seine Harfe hat der König in einem Futteral an der bildparallelen Seitenwand abgestellt. So kniet David, der die Krone auf dem Haupt trägt, aber seinen mit Hermelin gefütterten Kronhut neben dem Mosesbild abgelegt
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hat, und betet zu einer Erscheinung Christi in einem Fenster, die genauso wirkt wie in der Marienverkündigung. fol. 109: Die gewohnten Erkennungsbilder eröfnen die Horen: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 109) setzt das Kreuz geradezu in einen Weg, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt; an Jerusalem ist in der reinen Landschaft nicht gedacht. Die oberen Ecken des Querbalkens sind vom Bogenabschluß der Miniatur leicht beschnitten. Maria, Johannes und mehrere von beiden fast ganz verdeckte Frauen stehen links; ohne erkennbaren Zenturio drängen rechts die Soldaten, durchweg jüngeren Alters; einer von ihnen hat seinen modellierten roten Schild neben sich auf den Boden gestellt. Das Pfingstwunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 116) spielt nahezu in demselben Interieur wie die Verkündigung: Links kniet die Muttergottes mit verhüllten Haaren vor dem Ehrentuch vor ihrem Betpult. Die Wände sind geschlossen. Wie der Erzengel Gabriel bewegt sich der Lieblingsjünger Johannes von rechts auf Maria zu, sinkt ins Knie und führt die Schar der Apostel an, die mit Petrus als zweitem Anführer der Jungfrau Maria gegenübergestellt sind. Statt die Taube erscheinen zu lassen, begnügt sich der Buchmaler mit Flammen, die sich im Raum verteilen, nicht aber über den einzelnen Köpfen aufleuchten. fol. 127: Das Begräbnis auf dem Friedhof zur Toten-Vesper spielt vor der Abschlußmauer auf einer Wiese, die durch ein rotes Kreuz als Friedhof bezeichnet ist und von einem zentralen Baum bestimmt ist: Der für das Bild ausgewählte Moment wird sonst kaum, aber auch in unserer Nr. 27, dort sogar sehr ähnlich, dargestellt: Vorn ist ein Grab ausgehoben; der in weißes Leinen eingenähte Leichnam liegt bereits darin; während ein Totengräber Erde über ihn schaufelt, sprengt ein Priester Weihwasser; er führt die Geistlichen an, die ofenbar aus der Kapelle rechts hinten getreten sind. fol. 167: Wie gewohnt sind die französischen Gebetsfolgen mit jeweils einem Bild ausgestattet: Die XV Freuden eröfnen mit einer Darstellung der thronenden Madonna mit musizierendem Engel: Schauplatz ist der schon von der Verkündigung vertraute Raum mit dem doppelten Bogen. Das Betpult ist weggeräumt; nun sitzt Maria vor dem Ehrentuch; auf ihren Knien steht der in den rotgoldenen Rock gekleidete Jesusknabe; ein Engel in Dalmatika bläst eine sehr lange Posaune. fol. 173: Die VII Klagen des Herrn eröfnen mit der von Psalm 109 geprägten Darstellung der Trinität: Über einer Wolkenbank und vor feurigen Seraphim, die den ganzen Fond bilden, steht der mit Tuch verhängte Thron, auf dem Sohn und Vater, beide mit Jesu Gesichtszügen, in weißen Gewändern, von einem rosafarbenem Mantel umschlossen, sitzen und das geöfnete Buch des Lebens halten; zwischen ihnen hat sich die Taube des Heiligen Geistes auf dem Mantel niedergelassen. Christus hat kein Kreuz, die zweite Gottesgestalt hält eine Sphaira in der Linken; sie sind einander im Gespräch zugewandt.
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fol 176v: Kleinbilder eröfnen die Sufragien: Michaels Drachenkampf (fol. 176v) findet vor recht niedrigem Horizont in flacher Wiesenlandschaft statt, erstaunlich bewegt in brillanter Farbigkeit, ofenbar eine gute Miniatur von François Le Barbier dem Jüngeren. Johannes der Täufer (fol. 177) steht vor einem Wäldchen und weist mit der Rechten auf das Lamm, das auf seinem Buch Platz genommen hat. Jakobus (fol. 177v) steht vor Wegen und Gewässern mit Stab, Hut und Tasche als Pilger mit einem geöfneten Buch in der Linken. Christophorus (fol. 178) trägt den Christusknaben in einer wunderbaren Bewegung, die anschaulich macht, wie ihn das unerhörte Gewicht des Knaben erstaunt. Laurentius (fol. 179) steht als Diakon mit seinem Attribut, dem Rost, in der Landschaft. Sebastians Pfeilmarter (fol. 179v) kommt ohne den Baum aus, an den der Heilige sonst gebunden ist; vor einer bildparallelen Mauer in der Landschaft zielen zwei Bogenschützen von links auf den bereits von beiden Seiten gespickten Märtyrer. Niko laus (fol. 180) rettet die drei Knaben aus dem Pökelfaß. Antonius Abbas (fol. 180v) steht mit seinem Tau-Kreuz und dem Schwein vor der Einsiedelei. Katharina (fol. 181v) als gekrönte Königstochter hält das Schwert in der Nabe des zerschlagenen Rades. Barbara (fol. 182) steht mit Buch und Märtyrerpalme vor ihrem Turm, in den die drei Fenster als Zeichen der Trinität eingelassen sind. Margarete (fol. 182v) taucht im tiefen Kerker aus dem Rücken des Drachens auf. Apollonia (fol. 183) steht mit einem Zahn in der Zange in der Landschaft. Zum Stil Der Gesamtcharakter der Handschrift mit ihren Kompartiment-Bordüren verrät den Stil jenes Malers, von dem aus Paul Durrieu 1896 eine Stilgruppe um Jacques de Besançon bestimmt hat. Dieser Illuminator hat 1485 der Pariser Bruderschaft Johannes’ des Evangelisten ein Lektionar gestiftet, dessen zwei Miniaturen jedoch nicht von einer Hand sind (Paris, Bibl. Mazarine, ms. 461: Sterling II , 1990, S. 216 f.). Deshalb wurde der Stil unter einem nach Jacques de Besançon benannten anonymen Meister behandelt, hinter dem sich, wie man seit Deldicque 2014 sicher sein kann, François Le Barbier der Jüngere verbirgt. Alle Miniaturen größeren Formats folgen dem Vorlagenschatz, den dieser bereits von seinem Vater, dem lange als Maître François geführten François Le Barbier dem Älteren, geerbt hatte. Kolorit und Malweise lassen an der Zuschreibung keinen Zweifel. Von den Kleinbildern hingegen gehört ihm nur das Michaelsbild. Die meisten der kleineren Miniaturen im Textspiegel kommen hingegen für den Maler in Frage, der zu sichtlich späterem Zeitpunkt ein Stundenbuch ausgemalt hat, das aus der Gothaer Bibliothek in der Nazizeit ausgeschieden wurde und über uns dorthin zurückgekehrt ist: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. II 70 (Nettekoven 2007). Farbgestaltung und Physiognomien verraten die enge Verwandtschaft der drei kleinen Evangelistenbilder, der Miniaturen zu den beiden Mariengebeten und schließlich der Sufragienbilder. Im Kalender kommt jedoch noch ein weiterer Maler hinzu: Er setzt die Farbe viel lebendiger ein, wählt zuweilen ungewöhnliche Blicke, so im Januar, aber auch in den Bildern
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mit Liebespaaren. Die Physiognomien lassen an die Chronique Scandaleuse, eine Handschrift der Pariser Nationalbibliothek (Clair. 481), und an Morgan 219 denken, von dem aus Plummer 1982 den Stil definiert hat. Ein Blick auf die sehr viel freier gemalte kleine Miniatur im Johannes-Lektionar der Mazarine könnte dazu ermuntern, in diesen famosen Bildchen den wahren Jacques de Besançon zu erkennen. Als charakteristische Arbeit vom Meister des Jacques de Besançon, in dem wir François Le Barbier den Jüngeren erkennen dürfen, erweist sich dieses Manuskript: Schrift und Schriftdekor sind noch ganz der Pariser Tradition verpflichtet, die im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts fortschrittlicheren Formen weicht. Doch sind an diesem Buch zwei Künstler beteiligt gewesen, die eine jüngere Generation vertreten: Gediegen und sorgfältig arbeitet der GothaMeister in den Kleinbildern am Anfang und Ende des Textblocks, stärker überraschen hingegen die Kalenderbilder aus dem Stilkreis der Chronique Scandaleuse, die vielleicht von jenem Illuminator stammen, der wirk lich Jacques de Besançon hieß und um 1485 in Paris lebte. Komplett erhal ten, bietet das Manuskript ein bemerkenswert reiches Bild der Pariser Buchkultur des späten 15. Jahrhunderts und ihrer Einbindung in ältere Traditionen. LI TE RATUR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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32 Ein ungemein anspruchsvolles Stundenbuch vom Meister der Traités théologiques und François Le Barbier dem Jüngeren
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament in Braun, Rubriken in Weinrot und Blau, geschrieben in Fere-Humanistica. Paris, um 1490: Meister der Traités théologiques und François Le Barbier der Jüngere (Meister des Jacques de Besançon) 54 Miniaturen: 13 ganzseitig bemalte Bildfelder ohne herkömmlichen Randschmuck, mit den Incipits ohne Initialen in Goldschrift auf pupurn bemalten Sockeln der rahmenden Renaissance-Architekturen, die in Gold-Camaïeu gehalten sind und meist eine Prophe ten-Statuette bergen; 5 große Kopfbilder über 3 Zeilen Text mit dreizeiligen Initialen, umgeben von Kompartiment-Bordüren; 12 Kleinbilder mit dreiseitiger Klammer von Kompartiment-Bordüren außen, 24 Kalenderbilder in entsprechend dreiseitig angelegten Bordüren. Jede Textseite mit einem Bordürenstreifen derselben Art außen; Psalmenanfänge und ähnliche Texte mit zweizeiligen Akanthus-Initialen mit Vögeln, Fliegen und Grotesken; Psalmenverse mit einzeiligen Pinselgoldinitialen auf bräunlichem Rot, Umbra und Blau; zahl reiche Zeilenfüller als Knotenstöcke oder Flächen in gleicher Art wie die einzeiligen Initialen. Versalien gelb laviert. 160 Blatt Pergament, dazu neuere Pergamentblätter als fliegendes und festes Vorsatz vorn und hinten; gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), 2(8+1) sowie die Lagen 3 (4) und 4 (8-1, ohne Textverlust). Rot regliert zu 20, im Kalender zu 33 Zeilen. Oktav (168 x 118 mm, Textspiegel: 102 x 61 mm). Komplett erhalten; in den späteren Hinzufügungen am Schluß Fehlstellen. Wenige Abplatzun gen durch fehlerhafte Farbzusammensetzung in den Hauptminiaturen sind leicht retuschiert. Der Rahmen des Johannesbildes leicht getrimmt. Modern gebunden in violetten gemusterten Samt über Holzdeckeln. Provenienz: Auf leer gebliebenen Verso-Seiten oder unter dem Textende auf Verso zahlreiche prächtig geschmückte Wappen des 16. Jahrhunderts; die in der klassischen französischen Form gegebenen Schilde senden auf farbigem Fond Goldstrahlen aus; die manieristisch konturierten verzichten darauf. Alle Wappen sind in kreisrunden Zierformen, oft in prachtvollen Lorbeer kränzen oder geschlossenen Fest ons eingeschlossen. Diese Wappen variieren einen Grundbe stand, der in den vierteiligen Schilden von p. 94 und p. 132 unterschiedlich zusammengestellt ist. Die silbernen Rauten auf Rot (p. 132) lassen an die bretonische Familie Rohan denken, die jedoch vorzugsweise goldene Rauten trug; dort findet man auch den bretonischen Hermelin. Auf Schwarz ein silbernes Kreuz mit gewellten Rändern (p. 38). Auf Gold schräg gekreuzte rote Bänder (p. 68). Ein manieristisch konturierter vierteiliger Schild (p. 94): auf Schwarz das silberne Kreuz; auf Gold ein roter Hirschkopf mit dem schwarzen Doppeladler zwischen den Geweihstangen; auf Schwarz drei goldene fleurs-de-lis und ein silberner Winkel (Chevron); auf Gold ein schwarzes Ankerkreuz. Die beiden im oberen Register von p. 94 gezeigten Schilde, je
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weils halbiert (p. 102). Die beiden Kreuzwappen, jeweils halbiert (p. 110). Viergeteilt (p. 132): auf Rot drei silberne Rauten; auf Schwarz die drei goldenen fleurs-de-lis mit dem silbernen Winkel; auf Silber schwarzer Hermelin (Bretagne); auf Gold der schwarze Doppeladler. Auf Schwarz das silberne Kreuz (p. 156). Geteilt und auf Schwarz vier goldene Formen mit acht goldenen Kugeln (p. 192). Viergeteilt (p. 206): auf Rot die drei silbernen Rauten; auf Schwarz das silberne Kreuz, auf Schwarz die drei goldenen fleurs-de-lis mit dem silbernen Winkel; auf Gold das schwarze Ankerkreuz. p. 218: Vor der Toten-Vesper eine leere Seite ohne Wappen, vielleicht aus abergläubischer Furcht; denn in Frankreich hat man anders als in Flandern bei Totenbildern meist auf Wap pen verzichtet. Text p. 1: Kalender, in lateinischer Sprache, jeder Tag besetzt, abwechselnd in Weinrot und Blau, die Goldene Zahl, der Sonntagsbuchstabe A und die Feste in Gold, die Sonntags buchstaben b-g in Braun, die Angaben zu den römischen Kalenderzählungen abwech selnd in Weinrot und Blau. Die Heiligenauswahl schwer zu deuten: mit einem Fest der vor allem nördlich von Paris gefeierten Translatio des heiligen Eligius von Noyon (25.6.), dazu Ägidius mit Lupus von Orléans (1.9.), aber auch Dionysius (9.10.). p. 13: Perikopen: Johannes (p. 13), Lukas (p. 17), Matthäus (p. 20), Markus (p. 24). p. 25: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (p. 27), O intemerata (p. 34). p. 39: Marienof fizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (p. 39), Laudes (p. 69), Prim (p. 87), Terz (p. 95), Sext (p. 103), Non (p. 111), Vesper (p. 119), Komplet (p. 133), Ad vents-Offizium mit besonders ausführlicher Rubrik (p. 142). p. 157: Bußpsalmen, mit Litanei (p. 177); die Heiligenauswahl ohne Pariser Patrone weist in zentrale Gebiete südlich der Hauptstadt mit Anianus von Orléans, Martialis von Li moges, Geraldus von Aurillac, Radegundis von Poitiers; p. 192 leer. p. 193: Horen: des Heiligen Kreuzes (p. 193); p. 206 leer; des Heiligen Geistes (p. 207); p. 218 leer. p. 219: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Rom. p. 291: Suffragien: Michael (p. 291), Johannes der Täufer (p. 292), Petrus und Paulus (p. 293), Jacobus (p. 294), Christophorus (p. 295), Sebastian (p. 297), Stephanus (p. 299), An tonius Abbas (p. 300), Nikolaus (p. 301), Claudius (p. 302), Katharina (p. 304), Margarete (p. 305); Textende ursprünglich auf p. 306. Hinzugefügte Blätter: p. 307 leer, p. 308: Das Maß der Seitenwunde Christi nach der Vision des Heiligen Dionysius von Narbonne, dazu ein lateinisches Gebet mit franzö sischen Rubriken (p. 310); p. 311 leer. Aus anderem Zusammenhang, Beginn fehlt: Suffragientexte: ein nicht mehr zu identifi zierender Bekenner, sowie Hieronymus (p. 312!?!); p. 313-316 leer.
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Schrift und Schriftdekor Erst um 1490 setzte sich die im Mainzer Buchdruck schon seit 1462 benutzte Gotico-An tiqua oder Fere-Humanistica durch, in der dieses Manuskript angelegt ist; doch noch ist sie nicht sehr flüssig ausgeschrieben. Die neuartigen größeren Initialen (von zwei Zeilen an) sind aus zierlichem hellfarbigen Akanthus gebildet; im Wechsel von Blau und Rosa heben sie sich vom braunroten Fond ab; ihre in Pinselgold ausgeführten Binnenfelder werden mit Insekten, Schnecken und grotesken Tierköpfen belebt. Zum fortschrittli chen Charakter gehören auch die Rubriken, deren Blau, wenn wie im Adventsof fizium mehrere Zeilen für eine einzelne Rubrik nötig sind, mit Weinrot wechselt. Der Dekor der eleganten einzeiligen Initialen, die am Zeilenbeginn stehen und zahlreiche Zeilen füller erfordern, war bereits in Nr. 30 zu finden: Sie sind mit dem Pinsel mit dünnen Goldbuchstaben abwechselnd auf Flächen in Blau, Rot und einem Umbraton gemalt. Der gleiche Randschmuck, der die regelmäßigen Randstreifen auf reinen Textseiten füllt, wird bei den Kleinbildern im Textfeld zur Klammer, die von außen um den Text greift, bei Kopfminiaturen über drei Zeilen Text aber zur Vollbordüre. Wie in unseren Nrn. 30 und 31 wechseln blau-goldener Akanthus auf Pergamentgrund und Blumen auf Pinselgold-Flächen ab, die ihrerseits kräftig konturiert sind. Im Kalender wird auf die Kompartimente verzichtet; denn die Bildfelder gliedern dort die Randstreifen noch intensiver; dieselbe Art von Akanthus steht nun konturlos neben Flächen mit Blumen. Wahrscheinlich sollte das Buch auch bei den wichtigsten Incipits entsprechende Kopf bilder über drei Zeilen Text erhalten. Davon aber hat sich der Maler des Johannesbildes sowie der Miniaturen zum Marien-Of fizium, zu den Horen, den Bußpsalmen und dem Toten-Of fizium gelöst. In die Sockel seiner raf finierten Architekturen hat er purpurro te Felder eingelassen, um dort in goldenen Majuskeln aus epigraphischer Tradition die an ihrem ursprünglichen Platz getilgten Texte einzutragen. Dieses Vorgehen erinnert an Jean Fouquets Gestaltung vieler Bildseiten im Stundenbuch für Étienne Chevalier (da von 40 Blätter im Musée Condé, Chantilly). Auch wenn diese Architekturen breit angelegt sind, werden sie doch mit spätgotischer Zier versehen, Fialen, Wimpergen und mit Statuetten besetzten Nischen. Zuweilen werden auch Juwelen und Perlen als Schmuck eingesetzt; das erinnert an Arbeiten wie jenes von uns 1990 vorgestellte Stundenbuch, das Georges Trubert in Zusammenarbeit mit einem Pariser Buchmaler um 1490 illuminiert hat (Leuchtendes Mittelalter II , Nr. 51, S. 609). Zwei Arten von großen Miniaturen, die zugleich den beiden hier wirkenden Malerhän den zugehören, werden hierarchisch unterschieden: Schlanke Kopf bilder sind durch Säulen gerahmt, deren Schäfte gern links grün, rechts blau mit Gold marmoriert sind und die jeweils einen goldenen Doppelbogen mit Maßwerk tragen. Während diese Mi niaturen im Textspiegel angesiedelt und mit Kompartiment-Bordüren umgeben sind, verraten die eigentlichen Hauptminiaturen – Johannes auf Patmos, der gesamte Ma rienzyklus sowie die Eröffnung von Bußpsalmen, Horen und Toten-Of fizium – einen
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ganz anderen Anspruch: Goldleisten rahmen die sehr breit angelegten, von einem flachen eingezogenen Bogen bekrönten Bildfelder. Vor in Gold-Camaïeu ausgeführten Archi tekturen sind sie ein wenig zum Falz hin nach links gerückt. Diese Miniaturen sind von unterschiedlicher Größe, in keinem Falle wird jedoch der sehr viel kleinere Textspiegel als Maß respektiert. Daß ausgerechnet die Marien-Verkündigung am kleinsten ist, läßt schließen, daß sie vielleicht als erste gestaltet wurde. Zudem ist sie als einzige mit zwei Nischen für Statuetten gerahmt, was dann aufgegeben wurde. Zum Gestaltungsp rinzip des Manuskripts gehörte die Entscheidung, diese wichtigsten Incipits auf Recto beginnen zu lassen. Deshalb bot das Buch im 16. Jahrhundert einige ganz leer gebliebene Verso-Seiten sowie größere am Textende leer gebliebene Flächen, die mit manieristisch verzierten Wappenmalereien versehen werden konnten. Bildfolge p. 1: Da im Kalender den einzelnen Monaten nur jeweils eine Seite zugestanden wird, müssen die Tierkreiszeichen und die Monatsbilder jeweils gemeinsam unterkommen: Mit einer Bildhöhe von mindestens zwölf der 33 Zeilen des extrem steilen Layouts nimmt der Zodiak die Mitte der Außenseite ein, während die Monatsbilder in der Breite des Text spiegels wie ein Bas-de-page den Randstreifen unten besetzen: Der Wassermann ist ein Jüngling mit gestepptem Wams, der seine metallene Kanne über einem Fluß ausschüt tet; vor dem Kamin sitzt im Januarbild ein Herr am Tisch und läßt sich von einem Die ner Speise auftragen; wie durch ein Panoramafenster öffnet sich die Wand nach rechts und gibt einen Blick in die Landschaft, deren grüne Vegetation nichts mit Januar zu tun hat. Zwei Fische liegen auf einer saftig grünen Wiese unter einem Baum; im Februarbild wärmt sich ein Herr am Kamin die nackten Füße; der Tisch mit viel mehr Speisen steht nun bildparallel an der Rückwand. Der Widder steht in Landschaft; ob im März das Be schneiden von Weinstöcken oder Obstbäumen gemeint ist, bleibt unklar. Der Stier hat ein wunderbares rostrotes Fell; zum Binden eines Blütenkranzes im April sitzt eine Frau vor einer Rasenbank; ein Mädchen bringt ihr einen Blütenzweig. Die Zwillinge erweisen sich als nacktes Paar, das seine Nacktheit hinter einem goldenen Schild versteckt; zwei junge Leute sind dann beim Heranschleppen von Maibäumen gezeigt. Der Krebs ist ein schwärzliches Schalentier, wiederum auf einer Wiese unter einem Baum; vor drei kegel förmigen Heuhaufen sind zwei junge Männer bei der Heumahd im Juni, links mit dem Rechen, rechts mit der Sense. Der Löwe sitzt wie in Lukasbildern mit aufgerichtetem Kopf im Freien; bei der Kornmahd im Juli ist das Binden der Garben links Männersa che, das Schneiden des Korns mit der Sichel rechts Frauensache. Das Sternzeichen der Jungfrau wird auf irritierende Weise durch eine Frau verkörpert, die neben einer sehr hohen Korngarbe steht; zwei junge Männer sind mit dem Dreschen im August beschäf tigt. Ein Mädchen mit offenem Haar hält in einem Raum die Waage; neben drei Fässern steht der große Bottich für die Weinkelter im September. Der Skorpion ist ein langes graues Krustentier; vor den Katen eines Dorfes schreitet der Sämann im Oktober übers Feld. Als jugendlicher Zentaur steigt der jugendliche Schütze im Bild auf; zwei Schwei nehirten beim Abschlagen der Eicheln im November. Der Steinbock ist ein Mischwesen
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mit spitzem Hinterteil; beim Schweineschlachten im Dezember kniet der Mann auf dem Tier, während die Frau das Blut in einer Kasserolle aufängt. p. 13: Von den Perikopen wird nur Johannes auf Patmos (p. 13) wie ein Vollbild in einen Architekturrahmen gefaßt: Das kleine Eiland ist durch eine mit Türmen bewehrt Brükke mit Ephesus verbunden, das als befestigte Stadt mit einer großen Kirche verstanden ist, die den Dianatempel darstellen soll; der Adler hält das Schreibzeug für den am Boden sitzenden jungen Mann. Die drei anderen Evangelisten hat François Le Barbier der Jüngere gemalt und in ihren Schreibzimmern dargestellt: Lukas mit dem Löwen (p. 17) sitzt hinter einem Schreibpult en-face und prüft die Feder. Matthäus mit dem Engel (p. 20) sitzt links unter einem Baldachin; der Engel kniet neben ihm und hält ein Buch. Markus mit dem geflügelten Löwen (p. 24) sitzt rechts vor einem Drehpult und schreibt. p. 25: Die beiden Marienbilder werden wie so oft unterschieden in Freud und Leid: Zum Obsecro te Madonna mit Kind (p. 27) auf einem Thron wie Lukas, mit einem Engel, der ein Blasinstrument, und einem zweiten, der eine Laute spielt; in einen goldenen Rock gekleidet sitzt der Jesusknabe auf Mutters Schoß. Unter dem Kreuz, über dem Sonne und Mond erscheinen, wird die Muttergottes bei der Pietà zum O intemerata (p. 34) von zwei Vertrauten begleitet: Johannes hält links das Haupt des toten Heilands; Magdalena mit dem Salbfaß kniet rechts. Symmetrisch lehnen zwei Leitern am Kreuzbalken; zu den Seiten blickt man auf eine befestigte Stadt in der Ferne mit links und rechts derselben Turmanlage. p. 39: Das Marienofzium kennt nur große Bilder in Architekturrahmen; sie geben die herkömmlichen Szenen wieder, sind jedoch schon angesichts des verfügbaren Platzes besonders phantasievoll ausgestaltet und lösen sich von Vorlagen, die sonst im Hause Le Barbier benutzt wurden: Die Komposition der Marienverkündigung zur Matutin (p. 39) läßt an Miniaturen des Meisters der Apokalypsenrose ebenso wie an dessen Entwürfe für den Buchdruck denken und mag eine Vorstufe dafür sein: In einem Palastraum, der im vorderen Bereich ein rechteckiges Fenster mit Fensterkreuz hat, nach rechts hinten aber wie eine Kapelle ohne Altar abgeschlossen ist, kniet Maria links vorn vor ihrem Betpult und wendet sich sacht zum Engel um, der von links gekommen ist und niederkniet. Für die Heimsuchung zu den Laudes (p. 69) ist Maria von links gekommen; sie raf t mit der Rechten ihren Mantel und legt die Linke auf den Leib Elisabeths, die ebenfalls ihre Linke auf den Leib der Jungfrau legt. Der Weg führt rechts zum stattlichen Haus des Zacharias, der mit einem Hund vor dem mit Zinnen bewehrten Tor sitzt. Bei der Anbetung des Kindes zur Prim (p. 87) nimmt der Stall fast die ganze Bildfläche ein. Maria, die den nackten Knaben auf ihren Mantelsaum gelegt hat, rückt mit Joseph nach vorn. Der greise Ziehvater hält eine Kerze, um in das helle Bild der Weihnacht zugleich Weihe und Nacht einzubringen.
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Vom Temperament des Malers zeugt besonders gut die Hirtenverkündigung zur Terz (p. 95): Vor nächtlichem Himmel schwebt ein in Weiß gekleideter Engel mit dem Gloria auf einem Schriftband, über einer famosen Fernsicht auf eine Stadt und Berge im Blau der Ferne. Vorne, an einem Fluß lauschen drei Hirten der Botschaft: einer als Rückenfigur aufgerichtet, ein zweiter mit seiner Sackpfeife sitzend und auf blickend und ein dritter zu diesem gewendet und auf den Engel weisend. Große Hände spielen dabei eine besondere Rolle; so hält der ältere links vorn seinen Hund zurück, der an ihm hochspringt, setzt der Musiker an, sein Gesicht zu schützen, während sein Gesprächspartner mit dem Zeigefinger nach oben weist. Für die Anbetung der Könige zur Sext (p. 103) rückt der Stall ein wenig von der vorderen Bildebene weg; der Ausblick rechts erhält mehr Platz; denn dort taucht der Troß der Könige als ein behelmtes Reiterheer auf. Zwar ist für Joseph kein Platz, wohl aber für Ochs und Esel, links neben der Muttergottes, die den nackten Knaben mit einem Tuch um Bauch und Beinchen verhüllt hat. Zu ihm beugt sich der älteste König kniend, während der mittlere den wie gewohnt modisch herausgeputzten jüngeren auf den Stern hinweist. Bei der Darbringung im Tempel zur Non (p. 111) verläuft der mit Juwelen geschmückte Abschlußbogen tiefer als in den anderen großen Miniaturen; denn darüber werden vor tief blauem Fond, der nach oben unkonturiert bleibt, zwei Engel in Gold-Camaïeu gezeigt. Schauplatz ist nicht wie in Frankreich üblich der Altarraum, sondern wie bei flämischen Buchmalern vom Meister der Maria von Burgund bis Bening ein Eingangsbereich vor einem Maßwerkfenster. Von links ist Maria mit der Magd gekommen, die das Taubenkörbchen und die Kerze hält; ihr folgen Joseph und eine zweite Frau. Maria kniet nieder, um den nackten Knaben vom greisen Simeon zu erhalten, der nicht als Priester kenntlich ist und rechts mit einem zweiten Mann hinter einer Schranke hervortritt und Jesus mit verhüllten Händen der Mutter reicht. Anders als bei den Le Barbier üblich schreitet der Esel bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (p. 119) nach rechts. Joseph führt das Lasttier, auf dem Maria mit dem weißen Wickelkind sitzt; ihnen folgen zwei Engel, von denen einer einen Ballen Tuch, der andere eine Kinderwiege trägt. Über ihnen stürzt ein Götze von seiner Säule. Der Blick auf die Stadt in der Ferne ist grandios. Die Marienkrönung zur Komplet (p. 133) spielt über Wolken, aus denen viele Köpfe von Heiligen herausschauen – erkennbar sind Johannes der Evangelist mit dem Kelch und Petrus mit seiner charakteristischen Physiognomie. Mit Maßwerk geschmückt ist die Architektur, die links einen kleineren Sitz für Maria und rechts den großen Thron für den als Papst gekrönten greisen Gott bereitstellt. Zwei kleine Engel halten die Schleppe der Muttergottes; ein dritter taucht hinter der bildparallelen Bank mit der Krone auf. Der Fond ist mit feurigen Seraphim gefüllt. p. 157: Zu den Bußpsalmen wird der Kampf zwischen David und Goliath geschildert: Schauplatz ist ein steiniger Weg, der um einen nach links ansteigenden Hügel in die Tiefe führt, wo Zelte mit den Philistern vor einer mittelalterlichen Stadt auftauchen. Vorn
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bricht der Riese Goliath in sonderbarer Verrenkung zusammen; er ist von einem Stein an der Stirn getrofen; das hat der Hirtenjunge David, der von rechts aus dem Mittelgrund nach vorn schaut, mit seiner Schleuder bewirkt, die sich noch in der Luft dreht. p. 193: Die Horen erhalten die üblichen Erkennungsbilder, die breit angelegt und von Architekturen gerahmt sind: Wie bei den Le Barbier üblich, steigen hinter der Kreuzigung (p. 193) zu beiden Seiten Hügel an, zwischen denen der Blick auf eine Stadt ohne besonderen Hinweis auf Jerusalem fällt. Der Himmel ist nachtblau, mit Sonne und Mond unter dem Querbalken des Kreuzes. Maria steht mit Johannes und zwei Frauen links; rechts reitet der Zenturio mit seinem Schimmel auf das Kreuz zu und weist ohne einen echten Gesprächspartner auf das Kreuz; hinter ihm drängt sich behelmtes Fußvolk. Durch die beiden Gruppen sonderbar eingeengt sind die drei Soldaten, die am Kreuzfuß über den violetten Rock die Würfel werfen. Ein weißer Totenschädel bezeichnet Golgatha. In einer hohen Apsis, ohne Altar, sitzt die hier ofenbar betagte Muttergottes bei der Ausgießung des Heiligen Geistes (p. 207): Sie betet, mit einem Buch auf dem Schoß, während die asymmetrisch auf Holztruhen sitzenden Apostel, von Petrus und Johannes angeführt, zur prächtigen Erscheinung der Taube aufschauen, von der goldene Strahlen und rote Flämmchen ausgehen. p. 219: Von ganz besonderem Charakter ist die Bildseite mit Tod und Jüngling zur Toten-Vesper; sie wird von weißgrauer Architektur mit zwei übereinander gestellten Statuetten gerahmt. Schauplatz ist ein Friedhof, der durch ein eindrucksvolles Raumeckmotiv begrenzt wird; denn dort steht links eine Kapelle, an die sich im rechten Winkel ein Karner anschließt, aus dessen Öfnungen Totenköpfe blicken. Auf der mit Schädeln und Knochen besetzten Wiese vorn mit ihren Grabsteinen und Kreuzen erscheint der ledrige Tod, mit einem Leichentuch über der linken Schulter; er greift mit der Linken nach einem vornehmen Jüngling, dem der Pelzhut vom Kopf gefallen ist und der nun voller Schrecken ins Knie bricht; der Tod richtet einen roten Pfeil auf dessen Herz. Die Darstellung wirkt wie das männliche Gegenstück zum Totenbild mit einer Dame, das der Meister Karls VIII . in unserer Nr. 36 gemalt hat. p. 291: Die Suffragien sind mit zierlichen und sehr lebendigen Ganzfiguren bebildert: Der Teufel, der sich am Boden windet, gibt Michaels Drachenkampf (p. 291) erstaunlichen Schwung. Nicht nur Johannes der Täufer (p. 292) tritt uns mit dem Lamm aus einer durch die Einöde führenden Allee entgegen; auch ein kleiner Löwe läßt sich blicken. Pau lus und Petrus (p. 293) stehen mit Schwert und Schlüssel in einem Kirchenchor. Jakobus (p. 294) steht in Pilgermontur in einem kahlen Raum, der nach links in die Landschaft geöfnet ist. Christophorus (p. 295) schreitet mit dem Christuskind durch das Wasser, rechts zeigt sich der Eremit mit Lampe und Rosenkranz über einem steilen Felsabbruch. Auf einer nach links und hinten ummauerten Wiese ist Sebastian bei der Pfeilmarter (p. 297) an einen Baum gebunden und wird von einem Bogenschützen rechts gequält. Die Steinigung des Stephanus (p. 299) vollziehen zwei junge Burschen, die den knienden
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Diakon umgeben. Ungewohnt in französischer Buchmalerei ist die Versuchung des An tonius Abbas (p. 300) durch zwei Teufel (wir kennen sie durch das Guémadeuc-Stundenbuch); hier sitzt der Heilige nicht im gewohnten Schwarz, sondern in Blau mit rosafarbenem Mantel und wird von zwei Teufeln geschlagen wie Jesus bei der Verspottung. Zu den drei Knaben im Bottich spricht Bischof Nikolaus (p. 301). Eine Mutter mit ihrem Wickelkind kniet vor Claudius (p. 302), der als Patron der Mutterschaft verehrt wurde. Katharinas Enthauptung (p. 304) findet neben ihrem Rad statt; die Heilige wendet sich kniend nach links; ihr Henker nimmt die Bildmitte ein. Margarete (p. 305) taucht aus dem Rücken des Drachen auf und blickt nach links durch das vergitterte Fenster ihres Kerkers ins Freie. p. 308: Zu den eigentümlichsten Phänomenen der frommen Ikonographie am Übergang zur Neuzeit gehören Darstellungen, die behaupten, genaue Maße von Christi Leib zu dokumentieren (siehe beispielsweise: Adolf Jacoby: Heilige Längenmaße. Eine Untersuchung zur Geschichte der Amulette, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 29, 1929, S. 181-216; sowie die Berliner Dissertation von Anna Borof ka: Die „Länge Christi“ in der Malerei. Codifizierung von Authentizität im intermedialen Diskurs. Vestigia Bibliae, 35. Bern u.a. 2017). Im Stundenbuch ist kein Platz für seine volle Körpergröße, wohl aber für die Maße der Seitenwunde Christi, die vor Kreuz und Dornenkrone gezeigt werden, umgeben von den anderen Passionswerkzeugen, vor einem mit Blutstropfen besäten Pergamentgrund. Solche Bilder wurden nachgetragen und haben keine künstlerische Ambition. Die beiden beteiligten Maler Angelegt wurde das Manuskript in der Pariser Werkstatt der Le Barbier: François Le Barbier der Jüngere hat die Kalenderbilder, dann die großen Miniaturen zu drei Perikopen und den beiden Mariengebeten sowie die kleinen Bildfelder in den Sufragien gestaltet. Ein verwandter Künstler, der nirgendwo so ambitioniert wie in unserem Buch aufgetreten ist, hat hingegen die Hauptminiaturen geschafen, die den Eindruck von textlosen Vollbildern erwecken sollen: Wer wie wir kontinuierlich darum bemüht ist, historische Kenntnis zu mehren, hat auch ein Recht, kritisch auf das zurückzublicken, was er selbst einmal über eine der Handschriften geschrieben hat, die nach Jahrzehnten wieder diskutiert werden müssen: 1990, im zweiten Band der Serie Leuchtendes Mittelalter wurde das hier beschriebene Stundenbuch redlich, aber durchaus irreführend behandelt. Umso erfreulicher ist die Mehrung unseres Wissens, zumal sie auch entschieden vom Antiquariat Tenschert gefördert wurde, in dem die hier erneut zu diskutierende Handschrift zugänglich war. So wurde denn das, was wir heute mitteilen können, im wesentlichen von unserer lang jährigen Mitarbeiterin Ina Nettekoven in ihrer Berliner Dissertation 2007, S. 56f., entwickelt. Von einer Pariser Handschrift mit diversen Traités théologiques, fr. 9606 der BnF (Ausst.Kat. 1993, Nr. 145) aus bestimmt Nettekoven diesen Maler. Nicole Reynaud war noch
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unentschieden, ob die Miniaturen vom Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle (den sie nach den Très Petites Heures der Anne de Bretagne nennt) oder von einem eigenständigen Künstler aus dessen engem Umfeld stammen. In der Tat stehen die Miniaturen in Paris der Apokalypsenrose und verwandten Werken sehr viel näher als die hier besprochenen Bilder. Das Œuvre des Künstlers besteht aus wenigen Manuskripten: neben einem Stundenbuch für Chartres im Kunsthandel (Sotheby’s London, 10. Dezember 1980, lot 110) ist das vor allem ein Stundenbuch in Privatbesitz, dessen Miniaturen James H. Marrow zugänglich gemacht hat (Nettekoven 2016, S. 229-230 unter „Privatbesitz anonym“ und Abb. 140, 179 und 180): Die Ausstattung dieses Manuskripts ist offenbar ähnlich zwischen dem Meister der Traités théologiques und einem zweiten Pariser Buchmaler aufgeteilt worden; denn der Kalender, die Perikopen und die Sufragien sind dort vom Meister Karls VIII . (siehe hier Nr. 35 und 36) gestaltet worden. Die Heimsuchung (Nettekoven 2016, Abb. 180 mit Gegenüberstellung mit der Miniatur aus unserem Manuskript) zeigt dieselben Hauptfiguren in ähnlicher Landschaft; gerahmt ist das diesmal rechteckige Vollbild, in dem das Incipit wie in unseren Hauptminiaturen in den Sockel der Architektur versetzt ist, von spätgotischen Strebepfeilern. Da der Maler im hier beschriebenen Stundenbuch für Rom sehr viel deutlicher mit eigenem Charakter hervortritt, müßte man ihn nach diesem Manuskript nennen, doch ist die Bezeichnung nach den Traités théologiques bereits durch Reynaud angelegt. Stilistisch gehört der Künstler zum Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle. Die bemerkenswertesten Miniaturen seiner Hand, die in unserem Stundenbuch zu finden sind, stehen jedoch zwischen dessen Werk und den Arbeiten der Le Barbier. Der unerhörte Schritt zu einem eigenen Layout zeichnet unser Stundenbuch am stärksten aus. Damit zeigt der Maler seinen Ehrgeiz, wie Jean Fouquet im Stundenbuch des Étienne Chevalier die ganze Buchseite für seine Kunst zu beanspruchen. Näher steht jedoch Jean Colombe mit dem Stundenbuch für Louis de Laval, latin 920 der Pariser Nationalbibliothek, weil auch dort Texte in Felder geschrieben sind, die in die durchweg noch spätgotische Architektur eingelassen sind; wie der Maler zu Colombe in Bourges steht, müßte noch genauer untersucht werden. Dieses vollständig erhaltene Stundenbuch für den Gebrauch von Rom, das in der Heiligenauswahl nicht eindeutig für Paris, sondern eher für südlichere Regionen bestimmt ist, läßt sich von Schrift und Schriftdekor her ebenso wie durch die Kom partimentBordüren und die Beiträge von François Le Barbier dem Jüngeren in Paris verorten. Doch gewinnt der Kodex seine überraschende Qualität durch einen Künst ler aus dem engsten Umfeld des Meisters der Apokalypsenrose. Von hohem Ansehen in Paris zeugt der Umstand, daß diesem Buchmaler, der inzwischen als Meister der Traités théologiques bezeichnet wird, in unserem Stundenbuch wie auch in einem zweiten gewichtigen Werk seiner Hand (in Privatbesitz) Hauptminiaturen anver traut werden, während bedeutende hauptstädtische Kollegen hierarchisch nachge ordnete Arbeiten erledigen. Von der Freiheit, die er sich dann als Hauptverantwort
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licher nimmt, zeugt die Art, wie er die Vorarbeit des Schreibers revidiert: Er arbeitet mit einem einzigartigen Layout, das an Spitzenleistungen der Buchkunst von Tours und Bourges anknüpft und den intelligent interpretierten Bildszenen neue Größe gibt. Wie Jean Fouquet versetzt der Maler die Incipits in gemalte Felder unter dem Bild; da er wie Jean Colombe seine Miniaturen architektonisch rahmt, findet er da für im Sockel Platz. LI TE RATUR:
LM II , Nr. 52. Nettekoven 2007, S. 56-57, Abb. 43-44; Nettekoven 2016, Abb. 180.
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33 Ein komplettes Stundenbuch von einem Mitarbeiter von François Le Barbier dem Älteren: Meister des Jean Budé III . aus den Sammlungen Huth und Dreyfus
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in schwarzer Bastarda, mit roten Rubriken. Paris, um 1480: Mitarbeiter von François Le Barbier dem Älteren: Meister von Jean Budé III.? Vierzig Bilder, darunter vier große Miniaturen über drei bis sechs Zeilen Text mit dreiz eiligen Initialen, in Vollbordüren; zwölf kleine Bilder im Textfeld von meist acht bis neun Zeilen Höhe; insgesamt 24 Bilder in den äußeren Bordüren der Recto-Seiten des Kalen ders; durchweg mit Kompartimentbordüren außen. Kleinere Initialen in Pinselgold auf ro ten, braunen, seltener blauen Flächen, bei Psalmenanfängen zweizeilig, bei Psalmenversen, die am Zeilenanfang stehen, einzeilig; viele Zeilenfüller derselben Art. Versalien gelb laviert. 80 Blatt Pergament; 1853 mit je zwei leeren Pergamentvorsätzen sowie je einem beidseitig mar moriertem Vorsatz ausgestattet. Gebunden erstaunlicherweise fast ausschließlich in Lagen zu sechs Blatt, davon abweichend nur die Lagen 2 (8) und 4 (8). Eine Reklamante auf fol. 14v. Zufällige Zäsuren vor Bußpsalmen und Toten-Offizium. Auf dem letzten Blatt des Marienoffi ziums und dem zweiten der Bußpsalmen, fol. 46 und 48, im unteren Rand Einstiche, die erken nen lassen, daß dort einmal etwa quadratische Objekte, wohl Pilgerzeichen, angenäht waren. Zu 23, im Kalender zu 32 Zeilen, rot regliert. Oktav (175 x 116 mm; Textspiegel: 111 x 57 mm). Vollständig und in brillantem Zustand. In einem Pariser Luxus-Maroquinband, 1853 datiert und im Vorderdeckel vom Buchbinder Duru und im hinteren Deckel vom Vergolder Marius Michel (père) signiert: Zitronenfarbenes Maroquin mit reicher Vergoldung und Bandwerk-Mosaik in Rot und Dunkelgrün im Stil des 16. Jahrhunderts, der Rücken unterteilt in fünf Kompartimente, ebenfalls intarsiert. Doublü ren aus rotem Maroquin mit reicher Dentelle-Vergoldung. Goldschnitt. Im roten MaroquinSteckschuber. Provenienz: Aus der berühmten Bibliothek, die Henry Huth (1815-1878) begründet und des sen Sohn Alfred Huth (1850-1910) erfolgreich weitergeführt hat; davon zeugt deren vergolde tes Exlibris in schwarzem Maroquin ex mvsÆo hvthII; beschrieben wurde das Manuskript im Katalog von 1880, S. 728. In der dritten Huth-Auktion Sotheby’s London, 2. Juli 1913, als lot 3806, an Tregaskis. Danach an Legh Tolson, der das Buch wohl schon kurz nach der Auktion kaufte; von G. H. Tolson bei Sotheby’s London, 11. Juli 1960, lot 119, verkauft an Georges Dreyfus. Von da an in der bedeutenden französischen Bankiersfamilie Dreyfus.
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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, einfache Tage abwechselnd braun und rot, Feste und Goldene Zahl blau; Sonntagsbuchstaben a rot, b-g braun. Die Heiligenauswahl u. a. mit Dionysius als Fest am 9.10. weist auf den Gebrauch von Paris. fol. 7: Marienof fizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 7), Laudes (fol. 14), Prim (fol. 21v), Terz (fol. 24), Sext (fol. 26v), Non (fol. 28v), Vesp er (fol. 30v), Komplet (fol. 34), Salve regina (fol. 36), Psalmengruppen der Matutin für die Wochentage (fol. fizium (ohne Rubrik, fol. 42v). 36v und 39v), Advents-Of fol. 47: Bußpsalmen mit Litanei (fol. 59v); die Heiligenauswahl mit Genovefa am Schluß auf Paris ausgerichtet. fol. 59: To ten of fi zi um. fol. 78v: Suffragien: Trinität (fol. 78v), Michael (fol. 78v), Johannes der Täufer (fol. 79), Johannes der Evangelist (fol. 79v), Peter und Paul (fol. 79v), Jacobus der Ältere (fol. 80), Christophorus (fol. 80v), Nikolaus (fol. 81), Anna (fol. 81), Maria Magdalena (fol. 81v), Katharina (fol. 82). fol. 82v: leer. Schrift und Schriftdekor Dieses Stundenbuch hat bereits eine ganze Menge von Charakteristika, die eigentlich erst um die Wende zum 16. Jahrhundert aktuell werden sollten: Nur zwei Lagen, 2 und 4, folgen der sonst in Paris und auch im übrigen Frankreich gültigen Norm der Quater nionen; die anderen sind Ternionen. In die sechs Blätter eines solchen Ternios paßt der ganze Kalender, wenn man gegen den Brauch dem einzelnen Monat nur eine Seite wid met; dafür sind entweder zwei Kolumnen oder ein extrem steiler Textspiegel von immer hin 32 Zeilen erforderlich. Hier entschied man sich für das extreme Hochformat; dem entspricht auch der laufende Text, der mit immerhin 23 Zeilen ähnlich vom Gewohn ten abweicht. Damit erreicht man, daß der Band schlank und schmal werden kann: 80 Blatt Pergament reichen für ein komplettes Stundenbuch! Als Schrift ist eine niedrige Bastarda mit kräftigen Senkrechten gewählt; sie ist schwarz, mit roten Rubriken. Besonders deutlich fällt die Unterscheidung der Buchstabengrößen von Antiphonen und größer geschriebenen Psalmen aus. Die kleineren Initialen in Pin selgold auf roten, braunen, seltener blauen Flächen sind, wie man es kennt, bei Psalmen anfängen zweizeilig, bei Psalmenversen einzeilig. Daß die Psalmenverse am Zeilenanfang einsetzen, sorgt für eine große Zahl von Zeilenfüllern derselben Art. Die Monate im Kalender setzen mit einzeiligem kl ein; die wenigen großen Miniaturen erhalten dreiz eilige Initialen in denselben Farben, die auch als Fond verwendet sind; hier dient Gold nur zu kräftiger Höhung.
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Randschmuck beschränkt sich auf die Seiten mit Bildern: Dreiseitig sind sie bei den Kleinbildern, dreiseitig mit einem Goldstab zum Falz hin beim Kalender. Vollbordüren sind den vier großen Miniaturen vorbehalten: Sie gehören zu der in Paris und Rouen ent wickelten Art, die Leroquais als bordures à compartiments bezeichnete. Muschelgold und Pergamentgrund wechseln ab. Akanthus, durchweg in Blau und Gold, erscheint – auch das ist weithin geläufig gewesen – ausschließlich auf Weiß, weil das fahle Muschelgold sonst mit dem Grund verschmolzen wäre. Reste der Dornblattranken mit ihren schwar zen Tintenlinien sind überall präsent. Bildfolge fol. 1: Im Kalender wechseln Monatsbilder mit für die Jahreszeit typischen Beschäf tigungen und Darstellungen der Tierkreiszeichen in Interieurs und Landschaften ab: Ein Mann am Speisetisch am Kaminfeuer und der Wassermann zum Januar. Ein ähn liches Monatsbild mit Mann am Speisetisch und die Fische zum Februar. Beschneiden der Weinstöcke und der Widder zum März. Liebesp aar im Rosengarten und der Stier zum April. Reiter mit einem Blütenzweig und die Zwillinge als nacktes Paar hinter ei nem Flechtzaun zum Mai. Heumahd mit der Sense und der Krebs zum Juni. Kornmahd mit der Sichel und der Löwe zum Juli. Korndreschen und die Jungfrau als ein Mädchen, das in einem Buch liest, zum August. Weinkelter und die Waage in der Hand einer jun gen Frau zum September. Sämann im gepflügten Feld und der Skorpion zum Oktober. Schweinehirt beim Abschlagen von Eicheln und Schütze als Kentaur zum November. Schweineschlachten und Steinbock im Ammonshorn zum Dezember. fol. 7: Das Marien-Of fizium mit dem gewohnten Zyklus von Kindheitsgeschichte und Marienkrönung, in zwei großen Miniaturen zu Matutin und Laudes und sechs Klein bildern: Bei der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 7) wird der steile Bildraum mit dem Bogenabschluß durch Maßwerk gerahmt, das oben drei gestaffelt hohe Bögen aus bildet, deren mittlerer als Eselsrücken ausgebildet ist, während die anderen rundbogig unter asymmetrischem Maßwerk sind: Im großen Bogen findet der mit Tiara gekrön te Gottvater Platz; er segnet, während die Taube durch eine Öffnung bereits in Marias Gemach eingedrungen ist und nun zum Haupt der Jungfrau schwebt. Der Engel ist von rechts herzugetreten; er trägt eine sehr schlichte Dalmatika über der Albe und hebt sei ne Rechte, um damit das Spruchband zu entrollen, das seinen Gruß Ave maria gracia plena dominus tecum trägt. Maria, ganz nahe zum vorderen Bildrand gerückt, schaut von ihrem Betpult auf und dreht sich zu Gabriel um, eine Hand wie abwehrend erhoben. Ihr Ehrentuch ist mit goldenen Sternen besät; das Tuch über dem Pult mit goldenen Krei sen, während sich hinter dem Engel ein Tuch spannt, das den polygonalen Kapellenraum nach hinten abschließt. Als zweites großes Bild zum Marien-Of fizium eröffnet die Heimsuchung die Laudes (fol. 14): Geradezu wörtlich wird die Vorstellung umgesetzt, Maria sei übers Gebirg ge kommen; denn hinter ihr schlängelt sich ein Weg zwischen Wiesen aus einer Höhe her ab, während Elisabeth ihrer Base aus einem rundbogigen Burgtor entgegengetreten ist.
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Das Verhältnis der beiden Frauen wird allein durch ihre Größe ausgedrückt: Die Jungfrau, die ganz in Blau gekleidet ist, überragt die ältere Frau um Kopfeslänge. Elisabeth, in Violett und Altrosa, betastet (stehend und nicht ins Knie gebeugt) mit der Rechten den gesegneten Leib. Kleinbilder mit ganzfigurigen Szenen genügen für die übrigen Marienstunden: Bei der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 21v) knien Maria links und der greise Joseph rechts vor dem Knaben, der nackt auf ein weißes Tuch am Boden gelegt ist und sich munter zur Mutter wendet. Bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 24) stehen zwei Hirten mit ihren dicht gedrängten Schafen ohne einen Hund am Boden; einer richtet sich auf zur Himmelserscheinung, in der eher ein bartloser Gott als ein Engel zu sehen ist – denn Flügel sind nicht zu erkennen; erstaunlich viel Platz ist im kleinen Format der Landschaft links und hinten zugestanden. Für die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 26v) hat Maria einen prächtigen zinnoberroten Bettsack erhalten, auf dem sie vor purpurnem Ehrentuch gleichsam thront, den nackten Knaben mit einer Art Lendentuch auf dem Schoß; der greift zum Gold, das der älteste König darbietet; die beiden jüngeren drängen von links unter dem goldenen Stern ins Bild; der mittlere und der älteste tragen breite Hermelinkragen. Maria ist mit ihrer Magd für die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 28v) gekommen; Joseph steht greisenhaft an der Schmalseite des Altars hinten, während Simeon, der wie Maria einen goldenen Nimbus trägt, das nackte Kind in verhüllten Händen hält; Simeons Krone wirkt aufällig wie eine päpstliche Tiara. Eine jugendliche Magd begleitet die Heilige Familie auch bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 30v); hier sind die Beine vom unteren Bildrand abgeschnitten; ein goldener Schein im Himmel zeigt Gottes Beistand. Von links ist die Jungfrau für die Aufnahme Mari as in den Himmel zur Komplet (fol. 34) vor Gottes Thron getreten; der greise Gottvater trägt hier eine genau gemalte Tiara; das sonst übliche Motiv der Marienkrönung ist hier nicht formuliert; zwei feurig rote Engelsköpfe füllen den Hintergrund über dem Ehrentuch, das bildparallel gespannt ist. fol. 47: Eine große Miniatur zeigt Bathseba im Bade zu den Bußpsalmen. Die beiden Protagonisten, die nackte Schöne und der greise König, sind eigentümlich nahe zueinander gerückt; denn das rechteckige Becken, in das Bathseba mit gelösten Locken und nur einem leicht durchsichtigen Tuch in den Händen getreten ist, steht, gespeist von einer Art Dusche, im Garten direkt unter einer Loggia, aus der David blickt. Zum Hintergrund, in dem blaue Ferne gezeigt wird, grenzt ein Spalier den Ort ab. Mit Kronhut und Zepter erscheint der König als Halbfigur über einem blauen Brokattuch, das in eine Art Fensterbank gelegt ist. Der Tendenz solcher Bilder, einen Akt möglichst angenehm zu gestalten, kommt entgegen, daß Bathseba ganz von vorn und mit unbedeckten Brüsten gezeigt wird, die mit ihren roten Knöspchen freilich einer spätgotischen Tendenz folgend etwas zu hoch gerückt sind. fol. 59: Die Darstellung der Drei Lebenden und Drei Toten zum Totenofzium ist wohl die bemerkenswerteste Miniatur in diesem Manuskript: Der beschränkte Platz zwingt zu einer gestalterischen Entscheidung: Statt den drei Lebenden und drei Toten gleiches
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Recht zuzugestehen, wird eine Konfrontation zwischen einem Jüngling vorn und einem der Toten hervorgehoben. Der Barhäuptige ist wohl der jüngste der drei Reiter, durch den Schimmel zugleich als der Vornehmste bezeichnet. Mit seinen beiden Gefährten scheint er aus der Ebene links zum Rand des Waldes rechts geritten zu sein. Aus dem Dunkel sind die Toten hervorgekommen, haben die Reiter aufgeschreckt, die nach links auszuweichen versuchen. Der Schimmel bäumt sich auf; sein Reiter wird vom Pfeil des Toten bedroht. Ein zweiter Reiter hat links das Weite gesucht, während ein dritter noch ganz zum Wald und damit auch zu den beiden anderen Toten gewendet ist. Entfernt erinnert die hier entstandene Unordnung, die älteren Darstellungen des Themas fremd ist, an die berühmte Miniatur im Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund, wo sich das dramatische Geschehen ganz auf die junge Reiterin konzentriert, deren Zaumzeug sie als die Herzogin selbst erkennen läßt. (Kupferstichkabinett, Ms. 78 B 12, fol. 220 v). fol. 78v: Kleinbilder mit rostroten Bögen als Binnenrahmung zeigen nicht alle der in den Sufragien Angerufenen; der untere Bildrand schneidet immer etwas ab, so daß die meisten Gestalten als Kniestücke gezeigt sind: Die Trinität (fol. 78v) wird in der aus der Illustration zum 109. Psalm Dixit dominus domino meo bekannten Formel gezeigt, in der Christus zur Rechten und der wieder als Papst gezeigte greise Vater von einem gemeinsamen rosafarbenen Mantel umhüllt sind, die Taube zwischen ihren Mündern. Johannes der Täufer (fol. 79) steht vor einem Wald, mit der Rechten weist er auf das Lamm Gottes, das auf seinem Buch sitzt. Peter und Paul (fol. 79v), an Schlüssel und Schwert sowie durch ihre Physiognomien erkennbar, stehen in einem Kirchenraum, durch goldene Rundbögen so getrennt, daß ihnen zwei Bildfelder gegeben sind; in einer an Buchmalerei um 1300 erinnernden Weise wechselt die Farbe des Ehrentuchs hinter ihnen von Rot zu Blau. Christophorus (fol. 80v) wird in heftiger Aktion gezeigt, wie er nach links zum steilen Felsufer strebt, auf dem ihm der Einsiedler die Laterne hält, während ein Windstoß das rote Tuch der Mäntel des Heiligen und des Christuskindes auf seiner Schulter nach rechts weht. Anna lehrt Maria lesen (fol. 81v): Dazu sitzt die Mutter vor einem blauen Ehrentuch; die Tochter, in einem mit Hermelin besetzten Kleid und mit einer goldenen Krone auf dem Haupt steht mit einem Buch neben ihr. Im letzten Bild wird Katharina (fol. 82v) gezeigt, in ähnlichem Kleid mit Hermelin wie die Jungfrau Maria zuvor, ebenfalls mit einer Krone auf dem Haupt, in einem Buch lesend, die Linke auf das Schwert gestützt, ihr geborstenes Rad neben sich, vor Ehrentuch und zwei rundbogigen Fenstern. Zum Maler Der für dieses Stundenbuch verantwortliche Illuminator gehört in den Kreis von Maître François, also jenem Meister, den Robert Gaguin als „egregius magister Franciscus“ bezeichnet hat und der seit Deldicque 2014 als François Le Barbier der Ältere identifiziert werden kann. Von ihm hat er wesentliche Eigenarten übernommen, das Kolorit mit der Goldauflage als Lichthöhung ebenso wie die Grundzüge der Gesichter oder die Statur der Gestalten mit den hart gebrochenen Draperien. Innerhalb dieses künstlerischen Idioms hat der Maler aber seine unverwechselbaren Eigenheiten. Man kann ihn an Eigenheiten der Physiognomie ebenso wiedererkennen wie an einer gewissen Unge-
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schicklichkeit im Umgang mit Raum und Proportion. So drängt er die Hauptfiguren in der Verkündigung ganz in den Vordergrund, als habe er Scheu, sie von der Tiefe Besitz ergreifen zu lassen. Das wird beim Bild der Drei Lebenden und Drei Toten jedoch zum Vorteil, selbst wenn dort gewisse Defizite gegenüber dem stilprägenden Meister nicht zu übersehen sind: Der Schimmel ist einer überlegenen Vorlage entlehnt, eigentlich gut ins Bild eingepaßt, dann aber doch viel zu klein für die mächtige Hauptfigur. In der Konzentration auf solche Hauptfiguren, auf die Konfrontation von nur einem Paar aus Lebenden und Toten liegt dann die eigentliche Stärke unseres Malers, dem hier kein Name gegeben wird, der aber sehr wohl der in unserem Katalog von 1997, Boccaccio und Petrarca in Paris, nach Jean Budé III genannte Meister sein könnte. Ein vollständiges, bilderreiches Pariser Stundenbuch aus der Zeit um 1480 mit hier archisch gegliederter Bebilderung, die einen umfangreichen Kalenderzyklus und ei nige Heiligenbilder mit den zur Entstehungszeit üblichen Hauptminiaturen sowie dem bekannten Marienzyklus verbindet und in einer dramatisch aufgeladenen Dar stellung der Drei Lebenden und Drei Toten kulminiert. In dieser eindrucksvollen Miniatur wird die Eigenart des Malers am besten deutlich: Er gehört zur Gruppe von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren und ist in Paris angesie delt; in seine Bebilderung von Stundenbüchern dringen, wie man hier sieht, wesent liche Elemente aus profaner Illustration ein.
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34 Das Braguelongne-Montholon-Stundenbuch aus dem Besitz von C(harles) P(erdrier): eines der am reichsten illustrierten Stundenbücher der Zeit mit weit über 200 Miniaturen
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, französische Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Rot und Blau, in dunkelbrauner Textura. Paris, c. 1480-90: Ein bemerkenswerter Buchmaler zwischen François Le Barbier dem Jüngeren und dem Meister Karls VIII: Meister von C. P.? 288 Bilder: davon 217 gerahmt, sowie zahlreiche, inhaltlich auf das Hauptbild bezogene Nebenszenen und Figuren im Randschmuck der Bildseiten: zwei ganzseitige Miniaturen, 39 große Kopfbilder über vier oder fünf Zeilen Incipit mit dreizeiligen Dornblatt-Initia len mit Dornblatt-Zierleisten um den Textspiegel und Vollbordüren, die sechs wichtigsten in goldenen Architekturen mit drei bis fünf Szenen, die übrigen in Vollbordüren vorwie gend mit rotem und blauem Akanthus mit nur wenigen Blütenzweigen, dazu Vögeln und auf die Hauptbilder bezogenen Figuren oder Szenen in Vollfarbe auf Pinselgoldgrund; 145 Bilder im Kalender, dessen Ränder als Gefache mit goldenen Rändern beg riffen sind. Kompartiment-Bordüren mit gold-blauen Akanthusranken und Vögeln am äuße ren Rand jeder Textseite. Zweizeilige Initialen zu den Psalmenanfängen, Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 191 Blatt Pergament, vorne und hinten je 1 fliegendes Vorsatz aus Pergament. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend Lage 2 (6), Lage 3 (4), Lage 4 (2), die letzte Lage 13 des Marienoffiziums (6+1, 7), Lage 19 (4+1, 5), Lage 20 (8+1, 9), Lage 21 (4) und die un regelmäßigen Endlagen, deren Kollationierung unklar bleibt. Rot regliert zu 18, im Kalender zu 17 Zeilen; keine Reklamanten. Oktav (160 x 108 mm, Textspiegel: 93 x 53 mm) Weinroter Samtband über Holzdeckeln mit Messingschließe, Goldschnitt. Die Deckel des al ten Kalbledereinbands aus dem 16. Jahrhundert für C. P. als Doublüren einmontiert. Provenienz: Diese stellt sich anhand der Eintragungen auf dem Vorsatz hinten und des Mo nogramms C. P. auf dem Einband folgendermaßen dar: Das Manuskript befand sich späte stens um 1565 (wahrscheinlich aber noch viel früher), zum Zeitpunkt der Heirat von Jérôme de Montholon, Conseiller en la Cour des Aides, Intendant d’Orléans, Conseiller dÈtat und Madeleine de Bragelongne am 5. Mai 1565 in deren Besitz. Über einen hier nicht im einzel nen nachverfolgbaren Erbgang („Eschange de Mestre Monsieur(?) de / montholon & bragelongne“, Notiz auf dem ersten weißen Pergamentblatt am Ende) gelangte es an eine Anne de Montholon, die mit Charles de Perdrier, Chevalier, baron de la Trompaudière, seigneur de Robigny, um 1590 - 1600 verheiratet war. Alles spricht dafür, daß dieser Charles de Perdrier der C. P. des Monogramms auf dem Einband war. Diese beiden hatten eine Tochter, Anne de Perdrier, die 1634 Charles de Béthisy heiratete. Danach verliert sich die Spur der Handschrift, die erst kürzlich aus französischen Privatbesitz wieder auftauchte (vgl. zu diesen Ausführun gen Dictionnaire de la Noblesse 14, 305f. und de Courcelles, Histoire … des Pairs de France I, 1822, art. de Béthisy, S. 7).
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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache: Jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Feste in Gold, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstabe A in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun. Die Heiligenauswahl spricht ebenso für Paris wie die dialektale Färbung der Orthographie: geneuiefue (3.1.) als Fest, La typhaine (6.1.). fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 15), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 19). fol. 20v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 22v), O intemerata (fol. 24v), das letzte Blatt der Lage (fol. 27) von anderer Hand geschrieben. fol. 29: Marienofzium für den Gebrauch von Paris, mit sechs Lesungen: Matutin (fol. 29), Laudes (fol. 51), Prim (fol. 62), Terz (fol. 68), Sext (fol. 72v), Non (fol. 76v), Vesper (fol. 80v), Komplet (fol. 86). fol. 92: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 104), darunter die Pariser Gervasius und Prothasius, Medardus, Ludwig und Genovefa. fol. 109v: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 109v), des Heiligen Geistes (fol. 117v). fol. 123v: Totenofzium, für einen nicht bestimmbaren Gebrauch: Vesper (fol. 123v), Matutin (fol. 131v) ebenso bebildert wie die neun Lesungen aus dem Buch Hiob. fol. 174: Französische Gebete: Douce dame (fol. 174); Doux diu (fol. 179v). fol. 179v: Sufragien: Michael (fol. 183), Johannes der Täufer (fol. 184), Christophorus (fol. 185), Sebastian (fol. 187), Nikolaus (fol. 188v), Margarete (fol. 189v), Barbara (fol. 190v). Schrift und Schriftdekor Die recht steile Textura und der Schriftdekor, der bei einzeiligen Initialen und Zeilenfüllern noch mit Blattgold und den Flächen in Rot und Blau arbeitet und bei den größeren Zierbuchstaben auf ein recht konventionelles Dornblatt umschaltet, wirken ebenso wie die breiten Dornblattzierleisten um den Textspiegel, die bis zum Ansatz des Bogenabschlusses reichen, als sei das Buch spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts geschrieben worden und dann liegen geblieben. Gegen die Annahme, dieser Schriftdekor stamme aus früherer Zeit, spricht jedoch der Umstand, daß Initialen und Zierleisten derartig unverbunden neben einander stehen, als habe man vergessen, wie entschieden gerade diese Dekorationsfamilie darauf angelegt war, die im Zierbuchstaben entwickelten vegetabilen Formen in die Ränder sprießen zu lassen. So wirkt das Dornblatt in unserem Manuskript wie eine Referenz auf ältere Formen; und da für derartig viele Initialen und Zierleisten recht viel Blattgold nötig war, verrät es auch einen damit gepaarten Anspruch auf alte Üppigkeit. Dazu paßt der Einsatz von echtem Gold im Pinselgold der Bordüren, so daß zur traditionellen Ausrichtung ein er-
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staunlicher Auf wand an teurem Material kommt. Keine andere Handschrift in diesem Katalog ist ähnlich kostbar gestaltet worden. Am fortschrittlichsten sind die Kompartiment-Bordüren mit ihrem schlichten Wechsel von Pergamentgrund und Flächen, die mit kaum glänzendem Muschelgold gefüllt sind. Im Kalender beschränkt man sich auf die schlichte Einteilung in Bildfelder ohne Randdekor. Auf den Bildseiten wird statt der Kompartimente durchweg glänzender Pinselgoldgrund eingesetzt und mit mindestens einem Vogel im oberen Bereich des Außenrands geschmückt. Fliegen können im unteren Bereich hinzukommen. Grotesken gibt es nirgendwo, wohl aber eine große Anzahl von Figuren, die sich auf das Hauptbild beziehen. Hierarchisch an der Spitze stehen sechs Bildseiten, deren Ränder mit goldenen Architekturen gegliedert sind, um mit Bögen bekrönte Bildfelder zu schaffen; sie finden sich am Beginn der Perikopen, der Ofzien, der Horen und der Bußpsalmen. Bildfolge fol. 1: Im Kalender wird die gewohnte Abfolge von unter den Text gestellten Monatsbildern auf Recto und Tierkreiszeichen auf Verso mit jeweils fünf kleinen von Bögen abgeschlossenen Bildfeldern ergänzt: zwei oben, die nur Büsten erlauben, drei, in der zweiten Dezemberhälfte vier, außen, in deren Hochformat Ganzfiguren Platz finden. Thematisch beziehen sie sich auf das Kirchenjahr, nicht immer treffend: Zum Januar: Ein Mann am Speisetisch, der am Kaminfeuer von einem Jüngling bedient wird; dazu Simeon und Maurus als Büsten oben, die Beschneidung, Genovefas Kerzenwunden und die Epiphanie. Auf Verso der Wassermann als geflügelter nackter Knabe, der einen Krug in einen Fluß ausgießt; dazu ein Bischof, wohl Marcellus und Antonius Abbas als Büsten, Sebastians Pfeilmarter, Vinzenz als Diakon, Paulus mit Buch und Schwert. Zum Februar: Ein Ehepaar am Kamin bei offener Tür zum Feuer gewendet sitzend; dazu ein nicht definierter Bischof und Bischof Blasius mit dem Wollkamm, die Darbringung im Tempel und zweimal nur farblich unterschieden Apollonia mit der Zange. Auf Verso die Fische in einer Flußlandschaft; dazu ein Bischof und ein Ritter (Julian und Victor?), eine Heilige mit Buch (eher Honorina als Susanne), Petrus als thronender Papst und Matthias. Zum März: Gartenarbeit vor einer Mauer mit Weinstöcken oder Obstbäumchen; dazu ein Mönch und ein Bischof oben, ein weiterer Bischof sowie die Päpste Gregor und Leon. Auf Verso der Widder vor einer befestig ten Stadt; dazu nicht identifizierte Bischöfe: zwei oben, einer über und einer unter dem zentralen Bild der Marienverkündigung. Zum April: Ein Liebespaar im Garten, dazu Maria Aegyptiaca oben links, Hieronymus mit dem Löwen als erstes Bild am äußeren Rand sowie drei nicht identifizierte Bischöfe. Auf Verso der Stier in weiter Landschaft; dazu nicht identifiziert ein Bischof und
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ein Mönch oben, ein weiterer Bischof als erstes Bild außen, Georgs Drachenkampf und Markus mit dem Löwen. Zum Mai: Ein reitendes Paar auf einem Schimmel mit Falken und Hund; dazu ein Bischof und Nikolaus mit den drei Knaben in den kleinen Bildfeldern oben sowie Jakobus und Philippus in einem Bild, die Aufndung des Kreuzes mit Helena im Hintergrund sowie die Ölmarter des Johannes. Auf Verso die Zwillinge als nackte Putten, tanzend oder balgend in der Landschaft; dazu Honorina oder Petronilla und Papst Felix oben, Yvo als Gelehrter mit dem bretonischen Hermelin als Mantel, Wandrillus als Benediktiner, ein Bischof, entweder Germanus oder Augustinus. Zum Juni: Heumahd mit der Sense vor einer Stadt mit hohen Türmen; dazu nicht definiert ein Bischof und ein Diakon oben sowie ein Diakon und ein Bischof außen, darunter Barnabas als Apostel mit Buch und Marterinstrument. Auf Verso der Krebs in einem Fluß, dazu nicht identifiziert ein Bischof und ein Benediktiner oben sowie ein Diakon mit Märtyrerpalme als erster außen, danach die Geburt des Täufers sowie Peter und Paul in einem gemeinsamen Bild. Zum Juli: Kornmahd mit der Sichel vor einem Block sehr hohen Korns; dazu nicht definiert ein Diakon und ein Bischof oben, der heilige Martin als Bischof (?), Thomas von Aquin und Benedikt. Auf Verso der Löwe als ein großes Tier in der Landschaft; dazu vielleicht Alexis und der Diakon Leonhard oben; Magdalena mit Salbtopf, Jakobus als Pilger und Anna bei der Erziehung der Jungfrau. Zum August: Korndreschen in der Scheune; dazu Bischof Stephan und der Erzdiakon Stephan oben, Petrus, Lorenz mit einem kuriosen Rost und die Himmelfahrt Mariens. Auf Verso Jung frau zwischen zwei dicken Korngarben; dazu ein Benediktiner und ein Bischof oben sowie Bartholomäus, König Ludwig der Heilige und die Enthauptung des Täufers. Zum September: Weinkelter; dazu nicht definierte Bischöfe oben und rechts unten sowie die Geburt Mariens und die Kreuzerhöhung durch Kaiser Heraklius (14.9.). Auf Verso die Waage in der Hand einer Magd im Interieur; dazu Diakon und Bischof oben, Matthäus mit dem Engel, Cosmas mit dem Uringlas und Michaels Sieg über den Satan. Zum Oktober: Sämann im gepflügten Feld; dazu nicht definiert eine Jungfrau und ein Bischof oben sowie Remigius mit dem Salbtopf, Stigmatisation des heiligen Franziskus, Dionysius mit seinem abgeschlagenen Kopf in der Hand. Auf Verso der Skorpion als schwarzes Krustentier in der Landschaft; dazu ein Bischof und dicht gedrängt einige der 11.000 Jungfrauen oben sowie Lukas mit dem Stier, Crispin und Crispinian als Schuhmacher-Meister und Lehrling und schließlich Simon und Juda in einem gemeinsamen Bild. Zum November: Ein Schweinehirt beim Abschlagen von Eicheln; dazu undefinierte Bischöfe oben sowie Allerheiligen, Allerseelen im Fegefeuer und schließlich Martins Mantelspende. Auf Verso der Schütze als Kentaur; dazu zwei nicht definierte Bischöfe oben
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sowie Papst Clemens, Katharina mit dem Schwert und Andreas mit dem X-förmigen Kreuz. Zum Dezember: Schweineschlachten mit Mann und Frau; dazu ein nicht definierter Papst, Eligius von Noyon als Bischof mit dem Hammer des Goldschmieds oben sowie Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich, der Kuß an der Goldenen Pforte und die heilige Lucia mit dem Teller für ihre Augen. Auf Verso der Steinbock im Ammonshorn; dazu eine Märtyrerin mit Buch und ein Bischof oben sowie Thomas mit seinem Marterinstrument, Christi Geburt, Stephanus mit drei Steinen und der Kindermord von Bethlehem. fol. 13: Der Bilderreichtum setzt sich bei der Eröffnung des Textblocks fort: Hauptszene ist wie gewohnt Johannes auf Patmos, einer Insel, die nach links einen steilen Felsen hat und nur rechts von Wasser umspielt wird, mit einem Blick auf Ephesus in der Ferne; der Evangelist wendet sich nach rechts und schreibt, während ihm der Adler das Schreibzeug hält. Die goldglänzende Architekturbordüre enthält vier Felder mit nicht ganz kanonischen Szenen aus der Johannes-Legende: Unter dem Text, nach links bis zum Rand der Malerei ausgedehnt, die Auferweckung der Drusiana, deren hölzerner Sarg hier bereits in die Friedhofswiese eingelassen ist; da sitzt die Verstorbene im Leichentuch auf, den nackten Körper sichtbar und betet. Rechts oben ein Verhör vor Kaiser Diokletian, darunter das Ölmartyrium und schließlich wie[?] ein zweites Verhör vor demselben Kaiser, neben dem nun ein Priester mit Mitra steht, mit dem Kelchwunder; die beiden, die bereits vom Gift getötet sind, liegen hier wie Kinder vor dem kaiserlichen Thron. fol. 15: Die übrigen Evangelisten sind in Interieurs gezeigt, die teilweise wie bei François Le Barbier dem Jüngeren (so in Nr. 32) mit grünen und blauen Säulenschäften gerahmt und einem doppelten Maßwerkbogen bekrönt sind: Lukas malt das Haupt der Schmerzensmutter (fol. 15) in einem luftigen zur Landschaft offenen Palastraum; in der Bordüre die Verkündigung an Maria, auf die Ecken verteilt: Gabriel kniet links unten, Maria mit einem Buch in der Hand rechts, während Gottvater rechts oben als Büste in einem Himmelsoval erscheint. Genial werden die Gestalten von einem Schriftband verbunden, das sich mit seiner blauen Innenseite um einen grünen Knotenstock windet, während das Ave auf die rosafarbene Außenseite in Goldlettern geschrieben ist. In einem Raum, der an so manche Pariser Bilder der Marienverkündigung erinnert, sitzt Matthäus mit dem Engel (fol. 16) rechts unter einem Baldachin, mit der maßwerkverzierten Holzkiste, die Maria oft als Betpult dient, während der Engel einen offenen Folianten hält. In der Bordüre sind die Heiligen Drei Könige zu Pferde so verteilt, als machten sie sich auf den Weg nach Bethlehem, der jüngste rechts in bemerkenswerter Vorderansicht. Markus mit dem Löwen (fol. 19), der vor dem hölzernen Windfang einer offen stehenden Tür verharrt, als sei er gerade hereingekommen. Auf die Randstreifen verteilt ist die in der Perikope geschilderte Erscheinung Christi bei den Aposteln, zugleich eine Art Apostelabschied. fol. 20v: Zu den beiden Mariengebeten die zu jener Zeit gewohnte Folge von Freude und Schmerz: Zum Obsecro te die gekrönte Maria mit Kind (fol. 20v), en face auf einem nach vorn weit geöffneten Thron, wie er um 1400 gemalt wurde; dazu in der Bordüre vier erstaunlicherweise nackte musizierende Engel, nicht Putten, die Harfe, ein Streichinstru-
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ment, eine Portativ-Orgel und Laute spielen. Zum O intemerata die Beweinung unter dem Kreuz (fol. 24v) nach der schon in Nr. 32 von François Le Barbier dem Jüngeren benutzten Bildidee mit Johannes, der links das Haupt des Toten stützt, und Magdalena rechts, vor einer Stadtkulisse; in der Bordüre als Diakone in Dalmatiken gekleidete Engel mit den Marterwerkzeugen und in der Mitte unten dem Schweißtuch der Heiligen Veronika. fol. 28: Im Marienofzium wird der vertraute Zyklus durch zwei ganzseitige Miniaturen ergänzt, die auf dem leer gebliebenen Endblatt der vorausgehenden Lage Platz fanden, nachdem die Hauptbilder schon in den Bordüren durch weitere Episoden bereichert wurden. Beide Vollbilder haben Parallelen im gedruckten Stundenbuch: Die synchrone Darstellung von Adam und Eva findet sich in der Folge für Dupré, die in Horae B. M. V. als „Dupré-Meister, Säulenrahmen, ca. 1488“ bezeichnet wird (Horae B. M. V. IX , S. 3922, Abb.2). Die Wurzel Jesse kommt um 1489 zum ersten Mal in den Metallschnitten des Meisters der Apokalypsenrose, ebenfalls für Dupré vor: „MdA für Dupré, ca. 1489“ (ebenda S. 3993, Abb. 2). In beiden Fällen halten sich formale Ähnlichkeiten in Grenzen. Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (fol. 28) rücken in der Miniatur eng nebeneinander: Schauplatz ist eine von hohen Mauern und mächtigen Türmen umgebene Blumenwiese mit dem Baum der Erkenntnis, der viele dicke Früchte trägt. Um den Stamm schlängelt sich Satan, mit weiblichem Oberkörper, und bietet noch eine Frucht an, zur Rechten greift Adam verzweifelt an seinen Adamsapfel, zur Linken steht Eva und hält gleichsam triumphierend einen Apfel in der Hand. Da schaltet sich der feurig rote Erzengel Gabriel ein und verjagt die beiden mit erhobenem Schwert. Die zweite ganzseitige Miniatur mit der Wurzel Jesse (fol. 28v) soll mit der Marienverkündigung gegenüber angeschaut werden, auch wenn die Malfläche größer und das Layout ein ganz anderes ist: Auf seinem fast wie ein Bas-de-page wirkenden Bett liegt der Stammvater, ein wohlhabender Greis mit goldener Kleidung und einer Hermelinkrempe am Hut. Aus seiner Brust wächst ein grüner Weinstock mit großen dunklen Reben, der in die Höhe steigt, sich verzweigt und auf Blattknospen zwölf Könige als Halbfiguren, darunter den Harfner David, hervorbringt. Die ebenfalls gekrönte Maria mit dem Kind steht wie das Apokalyptische Weib vor einer goldenen Sonnen-Mandorla; sie schwebt, von den Ästen der Wurzel Jesse umgeben, entspringt ihr aber nicht. Die Verkündigung mit dem Incipit der Marien-Matutin (fol. 29) wird mit Säulen und Doppelbogen gerahmt; Schauplatz ist ein Sakralraum mit einem Maßwerkfenster. Links kniet Maria unter einem Baldachin; die Truhe mit ihrem Betpult ist ein wenig in die Bildtiefe gerückt. Halbwüchsig wirkt Gabriel, wie er in seiner goldenen Dalmatika rechts mit Zepter, aber ohne Spruchband vor ihr kniet und nach oben weist. In einem zum Himmel offenen Bogen zeigen sich zwei Personen der Trinität: Christus und Gottvater mit Tiara, während die Taube in den Raum eingedrungen ist, gefolgt vom Jesusknaben, der sein Kreuz geschultert hat. Vom Kuß an der Goldenen Pforte rechts oben über die Mariengeburt und den Tempelgang setzen sich in der Architekturbordüre Szenen aus dem Marienleben unten fort: Recht ungewohnt ist ein Bildchen mit der Jungfrau, der ein Engel einen Folianten zur Lektüre hält; seltsam wirkt auch der Umstand, daß der Priester,
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der die Vermählung mit Joseph vollzieht, wie die Jungfrau Maria durch einen Nimbus ausgezeichnet ist. Weiß sind die Statuetten von Propheten im Randstreifen zum Falz hin und im Bogen über dem Verkündigungsbild. Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 51), in der Joseph und eine Magd Maria begleiten und die greise Elisabeth von rechts aus einem stolzen Torbau tritt, wird, wie es zuweilen geschieht, in der Bordüre durch die Johannesgeburt ergänzt, für die sogar zwei Szenen vorgesehen sind: Unten hat Maria den Johannesknaben in den Arm genommen, rechts außen hält sie ihn, während Zacharias, der nun am Wochenbett Platz genommen hat, den Namen aufschreibt. In der Tradition der Le Barbier steht das Bild der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 62): Unter dem Dach des Stalls und vor einem Flechtzaun kniet Maria links, Joseph rechts; der nackte Knabe liegt auf einem mit Weidengeflecht umgebenen Rund, zu dem sich hinter Maria und Joseph Ochs und Esel wenden; über der Szene schweben zwei Engel und stimmen das Gloria an, während zwei Hirten, ganz in Grau, hinter dem Zaun stehen, vor einer Stadtansicht rechts hinten. Die Heiligen Drei Könige sind ähnlich wie in der Bordüre bei Lukas verteilt. Bemerkenswert komponiert ist die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 68): Unter einem zentralen Baum, der wie ein Schirm beschnitten wirkt und über dem der Engel mit dem Gloria erscheint, scharen sich zwei Hirten und eine Hirtin, die mit einem Rocken in der Hand am Boden hockt. Die beiden Männer ziehen gerade den Hut, während die Frau sie erstaunt anblickt. Die Herde grast rechts im Mittelgrund vor einer Stadtkulisse. Ein Hirte mit seinem Hund schaut aus dem rechten Randstreifen zum Engel; unten sind zwei Paare zum Hirtentanz angetreten, zur Musik einer Sackpfeife. Die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 72v) behält das Ambiente des Weihnachtsbildes bei; doch fehlt Joseph ebenso wie die Tiere. Daß in jener Zeit dieses Thema auch mit Maria en face vorkommt, spielt bei der Gestaltung ebenso eine Rolle wie die Nähe zur Pietà: Die Muttergottes hat ebenso wenig Kontakt zu den Königen wie der auf ihrem Schoß liegende nackte Knabe. Während der älteste kniet, wartet der mittlere unter dem Stern; der jüngste tritt herzu vor der Stadtkulisse. Im Randstreifen links reiten die Könige weiter, nachdem sie offenbar vorher ihren Besuch bei Herodes gemacht haben, für den in der unteren Bordüre ein eigenes kleines Bildfeld dient. Die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 76v) versammelt um Maria und Simeon, der den nackten Knaben auf den Altartisch gestellt hat, die Magd mit Kerze und Joseph mit den Tauben sowie einen vornehmen jungen Mann. Überraschend sind die Motive am Rand: Die Magd mit der Kerze wird in größerem Maßstab wiederholt; und dann wird unten eine Schilderung der christlichen Lichtmeß mit Frauen und Priestern ausgebreitet. Die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 80v) folgt im Grundmuster den vertrauten Vorlagen: Vor einem Fernblick links steigt rechts das Gelände an; dort steht die Säule, von der ein Götze stürzt. Maria sitzt mit dem Kind, das einen goldenen Rock trägt, auf dem Esel, der nach rechts geführt wird. Hier nun wird im Mittelgrund links das Kornwunder
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eingefügt: Ein Sämann, der das Heer des Herodes nicht auf die Fährte der Heiligen Familie schickt, erhält dafür eine volle Ernte. Auf gleicher Höhe etwa treten in den Randstreifen einzelne Soldaten auf: der links hat ein Kind auf sein Schwert gespießt; unten wird weiter vom Kindermord vor dem Thron des Herodes gehandelt. Den Endpunkt des Zyklus bildet die Marienkrönung zur Komplet (fol. 87): Über blauen Wolken und vor einem Fond aus feurigen Seraphim wartet seitlich zu Gottes Thron eine Bank auf die Muttergottes, die auf einer grünlich schimmernden Fläche kniet, von einem Engel begleitet, während zwei kleinere Engel mit der Krone über ihr schweben; Gottvater mit Tiara segnet. Voraus ging der Marientod im Beisein aller Apostel in der Bordüre unten und Marias Himmelfahrt im rechten Randstreifen, wo ein Engel dem Ungläubigen Thomas den Gürtel der Jungfrau aus der Höhe herabgibt. fol. 92: Im Layout der Marienverkündigung wird Davids Buße zu den Bußpsalmen von Szenen aus dem Leben des Königs umgeben: Mit seiner Krone auf dem Kopf betet David in einer Kapelle vor einem Altar; seine Harfe ist hinten links abgestellt; rechts erscheint Gottes feuriger Racheengel mit einem Schwert in einer Bogenöffnung über dem Altartisch. Chronologisch setzen die drei Randbilder unten mit Davids Kampf gegen Goliath ein: Der Hirtenknabe steht links, rechts sinkt der Riese getroffen in die Knie, über David erscheint, in verfehlter Raumdarstellung die Schlacht gegen die Philister. Darüber wird Davids Triumph gezeigt, nachdem er Goliaths Kopf abgeschlagen hat; rechts oben schließlich wird, passender zu den Bußpsalmen, Bathsebas Bad geschildert. fol. 109v: Dem Layout mit Bildfolge in Architekturbordüren folgen auch die Bilder zur Matutin von Kreuz und Geist: Die Kreuzigung (fol. 109v) ist volkreich, aber nur mit Leuten zu Fuß geschildert: Christi Kreuz steht zwischen den Kreuzen der Schächer; den Kreuzesstamm umklammert Magdalena, zwischen Maria, Johannes und den Frauen links und dem Zenturio, dessen Wort als Spruchband aufsteigt, in goldener Rüstung mit einem großen Schild, das der Doppeladler ziert. Fünf Stationen aus der Passion Christi werden in der Architekturbordüre geschildert: Gefangennahme, Verhör vor dem Hohenpriester, Geißelung, Handwaschung des Pilatus und Kreuztragung. Dieser Zyklus wird auf eine uns sonst völlig unbekannte Weise mit fünf weiteren Passionsbildern, der Beweinung, Grablegung und Auferstehung Christi, danach erst dem Gang in die Vorhölle und schließlich Christus als Gärtner, also Noli me tangere, in der Architekturbordüre des nächsten Bildes fortgesetzt, das die Geist-Matutin eröffnet und das Pfingstwunder schildert (fol. 117v): In einer halbrunden Apsis thront Maria im Kreis der Apostel, über ihr erscheint die Taube und sendet auf Strahlen die Flämmchen aus. fol. 123v: Die erstaunlichste Leistung der Buchmalerei in diesem Stundenbuch ist die unerhört reiche Bebilderung des Toten-Ofziums, die nur von unserer Nr. 47 übertroffen wird, freilich noch bildreicher ist: Zunächst hat man den Eindruck, es solle bei nur einem Bild, der Auferweckung des Lazarus in einem Kirchenchor zur Toten-Vesper (fol. 123v) bleiben; denn die fünf Bilder in der Architekturbordüre bieten bereits einen Hiobszyklus, dessen Stationen bis auf die erste dann im Verlauf des Ofziums wiederholt werden: Auf Gottes Pakt mit dem Teufel folgt die Vernichtung des Viehs, der Einsturz
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des Hauses; Hiob erfährt durch drei Boten vom Tod der Familie, ehe er dann auf dem Dung von seiner Frau bedrängt wird. fol. 131v: Zur Matutin die Geschichte vom Reichen und dem armen Lazarus mit dem Gastmahl des Reichen und dem Tod des Lazarus in der Bordüre, den Höllenqualen des Reichen in voller Bordürenbreite unten und Abrahams Schoß im Hauptbild, wo unter einem Baldachin zwei Engel den Vorhang zurückziehen, so daß Abraham erscheint, der die Seele des Lazarus freudig in Empfang nimmt, während zwei weitere Engel musizieren. Die neun Lesungen werden dann nach ein und demselben Muster bebildert: Alle Bilder beziehen sich auf Hiob, jedoch nicht wie in unserer Nr. 47 auf eine neue Lektüre der Lesungen, sondern auf die Geschichte des Dulders, die in jener Serie von kleinen halbfigurigen Graphiken des Meisters der Grandes Heures, die in unserem Katalog Horae B. M. V. als „nahsichtige Kleinbilder für Dupré ca. 1488“ bezeichnet werden (vor allem Gamma, also Jean Dupré, um 1488: Horae B. M. V. IV, S. 1492, mit Abb. auf S. 15051510), thematisch gleich geordnet sind. Jeweils eine Gestalt in der Außenbordüre wirkt wie ein Echo auf etwa in gleicher Höhe im Hauptbild gezeigte Figuren oder schließt sich dem Geschehen dort an; im unteren Randstreifen werden Begegnungen des Todes mit je zwei Menschen gezeigt, meist als „Tanz-Paare“: Zur ersten Lesung, die um Schonung bittet (Parce michi) im Hauptbild Hiob mit seiner Familie (fol. 137), Frau, erwachsenem Sohn und Enkeln; dazu Hiob im Gebet zu Gott mit demselben Incipit sowie unten aus dem Totentanz die Begegnung mit dem Papst und dem Kaiser. Zur zweiten Lesung (Tedet animam meam) Hiob auf dem Dung liegend, unter Gottes Angesicht von Teufeln gequält (fol. 138v); der Dulder in der Bordüre noch einmal wiederholt, unten aus dem Totentanz der Tod zwischen Kardinal und König. Zur dritten Lesung (Manus tue) Hiobs Herde vernichtet und sein Vieh geraubt (fol. 140) in zwei Bildschichten über und hintereinander, in der Bordüre außen ein Soldat aus der Gruppe der Räuber; unten aus dem Totentanz Ritter und Bischof. Zur vierten Lesung (Quantas habeo iniquitates) Hiobs Haus stürzt ein (fol. 146v); ein Diener flieht in der Bordüre; unten aus dem Totentanz zwei Prälaten mit Mitren. Zur fünften Lesung (Homo natus de muliere) Hiob erfährt vom Tod seiner Familie (fol. 148) mit drei Boten; ein vierter Bote in der Bordüre; unten aus dem Totentanz Ritter und Kaufmann. Zur sechsten Lesung (Quis michi hoc tribuat) Hiob auf dem Dung mit den Freunden (fol. 149v) vor einem eindrucksvollen Stadttor; in der Bordüre außen ein fünfter Besucher; unten aus dem Totentanz ein Reicher und ein Gelehrter.
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Zur siebten Lesung (Spiritus meus attenuabitur) Hiob auf dem Dung mit drei Musikanten (fol. 156v), ein vierter mit Portativorgel in der Bordüre; unten aus dem Totentanz reicher Jüngling und Beicht-Priester. Zur achten Lesung, die in irriger Rubrik als die neunte bezeichnet wird (Pelli mee consumptis) Hiob auf dem Dung mit seiner Frau (fol. 158), mit dem Teufel in der Bordüre; unten aus dem Totentanz ein Zisterzienser und ein Benediktiner. Zur neunten Lesung (Quare de vulva eduxisti) Hiob betend mit seiner ihm wieder gegebenen Familie (fol. 159v), dahinter das Vieh und in der Bordüre ein weiteres Dromedar, das jedoch zwei Höcker hat und nicht wie ein Trampeltier aussieht; unten aus dem Totentanz ein Mann mit Schwert und Befehlsstab und ein Arzt mit Uringlas. fol. 174: Zu den beiden französischen Gebeten der XV Freuden und VII Klagen ein Madonnenbild und eine Darstellung der Trinität: Douce dame als halbfiguriges Bild der Madonna mit Kind (fol. 174) in einem mit Juwelen besetzten Rahmen, musizierende nackte Engel, nicht Putten in der Bordüre. Zu Doux diu die Trinität (fol. 179v) in der für Psalm 109 entwickelten Formel: Christus als Schmerzensmann mit dem Kreuz, der greise Vater mit Tiara in gemeinsamem rosafarbenen Mantel mit der Taube und dem Buch des Lebens, vor einem hohen Blendmaßwerk, das vom Fond aus feurigen Seraphim gerahmt wird. In helle Tuniken gekleidete musizierende Engel in der Bordüre. fol. 183: Zu den Suffragien Hauptbilder, die am Rand mit Szenen ohne eigene Bildfelder ergänzt werden: Michaels Sieg über den Teufel (fol. 183) vor einem Felsen rechts, der bereits den Mont Saint-Michel meinen dürfte; dazu Pilgerschaft zum Mont Saint-Michel in der Bordüre, die unten links beginnt, in der rechten unteren Ecke ein Banner mit dem siegreichen Erzengel zeigt und dann aufsteigt zu einer Ansicht vom Tor hinauf zur Klosterkirche. Enthauptung des Täufers (fol. 184) vor der Kulisse des Kerkers; noch kniet Johannes mit verbundenen Augen (!) aufrecht, während Salome mit der Schale wartet. In der Bordüre sieht es dann aus, als habe sich Salome nach Erhalt des Hauptes mit ihrer Schale gedreht; schließlich steht sie an der Tafel ihres Vaters, auf der die Johannes-Schüssel zur Freude der Herodias und zum Entsetzen des Herodes steht. Christophorus mit dem Christusknaben (fol. 185) in einem Fluß, in dem eine Nixe mit einem Spiegel ihr Haar kämmt, rechts oben der Einsiedler mit der Lampe. Zu beiden Seiten die Episode, bei der Christophorus als Reiter (rechts) unter einem Wegkreuz merkt, wie der Teufel (links) flieht. Unten das irrtümlich wie die Sebastiansmarter dargestellte Pfeilmartyrium des Heiligen vor dem wesentlichen Moment, daß der Pfeil, der noch nicht getroffen hat, im Flug umdreht [unklarer Satzbau] und das Auge des heidnischen Königs triff t; deshalb dürfte der Heilige nicht mit Pfeilen gespickt sein. Pfeilmarter des heiligen Sebastian (fol. 187) mit zwei Bogenschützen vor einer niedrigen Mauer. Szenen seines sehr viel später erlittenen Martyriums in der Bordüre: Er wird in einen Ofen geworfen und auf einem Brett mit Stangen mißhandelt.
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Nikolaus erweckt die drei Jünglinge (fol. 188v), die im Bottich gepökelt werden sollten. Links der Teufel, der einen Mann stranguliert. Unten die Taufe des Juden, dem ein Christ die Rückzahlung eines Kredits verweigert hatte, worauf der Jude der Legenda aurea zufolge durch das Eingreifen des Heiligen sein Geld zurückbekam, weshalb er dann konvertierte und sich taufen ließ. Margarete steigt aus dem Drachen (fol. 189v); Peinigung der halbnackten Jungfrau unten und Enthauptung links neben dem Hauptbild. Enthauptung der heiligen Barbara (fol. 190v) durch denselben König, der links neben dem Hauptbild vom Teufel geholt wird; im unteren Randstreifen eine ähnliche Martyriumsszene wie bei Margarete. Der verantwortliche Maler Alles Figürliche in diesem Stundenbuch scheint von einer Hand gemalt zu sein; das triff t wohl auch für die beiden ganzseitigen Bilder zu, auch wenn deren etwas größere Gestalten leicht vom Rest abweichen mögen. Für die Zusammengehörigkeit dieser Malereien spricht der dünne Farbauftrag, der diese Miniaturen mit den anderen Bildern verbindet: Der Maler arbeitet in erster Linie graphisch und koloriert so, daß die Reglierung beispielsweise unter dem Johannesbild genauso präsent bleibt wie unter der Darstellung des Paradieses. Eine besondere Qualität liegt im Einsatz heller Töne und des vielen dünnen Pinselgolds für Architekturen und Möbelstücke; daraus entsteht ein sehr lichter Gesamteindruck. Die Einbindung des Malers in die hauptstädtische Produktion ist ebenso offensichtlich wie der grundsätzlich pariserische Charakter des Stundenbuchs, dessen Marienofzium ebenso wie die Heiligenauswahl in Kalender und Litanei diesen Bezug unterstreichen. Doch ist das Totenofzium für einen nicht näher bestimmbaren Brauch eingerichtet. Die Nähe zum frühesten Pariser Buchdruck, insbesondere den Stundenbüchern von Dupré von 1488 und 1489 ist ein weiteres Argument, den Künstler, dessen Miniaturen an Vorgaben der Le Barbier orientiert sind, in Paris tätig zu sehen. Zugleich treten inhaltliche und stilistische Bezüge zum Meister Karls VIII . zu Tage, der die beiden hier folgenden Stundenbücher gestaltet hat und dessen Stuttgarter Stundenbuch cod. Brev. 5 der Württembergischen Landesbibliothek durch den lichteren Farbauftrag unserem Manuskript nahe steht. Umso irritierender ist der Umstand, daß wir kein zweites Manuskript derselben Hand kennen. Die Bildphantasie des Künstlers sorgt innerhalb der Miniaturen für eine Fülle an Details; sie richtet sich aber noch entschiedener auf die Ergänzung durch Beifiguren und weitere Bilder, mit denen die Hauptminiaturen ergänzt werden können. Auf die Menge kommt es an, wenn es den Maler nicht kümmert, beispielsweise im Februar die Gestalt der heiligen Apollonia zweimal in den Rand zu setzen.
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Einen Namen können wir dem Maler nicht geben; denn wenn wir schlankweg vom Mei ster des C. P.-Stundenbuchs sprächen, würde dies auch unterstrichen, daß es nicht ge lingen will, das Monogramm schlüssig aufzulösen. Ein vollständig erhaltenes, überbordend dicht und einfallsreich illuminiertes Pari ser Stundenbuch, das vor allem durch seinen grandiosen Hiobszyklus auff ällt, aber auch auf jeder Bildseite Überraschungen bietet. Von Schrift und Schriftdekor noch entschieden älteren Traditionen verpflichtet, mit für die Entstehungszeit ungewöhn lich üppigem Einsatz von Gold, das in Folie ebenso wie mit dem Pinsel aufgetragen wird, erweist sich das Buch als ein besonders kostbarer und kostspieliger Auftrag an einen Künstler, dessen Identität noch zu klären ist. Namenlos, wenn nicht als Mei ster des C. P.-Stundenbuchs, bleibt er zunächst und nimmt eine markant eigenwillige Stellung zwischen François Le Barbier dem Jüngeren und dem Meister Karls VIII . ein. Mit dem Buchdruck verbindet diesen Maler viel, doch weichen selbst die bei den ganzseitigen Miniaturen, die engste Parallelen bei Dupré haben, in der Bildan lage dermaßen von den Graphiken ab, daß schließlich nur die Sonderstellung dieses Buchmalers unterstrichen wird, dem es auf die hohe Zahl von Bildern und Figuren ankam. LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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35 Ein herrliches Stundenbuch mit vielen schwarzgrundigen Bordüren: eines der schönsten Werke vom Meister Karls VIII.
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken auf Französisch in Blau, mit einem franzö sischen Kalender in Rot und Blau, Festtage in Gold, geschrieben in schwarzer Textura. Paris, um 1480/90: Meister Karls VIII. 97 Bilder in 55 Miniaturen: vier ganzseitige Miniaturen, die erste mit breitem Schmuck rand; 14 große Kopfminiaturen mit Vollbordüren über drei Zeilen Text im Marien-Of fizium, sonst über vier Zeilen Text, durchweg mit dreizeiligen Initialen; sowie 12 Klein bilder für die Suffragien mit dreiseitigem Randschmuck von außen; 24 Kalenderbilder, zu denen dort 43 Heiligenfiguren in den Vollbordüren hinzukommen; jede Textseite mit einem Bordürenstreifen gleicher Art am äußeren Rand. Die unterschiedslos buntgrundi gen Bordüren, teils in Kompartimenten gegliedert, in Schwarz, Rot, Blau, Braun oder Hellgrün von erstaunlicher Vielfalt und Varianz, belebt mit Akanthusranken, Blüten, Vö geln und Grotesken. Weiße, meist mit Rosa modellierte Akanthus-Initialen auf Rotbraun, mit Binnenfeldern in Pinselgold, mit floralem Dekor, nur auf fol. 108v eine rot-blaue Akanthus initiale mit Goldhöhung; einzeilige Initialen zu den Psalmenversen in Pinselgold auf blauen, roten und braunen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art oder als goldene Knotenstöcke. Ver salien gelb laviert. 213 Blatt Pergament, 1 festes und 3 fliegende Vorsätze vorne und 1 festes und 2 fliegende Vor sätze hinten aus Papier mit Besitzeinträgen, dazu 1 fliegendes Vorsatz vorn und 2 fliegende Vorsätze hinten aus Pergament; Marmorpapier vorne und hinten als festes und auf dem er sten fliegenden Vorsatz. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalender lage 1 (12) und die Lage 4 (2); horizontale Reklamanten in Bastarda. Rot regliert zu 16, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (160 x 108 mm, Textspiegel: 86 x 50 mm). Farbstark und blendend erhalten, jedoch vom Buchbinder außen und unten minimal getrimmt. Schwarzer Maroquineinband des 17. Jahrhunderts auf fünf erhabene Bünde, Goldfileten auf Rücken und Deckeln, Marmorpapiervorsätze, zwei kleine Schließen; Goldschnitt. Provenienz: Nicolas Joseph de Nettancourt, Vicaire général d’Orléans (28.7.1711 – 28.10.1743), Erzdiakon von Sologne, Kanonikus von Sainte Croix in Orléans, später „conseiller aumônier ordinaire du Roi“: Eintrag, datiert 1745, mit Hinweis auf N. J. de Nettancourt als Erblasser („frère“): da er zwei Brüder und drei Schwestern hatte, ist eine genauere Bestimmung des Erben nicht möglich. Zuletzt Verkaufskatalog VI, Manuscrits enluminés et livres précieux, Chartres 1989, Nr. 5: 1,5M Francs.
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Text fol. 1: Französischer Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Gol dene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf Rot oder Blau, Sonntagsbuchsta ben b-g in Braun, Iden und Nonen abwechselnd in Rot und Blau, S des Heiligennamens in Gold auf Rot, Blau oder Braun, Festtage in Gold, Pariser Kalender. fol. 13: Perikopen, beginnend mit Johannes als Suffragium (fol. 13), Lukas (fol. 15v), Mat thäus (fol. 17v) und Markus (fol. 19v). fol. 21: Mariengebete: Obsecro te (fol. 21), redigiert für einen Mann, O intemerata (25v). fol. 31: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Paris: Matutin, mit drei vollen Nokturnen (fol. 31), Laudes (fol. 57v), Prim (fol. 71), Terz (fol. 78), Sext (fol. 83), Non (fol. 89), Vesper (fol. 95), Komplet (fol. 103). fol. 110: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 110) und Heilig Geist (fol. 119). fol. 126: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 139), darunter die Heiligen Simphoriane, Lambert, Genulphus, Mauritius, Yvo, Albinus, Claudius, Albertus, Medericus, Lubinus, Gemma. fol. 147: Die sieben Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos. fol. 149: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 149), Matutin (fol. 158, mit einer Rubrik hervorgehoben), Laudes (fol. 186v, nicht hervorgehoben). fol. 203: Suffragien: Sebastian (fol. 203), Blasius (fol. 204v), Lazarus (fol. 205v), Adrian (fol. 206), Claudius (fol. 207), Franziskus (fol. 208), Nikolaus (fol. 208v), Magdalena (fol. 209), Katharina (fol. 210), Apollonia (fol. 210v), Barbara (fol. 211v), Genovefa (fol. 212v). fol. 212v Textende. Schrift und Schriftdekor Geschrieben ist das Manuskript noch in reiner Textura. Die einzeiligen Initialen, die auch die Suffragien eröffnen, sind rasch mit dünnem Pinselgold auf blauen und braun roten Flächen ausgeführt. Psalmenverse setzen wie gewohnt in einer neuen Zeile an; deshalb sind viele Zeilenfüller nötig, die, wenn nicht in gleicher Art, als Knotenstock mit Pinselgoldhöhung ausgebildet sind. Zweizeilige Initialen zu Psalmenanfängen sind ebenso wie die nur auf Bildseiten eingesetzten dreizeiligen Zierbuchstaben durchweg in Akanthus gebildet, der mit Rosa, seltener Violett modelliert ist; sie stehen auf braunen Gründen; ihre Binnenfelder sind in der Regel mit Pinselgold ausgemalt und vorwiegend mit Blüten, gern Hundsveilchen, also pensées, geschmückt. Randschmuck ziert alle Textseiten in Höhe des Textspiegels, bildet bei den Kleinbildern der Suffragien Klammern, die von außen um den Textspiegel gelegt sind. In einzelnen Partien des Manuskripts herrscht das Prinzip der Kompartiment-Bordüre mit Blumen auf Gold und buntem Akanthus auf farbigen Feldern. Zuweilen aber wird derselbe kraft volle Farbton, so das Purpurrot in den Suffragien über längere Strecken durchgehalten.
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Im Kalender hätte die Aufteilung der Ränder in Kompartimente nur für Verwirrung gesorgt; deshalb bleibt es dort bei einfarbigen Bordüren, die durch ihre erstaunliche Farbkraft überzeugen. Schwarz erhält in der Illumination großes, geradezu entscheidendes Gewicht. Vier Bildseiten verzichten auf solchen Randschmuck; sie sind von unterschiedlich dicken goldenen Leisten gerahmt und verbannen das Incipit auf einen mit Pinselgold ausgemalten Streifen unten; dabei erhält die Toten-Vesper denselben Status in der Hierarchie wie Marien-Matutin und Bußpsalmen. Johannes hingegen wird durch seinen Schmuckrahmen wie ein Frontispiz für den ganzen Textblock behandelt. Die Bildseiten müssen ebenso wie die Bordüren in der Entstehungszeit geradezu sensationell gewirkt haben. Bildfolge fol. 1: Der Kalender dieses Stundenbuchs schlägt Betrachter durch die unerhört kräftigen Farben des Fonds in den Bann; das beginnt wohl aus Gründen der Hierarchie mit Pinselgold, entwickelt dann aber in tiefen Rottönen und Schwarz beeindruckende Effekte für die Blüten, den meist blau-goldenen Akanthus und vor allem die Figuren und Szenen, die in die Randstreifen gestreut sind: Auf den Recto-Seiten werden die Monatsbilder in kreisrunden Medaillons unter dem Text und die Tierkreiszeichen rechts daneben in Feldern gezeigt, die mit flachen Bögen geschlossen sind. Bei den Monatsbildern, die teilweise eng mit denen in Nr. 34 zusammenhängen, sorgt die Begrenzung auf die Kreisform der Medaillons dafür, daß wichtige Elemente der Vorlage abgeschnitten sind. Dazu werden in unterschiedlicher Dichte Bildmotive aus dem Festzyklus in die buntgrundigen Randstreifen eingefügt: Zum Januar: Herr am Speisetisch, von einem Jüngling bedient; Wassermann, als nackter Knabe, der einen Krug in einen Fluß leert. Dazu im linken Rand Genovefa mit dem Kerzenwunder und Maurus als junger Benediktiner; im Außenrand die Beschneidung über einem Altar und die Epiphanie mit der Anbetungsgruppe in der Mitte der Bordüre und den beiden jüngeren Königen weiter unten eingestreut. Auf Verso: Antonius Abbas hokkend mit einem Buch; Vinzenz als Diakon; Bekehrung Pauli in dramatischer Drehung. Zum Februar: Junges Paar am Kamin, dahinter der Speisetisch; Fische in einem Fluß. Dazu Darbringung im Tempel. Auf Verso: Petrus als Papst thronend; Matthias. Zum März: Gartenarbeit vor einer Mauer mit Weinstöcken oder Obstbäumchen; der Widder in der Landschaft. Apostel Thomas mit seinem Passionsinstrument (irrig für Thomas von Aquin, der am 7.3. erwähnt ist). Auf Verso: ein Benediktinerabt und Maria mit dem Jesuskind in einem Laufstall, offenbar zum Verkündigungstag, also in erstaunlicher Voraussicht! Zum April: Ein junges Paar im Garten; der Stier. Ein Papst, wohl Leo. Auf Verso: Georg als Sieger über dem Drachen; Markus an den Löwen gelehnt, schreibend.
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Zum Mai: Ein reitendes Paar auf einem Schimmel; die Zwillinge als nackte Putten, tan zend oder balgend. Apostel mit Keule (Jakobus der Jüngere?). Auf Verso: Zwei Bischö fe, vielleicht Ambrosius und Augustinus. Zum Juni: Heumahd; der Krebs, feuerrot auf einer Wiese. Barnabas mit einem Buch. Auf Verso: Johannes der Täufer mit dem Lamm auf seinem Buch; unten Petrus und Paulus. Zum Juli: Kornmahd, bei der ein Mann die Sichel führt und eine Frau die Garben bin det; der Löwe. Ein Bischof, vielleicht Martin, zum 4.7. Auf Verso: Magdalena mit dem Salbtopf; Jakobus der Ältere als Pilger. Zum August: Dreschen mit einem Greis, der mit dem Flegel ausholt; neben ihm ein ir ritierender kugelförmiger Sack, hinter ihm die Garben; die Jungfrau mit Palmzweig in einem Burggarten. Lorenz mit dem Rost. Auf Verso: Apollonia mit der Zahnzange (si cher irrig für den Eintrag Apollinaire am 23.8.); Ludwig IX . in fleurs-de-lis. Zum September: Weinkelter mit einer Leiter am Bottich und einem Mann mit Bütte; die Waage in der Hand einer jungen Frau. Stehende Madonna mit Jesuskind (nicht sehr treffend für die Mariengeburt am 8.9.). Auf Verso: Matthäus mit dem Engel; Michaels Sieg über den Teufel. Zum Oktober: Sämann auf gepflügtem Acker; der Skorpion auf einer Wiese. Dionysi us mit dem abgeschlagenen Kopf in den Händen. Auf Verso: Lukas mit dem Stier; un ten Simon und Juda. Zum November: Schweinehirt beim Abschlagen der Eicheln; der Schütze als Kentaur. Allerheiligenbild mit einer Halbfigur Jesu über einer Wolke, darunter, auch als Halbfi guren, die Heiligen auf einer breiteren Wolke. Auf Verso: Katharina mit dem Schwert; Andreas mit dem Andreaskreuz. Zum Dezember: Schweineschlachten mit Mann und Frau; der Steinbock aus einem Am monshorn. Nikolaus mit den Jungen im Bottich; Kuß an der Goldenen Pforte. Auf Ver so: Apostel Thomas mit seinem Marterinstrument; Soldat mit Kind vom Kindermord; unten mit dem Stall von Bethlehem die Anbetung des Kindes, dabei Joseph hinter der Mauer von der Hauptszene getrennt. fol. 13: Johannes auf Patmos als ganzseitige Miniatur mit kostbar perlen-geschmücktem breiten Goldrand sowie der Rubrik und dem Incipit in zwei kalligraphisch gestalteten Zeilen unten: Der jugendliche Johannes sitzt als Halbfigur nach rechts gewendet vor ei nem Hügel; der Adler hält das Schreibzeug. Rechts ein Ausblick auf Wasser mit einem Segelschiff und Stadt. Auch die drei anderen Evangelisten sind als Halbfiguren gezeigt, jedoch als Kopfminia turen in ihren Schreibstuben geradezu beengt: Lukas (fol. 15v) konzentriert schreibend mit Feder und Federmesser; der Stier sehr klein in der rechten unteren Bildecke. Mat thäus (fol. 17v) vor einem Maßwerkfenster in ein kleineres Buch vertieft, während ihm der Engel, links im Bild, einen Folianten hält, dessen Zeilen der Evangelist mit den Fin
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gern verfolgt. Markus (fol. 19v) mit dem Löwen in der linken unteren Bildecke, mit einem Buch auf dem Pult, einem Schriftband auf den Knien, spitzt offenbar gerade seine Feder. fol. 21: Zum Mariengebet Obsecro te die Madonna mit Kind (fol. 21) unter einem Bal dachin; der nackte Knabe dreht sich nach links und blickt so aus dem Bild hinaus, als reagiere er auf Beter im linken Flügel eines Diptychons; doch ist fol. 20v gegenüber leer. Im Rand rechts ein Pfau, der sein Rad schlägt. Die Schmerzensmutter zum O in temerata vor rotem Grund (25v) läßt ebenso an ein Diptychon denken, bei dem auf dem linken Flügel der Schmerzensmann oder wie in Tours um 1500 üblich ein segnender Christus gezeigt würde (das wichtigste Beispiel vom Meister des Münchner Boccaccio im Museum von Tours: Ausst.-Kat. Tours 2012, Nr. 31 mit irriger Zuschreibung an Bourdichon). Zum Marienof fizium der übliche Zyklus: Von der erstaunlichen Gestaltungskraft des Künstlers zeugt die Marienverkündigung als ganzseitige Miniatur (fol. 31): Das Incipit ist in Blau auf einen goldenen Streifen am unteren Rand gemalt. Die Bildfläche wird mit dünnen goldenen Leisten gerahmt, die in den Ecken und der Mitte oben mit filigranem Maßwerk verziert sind. Den Innenraum bestimmt die nach links hinten laufende Perspektive der Fliesen, die zur bildparalle len Rückwand mit einem Maßwerkfenster führen. Den Eindruck eines Raumeckmo tivs schafft eine Holzbank, die den Raum nach rechts begrenzt und nicht ganz logisch zu einem runden zeltartigen Baldachin führt, unter dem ein Ehrentuch in schwarzem Goldbrokat hängt. Grün gefüttert ist dieser Baldachin und außen mit Gold ausgeschla gen, das sich wunderbar mit Gabriels Dalmatika verbindet, die ebenso wie seine Flü gel innen jenes Blau zeigen, das Marias Mantel bestimmt, während ihr Kleid in einem helleren Blauton gehalten ist, der ohne Goldhöhung auskommt. Anders als die meisten Zeitgenossen läßt unser Maler den Erzengel von links eintreten. Im Begriff niederzu knien, spricht Gabriel die vor ihrem Betpult kniende Jungfrau an, die sich sacht zu ihm umdreht, während links oben in Goldstrahlen die Taube in das feierliche, aber nicht sa krale Gemach eindringt. Kopfminiaturen in Kompartiment-Bordüren auf farbigen Gründen eröffnen die übrigen Marienstunden; dabei wechseln ganzfigurige und halbfigurige Szenen in ungewohnter Weise; denn off enbar lotet der Maler die Möglichkeiten des sogenannten Close-Up aus und rückt recht unterschiedlich nah an seine Figuren heran: Auf den Hügel links und den Ausblick, der rechts über ein breites Gewässer zu Tür men im Blau der Ferne führt, ist das Ambiente der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 57v) mit ihren Vollfiguren beschränkt. Maria ist von links gekommen, nun in einheitli ches und durchweg mit Gold gehöhtes Blau gekleidet; ihr tritt die greise Elisabeth ent gegen, größer als die Jungfrau und neigt sich, um mit der Rechten deren schwangeren Leib zu fühlen. Einen Ausschnitt des in Paris gewohnten Blicks auf den Stall links mit Ausblick rechts bietet die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 71): Maria, deren Leib ganz im Bild ist,
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rückt nach vorn; ihr schließt sich Joseph an, doch drängen sich Ochs und Esel zwischen beide; denn in ihre Krippe ist der nackte Knabe auf ein weißes Tuch gelegt. Er schaut zur Mutter auf, die mit gesenktem Blick betet, während Joseph seinen Hut gezogen hat und still den Kopf senkt. Ganzfigurig, aber von den Bildrändern energisch beschnitten, sind die drei Männer bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 78): Zwischen ihnen öffnet sich der Blick auf eine Landschaft, die jener der Heimsuchung ähnlich ist; doch könnte man nun von einem See von Schafen sprechen. Der Engel erscheint in blauem Camaïeu über Goldstrahlen, mit einem nicht lesbaren Spruchband. Ähnlich nah wie beim Weihnachtsbild rückt der Maler bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 83) an die Figuren heran. Ungeachtet der Tatsache, daß das Stalldach von links ins Bild ragt, treten auch die Könige von links herbei, so daß Maria außen sitzt, mit dem nackten Knaben auf dem Schoß. Der wendet sich vom ältesten König ab; kei ner der drei bringt eine Gabe. Konventionell ganzfigurig und im zurückhaltenden Kolorit der Verkündigung ähnlich wird die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 89) gezeigt mit Maria, die links vor dem unbedeckten Altar kniet, während Simeon, nimbiert, aber nicht als Priester gekenn zeichnet, den Jesusknaben auf einem Tuch hält, um ihn zurückzureichen. Eine Magd mit Taubenkörbchen und hoher Kerze hat die Jungfrau ebenso wie der Ziehvater Jo seph begleitet. Das Close-Up bei der Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 95) ist besonders ungewöhn lich; denn der Maler hat sich offenbar am Esel orientiert, setzt den Ausschnitt mit dem Bauchkontur des Tiers an, dessen Hinterteil ebenso wie der halbe Kopf hinter der Bild grenze verschwindet. Vor der gewohnten Landschaft mit dem nach rechts ansteigen den Hügel, wo ein Götze von einer Säule fällt, erscheint Maria en face mit dem weißen Wickelkind, gefolgt von Joseph. Enger wirkt der Raum bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 103): Vor braunschwar zer Wand, die sich links oben zu einem Himmel voller blauer Cherubim öffnet, kniet Maria links, bereits gekrönt, geradezu vor Gottes Schoß, während Gottvater mit der Tiara sehr viel höher im Bild aufragend sie segnet. fol. 110: Entweder war der Maler mit Pariser Gepflogenheiten nicht allzu eng vertraut oder er sah seine Chance darin, zuweilen mit eigenen ikonographischen Entscheidun gen hervorzustechen. So zeigt er zur Matutin von Heilig Kreuz statt der Kreuzigung den Kreuztragenden Christus als Halbfigur (fol. 110): Im engen Bildfeld trägt Jesus das Kreuz mit dem Stamm voraus; ein Scherge zerrt ihn mit einem Seil, während sich ein zweiter in etwas zu kleiner Proportion noch vor den Querbalken drängt, um auf Chri stus einzuschlagen. Zur Matutin von Heilig Geist wird das traditionelle Pfingstbild (fol. 119) ähnlich vom Bildrand beschnitten, wie das schon bei der Hirtenverkündigung geschehen war: Die
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streng symmetrische Komposition setzt mit Petrus und Johannes ein und führt über ei nen Marmorboden zum mit rosafarbenem Tuch verhängten Sockel von Marias Sitz. Sie nimmt mit der Taube des Heiligen Geistes über ihrem Kopf die Mittelachse ein. Um ein wenig mehr Platz für seine Darstellung zu gewinnen, hat der Maler das Incipit des Schreibers durch eng nebeneinander gemalte Goldbuchstaben ersetzt, die auf ein tief blaues Schriftband gemalt sind, das mit einem losen Ende rechts vor die Szene geklebt zu sein scheint. fol. 126: Auch das Incipit der Bußpsalmen wird auf einen Streifen unter dem Bild ver setzt; dort stehen dann wie bei der Verkündigung blaue Buchstaben auf Gold; denn die Hierarchie verlangt wieder eine ganzseitige Darstellung: Vor der Palastmauer, die von links vorn nach rechts hinten verläuft, steht der zierliche gotische Brunnen und sorgt für einen Teich im Grünen; dort, neben einem winzigen Schwan, sieht man Bathseba im Bade (fol. 126), mit zwei sehr viel kleineren Dienerinnen, die vor niedrigen Bäum chen auf der Wiese sitzen; sie ist züchtig in ein weißes Hemd gehüllt, was Nettekoven 2016, S. 229, als „eine Art Markenzeichen des Malers“ anspricht. König David blickt, von einem jüngeren Mann begleitet, aus einem Fenster herab, mit seinem Zepter in der Hand. fol. 149: Das erstaunliche Temperament des Malers tritt am heftigsten in der ebenfalls ganzseitigen Miniatur zur Toten-Vesp er zu Tage. Indem er Urias Tod auf dem Schlacht feld (fol. 149) darstellt, setzt er sich über Konventionen bei der Wahl des Themas hin weg; denn diese Szene gehört, wie wir in Nr. 36 und Nr. 44 sehen, zu den Bildern der Bußpsalmen; auch in gedruckten Stundenbüchern, wo das Thema wohl zum ersten Male bei Dupré um 1488 in einer recht ähnlichen, aber keineswegs identischen Komposition (Horae B. M. V. IX , S. 3924, Nr. 14) vorkommt und direkt neben Bathsebas Bad steht, sucht man Urias Tod im Totenof fizium vergeblich; immerhin kennt Nettekoven 2016, Abb. 140, eine Parallele vom Meister der Traités théologiques, ebenfalls zur Toten-Ves per. So vornehm Bathseba gezeigt wurde, so entschieden begreift man ihren Gemahl Uria als einen Heerführer in Davids Diensten. Deshalb kommt es ihm zu, auf dem einzigen Schimmel zu reiten; so stirbt er, von der Lanze eines ganz in Gold gerüsteten Feindes durchbohrt (im eben genannten Parallelbeispiel siegt der Reiter auf dem Schimmel). Un ter der Reiterschlacht kämpfen noch einzelne Leute vom Fußvolk; die idyllische Land schaft steht in krassem Gegensatz zur Heftigkeit des Geschehens; in anderem Kontext wäre die Miniatur als beliebige Historiendarstellung zu nutzen. fol. 203: Die Suffragien eröffnen Kleinbilder mit Halbfiguren, meist ohne weitere Gestal ten: Nackt ist Sebastian (fol. 203) an einen Baum gebunden, mit Pfeilen bespickt, allein. Bischof Blasius (fol. 204v) steht mit Wollkamm und Buch vor einer Kirchenwand. Je sus erweckt den nackten Lazarus (fol. 205v) in einer Landschaft. Adrian (fol. 206) sieht man im Profil nach rechts gewendet; links taucht der Löwe auf, rechts der Amboß; der Heilige trägt ein Mäntelchen über der goldenen Rüstung und einen blauen Hut. Bischof Claudius (fol. 207) mit lothringischem Doppelkreuz. Eng begrenzt ist das Bildfeld der Stigmatisation des heiligen Franziskus (fol. 208). Nikolaus (fol. 208v) segnet als Bischof
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die drei nackten Knaben in einer Kirche. Bei den weiblichen Heiligen erlahmt die Bild phantasie des Malers, der sie einzeln in die Landschaft stellt und gerade noch ein wenig von ihren Attributen zeigt: Magdalena (fol. 209) mit Salbfaß. Katharina (fol. 210) mit Schwert. Apollonia (fol. 210v) mit Zahnzange. Barbara (fol. 212v) mit Turm. Genovefa (fol. 213v) mit Kerze, die aber genauso wie der Kampf von Engel und Teufel vom oberen Bildrand abgeschnitten ist. Zuschreibung Dieses Stundenbuch ist trotz der brillanten und kompletten Erhaltung zwar historisch nicht so bedeutend wie das namengebende Werk, das Anthoine Vérard für Karl VIII . anfertigen ließ; doch die farbstarke Malerei und das raf finierte Spiel mit dem Close-Up macht aus diesem Werk eines der eindrucksvollsten Manuskripte des Malers, der auch die nun folgende Handschrift Nr. 36 gestaltet hat. Den Künstler hat Ina Nettekoven in der Bibermühle kennen und schätzen gelernt; inzwischen hat sie ihm eine reich bebil derte Monographie gewidmet, die neben zwei in Schweizer Privatbesitz liegenden Stun denbüchern aus unseren früheren Beständen ein Œuvre zusammenstellt (Nettekoven 2016, S. 225-230), zu dem drei Stundenbücher in der Pariser Arsenalbibliothek (Ms. 414, 1176 und 1181) und das Stundenbuch cod. Brev. 5 der Württembergischen Staatsbiblio thek in Stuttgart, eine Miniatur im Brevier lat. 1289 der BnF sowie die hier beschrie bene Handschrift gehören. Hinzu kommen zwei Stundenbücher bei Sotheby’s London und ein nicht bemerkenswertes Beispiel in unbekanntem Privatbesitz, das Jim Marrow zugänglich gemacht hat und eine Zusammenarbeit unseres Malers mit dem Meister der Traités théologiques dokumentiert (zu ihm siehe hier Nr. 32). In der Regel scheint der Maler auch sehr umfangreiche Manuskripte durchweg eigen händig illuminiert zu haben. Neben der genannten Zusammenarbeit mit dem Meister der Traités weist Nettekoven auf Kalenderbilder des Meisters der Mettler-Pèlerinage in Arsenal 414 hin (2016, S. 225). Trotz ihrer Bemühungen bleiben Bilderhandschriften dieses Künstlers rar; sie selbst erwägt sogar, ihn mit dem berühmten Pariser Verleger Anthoine Vérard zu identifizieren (zuletzt ebenda, S. 233). Stilistisch steht der Maler den Graphiken des Meisters der Grandes Heures für Vérard nahe, teilt mit ihnen aber kaum eine einzelne Bildidee. Bemerkenswert ist wie in allen Handschriften des Meisters von Karl VIII . der freie Um gang mit ikonographischen Konventionen. Ein überquellend reich bebildertes, vollständig erhaltenes Pariser Stundenbuch ei nes Künstlers, der bei der Entwicklung des durch ungemeinen Bilderreichtum ex zellierenden Buchdrucks in Paris eine bedeutende Rolle gespielt hat und den seine Historiographin sogar versuchsweise mit Anthoine Vérard identifizieren möchte. Farbfrisch und eindrucksvoll, mit für den Künstler typischen ikonographischen Frei heiten, führt dieses Manuskript ein in die Welt eines Buchmalers, dessen Bildphan tasie im Kalender ebenso triumphiert wie sein Sinn für sonst kaum erprobte Farb
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wirkungen, insbesondere mit schwarzen Gründen. In keinem anderen Werk zeigt er sich zudem so von den Möglichkeiten fasziniert, geläufige Szenen in unterschied licher Nähe zu gestalten. LIT ER AT UR : Nettekoven 2016, S. 229: in der Überschrift „Privatbesitz Schweiz“, in Anm. 146 und in einigen Abb.-Unterschriften dann doch „Bibermühle“.
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36 Das Stundenbuch der Jehanne Hennequin vom Meister Karls VIII.
S. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift mit einem Kalender in französischer Sprache auf Pergament, Rubriken in Rot, geschrieben in schwarzer Bastarda. Paris, ca. 1490: Meister Karls VIII. 16 Bilder: vier große Bildseiten aus Hauptbild und Bas-de-page in eindrucksvollen goldenen Architekturrahmen, davon eines noch mit einer Kombination aus Bild-Initiale und zweitem Bildfeld, mit drei Zeilen Incipit und dreizeiligen Initialen in weißem Akanthus auf Pinselgold; vier schmale Bildfelder im Textspiegel, sechs, sieben oder acht Zeilen hoch; drei achtzeilige mit Bogenabschluß versehene Randbilder in Kompartiment-Bordüren, die nur die Höhe des Textspiegels einnehmen; solche Bordürenstreifen zu allen Incipits, die mit größeren Initialen eröffnen: acht Textanfänge mit drei- bis vierzeiligen AkanthusInitialen. Die kleineren Zierbuchstaben in Pinselgold auf abwechselnd braunrotem und blauem Grund: zu Psalmenanfängen zweizeilig, zu Psalmenversen im Textverlauf einzeilig; nur wenige Zeilenfüller, die dann in gleicher Art oder als Knotenstock mit Pinselgoldhöhung ausgeführt sind. Versalien gelb laviert. 154 Blatt Pergament, vorne und hinten je vier Blatt Papier als ein festes und drei fliegende Vorsätze. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 1 (12), 2 (6), 7 (8-1: das Endblatt fehlt ohne Textverlust), 18 (6) und die Endlage 20 (8-3: das zweite und die beiden Endblätter entfernt). Rot regliert zu 18 Zeilen; Reklamanten in der Textschrift, teils abgeschnitten. Klein-Oktav (144 x 98 mm, Textspiegel: 79 x 47 mm). Vollständig, breitrandig und frisch erhalten (eine Miniatur unten unmerklich ergänzt). Weinroter Samteinband mit Eckbeschlägen und zwei Schließen in Silber; die obere Schließe defekt. Goldschnitt. Provenienz: Ein Eintrag aus dem mittleren 16. Jahrhundert in schwarzer Tinte auf fol. 154v: „Ce presan livre a este / faict po(ur) Jehanne Hennequin / grandmere de Anne Le / Conte ma mere“. Diese Jehanne H. gehörte wie die Liboron, Mauroy, Le Peley oder Molé zu der führenden patrizischen Schicht von Troyes. Sie war mit Nicolas Mauroy („lieutenant général du bailliage & siège présidiale de Troyes“) verheiratet und starb 1495, also kurz nach Verfertigung unseres Manuskripts. Ihr Bruder François hatte eine Tochter, ebenfalls mit Namen Jehanne, die Guillaume Le Conte („bourgeois de Paris“) heiratete. Anne Le Conte muss deren Tochter gewesen sein. Ein Wappenschild unter dem Verkündigungsbild auf fol. 19 zeigt einen steigenden schwarzen Löwen, allerdings eher mit Bärenkopf vor einem horizontal geteilten Schild, Rot über Gold. Jean L. Deuffic vermutet, dass es sich hierbei um das Wappen des Duc de la Vallière handelt (evtl. seine erste Auktion 1767, Nr. 273: „…relié en velours cramoisy.“).
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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, fast jeder Tag besetzt: Vielleicht sollten einzelne Feste in Gold eingetragen werden. Die Goldene Zahl und die Kürzel der römischen Tageszählung sowie die Heiligenfeste in Rot, die Sonntagsbuchstaben A als goldene Initialen abwechselnd auf Blau und Rot, die übrigen Sonntagsbuchstaben und die einfachen Heiligentage in Schwarz. Die dialektale Färbung und die Heiligenauswahl deuten auf Paris: als Fest Germain 28.4. und 28.5., Leu und Gilles 1.9., Denis 9.10., Ladre 17.12. fol. 13: Perikopen: Johannes, als Suffragium (fol.13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 17v). fol. 19: Marienofzium für den Gebrauch von Paris (die Antiphon zur Prim abweichend: Tota pulchra), mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Marien-Matutin (fol. 19 mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 40v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 50v), Matutin von Heilig Geist (fol. 51v), Marien-Prim (fol. 52), Terz (fol. 57v), Sext (fol. 61), Non (fol. 64), Vesper (fol. 68), Komplet (fol. 73). fol. 79: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 88v), darunter auffällig viele Patrone von Pariser Kirchen: Gervasius, Marcellus, Germanus, Sulpicius, Severinus, Maglorius, Medericus, dazu Landicus, Regulus, Arnulfus, Lupus, Symphorianus, Bricius, Oportuna – jedoch ohne Genovefa, die im Kalender vielleicht in Gold eingetragen werden sollte: der 3.1. blieb leer. fol. 96: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 96), die anderen Stunden nicht bezeichnet: Matutin (fol. 102), Laudes (fol. 115v). fol. 120: Passion nach Johannes, mit Schlußgebet: Domine ihesu Xpe respicere digneris (fol. 130v). fol. 131: Sufragien: Maria, mit dem Salve regina als Antiphon (fol. 131); Michael (fol. 131v); Johannes der Täufer (fol. 132); Petrus und Paulus (fol. 132v); Jakobus (fol. 133); Johannes der Evangelist, danach Andreas (fol. 133v); Lorenz (fol. 134); Sebastian (fol. 134v); Christophorus (fol. 135); Nikolaus, danach Martin (fol. 136); Bartholomäus (fol. 136v); Stephanus (fol. 137); Dionysius (fol. 137v); Anna (fol. 138v); Katharina (fol. 139); De scta Genoveva (fol. 139v); Arragonda (dialektale Sonderform für Radegundis: fol. 140); Margareta, danach Magdalena (fol. 140v); Barbara (fol. 141); Petrus Martyr (fol. 142); De omnibus sanctis (fol. 144); De sancta cruce (fol. 145); Martha (fol. 145v); Lazarus (fol. 146). fol. 147: O bone ihesu. fol. 148v: Sufragium Christophorus. fol. 150: Mariengebet: O intemerata, für einen Mann redigiert: miserrimo peccatori mit einer Textlücke von einem Blatt vor fol. 151.
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Schrift und Schriftdekor Geschrieben ist das Manuskript in einer Übergangsform zwischen Bastarda und moderneren Schrif ten, die man am besten als fere-humanistica bezeichnet. Die Versalien gelb laviert. Die Psalmenverse setzen nicht in einer neuen Zeile an; deshalb sind nur wenige Zeilenfüller nötig, die, wenn nicht in gleicher Art, als Knotenstock mit Pinselgoldhöhung ausgebildet sind. Die kleineren Initialen sind rasch mit dünnem Pinselgold und auch in dürren Formen ausgeführt. Auch die vier Perikopen eröffnen mit solchen Initialen, obwohl für Evangelistenbilder Platz im Textspiegel gelassen ist. Recht plastischer weißer Akanthus setzt dagegen die drei- bis vierzeiligen Zierbuchstaben ab, die beispielsweise für die weitgehend unbebilderten Marienstunden und die Matutin von Heilig Kreuz und Heilig Geist eingesetzt sind. Randschmuck bleibt auf Texte mit zweizeiligen und größeren Initialen beschränkt; durchweg herrscht das Prinzip der Kompartiment-Bordüre mit Blumen auf Gold und buntem Akanthus auf farbigen Feldern. Auch bei den Perikopen genügen dazu Streifen in Höhe des Textspiegels. Die vier großen Bildseiten verzichten auf solchen Randschmuck; sie sind von goldenen Architekturen gerahmt. Damit bewegen sich Schrift und Schriftdekor ganz auf der Höhe der Jahrzehnte um 1500. Bildfolge fol. 13: Die vier Perikopen sind mit Evangelistenporträts bebildert: Johannes auf Patmos als Kniestück, jugendlich, mit dem Adler rechts und einem Blick auf einen Hügel links, ohne Hinweis auf das Wasser (fol.13); die zwei folgenden als Halbfiguren mit ihren Attributswesen in dunklen Räumen: Lukas (fol. 14v) mit dem Stier links wendet sich nach rechts und schneidet seine Feder; Matthäus (fol. 16) sitzt leicht nach links gewendet mit einem Buch und dreht sich um zum Engel, der ihm ein zweites Buch vorhält; Markus (fol. 17v) wieder als Kniestück und jugendlich bartlos, über ein Schriftband geneigt, links neben ihm der Löwe in ähnlichem en face wie der Stier. fol. 19: Im Textblock aus dem Marienofzium und den eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist erhält nur die Marien-Matutin eine große Bildseite, sonst sind nur die Matutin der Horen und die Marien-Terz im Randfeld bebildert: Die Marienverkündigung (fol. 19) spielt in einem durch ein Maßwerkfenster erhellten Sakralraum unter einer Renaissance-Kuppel, mit inkonsequent durch die winklig zueinander stehenden Wände begrenztem grünen Fliesenboden. Maria, in grauem Kleid und blauem Mantel kniet links vor einem gotisch geschmückten Betschemel, hat ihr Buch an der berühmten Jesajas-Stelle (7,14) aufgeschlagen; fragmentarisch ist noch ecce (virg) o/ con(cip) zu lesen. Ein runder Baldachin hängt über ihrem Kopf so niedrig herab, daß sie sich kaum erheben könnte. Mit fassungslos ausgestreckten Händen wendet sie sich zum Engel um, der weniger raumgreifend, sehr jugendlich als Diakon in goldener Dalmatika über der Albe und mit außen blauen, innen weißen Flügeln erscheint. Er ist
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von rechts eingetreten, im Begriff niederzuknien, und weist mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Taube, die auf goldenen Strahlen aus dem Couronnement des leuchtend hellen Maßwerkfensters eingedrungen ist. Das Incipit wird nach rechts durch ein blindes Maßwerkfenster begrenzt. Darunter öffnet sich der Blick in eine wenig differenzierte Landschaft: Von zwei Säulen wird das Bas-de-page geteilt: Um das zentral gestellte Wappenschild mit steigendem Löwen vor Gold und Rot sind zwei Propheten ganzfigurig gestellt; sie blicken zu den Seiten, als sprächen sie ein großes Publikum an, und weisen mit Zeigefingern nach oben zum Hauptbild. Zur Matutin von Heilig Kreuz (fol. 50v) ist in die Bordüre neben die vierzeilige AkanthusInitiale ein rechteckiges Bild von acht Zeilen Höhe gesetzt, dessen goldene Rahmen in der Senkrechten über das Randfeld hinausreichen. Vor einem wie in anderen Miniaturen unserer Handschrift nach links ansteigenden Hügel erscheint der Kreuztragende Christus, nach rechts gewendet, in einem eindrucksvollen Bildausschnitt, der im Blau der Ferne rechts hinten Türme einer Phantasie von Jerusalem erblicken läßt. Nur drei Zeilen hoch ist die Akanthus-Initiale zur Matutin von Heilig Geist (fol. 51v), wieder in der Bordüre von einem acht Zeilen hohen Bild begleitet, das einen Bogenabschluß erhält. Dargestellt ist das Pfingstwunder mit den eng gedrängten Halbfiguren der Apostel, die von Petrus und Maria angeführt werden und in deren Mitte der jugendliche Johannes erkennbar wird; er schaut innig auf zur Taube des Heiligen Geistes, die in einer goldenen Gloriole den Bogen füllt. Während die Prim (fol. 52) nur mit einem zweizeiligen Buchstaben eröffnet, erhalten die weiteren Marienstunden dreizeilige Akanthus-Initialen. Nur die Terz (fol. 57v) wird von einem nun etwas schmaleren Bildfeld in der Bordüre begleitet, das wiederum mit einem Bogen abschließt; in dem erscheint in blauem Camaïeu der Engel über einer ähnlich wie bei der Kreuztragung gestalteten Landschaft mit Blick auf Türme. Vorn links sitzt ein jugendlicher, bartloser Hirte in Rot, Blau und Weiß, er schützt seine Augen, während ein Bärtiger von rechts im Profil zum Engel aufschaut. fol. 79: Die Bußpsalmen eröffnen mit einer besonders auf wendig geschmückten Bildseite, die den Textanfang am gewohnten Platz beläßt; David als Harfner erscheint in der Initiale und blickt hinüber zu einem Bogen, in dem sich eine Frau mit nackten Brüsten zeigt; beide Bildfelder ergeben also eine Darstellung von David und Bathseba, deren Ehebruch direkt auf die Bußpsalmen bezogen wurde. Die Hauptminiatur zeigt die in Stundenbüchern sehr selten dargestellte erste Salbung Davids, der unter den Augen seines Vaters Jesse (Isai) und eines seiner Brüder kniend vom greisen Samuel gesalbt wird. Ein Weg führt in eine Stadt, die im Hintergrund – ganz gegen die biblische Erzählung – mit der Doppelturmfassade eines Sakralbaus erstaunt, der mit den Zwiebelkuppeln auf den Türmen irritierend an Bilder des Tempels von Jerusalem in Jean Fouquets Stundenbuch des Étienne Chevalier denken läßt. Im Bas-de-page wird die Erzählung aus dem Hauptbild weitergeführt: Dort sind David und Goliath gezeigt. Links vorn ist der Riese in bunter Rüstung bereits vom Stein getroffen und zu Boden gesunken; David, dessen Schleuder noch in der Luft steht, schaut mit dem Hirtenstab in der Hand von rechts auf
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sein Opfer. Zwei Statuen im Goldcamaïeu der Architektur mögen auf David und den Propheten Nathan anspielen, der nach dem Ehebruch mit Bathseba und der schlauen Ermordung des Uria Davids Verbrechen enthüllt. fol. 96: Die Totenvesp er eröffnet mit der Erweckung des Lazarus als Hauptbild: Die räumliche Disp osition läßt an die große Tafel desselben Sujets im Louvre denken, die der Coëtivy-Meister geschaffen hat: Den Vordergrund nimmt ein mit einer Mauer nach hinten abgegrenzter Friedhof ein; im Hochformat unserer Miniatur ist auf die Apostel schar ebenso wie auf die vielen Zuschauer verzichtet. Christus ist von links aus dem Tor herausgetreten, gefolgt von einer nimbierten Gestalt, eher Martha als Johannes; rechts neben ihm kniet Magdalena. Deren Bruder Lazarus, der nicht nimbiert ist, an den aber im Buch ebenso wie an Martha und Magdalena ein Suffragium gerichtet ist, sitzt im of fenen Grab, noch in seine Leichentücher gehüllt. Wie beim Coëtivy-Meister löst Petrus die Fesseln des Todes von den Handgelenken; einer der beiden Betrachter rechts hält sich angesichts des Leichengeruchs ein Tuch vor die Nase. Zu dieser Szene richtet sich das Gebet einer Statuette in Goldcamaïeu rechts. Das Bas-de-page wartet mit einer Szene von Frau und Tod auf: Aus dem Zusammen hang des Totentanzes gelöst wird dort gezeigt, wie eine Frau nach links zu fliehen ver sucht, aber bereits vom ledrigen Tod am Oberarm gefaßt ist, damit sie dessen gegen sie gerichtetem Speer nicht entkommt. Nicole Reynaud hat dieselbe Szene in einem Stun denbuch für Chartres (Paris, BnF, latin 1421, fol. 93v) in der Fassung vom Meister der Traités théologiques als eine der ungewöhnlichsten Erfindungen bezeichnet (Avril und Reynaud 1993, Nr. 146, S. 268 mit Abb.). fol. 120: Die Johannes-Passion, deren Text hier mit dem Gang zum Ölberg beginnt, er öffnet mit zwei Szenen aus dem Garten Gethsemane: Das Gebet am Ölberg wird unter tiefblauem Himmel, aber mit vollfarbigen Gewändern in einer Landschaft gezeigt, die wieder genauso aufgebaut ist wie in bescheideneren Miniaturen dieses Buchs: Zum gol denen Kelch links oben betet Jesus im Profil, unten schlafen Petrus, Jakobus und Johan nes. Ein Holzsteg führt rechts über den Bach Kidron zu einem hölzernen Torgebäude. Im Bas-de-page wird der Judaskuß als eine dicht gedrängte Szene von Halbfiguren dar gestellt, die auch von der oberen Bildgrenze abgeschnitten werden. Die Szene wird nicht nach dem gewohnten Kompositionsschema inszeniert: Links hat Petrus mit Malchus recht viel Raum, so daß sogar noch Blick auf Landschaft und dunklen Himmel gewährt wird. Jesus greift nach dem Ohr des Kriegsknechts und wendet sich wie im Gespräch zu Judas um, der im Profil die eigentliche Zentralfigur der Komposition ist. fol. 131: Die Suffragien sind bescheiden gestaltet: Bis auf das mit einzeiliger Initiale er öffnete Salve regina eröffnen sie mit einer einfachen Versalie; nur ihr Abschlußgebet er hält eine zweizeilige Initiale. Dem in ihre Folge eingefügten Gebet O bone ihesu (fol. 147) ist indes eine dreizeilige Akanthus-Initiale gegeben. fol. 150: Als letzter Text wird das Mariengebet O intemerata mit einer am Seitenende nur sieben Zeilen hohen Miniatur versehen: Gegen die sonst gültige Sehrichtung ragt der
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Hügel hinter Maria mittig auf, mit einem Blick in die Ferne links. Zur Pietà hockt die Muttergottes vor dem Hügel; man hat ihr den toten Sohn auf den Schoß gelegt; sie faßt mit ihren Händen dessen rechten Arm und seinen Leib. Die Beschneidung der Köpfe gibt der Darstellung eine gewisse Dramatik. Zuschreibung Noch einmal tritt mit diesem Stundenbuch derselbe Maler in unser Blickfeld, der auch die vorausgegangene Handschrift Nr. 35 gestaltet hat: Den recht bescheidenen Auftrag, bei dem man sich vielleicht nicht schlüssig über die Bebilderung geeinigt hatte, erfüllt er mit der für sein ganzes Werk charakteristischen Überzeugungskraft. Bilderhandschrif ten dieses Künstlers sind rar; und man sollte nicht vergessen, daß der berühmte Pariser Verleger Anthoine Vérard vielleicht selbst für die Identifik ation in Frage kommt (zuletzt Nettekoven 2016, S. 233). Bemerkenswert ist wie in allen Handschriften des Meisters von Karl VIII . der freie Um gang mit ikonographischen Konventionen. So zeigt er zu den Bußpsalmen, die in Gebet büchern ungemein seltene erste Salbung Davids durch Samuel, die wenig später an pro minentester Stelle, zu Beginn des Textes im Breviarium Grimani, in einem großen Bild der Benings vor Augen geführt werden sollte. Ein sparsam bebildertes, vollständig erhaltenes Pariser Stundenbuch eines Künst lers, der bei der Entwicklung des ungemein bilderreichen Buchdrucks in Paris eine bedeutende Rolle gespielt hat, farbfrisch und eindrucksvoll, breitrandig und mit für den Künstler typischen ikonographischen Freiheiten, dazu ausgezeichnet durch dein Eintrag zu den ersten Besitzerinnen Jehanne Hennequin und Anne Le Conte. LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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37 Das Stundenbuch der Jeanne Robert vom GaguinMeister
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Reims. Lateinische Handschrift Braun und Rot auf Pergament, in Bastarda. Paris, um 1495: Meister des Robert Gaguin 15 Bilder; davon neun große über sechs Zeilen Text mit Akanthus-Initialen und Vollbordüre sowie sechs Kleinbilder im Textspiegel mit Bordürenstreifen außen: zwei neunzeilig, zwei achtzeilig sowie eines sieben- und eines sechszeilig; der gesamte Randschmuck ist auf Kompartiment-Bordüren mit farbigen und goldenen Gründen eingestellt; die hierarchisch höher gestellten Incipits, Bußpsalmen, Matutin von Kreuz und Geist sowie Toten-Vesper haben Randschmuck auf ungeteilten Fonds in Pinselgold. Die größeren Zierbuchstaben in stilisiertem Akanthus: zwei vierzeilig und sieben dreizeilig; zweizeilig bei Psalmenanfängen und entsprechenden Texten, der Buchstabenkörper abwechselnd weiß und blau – nur diese Seiten sind mit Randstreifen außen hervorgehoben; bei Psalmenversen, die im Zeilenverlauf stehen, einzeilige Pinselgoldbuchstaben abwechselnd auf braunen, blauen und roten Flächen. Versalien gelb laviert. 89 Blatt Pergament, dazu feste Vorsätze und Endblatt hinten ebenfalls aus Pergament; ein weiteres Doppelblatt Pergament vorn, davor noch ein Blatt Papier der Zeit um 1713. Gebunden in Lagen vorwiegend zu acht Blatt; davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), die um ein Blatt vor fol. 27 beraubte Lage 4 (8-1), die um ihr Endblatt beraubte Lage 5 (8-1), die um ein Blatt vor fol. 56 beraubte Lage 8 (8-1) und Lage 11 (6). Keine Reklamanten. Lückenhafte moderne Bleistiftfoliierung rechts oben. Oktav (164 x 112 mm; Textspiegel: 91x 63 mm). Zu 25, im Kalender zu 31 Zeilen Text; rot regliert. Die Textanfänge von Marien-Prim und -Vesper sowie der Toten-Vesper fehlen, sonst völlig makellos erhalten. Einband des 17. Jahrhunderts: schwarzes Maroquin über Holzdeckeln „à la janséniste“ auf fünf erhabene Bünde, ohne Prägung. Provenienz: Monogramm mit J und C, durch Liebesknoten verbunden, in Gold auf einem rotgrundigen Schild auf fol. 14 und in Blau in der Bordüre von fol. 43. Unter dem Beginn des Kalenders auf fol. 1 ein Eintrag: „Jehanne Robert 1611“; darunter zwei Bemerkungen eines Coquebert de Mutry aus dem frühen 18. Jahrhundert, „Coquebert De Mutry Con(seill)er au Parlement“(?) und in dunklerer Tinte: „à Reims“. Die Angaben von fol. 1 werden auf dem Verso des gegenüberliegenden Vorsatzblatts, auf dessen Vorderseite dieselbe Hand noch eine Genealogie der Familie seit 1611 gibt, im Jahre 1713 präzisiert: „Ce Manuscrit m’a été donné le 3e Fevrier 1713. par Madame Perrette Le Jeûne, Veuve de Mr. Jacques Baron, ayeule de mon epouse. Il vient de Jeanne Robert epouse de Mr. Charles Baron, Pere et Mere dudit Sieur Jacques Baron; De la quelle Jeanne Robert, Le Nom en 1611. est ecrit au premier feuillet de ce manuscrit qui par son Caractere paroit avoir eté peint
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longtems avant l’art d’imprimer qui fut inventé depuis 1440. jusqu’en 1450. Ainsi en 1713. il ya environ Trois a quatre cent ans que ce Manuscrit est fait. Coquebert De Mutry Con(seill)er.“ Die Angaben von 1713 legen nahe, ebenjene Jeanne Robert von 1611 und ihren Ehemann Charles Baron in den in die Bordüren gemalten Monogrammen zu erkennen. Ob der Schild auf fol. 14 und vor allem die Buchstaben auf fol. 43 wirklich so viel später als die Bordüren gemalt sind, mag jedoch bezweifelt werden. Text fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt; die Goldene Zahl, der Sonntagsbuchstabe A und die Heiligenfeste in Rot; die einfachen Heiligentage in Braun; die ungemein sorgfältig redigierte Heiligenauswahl zeigt, daß man mit dem Formular nicht vertraut war; übereinstimmend mit dem Gebrauch der Ofzien weist alles auf Reims: Rigoberti archepi. (4.1. mit Translatio 14.6.), Remigii et Hylarii (13.1. als Fest), Machre virg. et mart. (2.3.), Bone et Dode mart. (24.4), Translatio Eligii conf. (25.6.), Nicasii (Fest, eigentlich Translatio 23.7., ebenso 14.12.) Arnulphi (von Metz: 18.7. und 16.8., ohne Spezifizierung), Translatio Remigii (Fest 1.10.); dazu zahlreiche Angaben zu Jahresabschnitten, zur Indiktion usw. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 7v), Matthäus (fol. 8v), Markus (fol. 9). fol. 10: Mariengebete: Obsecro te (fol. 10), O intemerata (fol. 11). fol. 14: Marien-Ofzium für den Gebrauch von Reims: Matutin (fol. 14), Laudes (fol. 23), Prim (Anfang fehlt vor fol. 27), Terz (fol. 30v), Sext (fol. 33), Non (fol. 35), Vesper (Anfang fehlt vor fol. 37), Komplet (fol. 40); fol. 40v leer. fol. 43: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 43), des Heiligen Geistes (fol. 45). fol. 47: Bußpsalmen mit Litanei (fol. 53), deren äußerst reichhaltige Heiligenauswahl, oft mit bis zu drei Namen pro Zeile bei 75 Zeilen insgesamt, weist wiederum auf Reims: Nicasius am Ende der Märtyrer, Remigius, Alpinus (von Lyon), Mennius (Châlons-surMarne) unter den Jungfrauen die Reimser Bona und Doda. fol. 56: Totenofzium für den Gebrauch von Reims: Vesper (Anfang fehlt vor fol. 56), die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 57v), Laudes (fol. 69v). fol. 76: Sufragien ohne Verweis auf Reims, aber mit der Pariser Patronin Genovefa: Trinität (fol. 76), Michael (fol. 76), Johannes der Täufer (fol. 76), Peter und Paul (fol. 76v), Alle Heiligen (fol. 76v), Christophorus (fol. 77), Sebastian (fol. 77v), Adrian (fol. 78), Antonius Abbas (fol. 78v), Nikolaus (fol. 78v), Hubertus (fol. 79), Eligius (fol. 79), Claudius (fol. 79), Anna (fol. 80), Maria Magdalena (fol. 80), Barbara (fol. 80v), Katharina (fol. 80v), Genovefa (fol. 81), Apollonia (fol. 81); fol. 82r leer. fol. 82v: Herrengebet: Domine sancte pater. fol. 83: Johannes-Passion.
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fol. 88: Mariengebet: Stabat mater als Suffragium. fol. 89: Textende; fol. 89v leer. Schrift und Schriftdekor: So sorgfältig dieses Stundenbuch auch für den Gebrauch der Erzdiözese Reims konzipiert wurde, so verrät es durch seine äußere Gestalt doch auf den ersten Blick die Herkunft aus Paris, wo derartig steil angelegte Textspiegel mit der gleichen deutlichen Bastarda in den Jahren um 1500 entstanden sind. Wie in den etwa gleichzeitigen gedruckten Stundenbüchern bemüht man sich, recht viel Text auf einer Seite unterzubringen; dazu dient die hohe Zeilenzahl 25 und die dichte Buchstabenfolge der niedrigen Bastarda. In dasselbe Bild passen die leicht hingestrichenen einzeiligen Pinselbuchstaben auf ihren einfarbigen Grundflächen, deren Folge zwischen Blau und Braun jeweils Rot setzt, so daß die bräunlich warmen Töne dominieren. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum dieser Buchkunst bieten die größeren Zierbuchstaben, die aus weißlichem oder blauem, jeweils stark stilisiertem und damit hoch elegantem Akanthus gebildet sind, mit Binnenfeldern in Pinselgold und braunen umgebenden Gründen. Trotz unüberbrückbarer Fremdheit zwischen diesen Initialen und den seit der Jahrhundertmitte verbreiteten Kompartiment-Bordüren besteht hier ein enger Konnex zwischen Randleisten und Buchstabendekor; denn nur die Textseiten mit zweizeiligen Initialen erhalten Außenbordüren, sicher dem alten Prinzip der Hervorhebung der Incipits gemäß, nun ohne vegetabilischen Zusammenhang. Bildfolge fol. 7: Kleinbilder eröffnen die Perikopen: Nah an den Betrachter herangerückt sitzt Johannes auf Patmos; der Adler hält das Tintenfaß im Schnabel und blickt mit leicht schräg gehaltenem Kopf auf die Schriftrollen, auf die sich der Evangelist anschickt zu schreiben. Die Insel, auf der das Johannesevangelium in der Verbannung geschrieben worden sein soll, ist auf dem Bild eine weitläufige Landschaft, ein Steg verbindet mit dem Gelände links, so daß der Eindruck eines Flußlaufs entsteht. Der Evangelist Lukas (fol. 7v) hält sein Schreibwerkzeug, Feder und Federmesser, selbst in Händen. Er schreibt auf eine Schriftrolle, der ihm zugeordnete Stier sitzt wie ein Hund treu neben ihm. Ein an seinem Stuhl angebrachtes Pult dient Matthäus (fol. 8v) als Schreibunterlage für sein an den Seiten regliertes Blatt. Der Engel hält das Tintenfaß, dabei hat es den Maler besonders interessiert zu zeigen, daß Faß und Federköcher mit einem Band verbunden sind. Eher unbequem muß sich Markus (fol. 9) daran machen, sein Evangelium auf eine Rolle zu schreiben, weder Stuhl noch Tisch möblieren sein Studio. Wohl in Anlehnung an die zinnoberfarbenen Flügel des Engels auf der gegenüberliegenden Seite, erhält auch sein Attributstier, der Löwe, Flügel in dieser Farbe.
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fol. 10: Auch die beiden Mariengebete werden mit Kleinbildern eröffnet, dem Brauch gemäß mit einem Bild der Freude und einem der Klage: Die Madonna im Kreise der Seraphim zum Obsecro te (fol. 10), als Kniestück, in blauem Kleid und Umhang, hält den in einen goldenen Rock gekleideten Christusknaben so, daß ihm ihre Hand als Sitzfläche dient. Feurig rote Seraphim bilden den Fond. Bei der Pietà zum O intemerata (fol. 11v) sitzt Maria vor dem Berg Golgatha. Zwei Leitern sind an den Querbalken des Kreuzes angelegt, mit dem das Bild oben abschließt; offenbar ist die Kreuzabnahme gerade erfolgt. Nun liegt der tote Christus auf dem Schoß seiner Mutter. fol. 14: Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 14) spielt in einer Kapelle. Gerade blickt die Jungfrau von ihrem Gebetbuch auf, um sich zu dem von rechts nahenden Engel umzudrehen. Beide werfen Schatten auf den grünen Fliesenboden, der die gesamte mit Kreuzrippen gewölbte Architektur durchzieht. Die halbrund geschlossene Miniatur ist oben mit einem Maßwerkschleier versehen. In der reichen Blumenbordüre auf Pinselgold tummeln sich unten zwei Mischwesen zwischen dem rotgrundigen Schild von 1611, das die Initialen J und C mit Liebesknoten für Jeanne Robert und Charles Baron trägt. fol. 23: Zur Heimsuchung trifft die Jungfrau Maria mit Joseph die greise Elisabeth, die ihr aus der Stadt hinten rechts entgegengekommen ist. Mit der Linken betastet die Jungfrau den Leib der zukünftigen Mutter Johannes’ des Täufers, deren Hände, zur Anbetung gefaltet, Mariens Bauch berühren. Joseph, ein bärtiger Greis mit Stock, hebt grüßend die Hand an seine rote Kopf bedeckung. Die Gesichter sollen das Alter ausdrücken: in kräftigen Farben erscheint der greise Joseph, mit scharfen Faltengraten die betagte Elisabeth und in zarten Weißtönen die jungfräuliche Maria. Durch den mächtigen Hügel im Mittelgrund, auf dem winzige Bäume wachsen, und die Stadt in abgetönten Pastellfarben entsteht große atmosphärische Wirkung. fol. 30v: Zur Verkündigung an die Hirten bringt ein Engel den Hirten die frohe Botschaft: puer natus est nobis aus der Weihnachtsmesse, wie auf dem Schriftband deutlich geschrieben steht. Das ländliche Genre schildert der Maler, indem er die Kleidung mit Freude am Detail charakterisiert; aufgerissene Hosenbeine werden ebenso mit aufgenommen wie an Schnüren befestigte Hüte, die von der Schulter hängen. Der Durst hält einen Hirten davon ab, den Engel wahrzunehmen. Die Tiere sitzen alle in nächtlicher Ruhe. Die Landschaft öffnet sich einladend mit einem Steg über einen Bach; hintereinander gestaffelte Berge, die im Blau des Himmels aufgehen, geben den Eindruck großer Tiefe. fol. 33: Bei der Anbetung der Könige sitzt Maria mit dem Kind auf dem Schoß links vor einer verfallenen Hütte. Der älteste König offeriert dem Christuskind einen Pokal, den es neugierig betastet. Der mittlere König präsentiert zudem seine Krone. Der jüngste König ist als Mohr aufgefaßt, in seinem Ohr blinkt ein goldener Ohrring. In diesem Bild fallen besonders die schön gemalten Faltenwürfe in Mariens Kleidung auf und die Neigung des Malers, die Wangen rot zu betonen, was im dunklen Inkarnat des jüngsten Königs zu reizvollen Effekten führt.
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fol. 35: In der Darbringung im Tempel hält Simeon den Jesusknaben bereits auf den verdeckten Händen, Maria und Joseph knien betend vor dem Altar. Die Magd folgt mit der Opfergabe der zwei Tauben und der Kerze. Wie schon bei den Le Barbier ergänzt den Abschlußbogen der Miniatur ein Maßwerkverhang. Aus der rechten Bordüre blickt ein Drache ins Bild; unten stapft ein Äffchen wie ein Wanderer durch die Akanthuszier. fol. 40: Die Vorstellung der Madonna in der Mondsichel speist sich aus der Apokalypse des Johannes. In himmlischen Höhen über den Wolken halten Engel eine Krone über Mariens Haupt, sie umfängt eine Gloriole aus strahlenden Farbtönen. Maria nährt das nackte Christuskind an ihrer Brust. fol. 43: Bei der Kreuzigung hängt der tote Menschensohn mit schrägen Armen am Kreuz, links sind seine Anhänger mit Johannes und Maria betend niedergesunken, während sie in den meisten Pariser Miniaturen der Zeit stehen. Der bekehrte Hauptmann steht rechts in goldener Rüstung, hinter ihm silbern gepanzerte Soldaten. Der Mittelgrund wird durch Baumreihen auf einem nach links ansteigenden Hügel geschickt überbrückt, hinten schließt bildparallel eine Stadtmauer an, hinter der viele Dächer eine Stadt andeuten, bevor Berge im Blau der Ferne zum Himmel verbinden. In Blau sind rechts in der Bordüre die Initialen „I“ und „C“ mit zinnoberrotem Liebesknoten auszumachen. fol. 45: Als handele es sich bei der Ausgießung des Heiligen Geists um eine Gabe, die den Aposteln durch das Gebet allein Mariens zuteil wird, blicken sie auf den Knien betend zur Muttergottes hin. Der Lieblingsjünger Johannes, vorn als Rückenfigur, und Maria tragen als einzige mit Weiß und Blau klare Farben, während die anderen Apostel in den gedeckten Tönen der Architektur gekleidet sind. Die Taube des Heiligen Geists muß dem herabhängenden Maßwerkschleier nach rechts ausweichen; sie behauptet aber ihre Bedeutung durch ihre Stellung über der Muttergottes. fol. 47: Bathseba im Bade sitzt am Rand eines kleinen Gewässers, das durch einen runden Brunnen gespeist wird, um dann als Bach nach links hinten zu fließen. Kostbare Kleidung liegt neben ihr am Boden. Ungewöhnlich deutlich sind die erotischen Reize Bathsebas dargestellt; Entsprechendes findet sich nur beim selben Maler und zwar im Stundenbuch des Morin d’Arfeuille in Chantilly, ms. 79. Für den zuschauenden David ist ein Turmhaus errichtet, aus dem er und zwei Berater blicken; sie sind nicht die einzigen; denn am linken Rand gaffen noch zwei andere Gestalten aus Fenstern herab, während die Soldaten, deren Helme und Speere daneben unter einem Bogen auftauchen, nicht über die Zinnenmauer schauen können, die sie von der Badeszene trennt. Zum Stil: Den verantwortlichen Maler, der alle Miniaturen dieses hochattraktiven Stundenbuchs ausgeführt hat, kennt die Kunstgeschichtsschreibung erst seit kurzem. François Avril (Ausst.-Kat. 1993, Nr. 141 f., S. 262-264) hat den Meister nach einem Kodex benannt, den wir in Leuchtendes Mittelalter VI als Nr. 35 vorstellen konnten, und zum Ausgangs-
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punkt des Œuvres genommen: das illustrierte Dedikationsexemplar von Robert Gagu ins französischer Übersetzung des Gallischen Krieges für Karl VIII . Unser Stundenbuch ist ein besonders überzeugendes Beispiel der Kunst dieses bemer kenswerten Pariser Zeitgenossen von Malern wie Jean Pichore oder den Le Barbier oder dem Meister der Apokalypsenrose. Der Meister des Robert Gaguin gehört auch wegen seines Engagements für den Buchdruck zu den bemerkenswertesten Pariser Buchmalern um 1500. In Horae B. M. V. I, konnten wir bei Nr. 31, einer Variante von Thielmann Kervers Druck für Guillaume Eustace vom 20. Juni 1500, der dort als Nr. 30 beschrie ben wird, zeigen, mit welcher künstlerischen Freiheit unser Maler die nach Entwürfen des Meisters der Apokalypsenrose gestalteten Drucke uminterpretiert und im Wortsin ne ins 16. Jahrhundert hinüberführt. Mit Pichore zusammen gestaltete der Künstler das schon zitierte Stundenbuch des Morin d’Arfeuille (Chantilly, Musée Condé, ms. 79). Besonders aufschlußreich ist der Vergleich der Bathseba-Bilder, die in beiden Kodizes derselben Vorlage folgen, wobei unsere Minia tur subtiler wirkt in ihrem erotischen Reiz. Welche Größe der Meister des Robert Gag uin erreichen konnte, zeigt insbesondere die Mondsichelmadonna auf fol. 40: Mit großer künstlerischer Kraft ist die Figur als Kniestück gestaltet; dabei kommt Fouquets Ant werpener Madonna aus dem Diptychon von Melun für Etienne Chevalier in den Sinn. Großen äst hetischen Reiz hat dieses schlanke, schlüssig gestaltete und edle Pariser Stundenbuch aus der Zeit gegen 1500, das mit seinen leuchtend schönen Miniatu ren ganz eigenhändig ausgemalt wurde vom erst 1993 definierten Meister des Ro bert Gaguin, der für das Pariser Handschriftenwesen ebenso wichtig war wie für den Buchdruck der Metropole; dazu verfügt dieser Kodex über einige eindrucksvolle Sonderleistungen, darunter eine unerhört explizite Aktfigur von Bathseba und ein besonders majestätisches Madonnenbild, das den Konflikt der spätgotischen Tra dition Frankreichs mit an Italien orientierten Ansprüchen zeigt, die von der Kunst eine neue Monumentalität verlangten. LIT ER AT UR :
Das Manuskript wurde als Nr. 22 in Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III , 2000 veröffentlicht (und nun zurückerworben); zum namengebenden Werk siehe: Leuchtendes Mittelalter VI , Nr. 35.
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38 Ein überströmend reiches Stundenbuch vom Gaguin-Meister mit Miniaturen vom Meister der Chronique Scandaleuse
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot und Blau für die Suffragien, mit einem Kalender in Blau, Rot und Gold, in Textura. Paris, ca. 1490-1495: Meister des Robert Gaguin und der Meister der Chronique Scandaleuse 65 Bilder auf 38 Seiten: vier Bildseiten mit drei bis sechs Bildfeldern für Nebenszenen, davon zwei textlos, die beiden anderen mit in Gold auf Purpur gemalten Incipits. Die üb rigen Bilder mit Randschmuck: sechs Kopfminiaturen über vier Zeilen Text mit dreiz eiligen Initialen, eine über sechs Zeilen in Vollbordüren; ein Kopfbild über acht Zei len Text ebenso wie die vier Kleinbilder zu drei Perikopen und einem Mariengebet mit Rankenklammer von außen, zwölf Randbilder zu Gebeten und Suffragien, davon elf mit Rankenklammer von außen, beim O intemerata jedoch nur mit Außenbordüre und einer Pinselgold-Leiste um den Textspiegel und ausnahmsweise dreizeiliger Initiale; 16 Kalen derbilder (rundbogige Monatsbilder oben und Tierkreiszeichen in der unteren Bordüre) mit Vollbordüren. Die Bordüren sind mit einem Fond in Pinselgold oder Kompartimenten aus Pergament- und Pinselgoldgrund versehen; nur im Kalender sind die Kompartimen te in Rot und Blau gehalten und mit weißem Akanthus geschmückt. Jede Textseite mit ei nem einseitigen Bordürenstreifen außen, viele mit Grotesken auf Bodenstreifen. Die Initialen für die großen Incipits ebenso wie die zweizeiligen für Psalmenanfänge haben rote oder blaue Buchstabenkörper auf Blattgold aus der Dornblatt-Tradition, deren Fond in Pinselgold jedoch meist mit kleinen Blütenstielen geschmückt ist. Einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Blattgold auf roten und blauen Gründen, Zeilenfüller in gleicher Art. Versa lien gelb laviert. 124 Blatt Pergament, vorne und hinten je 1 fliegendes und 1 festes Vorsatz aus Pergament. Un regelmäßige Kollation, 22 Lagen, gebunden vorwiegend zu sechs Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6-2, das innere Doppelblatt mit Mai bis August entfernt), die Lagen 2 (4), 3 (8-1, 7. Blatt mit dem Beginn der Marien-Matutin entfernt), 4 (4), 10 (6-1, 1. Blatt mit dem Be ginn der Marien-Komplet entfernt), 13 (4-1, 2. Blatt mit dem Beginn der Heilig-Geist-Horen entfernt), 14 (6-1+1, 2. Blatt mit dem Beginn der Bußpsalmen entfernt); moderne Bleistiftfo liierung rechts oben, zählt entfernte Blätter mit und endet bei 131 Blatt. Keine Reklamanten. Groß-Oktav (205 x 135 mm; Textspiegel: 120 x 69 mm). Zu 21, im Kalender zweispaltig zu 16 Zeilen. Rot regliert. Gebunden in alten roten Samt auf Holzdeckeln; eine zentrale Schließe; gepunzter Goldschnitt. Provenienz: Noch komplett mit vollständigem Kalender, elf Bildseiten mit Randillustrationen und acht Kopfminiaturen wurde die Handschrift als lot 194 bei Sotheby’s London am 21. März 1929 aus dem Besitz des Barons van Zuylen an Maggs verkauft; in der Abbildung war die Toten-Vesp er noch mit einer Doppelseite bebildert; seither, daß Gott erbarm, um elf Blätter mit sieben Miniaturen beraubt (exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor).
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Text Die Angaben folgen der tatsächlichen Blattzählung. fol. 1: Kalender, in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf roten und blauen Flächen, die Festtage in Gold; nach römischem Formular ohne spezifisch regionale Ausrichtung. fol. 5v: Perikopen, nach textlosem Bild auf Recto beginnend mit Johannes (fol. 5v), Lukas (fol. 6v), Matthäus (fol. 7v) und Markus (fol. 9). fol. 10: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 10); O intemerata, an Maria und Johannes gerichtet (fol. 13). fol. 15: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (Anfang fehlt vor fol. 15), Laudes (fol. 22v), Prim (fol. 31v), Terz (fol. 35), Sext (fol. 38v), Non (fol. 42), Vesper (fol. 45), Komplet (fol. 51, Anfang fehlt); Antiphone für das Marienofzium zum Dienstag und Freitag (fol. 53v), und zum Mittwoch und Samstag (fol. 56v), Adventsofzium (fol. 60). fol. 65: Horen von Heilig Kreuz (fol. 65) und Heilig Geist (Anfang fehlt vor fol. 69). fol. 71: Bußpsalmen (ein vorgeschaltetes Vollbild auf fol. 70v, Textanfang fehlt auf fol. 71), mit Litanei (fol. 80v), mit Pariser Heiligen wie Gervasius und Prothasius am Ende der Märtyrer, Marcellus, Germanus, Medardus sowie am Ende der Bekenner Ludwig, Genovefa als dritte der weiblichen Heiligen, darunter auch Heilige des Römischen Kalenders: Crispin und Crispinian und Leodegar, der als Bischof von Autun verehrt wird. Domitian von Saint-Rambert-en-Bugey im Dép. Ain. fol. 84v: Totenofzium (mit einem Vollbild auf fol. 84), für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 84v), Matutin (fol. 89v, von einer Rubrik eingeleitet), Laudes nicht markiert (fol. 104v). fol. 116: Sufragien: Trinität (fol. 116), Michael (fol. 116v), Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist (fol. 117), Petrus und Paulus (fol. 117v), Sebastian (fol. 118), Stephanus (fol. 118v), Nikolaus (fol. 119), Anna (fol. 119v), Magdalena (fol. 120), Barbara und Katharina (fol. 120v), Margareta (fol. 121). Textende auf fol. 121v. Schrift und Schriftdekor Durch die Textura mit den roten Rubriken und den Farbwechsel von Rot und Blau im Kalender ebenso wie durch die einzeiligen Blattgold-Initialen auf roten und blauen Gründen zu den Psalmenversen mit entsprechenden Zeilenfüllern schreibt sich die Schrift in ältere Tradition ein. Dazu passen auch die roten oder blauen Buchstabenkörper auf Blattgold, die mit ihrem weißen Dekor der Dornblatt-Tradition entstammen,
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auch wenn die Binnenfelder in Pinselgold ausgemalt und meist mit kleinen Blütenstielen geschmückt sind. Der Randschmuck hingegen ist konsequent auf die in der Entstehungszeit üblichen Kompartiment-Bordüren eingestellt: Pergamentgrund mit blau-goldenem Akanthus steht in der Regel neben mit Blumen gefüllten Flächen in Pinselgold, die ihrerseits kräftig mit schwarzer Tinte konturiert sind, während die gesamten Felder nur mit einer roten Linie umgrenzt werden. Hierarchische Staffelung sorgt für Randstreifen in Textspiegelhöhe zu jeder Textseite, von außen um den Textspiegel gelegten Bordürenklammern und Vollbordüren, die vom Bogenabschluß der Miniatur durchbrochen werden. Grotesken auf Bodenstreifen bevölkern viele Randstreifen. In der auch anderswo (siehe vor allem Nr. 35) zu erkennenden Tendenz, dem Kalender auch im Randdekor eine Sonderrolle zuzugestehen, bilden die Kompartimente dort blaue und rote Fonds. Der Maler setzt sich beim Mariengebet O intemerata und dann in den Suffragien über die Vorgaben des Schreibers hinweg; dort waren keine Bildfelder freigehalten, so daß nur Randbilder möglich blieben. Im ersten Fall bleibt es bei dem Randstreifen, in den ein Bild eingefügt wird; zur Betonung der Seite wird aber eine Leiste aus Pinselgold um das Textfeld herumgeführt; in den Suffragien hingegen kommen Rankenklammern zum Einsatz; das gilt auch für das einzige in den Textverlauf eingeschaltete Kopf bild zum Annen-Suffragium. Der erstaunliche Bilderreichtum hat noch im 20. Jahrhundert dazu verführt, die eine oder andere Bildseite aus dem Buch herauszumetzgern. Doch bleibt erstaunliche Pracht, die jedoch ergänzt werden muß durch das heute Verlorene: Der Verlust des Textanfangs der Bußpsalmen und eine Photographie der Toten-Vesper im Auktions-Kat. von 1929 belegen, daß diese beiden Incipits mit Doppelseiten voller Bilder eröffnet waren. Man wird Ähnliches für die Marien-Matutin annehmen müssen. Hingegen standen die mit Nebenszenen versehenen Bilder zur Johannes-Perikope ebenso wie zur Matutin des Heiligen Kreuzes und der heute geräuberten Matutin des Heiligen Geistes allein. Ihnen nachgeordnet waren die Marienstunden und die Eröffnung der Suffragien mit den Kopf bildern in Vollbordüren; eine Sonderrolle nahm das Annen-Suffragium ein. In der Hierarchie hatte der Schreiber dann noch die drei weiteren Perikopen und das Mariengebet Obsecro te durch Bilder im Textspiegel und das O intemerata durch eine dreizeilige Initiale hervorgehoben; nur der Maler sorgte dann für weitere Differenzierung durch Randbilder. Wie gewohnt wurde der Kalender getrennt gestaltet. Bildfolge Breit angelegt sind die Kalenderbilder bei zweispaltigem Text: Unten sind die Felder etwa acht Zeilen hoch, oben wölbt sich über entsprechend bemessenem Rechteck noch ein im Scheitel drei Zeilen hoher Bogen. Dieses größere Feld nimmt das Monatsbild ein, während die Tierkreiszeichen unten Platz finden. Die Themen entsprechen der Konvention; ihre Ausgestaltung aber ist reich und zuweilen erstaunlich:
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Zum Januar werden Speisetisch und Kamin verbunden: Am runden Tisch mit der fast bis zum Boden reichenden weißen Decke sitzt die Frau des Hauses. Der älter wirkende Herr hingegen mit einer Kappe auf dem Kopf ist in einen doppelten Mantel gehüllt, tritt zum Kamin und öffnet seine Gewänder, um die Beine zu wärmen. Unten schreitet der Wassermann, ein nackter Jüngling mit weitem Schritt aus, um zwei Metallkrüge zu leeren, ohne seine violetten Flügel zu benetzen. Zum Februar wird ein jüngeres Paar zwischen Kamin und Speisetisch gezeigt: In einer langstieligen Pfanne bereitet die Frau Speise zu. Der Mann weist sie an, während Getränk und Teller auf dem Tisch warten; dasselbe Paar, jedoch mit einer Art Waffeleisen, kam beim Meister Karls VIII . in Nr. 35 vor. Sonderbar ornamental wirken die beiden mit Silber bemalten Fische im Wasser; gemeint sind vielleicht Hechte, von denen der eine mit dem Kopf nach links, der andere nach rechts weist. Es wirkt, als stünde ihre Darstellung auf dem Kopf; dabei ist die Landschaft mit Hügeln und Burgen vortrefflich konzipiert. Zum März wird das Beschneiden von Weinstöcken oder Obstbüschen in einem ummauerten Garten gezeigt. Die einzelnen Pflanzen sind wie beim Meister Karls VIII . (siehe wiederum Nr. 35) in runde Töpfe gepflanzt, die ihrerseits in die Erde eingegraben sind; wie im Medaillon von Nr. 35 beschreibt die Mauer einen Bogen. Unten schreitet der Widder nach links. Im April sitzt ein Liebespaar im Garten von zwei Spalieren mit Rosen, rot und weiß, umgeben; der junge Mann versucht, die Frau zu küssen. Der Stier schreitet mit hochauf wedelndem Schwanz einher. Im September wird der Wein gekeltert; dazu ist ein Jüngling mit blitzblanker Unterhose in den Bottich gestiegen; ein zweiter bringt eine neue Bütte. Die Jung frau (!) sitzt mit einem Palmzweig auf einem Hügel über weiter Landschaft. Im Oktober tritt fast der gleiche Sämann wie in Nr. 35 auf, freilich in einer Dorflandschaft mit niedrigen Häusern und mit dem Sack voll Saatgut wie in Nr. 39. Der gut charakterisierte Skorpion schwebt wie ein Motiv aus einem Naturkundebuch vor Landschaft und Himmel. Zum November kehrt derselbe Schweinehirt wieder, der in Nr. 35 auftrat, nun mit mehr Platz am Waldrand. Der Schütze ist hier ein rothaariger Kentaur. Im Dezember arbeiten Mann und Frau gemeinsam beim Schweineschlachten in einem Burghof. Wie in Nr. 39 ist der Steinbock nicht verfremdet, hier spaziert er durch die Landschaft mit vom unteren Bildrand abgeschnittenen Füßen. fol. 5: Textlos ist das Bild zur Johannes-Perikope: Wie eigentlich erst in den frühen Drukken von Pariser Stundenbüchern erscheint die Ölmarter des Johannes von fünf Randbildern begleitet: Der nackte Jüngling steht betend in einem runden Bottich, der durch Holzfeuer erhitzt wird, während zwei Männer ausholen, um auf ihn einzuschlagen. Von der Porta Latina in Rom, vor der das Martyrium vollzogen wurde, hat der Maler keinen Begriff; so zeigt er im Hintergrund eine Stadtmauer mit einem Tor und einer Ziehbrücke über einen Wassergraben. Vertraut aus der Johannes-Ikonographie sind zwei Szenen aus der Apokalypse, die in der Außenbordüre übereinander geschaltet sind: Oben erscheint dem auf einer Wiese Hockenden das siebenköpfige Ungeheuer im Himmel, darunter das Apokalyptische Weib in der Gestalt der Madonna mit Kind als Mulier amicta sole. Ebenso geläufig ist die Erweckung der Drusiana, die schon in Leichentücher gehüllt sich bei ihrem Leichenzug aufrichtet, weil Johannes sie segnet. Schwieriger zu beurteilen sind die
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schmaleren Bilder links: Hätte Johannes den Giftkelch in der Hand, wäre die Deutung nicht weiter schwierig; hier aber liegen zwei offenbar tote Jünglinge im unteren Bildfeld; vielleicht schildert dann die Szene darüber deren Dankbarkeit nach der Erweckung, mit der Johannes einem Herrscher seine Macht beweist. Die Malerei steht den Kalenderbildern nahe; doch zeigen vor allem die Gesichter, daß hier eine andere Hand tätig war. Kleinbilder von neun Zeilen Höhe eröffnen die übrigen Perikopen; darin sind die Evangelisten jeweils vollfigurig in Interieurs gezeigt: Lukas mit dem Stier (fol. 6v); Matthäus mit dem Engel (fol. 7v); Markus mit dem Löwen (fol. 9). fol. 10: Das erste Mariengebet, Obsecro te, erhält ein Kleinbild im Textfeld, mit der Halbfigur der betenden Mater dolorosa (fol. 10) in einer an Touroner Gemälde vom Meister des Münchner Boccaccio und von Jean Bourdichon gemahnenden Art von Bildnis. Das O intemerata hingegen ist vom Schreiber nur mit einer dreizeiligen Initiale ausgestattet worden; derselbe Maler, der den Kalender und das Marienbildnis gestaltet hat, zeigt die Assunta gekrönt in der Bordüre (fol. 13). Im Marienofzium fehlt die Matutin, so daß vorerst unklar bleibt, welcher der beiden Maler diese herausragende Aufgabe übernehmen durfte. Die Kopfminiaturen der folgenden Stunden sind mit Säulen gerahmt und von einem goldenen Bogen überfangen, der in den Pinselgoldgrund der Bordüren übergeht. Bei der Themenwahl erstaunt der Kindermord zur Vesper; er ist in Pariser Buchmalerei selten zu finden, wohl aber im frühen Stundenbuch-Druck. Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 22v) berühren sich die Frauen nicht; Maria wird nach links von einem Bäumchen hinterfangen, Elisabeth erscheint vor Felsen, auf denen das Haus des Zacharias durch Bäume und Büsche weitgehend verdeckt ist; die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 31v) folgt der von den Le Barbiers vertretenen Tradition: Der Stall ragt von links ins Bild, ein Gatter grenzt den Raum zur Landschaft ab. Links kniet die Jungfrau, die den nackten Knaben auf den Saum ihres blauen Mantels gelegt hat, rechts kniet Joseph mit der brennenden Kerze, die wie in Nr. 32 Weihe und Nacht zugleich bedeutet; Esel und Ochs zeigen sich zwischen den beiden. An einem kleinen Wasser, also am typischen locus amoenus, spielt die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 35): Ein Engel in weißem Gewand mit roten Flügeln verkündet die nicht lesbare Botschaft; zu ihm richtet sich der linke Hirte auf, während sich der rechte noch nicht von den Knien erhoben hat. Die Schafe drängen sich im Mittelgrund der knappen aber treffsicher gemalten Landschaft. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 38v) wird der Stall seitenverkehrt und ohne die niedrige Absperrung gezeigt: Maria sitzt rechts mit dem aufrecht sitzenden nackten Knaben auf dem Schoß. Der älteste König kniet vor ihr ohne eine Gabe; die beiden jüngeren, erheblich kleiner als er, stehen mit zylindrisch geformten goldenen Gefäßen. Bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 42) kniet Maria, von der Magd mit drei Tauben im Körbchen ebenso begleitet wie von Joseph, der sichtlich das Gespräch mit dem greisen Simeon sucht, der, die Mitra auf dem Haupt, sich vorbeugt und den nackten Knaben mit bloßen Händen hält. Ungewohnt ist dessen vorwärts ziehende Haltung, in der er die Mutter zu erreichen sucht. Herodes be-
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fiehlt den Kindermord zur Vesper (fol. 45) mit einer vor ihm knienden Frau, die um das Leben ihres in Rot gewickelten Knaben bittet, während im Ausblick aus dem Palast hinten ein nackter Knabe durch einen Soldaten mit dem Schwert getötet wird. fol. 65: Als reine Bildseite ist die Kreuzigung mit Szenen der Passion zur Matutin von Heilig Kreuz konzipiert; das Incipit ist in Goldlettern einer Capitalis auf ein purpurnes Feld unter dem Hauptbild gemalt. In zwei steilen Bildfeldern, die wie das Hauptbild von Bögen abgeschlossen werden, werden rechts das Gebet im Garten Gethsemane mit den schlafenden Jüngern vorn, links der Judaskuß mit Malchus am Boden gezeigt, während die ganze Breite der Malfläche im Bas-de-page unten der Kreuztragung vorbehalten ist. Aus dem Stadttor rechts bewegt sich der Zug gegen die Leserichtung; ihn führen die beiden Schächer in weißen Büßerhemden an; Schergen treiben sie vorwärts; Christus trägt als einziger ein Kreuz, mit dem Stamm voraus und von einem Mann bedrängt, während sich Johannes zur Muttergottes am Ende des Zuges umdreht. Kurios ist das Auftauchen von Helmen und Speeren über den Köpfen der Gestalten vorn; diese Soldaten scheinen körperlos zu sein. fol. 76v: David und Goliath mit weiteren Szenen aus der Davidgeschichte zu den Bußpsalmen, in etwas wirrer Reihenfolge: Das Hauptbild rückt die Schlacht gegen die Philister in den Mittelgrund, zeigt weit vorn den Riesen Goliath, der von Davids Schleuder mit einem Stein an der Stirn getroffen ist und zusammenbricht. Diese Miniatur nimmt eine Komposition auf, die uns von Nr. 32 geläufig ist und die seitengleich in den Metallschnitten des Meisters der Apokalypsenrose für Dupré ca. 1489 vorkommt (Horae B. M. V. IX , S. 3937, Nr. 13). Direkt damit verbunden sind die beiden Szenen rechts: David schlägt Goliaths Kopf ab und wird dann mit diesem Kopf von den Mädchen Israels gefeiert. Links oben spielt er als Knabe Harfe vor Saul. Im Bildfeld darunter wird er von Samuel gesalbt; doch paßt weder sein Alter, noch die würdige Kleidung und noch weniger der Soldat als Begleiter zu der Szene aus Davids Jugend; mithin müßte die Erhebung zum König in Hebron gemeint sein. Das Bas-de-page, das zu beiden Seiten noch einen Auszug nach oben hat, wird durch eine Säule in der Mitte in zwei Szenen geteilt: Links wird David von Micha auf seiner Flucht vor Saul abgeseilt; rechts hält Saul Kriegsrat eigentlich mit David, wenn der Kleidung zu trauen ist (fol. 70v). Der Textverlust auf der folgenden Seite zeigt an, daß der erhaltenen Szene eine weitere Bildseite mit dem Incipit gegenüberstand. fol. 84: Ursprünglich standen sich auch zu Beginn der Toten-Vesper zwei textlose Bilder gegenüber: Auf dem heute fehlenden Verso war die Hauptminiatur mit den Drei Lebenden und den drei Toten von fünf Szenen mit Hiob auf dem Dung gerahmt: Gespräch mit dem Teufel, Peinigung durch den Teufel, Besuch eines Freundes, Besuch der Frau und im Bas-de-page Besuch der Frau und zweier Freunde. Im Manuskript verblieben sind sechs Bildfelder, in denen die Geschichte vom Gastmahl des Reichen und dem armen Lazarus geschildert wird: Die Abfolge zeigt als erstes rechts oben das Gastmahl mit einem Diener, der den Hund zur Tür schickt; darunter Lazarus vor der Tür mit der Klapper der Aussätzigen, links im unteren Feld der tote Lazarus, im oberen seine Seele in En-
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gelshand. Die Schlußszene wird dann aus dem Hauptbild und dem Bas-de-page kombi niert: Als nackter Knabe sitzt die Seele des armen Lazarus auf Abrahams Schoß, unten bittet der Reiche bei Höllenqualen um einen Tropfen Wasser. fol. 116: Zum Suffragium der Trinität, die in Antiphon und Gebet als Adressat genannt wird, ein Kopfbild: Jesus und die Muttergottes als Fürbitter unter Gottvater. Jesus kniet als Schmerzensmann mit dem Kreuz, Maria jugendlich, also nicht als Schmerzensmut ter, und weist auf ihre nackte Brust, an der sie den Sohn genährt hatte, während der Va ter im Himmel als Halbfigur erscheint. Von der Taube des Heiligen Geistes ist nichts zu sehen. Diese bemerkenswerte Ikonographie findet sich auch in den flämischen Parti en des Turin-Mailänder Stundenbuchs. Für die übrigen Suffragien hat der Schreiber nur einmal, bei Anna, einen Bildraum vor gesehen. Als man dann doch alle Texte bebildern wollte, mußten die Darstellungen als Randbilder in den Bordüren Platz finden; das geschah mit zwei Ausnahmen in der Au ßenbordüre: der Erzengel Michael im Kampf mit dem Teufel (fol. 116v); Johannes der Täufer mit dem Lamm, dazu im unteren Randstreifen Johannes der Evangelist mit dem Giftbecher (fol. 117); Petrus und Paulus (fol. 117v); Sebastians Pfeilmarter (fol. 118); Stephanus als Diakon mit einem Stein in der Hand (fol. 118v); Nikolaus mit den drei Jünglingen im Bottich wohl in einem Sakralraum (fol. 119); Kopfbild mit doppeltem Maßwerkbogen: Anna lehrt Maria lesen (fol. 119v), danach wieder als Randbilder Mag dalena mit dem Salbgefäß (fol. 120), Barbara vor ihrem Turm; dazu im unteren Rand streifen Katharina mit Buch (fol. 120v), Margareta, die aus dem Drachen steigt (fol. 121). Zum Stil Die Mehrzahl der Miniaturen stammt von jenem Maler, den wir in Nr. 37 kennen und schätzen gelernt haben und der nicht nur von uns, sondern auch von Avril (AusstellungsKatalog 1993, Nr. 141 f., S. 262-264) nach einer herausragenden Handschrift benannt wird, die wir in Leuchtendes Mittelalter VI als Nr. 35 vorstellen konnten: Es ist Robert Gaguins Cäsar-Übersetzung; für den Gaguin-Meister charakteristisch bleibt seine Ver bindung mit dem Buchdruck. Die Kalenderbilder beweisen die bemerkenswerte Bild phantasie dieses Malers, der sich beim Bildnis der Schmerzensmutter an modernen Iko nen aus Tours orientierte. Seine Eigenart bestimmt alle im Manuskript verbliebenen Bilder zu den Marienstunden und die Darstellungen in den Suffragien. Hingegen hat man ihm von den bilderreich ergänzten Haupt-Miniaturen nur das Incipit des TotenOf fiziums anvertraut. Die anderen großen Bildseiten sind hingegen im klarsten Stil der Chronique Scandaleuse gehalten. Ein Vergleich der architektonischen Rahmungen zeigt, daß der GaguinMeister off enbar die Konzeption von den anderen großen Bildseiten übernommen und nicht ganz konsequent umgesetzt hat. Vermutlich war er also nicht in erster Linie für das Buch verantwortlich; doch fehlen die Eröffnung der Marien-Matutin und der Text beginn der Bußpsalmen, die darüber genaue Auskunft geben können.
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Die Farbe ist sehr viel malerischer aufgetragen; beim Kolorit dominieren wie in unserer Nr. 39 ein tiefes Blau und dunkles Purpurrot, üppig gehöht mit Gold. An den Gesich tern bewirkt die nicht so entschieden zeichnerische Malweise gemeinsam mit dem Sinn für Rottöne charakteristische Formen, an denen man den Stil vorzüglich erkennen kann. Ob freilich überall die Hand des Meisters selbst hier zu erkennen ist, bleibt angesichts der überwältigenden Qualität der hier anschließenden Nr. 39 zu klären. Die Bezüge auf den frühen Stundenbuchdruck im Johannesbild wie auch bei David und Goliath legen eine Entstehung in den frühen 1490er Jahren nahe. Ein Stundenbuch, dessen Ausmalung vom Meister der Chronique Scandaleuse und dessen Assistenten geleitet wurde, das aber die Mehrzahl seiner Miniaturen vom Gaguin-Meister erhielt. Trotz schändlicher Räuberei mit 65 Bildfeldern auf 38 Sei ten immer noch außerordentlich bilderreich, ist dies zudem ein vorzügliches Bei spiel für die Einrichtung eines solchen gegen 1495 entstandenen Pariser Stunden buchs nach Grundsätzen der Hierarchie. Überdies ein Buch, das die Beziehungen zum frühesten Druck von Stundenbüchern in Paris und zu der Stilgruppe um den Meister der Apokalypsenrose erhellt, zu der auch der Meister der Traités théolo giques mit unserer Nr. 32 gehört. Besonders eindrucksvoll durch die Nebenszenen auf den großen Bildseiten! LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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39 Das Stundenbuch der Françoise de Bellecombe mit 103 Bildern vom Meister der Chronique Scandaleuse: Manuskript 40 aus der Sammlung Edmond de Rothschild
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, Kalender in Blau, Weinrot und Gold, in braunschwarzer Textura. Paris, um 1485/90: Meister der Chronique Scandaleuse 103 Bildfelder auf 55 Seiten: ein Wappenbild; eine textlose ganzseitige Miniatur und vier große Bilder, die das Incipit umschließen, jeweils in mit Statuetten geschmückten Architekturen; zwölf Kopf bilder in Bildbordüren mit jeweils vier weiteren Bildfeldern und 13 Kleinbilder, in Textspiegelbreite acht Zeilen hoch, zu den Gebeten und Sufragien am Schluß des Bandes, sowie 24 Kalenderbilder im unteren Randstreifen mit Bordürenstreifen außen in voller Höhe von Bild und Text. Die großen Miniaturen mit zweizeiligen Incipits und hellen Akanthus-Initialen auf Pinselgold; entsprechende dreizeilige Initialen zu den 13 Kleinbildern. Wie alle Textseiten sind diese Kleinbilder von einem doppelten Zierstab außen und Kompartiment-Randstreifen mit Grotesken und Figuren, teilweise auf Bodenstreifen, begleitet Ein Incipit mit dreizeiliger, Psalmenanfänge durchweg mit zweizeiliger Akanthus-Initiale in äußerst vielfältiger Gestalt und Farbe: weiß auf Pinselgold, braun auf Blau, blau auf Purpurrot. Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Initialen in unregelmäßigem Wechsel von weißem Akanthus auf Pinselgold, goldenem Akanthus auf Blau, blauem Akanthus auf Weinrot oder schlichtem Pinselgold auf blauen oder weinroten Flächen; Zeilenfüller in der gleichen Art oder als goldene Knotenstöcke. Auf fol. 43v-44 altertümliche zweizeilige Dornblatt-Initialen und einzeilige Buchstaben in Gold auf Blau, auf fol. 49/49v zweizeilige Dornblatt-Initialen in Blau, einzeilige in Gold auf roten und blauen Flächen. Versalien gelb laviert. 221 Blatt Pergament, je 2 fliegende Vorsätze aus Pergament vorn und hinten; gebunden vorwiegend zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage mit je einem vorgeschalteten und einem nachgeschalteten Blatt 1 (12+2), eine Lage mit nachgeschaltetem Blatt 10 (8+1) und die Endlage des Totenofziums 23 (6); keine Reklamanten. Rot regliert zu 16, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (198 x 137 mm; Textspiegel: 127 x 78 mm). Brillant, komplett und einzigartig gut erhalten. Dunkelbrauner Maroquinband à la janséniste eines bedeutenden Pariser Ateliers des Zweiten Kaiserreichs, signiert Thibaron-Joly, auf fünf erhabene Bünde; Goldschnitt. Provenienz: Auf fol. 1v zwei Allianzwappen: in jedem der beiden, links à sénestre, rechts à dextre, dasselbe Wappen: auf demselben Rot, das die Beterin auf fol. 22v trägt, mittig ein goldenes Band mit je drei blauen fleurs-de-lis und darüber ein steigender Löwe in Silber. Die Auflösung verdanken wir Jean-Luc Deufc, dem zufolge es sich um die Wappen von Tochter und Mutter handelt:
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Links: De Nanton (De sinople à la croix d’or) und Bellecombe (De gueules à la fasce d’or chargée de trois fleurs-de-lis d’azur et accompagné en chef d’un lion naissant d’argent mouvant de la fasce): Wappen der Françoise de Bellecombe, die mit Louis de Nanton verheiratet war. Rechts: De Bellecombe mit De Germolles (De gueules, à trois besans d’argent): Wappen der Mutter von Françoise de Bellecombe: Marguerite de Germolles, die mit Jacques de Belle combe verheiratet war. Die Familie war ansässig im burgundischen Mâconnais. Louis de Nanton war Miteigner von Nanton und Seigneur von Cruzilles. Chronologische Probleme entstehen durch die Angabe in der Histoire de la noblesse du Comté-Venaissin, d’Avignon, et de la principauté d’Orange, Bd. II, Paris, 1743, S. 291, der zufolge die Ehe von Françoise de Bellecombe bereits 1455 geschlos sen wurde. Stilgeschichtlich treffender ist die Angabe: Louis de Nanton sei 1503 Seigneur von Cruzilles, d’Arcenis, Macheron und Nobles gewesen. Zudem berichtet Abbé Claude Barraud in seinen Notices historiques sur la commune de Chasselas-en-Mâconnais, 1921, S. 6, über die Rolle von Jacques de Bellecombe in den Auseinandersetzungen des burgundischen Adels mit Ludwig XI., die mit der Unterwerfung auch von Jacques de Bellecombe enden; danach heißt es: „Ce Jacques de Bellecombe eût de son mariage avec Marguerite de Germoles deux fi lles, l’une appelée Françoise fut femme de Louis de Nanton, seigneurs de Cruzilles, d’Arcenis, Macheron et Nobles que l’on voit en 1587 (Tippfehler für 1487) faire un don de mille livres à Françoise sa femme.“: Waren die tausend Livres der Anlaß, dieses ohne Zweifel sehr teure Manuskript zu bezahlen? Françoise de Bellecombe als recht junge Beterin mit schwarzer Hau be und leuchtend rotem Kleid mit schwarzen Manschetten wird mit dem heiligen Franziskus gezeigt, dessen Suffragium im Buch weit nach vorn gesetzt ist, für dessen Stigmata dann aller dings noch ein zweites Suffragium auf fol. 14 nachträglich eingefügt wurde. Eines der ganz wenigen Manuskripte aus Rothschild-Besitz, die noch in Privathand sind, wie die von Edmond de Rothschild eingetragene Nr. 40 im Vorderdeckel beweist: James Mayer de Rothschild erwarb den Band, der in der Auktion Riva 1856 als lot 65 angeboten wurde. Nach dessen Tod im Besitz seiner Gattin Betty, gelangte er Mitte der 80er Jahre in die welt berühmte Sammlung Edmond de Rothschild und befand sich als Nr. 40 dort bis zu seinem Tod 1934, nach dem es über Erbgang an Edmonds Tochter Alexandrine de Rothschild kam. In deren Auktion Haus der Bücher 38, Basel 1964, die Nr. 52 (sfr. 65.000,-). Später europäi scher Privatbesitz. Text fol. 1: textlos. fol. 2: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt; Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstabe A in Pinselgold auf Rot, Blau oder Braun, Sonntagsbuchstaben b-g in Schwarz, S des Heiligennamens in Gold auf Rot, Blau oder Braun, Heiligennamen alternierend in Rot und Blau, Festtage in Gold; Pariser Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa und Dionysius; jedoch auch mit einem Fest des heiligen Hubertus von Lüt tich (3.11.).
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fol. 14 (ergänzter Text in einer Fraktur des 16. Jahrhunderts, die Räume für Zierbuchstaben leer): Sufragium der Stigmata des heiligen Franziskus: De stimatibus beati francisci. fol. 15: Perikopen: Johannes, als Suffragium (fol. 15), Lukas (fol. 17), Matthäus (fol. 19), Markus (fol. 21). fol. 23 (nach einer ganzseitigen Miniatur auf Verso): Sufragium des heiligen Franziskus: Franciscus vir catholicus … fol. 24: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 24); fol. 46v leer, Laudes (fol. 47), Prim (fol. 62), Terz (fol. 69), Sext (fol. 75), Non (fol. 81), Vesper (fol. 87), Komplet (fol. 97). fol. 104: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 104), des Heiligen Geistes (fol. 114); fol. 121v leer. fol. 122: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 135v). fol. 145: Totenofzium für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 145), Matutin (fol. 153v, mit einer Rubrik eingeleitet), Laudes (fol. 181); fol. 196-197v leer. fol. 198: Gebete: Salve sancta facies …, Mariengebete: Obsecro te (fol. 199v), für einen Mann redigiert, O intemerata (fol. 203v), Stabat mater dolorosa … (fol. 206); Ave cuius conceptio (fol. 209); Gaude virgo virginali (fol. 210v). fol. 213: Sufragien: Johannes der Täufer (fol. 213), Petrus und Paulus (fol. 214), Sebastian (fol. 215), Claudius (fol. 216v), Magdalena (fol. 218v), Barbara (fol. 219v), Katharina (fol. 221). Textende auf fol. 221v. Schrift und Schriftdekor In einer traditionellen, energischen Textura ist dieses Buch geschrieben, so daß man fast den Eindruck haben könnte, es handele sich um eine ältere Handschrift. Doch schon die Tatsache, daß den Gebeten und Suffragien am Ende des Bandes Bildfelder in voller Breite des Textspiegels und den Antiphonen dreizeilige Buchstabenfelder vorbehalten wurden, verrät die recht späte Entstehung des in sich sehr konsequent gestalteten Buchs, das fast ohne Zäsuren auskommt, zumal das Marien-Ofzium nach dem FranziskusSuffragium auf dem zweiten Blatt der dritten Lage einsetzt. Der Schriftdekor erstaunt besonders: Nachdem auf fol. 43v-44 altertümliche zweizeilige Dornblatt-Initialen und einzeilige Buchstaben in Gold auf Blau und auf fol. 49/49v zweizeilige Dornblatt-Initialen in Blau, einzeilige in Gold auf roten und blauen Flächen eingesetzt waren, wechseln verschiedene Dekorationsarten bei den einzeiligen Initialen unregelmäßig. Der für die größeren Initialen der zweizeiligen Psalmenanfänge und der dreizeiligen unter den Bildern benutzte weiße Akanthus auf Pinselgold, goldene Akanthus auf Blau oder blaue Akanthus auf Weinrot steht bei den einzeiligen Initialen neben
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Zierbuchstaben in schlichtem Pinselgold auf blauen oder weinroten Flächen. Alle Textseiten sind ebenso wie die Kleinbilder zu Gebeten und Suffragien von einem Doppelstab außen begleitet, der mit Blattgold zum Text und mit Blau zur Bordüre gefüllt ist, sowie auffälligerweise oben und unten offen bleibt. Dazu kommen Kompartiment-Randstreifen mit Grotesken und Figuren, die teilweise auf Bodenstreifen stehen. Daß viele Zeilenfüller in der gleichen Art gehalten sind, erstaunt nicht, wohl aber die plastische Durchbildung der daneben eingesetzten goldenen Knotenstöcke. Die Bildhierarchie ist bemerkenswert: Die vier Evangelistenbilder arbeiten mit dem von Jean Fouquet für Étienne Chevalier erfundenen und von Jean Colombe weiter entwickelten Layout, bei dem die Incipits am vom Schreiber vorgesehenen Ort bleiben, aber von Malerei umgeben sind. Eigentlich machen die prächtigen Architektur-Rahmen, in die kleine Statuetten eingesetzt sind, den Eindruck, man habe es hier und bei dem Bild der Beterin mit dem heiligen Franz auf fol. 22v mit der höchsten Dekorationsstufe zu tun. Sie wird jedoch übertroffen durch die zwölf Bildseiten mit insgesamt sechzig Bildfeldern zu den Marienstunden, den Matutinen von Kreuz und Geist, den Bußpsalmen und der Toten-Vesper. Bildfolge fol. 1v: Textloses Bild mit einem Engel, dessen Albe antikisch wie ein Peplos mit zwei Gürteln, einem unsichtbaren und einem sichtbaren, gebunden ist und der im Chormantel erscheint. Mit beiden Händen trägt er die oben beschriebenen Wappen. Im Kalender wechseln Monatsbilder mit für die Jahreszeit typischen Beschäftigungen auf Recto und Darstellungen der Tierkreiszeichen auf Verso im großzügigen Bas-de-page ab. Schriftbänder am Ende der äußeren Randstreifen bezeichnen die Monate mit ihren französischen Namen, den Zodiak aber in Latein: Zum Januar ein Mann am Kaminfeuer mit dem Speisetisch an der Rückwand unter zwei Fenstern und der Wassermann als geflügelter nackter Genius, der eine bauchige Vase auf den trockenen Boden ausgießt. Zum Februar ein Mann am Speisetisch und die Fische in einem Fluß zwischen felsigen Ufern mit grandiosem Weitblick. Zum März das Beschneiden der Weinstöcke und der Widder in der Landschaft. Zum April Jüngling vor einer Rosenhecke sitzend mit zwei Blumensträußen in den Händen und der Stier in der Landschaft. Zum Mai ein Paar auf einem Braunen [??] und die Zwillinge als nacktes Paar in (verfänglicher!) Umarmung hinter einem Flechtzaun im Gebüsch. Zum Juni Heumahd mit einem jungen Mann, dessen Schuhe ebenso wie sein Wasserkrug im hohen Gras verschwinden, während er mit der Sense über das Gras fährt, und der Krebs zinnoberrot im blauen Wasser eines Flusses zwischen Felsen. Zum Juli Kornmahd mit der Sichel, wobei der Schnitter sich so beugt, daß das hohe Korn seinen Hut überspielt, und der Löwe wie ein englischer „Leopard“, jedoch den Kopf im Profil. Zum August Backen von kleinen runden Brötchen in einem Burghof und die Jung frau als ein Mädchen, das in langem roten Kleid mit Palmzweig spazieren geht. Zum September Weinkelter und die Waage in der Hand einer jungen Frau, die in einem stattlichen Steinhaus sitzt. Zum Oktober ein Sämann im gepflüg-
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ten Feld, das ebenso wie er en face gesehen ist, mit eindrucksvoller Perspektive an Katen vorbei, dazu auffällig vielen Steinbrocken im Feld, das rechts zum Teil noch nicht gepflügt ist, bemerkenswert auch der Sack mit dem Saatgut rechts, und in irriger Abfolge der Schütze als Kentaur. Zum November ein Schweinehirt beim Schweinefüttern zwischen Holzställen und wieder irrtümlich der Skorpion vor einer geradezu unerhörten Stadtansicht, die sich in einem blauen Gewässer spiegelt. Zum Dezember ein Mann beim Schweineschlachten in einer Burg und der Steinbock vor einem Felsen ruhend, ohne die in dieser Zeit übliche Verfremdung des Hinterteils. fol. 15: Grandiose Evangelistenporträts eröffnen die Perikopen: Die zwei Zeilen des Incipits verbleiben an der vom Schreiber vorgesehenen Stelle, sind wie Schriftbänder von den zweizeiligen Initialen gleichsam auf die Malfläche geheftet. Renaissance-Architekturen in Gold-Camaïeu mit blauen Spiegeln, mit niedrigem Sockel und geradem Fries sowie schmaleren Pilastern zum Falz und mit je zwei weißen Prophetenstatuetten besetzten Pilastern außen sorgen für prachtvolle Rahmung. Die Beschriftung der nicht weiter charakterisierten Gestalten ist teilweise gestört; dargestellt sind bei Johannes David und Salomon ohne Hinweise auf das Königtum, bei Lukas Elias und vielleicht Ezechiel, bei Matthäus Jesajas und Jeremias, bei Markus vielleicht Joel und sicher Daniel. Erstaunliche Wirkungen erzielt der Maler mit den Farben: Die Evangelisten tragen tiefes Purpurrot, das in großartigem Kontrast zu blauen Flächen steht, dazu Violett und Grün. Nur Bücher und Schriftbänder bringen Weiß in die Bilder. Stier, Engel und Löwe sind recht klein. Die Attributswesen von Lukas und Markus halten Schriftbänder mit französischen Namen: s. luc, s. marc. Aus dem tief blauen Meer vor einer mit Silber gehöhten Ferne tauchen felsige Eilande mit Grasnarbe auf; das größte trägt Johannes auf Patmos (fol. 15): Dort sitzt der Heilige rechts gewendet, blickt auf ein Buch, das er auf die Knie gelegt hat, und hält sinnend mit der Feder inne, während der Adler auf einem höheren Felsen in seinem Rücken mit den Flügeln schlägt. Eindrucksvoll erhebt sich das mädchenhafte Haupt Johannes’ über den Horizont. Die anderen drei Evangelisten werden vor eindrucksvoll gegliederten Renaissance-Wänden gezeigt, die durchweg bildparallel angelegt sind. Lukas (fol. 17) sitzt en face auf einem Thron, dessen rechteckige Form der Renaissance zugehört, der aber mit Maßwerk verziert ist; der Stier mit seinen violetten Flügeln hockt unter dem Incipit. Im Profil sitzt Matthäus (fol. 19) an einem massiven Holztisch, dessen Seite im Relief einen Engel zeigt. Er hebt seine Feder über den Kopf, schaut aber eher zu einem im Bild nicht gezeigten Fenster, während der Engel, wiederum mit violetten Flügeln, raumlos hinter dem Tisch und vor einem grünen Ehrentuch steht und mit untergeschlagenen Armen zum Evangelisten blickt. Im Profil nach rechts sitzt hingegen Markus (fol. 21), mit gesenktem Blick, weil er gerade in sein Buch schreibt. Die mit Maßwerk verzierte Bank und das Pult stehen schräg im Bild und unterstreichen durch ihre mangelnde Raumlogik, daß die Konzeptionen der Renaissance für den Maler etwas Neues und Ungewohntes sind; der Löwe mit seinen roten Flügeln sitzt unter dem Incipit.
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fol. 22v: In einer gotischen Kapelle vor Maßwerkfenstern kniet eine Beterin vor Franziskus: Ihr leuchtend rotes Kleid hebt sich famos von dem blauen Goldbrokat ab, der als Ehrentuch hinter beide Gestalten gespannt ist. Wichtiger aber noch ist die Korrespondenz zum Seraphen, der über der Frau schwebt und durch rote Linien mit den Wundmalen des Heiligen verbunden ist. Somit ist im Bild eher die Anbetung der Stigmata des Heiligen gemeint, der in einer wunderbar von Gold gehöhten brauen Kutte dasteht, leicht vom rechten Pilaster der Rahmung abgeschnitten. Vier nicht identifizierte Statuetten sind in die rein goldene Architektur gesetzt. fol. 24: Das Marienofzium begleitet ein besonders auf wendiger Bilderzyklus, der zu den gewohnten Bildthemen noch jeweils vier ergänzende Bildfelder setzt. Die Tatsache, daß am Ende der Matutin fol. 46v leer blieb, zeigt, daß man bewußt dafür sorgte, daß alle Miniaturen dieses Zyklus auf Recto stehen. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 24) findet abweichend von allen anderen Stundenbüchern dieses Bandes im Gemach der Jungfrau vor ihrem roten Bett statt, das in Bildern von Rogier van der Weyden (z. B. im Louvre) vorkommt, dort jedoch nicht so beherrschend in den Raum gestellt ist, während der Meister der Apokalypsenrose in seinen Miniaturen wie Graphiken (so MdA für Vostre 1495-98, Horae B. M. V. IX , S. 3966, Abb. 4) das Schlafgemach weit in den Hintergrund rückt. In unserer Miniatur sitzt die Jungfrau vorn neben ihrem Betpult mit dem aufgeschlagenen Buch. Sie schaut sinnend auf ihre fassungslos erhobenen Hände, während der Engel im violetten Chormantel mit gekreuzten Bändern über der Albe und blauen Flügeln von rechts hinzutritt und auf sie einredet. Die Randszenen gehen rechts oben zunächst auf Maria als zweite Eva ein; denn dort ist der Sündenfall gezeigt. Mariä Tempelgang und Maria am Webstuhl im Tempel schließen sich an, ehe im Bas-de-page Mariä Verlöbnis mit dem greisen Joseph Platz findet zwischen einem jungen Mann, der nach dem Stabwunder seinen Stab zerbricht, und der Mutter Anna. Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 47) löst sich energisch von dem sonst in Paris gewohnten Bildschema: Maria, die einen weißen Schleier um den Nacken trägt, ist aus dem Tal links gekommen, während die greise Elisabeth vom Haus des Zacharias rechts den steilen Felsen herunter gestiegen ist und nun mit besonderer Zartheit den Leib der Jungfrau berührt. In Stundenbüchern nutzt man, wo Nebenszenen zur Heimsuchung vorgesehen sind, diese Gelegenheit gern für Darstellungen aus der Geschichte des Täufers. Doch nicht dessen Geburt, sondern die Geburt der Jung frau Maria wird im Basde-page mit drei helfenden Frauen um das Bett der greisen Anna gezeigt, wie man an den langen goldenen Haaren des neugeborenen Kindes im Bade erkennen kann. Parallel zu den Randszenen der vorausgegangenen Miniatur wird die Erziehung der Jung frau, Marias Frömmigkeit im Tempel und Marias Speisung durch den Engel in einer Bildfolge von unten nach oben geschildert. Schwierigkeiten angesichts der Aufgabe, einen ergänzenden Zyklus zu den Kindheitsszenen zu konzipieren, zeigen die Randbilder der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 62): Während die Hauptminiatur das bekannte Bildschema dahingehend steigert, daß
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der niedrige Stall Maria und Joseph zu extrem demütigem Knien vor der Krippe zwingt, wird rechts oben schon einmal von einem Engel das gloria in eXcelsis der Hirtenverkündigung gezeigt, die erst Thema zur Terz sein sollte. Schwerwiegender aber ist der Umstand, daß nicht nur in der Randszene darunter das gängige Motiv der Flucht nach Ägypten, die erst nach der Königsanbetung folgen dürfte, geschildert zu sein scheint, sondern auch im Bas-de-page die Reise mit dem Kind geschildert wird, obwohl es dort offenbar um die Suche nach einer Herberge in Bethlehem geht: Im untersten Bildfeld der Bordüre verweigert ein reicher Jüngling Maria und Joseph Obdach in seiner Herberge, nachdem Maria vom Esel abgestiegen ist, um mit Joseph, gefolgt von Ochs und Esel, nach einer Unterkunft zu fragen; dazu paßt aber der in einen roten Rock gekleidete Knabe nicht; denn der war bei der Szene noch gar nicht geboren. In pastoralen Motiven, die den Malern leicht von der Hand gingen, schwelgt das Blatt mit der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 69): Unserem Maler sind Rot und Blau viel zu lieb, als daß er sich wie viele seiner französischen Zeitgenossen angesichts der Armut der Hirten mit den unansehnlichen Farben der Wirklichkeit zufrieden gäbe. Die fröhliche Buntheit verbindet seine Pastoralen mit flämischer Buchmalerei, beispielsweise der Familie Bening. Der Stall von Bethlehem wirkt bei der recht konventionell gestalteten Anbetung der Könige zur Sext (fol. 75) sehr viel höher und geräumiger: Ein roter Baldachin ist über Maria an den Deckenbalken befestigt. Sie sitzt mit dem Schleier über dem Haupt und dem in eine weiße Windel gehüllten Knaben, während der älteste König eine Goldkassette darbietet. Der mittlere neigt sich mit einem goldenen Ziborium, während der jüngste als Schwarzer Afrika vertritt. Kurioserweise ist dieser bemerkenswerte und in unserem Material seltene Umstand in den Randbildern vergessen: Dort gehören alle drei Könige zu den Weißen: Wie auf der vorausgehenden Bildseite wird das Bas-de-page mit dem unteren Feld außen kombiniert: Im breit gelagerten Feld reiten die Könige nach rechts, wo Herodes in seinem Palast ihnen entgegenblickt; ganz stimmig wird der Besuch der Könige bei Herodes damit zwar nicht; aber sicher ist er gemeint. Eine nicht genauer definierte Episode von der Reise der drei Könige ist oben gezeigt, darunter vielleicht der mittlere und der jüngere König als Rückenfiguren zu Pferde. Die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 81) löst sich von Pariser Konventionen; denn es wird kein Altar gezeigt. An einem Platz im Tempel, der mit einem runden Baldachin hervorgehoben wird und deshalb wie der leere Thron Gottes wirkt, steht links Simeon, mit Nimbus, und hält die verdeckten Hände in Erwartung des in eine Windel gewickelten Knaben, den Maria kniend darbringt; sie wird von der Magd mit dem Taubenkörbchen begleitet, während zwei junge christliche Geistliche mit Buch und Kerze im Mittelgrund verharren. Nicht einfach zu deuten ist die Darbringungsszene unter dem Incipit: Ein Priester mit Mitra hält ein ähnlich in eine Windel gewickeltes Kind über einem Altar; ein Mann steht in der Tür, zwei Frauen, keine von ihnen Maria, haben das Kind gebracht. Die anderen drei Bildfelder widmen sich der Kindheit Christi: Maria lehrt den Jesusknaben lesen; Maria und Joseph sind dann gezeigt, wie sie sich aufmachen, den
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zwölfjährigen Jesus zu suchen, der im Bild darüber im Kreise der Schriftgelehrten im Tempel lehrt. Die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 87) kommt in der recht nahen Landschaft ohne den Götzen aus, der von seiner Säule stürzt. Die etwas derbere Malweise, bei der Marias Schleier sein sattes Weiß verliert, mag einen Gehilfen des Meisters verraten, dem allerdings Joseph im Profil besonders lebendig, geradezu fesch gelingt. In den Randfeldern werden Episoden vom Kindermord ausgebreitet: Im Bas-de-page der Befehl des Herodes zum Kindermord; im untersten Bildfeld außen eine Mutter mit ihrem toten Knaben vor Herodes; darauf folgt der Kindermord im Dorf und schließlich das Kornwunder mit dem Sämann, der den Soldaten falsche Auskunft gibt und deshalb schon mit der Sichel im hohen Korn steht. Daß die Marienkrönung zur Komplet (fol. 97) die Muttergottes als Himmelkönigin über die Engel setzt, ist der Hauptgedanke der Bildseite: Maria kniet vor der mit Gold bedeckten breiten Thronbank, von der Jesus barfüßig zu ihr herabschwebt. Hinter dem grünen Tuch über der Thronlehne ist der Fond mit Engeln geradezu gemustert: ganz vorn sind sie golden, dahinter als Cherubim blau und in der letzten Schicht als Seraphim glühend rot. Die Bildfelder in der Bordüre zeigen einzelne Engelsgruppen vor hellblauem Himmel: Das beginnt unten mit drei jugendlichen Gestalten, in weiße, aber mit Rosa beziehungsweise Grün zart schattierte Alben gehüllt. Rechts hingegen gibt es nur sechsflügelige Engel; in Violett leuchten die ersten unten, feurig rot die Seraphim und tief blau die Cherubim. fol. 104: Zu den Horen die gewohnten Erkennungsbilder, ergänzt durch Beiszenen: Bei der Kreuzigung zur Matutin des Heiligen Kreuzes (fol. 104) sorgt die eigentümliche Verkleinerung von Gestalten, die höher im Bild erscheinen, für die reduzierte Gestalt des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes, die links vor dem Kreuz stehen und auch zu dem ein Stück weit hinter dem Kreuz stehenden Hauptmann, dessen goldene Rüstung mit dem roten Wams und dem blauen Schild vor der violett-grauen Masse der Soldaten kräftige Farbakzente setzt. Violett ist auch Christi Rock, wie er im Bas-de-page beim Verhör des Pilatus erscheint; von unten nach oben schließen sich an die Geißelung, ein kühnes Bild des Ecce homo mit zwei großen Rückenfiguren aus dem jüdischen Volk und die Kreuztragung, bei der Jesu violetter Rock vor dem dumpfen Dunkel von Rüstungen mit feiner Goldhöhung aufleuchtet. Auf goldenem Thron betet die Muttergottes als Verkörperung der Kirche in der Ausgießung des Heiligen Geistes zur Geist-Matutin (fol. 114); die Apostel, von Johannes und Petrus angeführt, knien um sie und blicken auf zur Taube, die in der Mitte oben goldene Strahlen und rote Flämmchen aussendet. Statt sich mit dem komplexen Text der Horen auseinander zu setzen, genügt dem Maler als Thema für die vier Bildfelder am Rand die Ausbreitung des Glaubens durch die Apostel: Unten ist eine Predigt dargestellt, in den Randfeldern rechts schreitet ein Apostel als Rückenfigur ins Land, Jakobus und ein zweiter wenden sich nach links, drei schließlich nach rechts; und jedes Mal triumphiert das Farbenpaar aus Rot und Blau mit Grün, das auch die Hauptminiatur bestimmt.
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fol. 122: Daß die Bußpsalmen mit der Geschichte von David und Bathseba verbunden sind, sorgte bereits um 1400 für die vielen Bilder der Buße in der Einöde; um 1500 tritt dann Bathsebas Bad schon wegen der Begeisterung für die Aktfigur ins Zentrum des Interesses. Unser Maler zeigt beides, aber ordnet die Szenen auf ungewohnte Weise, um den Uriasbrief zur Hauptsache machen zu können: Die Geschichte nimmt im Bas-depage mit Bathseba im Bade den Ausgangspunkt. In einem Steinbecken vor einer runden Fontäne steht die Nackte mit ihrem vollen Haar; eine Dienerin weicht nach links aus. Schauplatz ist ein Garten mit einer Burg in weitem Abstand; doch rückt David nahe heran, weil ihn der Maler in das untere Bildfeld am Außenrand versetzt hat, wo der König, von zwei Männern begleitet, auf Bathseba blickt. Hier schließt die Hauptminiatur an; denn dort kniet ein Soldat vor dem thronenden David, der ihm unter den Blicken von zwei Ratsherren den Brief übergibt, mit dem der Heerführer aufgefordert wird, den Hethiter Urias beim nächsten Kampf so aufzustellen, daß er fallen muß. Statt den König dann vom Propheten zurechtweisen zu lassen, zeigt der Maler in der Mitte außen den Tod vor David: die ledrige Gestalt drängt sich vor die Ratsherren und zwingt den König zur Buße. Davids Gebet in der Einöde mit seiner Burg im Hintergrund und dem feurig glühenden Engel des Herrn in den Wolken schließt den Zyklus rechts oben ab. fol. 145: Auch bei den Hiobsszenen zur Toten-Vesper spielt der Maler frei mit der Abfolge der Szenen: Ausgangspunkt ist Gottes Pakt mit dem Teufel rechts unten: Als groteske schwarze, menschenähnliche Gestalt kniet der Teufel auf der Erde und blickt zur Gotteserscheinung in den Wolken auf. Daran schließt der Einsturz des Hauses und die Vernichtung von Hiobs Nachkommen im Bas-de-page an. Keine rechte Abfolge haben dann die drei weiteren Bilder mit Hiob auf dem Dung; sie zeigen rechts in der Mitte Hiob und seine Frau, darüber Hiobs Peinigung durch den Teufel und schließlich den Besuch der drei Freunde bei Hiob im räumlich eindrucksvollen Hauptbild vor den Mauern einer hochgelegenen Stadt. fol. 198: Die abschließenden Gebete und Suffragien werden durchweg mit acht Zeilen hohen Bildfeldern eröffnet, die über den nun dreizeiligen Initialen die ganze Breite des Textspiegels einnehmen. Wie bei Jean Poyer sorgt das breite Bildformat, in dem durchweg Ganzfiguren agieren, für viel Raum; das gibt den Landschaften besonderes Gewicht. Das Gebet: Salve sancta facies verlangt eine Darstellung der Vera Ikon, die hier wie gewohnt von der nur aus dem Anagramm gebildeten heiligen Veronika präsentiert wird. So steht in weiter Landschaft vor einem roten Ehrentuch die wie Maria in Blau gehüllte Frauengestalt und präsentiert auf dem weißen Schweißtuch ein ungewöhnlich großes Bild des heiligen Antlitzes, gegen allen zeitgenössischen Brauch in Schwarz, und damit gewissen Ikonen eng verwandt, wie sie beispielsweise auch in Berrys Brüsseler Stundenbuch zu finden sind. Die ersten beiden Mariengebete eröffnen Bilder der Maria mit Kind: Zum Obsecro te thront sie zwischen zwei Engeln (fol. 199v); beim O intemerata hingegen ist sie die Mulier amicta in sole der Apokalypse, also die Madonna im Strahlenkranz, vor einer goldenen Mandorla in den Himmel erhoben, freilich ohne Mondsichel unter den Füßen (fol.
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203v). Das Stabat mater verlangte gegen den Wortlaut Es stand die Schmerzensreiche Mutter in der Buchmalertradition die Pietà (fol. 206), also die Beweinung unter dem Kreuz, zwischen Johannes, der das Haupt des Toten hält, und der leicht zurückgesetzten knienden Magdalena. Beide sind uns als Begleiter der Muttergottes bereits mehrfach ähnlich begegnet, so in einer Miniatur von François Le Barbier dem Jüngeren in unserer Nr. 32. Episoden aus der Marienlegende werden den weiteren Mariengebeten zugeordnet: Das Ave cuius conceptio feiert die Empfängnis Mariä durch den Kuß an der Goldenen Pforte (fol. 209), die als massiver goldener Bau vor den grauen Mauern steht. Das Gaude virgo virginali hingegen eröffnet mit der Mariengeburt (fol. 210v): Ein zentral stehendes rotes Wochenbett, in dem die greise Anna mit der bereits bunt gewickelten und mit einem weißen Mützchen versehenen Neugeborenen liegt, während links eine an Maria gemahnende Frau ein Glas Wasser bringt und eine zweite Frau Wäsche wegträgt. fol. 209: Zu den Suffragien sind entsprechende Bilder geschaltet: Johannes der Täufer (fol. 213) kniet auf felsigem Grund in der Einöde und scheint zu dem Lamm zu sprechen, das am Boden ihm zugewandt sitzt. Petrus und Paulus (fol. 214) stehen vor einem grünen Ehrentuch in einem sakralen Raum mit ihren Attributen. Von links zielen Bogenschützen bei Sebastians Pfeilmarter (fol. 215) auf den an einen Baum gefesselten Jüngling. Vor einem blau ausgeschlagenen Thron steht in Rot Bischof Claudius (fol. 216v). Von je zwei Engeln in blauem Camaïeu flankiert steht Magdalena (fol. 218v) nackt, aber ganz in ihrem wallenden Haar geborgen auf einem Felsen; sie ist also anders als gewohnt nicht schwebend in den Himmel entrückt. Barbaras Enthauptung (fol. 219v) wird besonders derb gezeigt: Vom Bildformat angeregt, hat der Maler den Moment gewählt, in dem die Prinzessin enthauptet bereits am Boden liegt, während ihr königlicher Vater seinen orientalischen Säbel in die Scheide zurückstößt; links über dem abgeschlagenen Haupt steht der Turm mit den drei Fenstern. Katharinas Enthauptung (fol. 221) steht hingegen noch bevor: Von links schaut der greise Herrscher mit Gefolge zu, wie die gekrönte Heilige über einem Fragment des Rades kniet und das Schwert erwartet, das der Scherge bereits über ihrem Haupt schwingt. Der Maler Unsere eigene Geschichte mit dem Maler wird hier unter Nr. 40 erläutert. Mit diesem Manuskript stellen wir ein Buch vor, das zwar durch die Zugehörigkeit zu der eminenten Sammlung von James Mayer de Rothschild und seinen Erben, vor allem Edmond, dem wohl bedeutendsten Handschriftensammler der gesamten Zeit, theoretisch nicht ganz unbekannt war, von dem aber selbst Christopher de Hamel keine rechte Vorstellung hatte. Auf eindrucksvolle Weise reiht sich das Manuskript in die Serie der großen Bilderhandschriften der Pariser Rothschilds ein; und es nimmt auch im Œuvre seines Schöpfers einen großen Rang ein, wohl als das schönste Stundenbuch mit Miniaturen seiner Hand. Seit Avril und Reynaud 1993 vorgeschlagen haben, das mit zwölf Miniaturen geschmückte Exemplar von 1502 einer Chronik der Regierungszeit Ludwigs XI . von Jean de Va-
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lognes mit Interpolationen von Jean de Roye, die als Chronique Scandaleuse bekannt ist (Paris, BnF, Ms. Clairambault 481), zum „manuscrit pilote“ der gesamten Stilgruppe zu machen, spricht man nur noch vom Meister der Chronique Scandaleuse. In unserem Ka talog kommt dieser eindrucksvolle Buchmaler an einigen Stellen vor, gern in Zusammen arbeit mit Pariser Zeitgenossen. Seine vielfältigen Bezüge zu hauptstädtischen Werk stätten bestärken die Gewißheit, daß auch er in Paris gearbeitet hat. Anders als die meisten Künstler, von denen hier die Rede ist, fügt sich dieser Maler aber nicht einfach in die Tradition der beherrschenden Familien, der Le Barbier und des Mei sters der Apokalypsenrose der Sainte Chapelle und seiner Vorgänger ein. Oft verstößt der Meister der Chronique Scandaleuse gegen die gewohnte Motivwahl, und wo er ihr folgt, bietet er oft ikonographische Änderungen. Dabei verbindet ihn vom Temperament manches vor allem mit dem Meister Karls VIII . Innerhalb der Stilgruppe und des Œuvres, das unter dem Namen des Meisters der Chronique Scandaleuse geführt wird, nimmt unser Stundenbuch durch den Bilderreichtum eine bedeutende Rolle ein. Zudem brilliert hier der ungewöhnliche Farbsinn des Künst lers, der in erster Linie auf ein geradezu unglaublich schönes Blau und ein Purpurrot ausgerichtet ist, dessen Kraft durch das Zusammenspiel mit hellem Grün, Violett und feinen Grautönen, mehr noch durch Goldhöhung gesteigert wird. Vom diffusen Farb auftrag her läßt der Meister auch an Jean Poyer in Tours denken, so daß vielleicht über legt werden sollte, wie weit die Beziehungen zur Fouquet-Nachfolge diese Buchmalerei geprägt haben. Im Werk des Künstlers wird es sich um eine relativ frühe Arbeit handeln. Durch die Schenkung ihres Ehemanns an Françoise de Bellecombe im Jahr 1487 scheint uns ein glücklicher wie schlüssiger Datierungshinweis gegeben, der diese Annahme perfekt stützt. Ein einzigartiges Hauptwerk des Meisters der Chronique Scandaleuse, der erst 1993 definiert wurde, bilderreich und brillant schön erhalten. Das Temperament des Künstlers bewegt sich zwischen Jean Poyer in Tours und dem Meister Karls VIII . in Paris. Für hauptstädtische Konventionen hat er wenig Respekt; seine Bildphanta sie ist erstaunlich und wird durch die Anlage der Hauptminiaturen mit jeweils vier ergänzenden Randbildern besonders herausgefordert. In unserem an vorzüglicher Malerei so reichen Katalog gehört dieses Stundenbuch auch durch seine Provenienz zu den eindrucksvollsten Manuskripten: Wappen, Bild nis und Devotion zum heiligen Franz beweisen, daß das Buch für Françoise de Bel lecombe geschaffen wurde, eine Adlige aus dem burgundischen Mâconnais, deren Familie zunächst der Burgunderherzogin Maria treu blieb, ehe sie sich mit der Über nahme des burgundischen Kerngebiets durch Ludwig XI . abfand. Rührend schön ist das Bildnis der Dame ebenso wie das ihres jugendlichen Namensp atrons.
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Ab 1856 gehörte das Buch den Pariser Rothschilds, nun taucht es wieder auf und bestätigt auf seine Art das erstaunlich treffsichere Gespür dieser Familie für Bilder handschriften der allerhöchsten Qualität! LIT ER AT UR : De Hamel, Christopher, The Rothschilds and their Collections of Illuminated Manuscripts, London 2005, erwähnt dieses Manuskript auf den Seiten 20, 36f., 49 und vor allem 54.
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40 Ein nobles Pariser Stundenbuch ungewöhnlichen Formats mit einer Miniatur vom Meister der Chronique Scandaleuse und farbfroher Ausmalung durch den Meister des Étienne Poncher in vorzüglichem FanfareEinband
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, Auszeichnungsschrift in Blau und Gold, in brauner Textura. Paris, um 1490: Verkündigung vom Meister der Chronique Scandaleuse, die Ausmalung sonst vom Meister des Étienne Poncher (alias Meister der Marie Charlot) 35 Miniaturen; davon sieben große in Renaissance-Rahmen über vier bis fünf Zeilen mit dreizeiligen Initialen, die übrigen 28 zehnzeilig in voller Breite des Textspiegels; alle in Vollbordüren aus Akanthus und Blumen auf Pinselgold. Horenanfänge von Hl. Kreuz und Hl. Geist mit dreizeiligen, Psalmenanfänge mit zweizeiligen Initialen derselben Art; Psalmenverse hingegen mit einzeiligen Buchstaben in Pinselgold im Wechsel von Blau-Weinrot-UmbraWeinrot; Zeilenfüller derselben Art im Wechsel mit Knotenstöcken. 132 Blatt Pergament, dazu vorn ein, hinten zwei Blätter Pergament als Vorsätze; gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 2-3 (6), 16 (4), 18 (49). Reklamanten in Bastarda. Zu 23 Zeilen, regliert in Rot. Hoch-Oktav, als Halfterbuch gedacht? (200 x 125 mm; Textspiegel: 115 x 54 mm). Komplett, breitrandig und glanzvoll erhalten. Herrlicher französischer Einband à la fanfare im klassischen Stil aus rotem Maroquin auf flachen Rücken, Deckel und Rücken gänzlich vom Muster bedeckt, vgl. den bei G. D. Hobson, Les Reliures à la fanfare, 1935, S. 14, unter Nr. 27 verzeichneten typischen Einband (ebenfalls zu einem Pariser Stundenbuch-Manuskript) aus der Sammlung La Roche-Lacarelle, Nr. 24 des Katalogs 1888, mit Abbildung auf Tafel, sowie das Stundenbuch Nédonchel – DescampsScrive (I, Nr. 25 mit Tafel) – G. E. Lang – Cortlandt Bishop (I, 1938, Nr. 1056): beide unserem Einband zum Verwechseln ähnlich. Vorsätze mit rotem Seidenmoiré bezogen, Goldschnitt. Provenienz: Aus dem Besitz des Jean Thomas Aubry, Priester und Doktor der Theologie an der Pariser Sorbonne, dessen von Martinet gestochenes Exlibris auf dem Verso des ersten Vorsatzes vorn: zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Baroness Lucas & Dingwall in Wrest Park (nicht in ihren beiden Auktionen Sotheby’s 1922 und 1954). Text fol. Ia: Gemalte Frontispizminiatur des 17. oder 18. Jahrhunderts mit Eintrag „Heures de Notre Dame à l’usage de Paris“. fol. 1: Perikopen: Johannes (fol. 1), Lukas (fol. 2v), Matthäus (fol. 4), Markus (fol. 5v), gefolgt von der Passion nach Johannes (fol. 6v). fol. 12v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 12v), O intemerata (fol. 15v); fol. 20v leer.
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fol. 21: Marien-Ofzium für den Gebrauch von Paris mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin mit drei vollen Nokturnen (fol. 21), Laudes (fol. 37v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 45), Matutin von Heilig Geist (fol. 46v), Marien-Prim (fol. 47v), Terz (fol. 53), Sext (fol. 57v), Non (fol. 62), Vesper (fol. 66), Komplet (fol. 72). fol. 77: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 85v); fol. 89 leer. fol. 90: Toten-Ofzium für den Gebrauch von Paris. fol. 121: Sufragien: Trinität (fol. 121), Michael (fol. 121v), Johannes der Täufer (fol. 122), Johannes der Evangelist (fol. 122v), Laurentius (fol. 123), Sebastian (fol. 123v), Claudius (fol. 124v), Nikolaus (fol. 125v), Anna (fol. 126), Magdalena (fol. 127), Martha (fol. 127v), Katharina (fol. 128), Barbara (fol. 128v), Potentiana (fol. 129v), Genovefa (fol. 130), Maria Aegyptiaca (fol. 130v); fol. 132 leer. Besonders auffällig ist das Suffragium der heiligen Potentiana; den Namen trugen mehrere Heilige: Die Patronin einer römischen Basilika, eigentlich Pudenziana, wird im Lateinischen zuweilen – eher irrig – so geschrieben; im Königreich Leon wurde eine Heilige dieses Namens verehrt. In unserem Fall wird die Lokalheilige von Châtillon-Coligny (früher Châtillon-sur-Loing) gemeint sein; der Ort, der Sitz der als Protestanten berühmten Famillie Coligny war, liegt im Loiret, südlich von Paris, nahe der Stadt Lorris. Zu der Heiligen siehe das Buch von J. Bourdon, Sainte Potentienne, vierge, deuxième patronne de Châtillon-sur-Loing, Paris 1856. Schrift und Schriftdekor Die niedrige Textura, in der dieses Manuskript geschrieben ist, wirkt wie eine Reverenz gegenüber älteren Stundenbüchern. Das steile Format erstaunt; es gemahnt durchaus an sogenannte Halfterbücher. Daß keine Rede davon sein kann, es handele sich um eine ältere Handschrift, die erst um 1500 ausgemalt wurde, zeigen die vorzüglichen hellen Akanthus-Initialen auf Pinselgold ebenso wie die in Pinselgold auf den regelmäßigen Wechsel von Flächen in Blau-Weinrot-Umbra-Weinrot gemalten einzeiligen Initialen; einen Hinweis auf die späte Entstehung geben auch die geradezu realistisch charakterisierten rauhen Knotenstöcke als Zeilenfüller. An italienischer Buchkunst orientiert ist der erstaunliche Wechsel von Gold und Blau bei den wichtigsten Incipits; dabei ist wohl an Auszeichnungsschrift gedacht. In Frankreich fremd ist auch die Art und Weise, wie die extrem steilen Kopfminiaturen mit ihren goldenen Rahmungen in die Bordüren eingesetzt sind: Statt mit dem Bogenabschluß des Bildes in den Randschmuck vorzudringen, beschränken sich die Bildfelder einschließlich ihrer Rahmungen auf den Schriftspiegel. Durch einen schmalen Streifen unbemalt belassenen Pergaments werden die Bordüren mit ihrem ganz anders gestalteten Pinselgold-Fond vom Bild getrennt. Die Einrichtung der kleinen Miniaturen in voller Breite des Textspiegels widerspricht Pariser Brauch, erweist sich aber in Nr. 39 als eine Eigenart des hier nur für die Verkündigung verantwortlichen Meisters der Chronique Scandaleuse. Seiner Extravaganz wird dieses Buch Einiges verdanken.
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Bildfolge fol. 1: Johannes auf Patmos erhält eine große Miniatur über fünf Zeilen Incipit: Da sitzt er vor einem steilen Felsen in einer wasserreichen Landschaft, ohne daß die Struktur ei ner Insel erkennbar wäre. Im kräftigen Blau der Ferne hebt sich eine Windmühle vom Himmel ab. Der jugendliche Evangelist, in blauem Gewand mit rotem Mantel über den Schultern, blickt gedankenverloren nach links und zieht auf seinem Schriftband erstaun licherweise nur eine lange Linie, während ihm der Adler von rechts zuschaut und das Schreibzeug hält. fol. 2v: Die übrigen Evangelisten werden in Kleinbildern dargestellt, die die ganze Breite des Textspiegels einnehmen: Lukas als Maler (fol. 2v) mit einer Ikone der Schmerzens reichen Maria auf der Staffelei, für die ihn die Muttergottes allein besucht und sehr viel kleiner als er im Bild steht. Dem Evangelisten Matthäus (fol. 4) hält der Engel das Buch auf eine Weise, daß er dahinter fast verschwindet. Markus (fol. 5v) sitzt hingegen ruhig neben seinem Löwen in seiner Studierstube. fol. 6v: Von den vier gewohnten Perikopen getrennt ist die Johannes-Passion; sie erhält mit Christus am Ölberg ein großes Bild: Bei Tagesanbruch treten aus der Bildtiefe durch die Gartenpforte über die Brücke Judas und die Soldaten herzu, während Jesus vorn vor einem Felsen kniet, der mit dem Kelch seines Leidens bekrönt ist; derweil schlafen die drei Lieblingsjünger. fol. 12v: Zu den Mariengebeten wie gewohnt Bilder von Maria mit ihrem Sohn, einmal in Freude, einmal im Schmerz: Zum Obsecro te eine Darstellung von Maria mit Kind (fol. 12v) im Sinne des Apokalyptischen Weibes, also in der Sonne. Beim O intemerata die Pietà (fol. 15v), wo Maria bei der Beweinung des toten Christus vom Lieblingsjünger Johannes und Magdalena mit dem Salbgefäß begleitet wird. fizium erhält nur die Matutin eine große Miniatur; der Zyklus fol. 21: Zum Marienof richtet sich nach dem Pariser Brauch: Die Verkündigung zur Matutin (fol. 21) gehört zu den faszinierendsten Bildern in un serem Katalog: Das Interieur, das ganz in Grautönen gehalten, aber mit Gold belebt ist, wird von leuchtend goldenen Säulen des Bildrahmens flankiert und nach oben durch ei nen Kielbogen geschlossen. Vor einem Baldachin, der an das Bett in Nr. 39 denken läßt, kniet die Jungfrau, in einem violetten Kleid und einem über und über mit Gold gehöhten Mantel; sie betet, während im Raum zurückgesetzt ihr geöffnetes Buch auf dem mit Maßwerk verzierten Pult liegt. Von rechts ist der Erzengel eingetreten und ein Stück tie fer im Raum niedergekniet; mit seiner Linken weist er auf Maria, in der Rechten hält er ein dünnes goldenes Zepter; das ave gracia führt in goldenen Lettern hoch zur Tau be, die in der Mitte über den Häuptern erscheint. In Purpurrot, der zweiten Lieblings farbe des Malers, ist Gabriels stoffreiche Dalmatika gefärbt. fol. 37v: Die kleineren Bilder zu den Marienstunden beschränken sich auf das Wesentli che; sie werden unterbrochen von den großen Miniaturen zur Matutin von Heilig Kreuz
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und Heilig Geist: Wie in Nr. 39 ist Elisabeth bei der Heimsuchung zu den Marien-Laudes (fol. 37v) aus ihrem Haus rechts oben herabgestiegen. fol. 45: Die Kreuzigung zur Matutin des Heiligen Kreuzes bleibt auf drei Figuren beschränkt: Maria neigt betend ihr Haupt, Johannes weist mit der Rechten zum Gekreuzigten, der recht hoch und deshalb viel kleiner zwischen beiden am Kreuz hängt. Bäume hinterfangen die stehenden Gestalten, Büsche im Mittelgrund und der Blick auf eine Burg im Blau der Ferne lassen dieses Kreuzigungsbild im französischen Umfeld fremd und geradezu deutsch wirken. Vielleicht soll der mondähnliche Himmelskörper eine Sonnenfinsternis darstellen. fol. 46v: Das Pfingstwunder zur Matutin des Heiligen Geistes folgt dem in Paris ebenso wie in der zeitgenössischen flämischen Buchmalerei häufigen asymmetrischen Schema, bei dem Maria mit Johannes und Petrus die Schar der knienden Apostel anführt und sich zur Taube wendet, in diesem Fall nach rechts. Die nun folgenden Kleinbilder sind auf Hauptfiguren beschränkt: Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 47v); Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 53); Anbetung der Könige zur Sext (fol. 57v); Darbringung im Tempel zur Non (fol. 62); Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 66); Marienkrönung zur Komplet (fol. 72). Von besonderem Reiz ist die letzte Miniatur mit greisem Gott, der mit der päpstlichen Tiara gekrönt ist: Statt von starkfarbigen Engeln wie in Nr. 39 ist der dunkelblaue Himmel von grellem Gelb und Rot belebt. fol. 77: Bathseba im Bade war in der Entstehungszeit unseres Buches, wie unser Katalog schlagend zeigt, in Paris das beliebteste Thema zu den Bußpsalmen. Besonders kostbar ist die Ausstattung hier; denn zu ihrem Bad ist Bathseba in ein goldenes Becken gestiegen, das von einer goldenen Fontäne sein Wasser erhält – und zwar nicht, wie gewohnt aus dem Kopf eines Löwen, sondern aus dem eines Menschen; und eine kleine Statuette, offenbar eine Figur in Rüstung mit Lanze und Schild bekrönt zierlich diese Fontäne. Bathseba trägt ein kostbares Collier und bedeckt ihre Scham durch ein weißes Tuch, das sie über ihren rechten Arm gebreitet hat. Sie ist ebenso allein im Garten wie der noch recht junge König David im Fenster seines Palastes. Groß ist die Aktfigur, recht klein ihr Beschauer. fol. 90: Die Toten-Vesper eröffnet mit der letzten großen Miniatur; dargestellt ist wie so oft in dieser Zeit Hiob auf dem Dung mit vier Freunden, vor einer Kulisse aus Fachwerkhäusern und Landschaft. fol. 121: Kleinbilder mit Halbfiguren zu den Suffragien, wie in Nr. 39 jeweils über die ganze Breite des Textspiegels gespannt: Gnadenstuhl, also Gottvater thronend mit dem Kruzifix und der Taube des heiligen Geistes (fol. 121); Michaels Kampf mit dem Teufelsdrachen (fol. 121v); Johannes der Täufer mit dem Lamm in der Einöde (fol. 122); Johannes der Evangelist mit dem Giftkelch (fol. 122v); Laurentius mit Buch und Rost (fol. 123); Sebastian allein bei der Pfeilmarter
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(fol. 123v); Bischof Claudius mit einem Mann, den er auferweckt hat und der sich be tend aus dem Grabe erhebt (fol. 124v); Bischof Nikolaus mit den drei Knaben im Bot tich (fol. 125v); Anna, die Maria lesen lehrt (fol. 126); Magdalena mit dem Salbgefäß als Einsiedlerin vor einem Felsen (fol. 127); Martha mit der Tarasque, die sie durch Weih wasser bändigt (fol. 127v); Katharina mit Krone und Schwert (fol. 128); Barbara mit dem Turm (fol. 128v); Potentiana als Märtyrerin (fol. 129v); Genovefa mit Engel und Teufel (fol. 129v) Maria Egyptiaca als Einsiedlerin, nackt, jedoch ganz vom wallenden Haar eingehüllt (fol. 130v). Der Maler Die Strecke, die wir selbst mit den großen Projekten Leuchtendes Mittelalter und Horae B. M. V. zurückgelegt haben, wird überdeutlich im Rückblick auf unseren ersten Ver such, den Künstler zu fassen, der für die Ausmalung dieses Manuskripts insgesamt ver antwortlich war. Das geschah 1990, also zwei Jahre vor unserem eigenen Versuch, in Leuchtendes Mittelalter IV die traditionell als „Schule von Rouen“ bezeichneten Stillagen in Paris anzusiedeln, und deutlich vor dem Pariser Ausstellungs-Katalog von Avril und Reynaud 1993, der vor allem für die danach gültige Nomenklatur wichtig wurde. Im merhin haben wir 1990 richtig gesehen, daß derselbe Stil ein noch immer in Antiquari at und Privatbesitz befindliches Exemplar von Ovids Heroiden in der Übersetzung des Octovien de Saint-Gelais, wohl für Anne de Bretagne, prägt (später Arcana Collection, Christie’s London, 2010, Nr. 42). Die Bezeichnung hat sich jedoch ebenso wenig durchgesetzt wie Plummers „Master of Morgan 219“; Avril und Reynaud bevorzugten das mit zwölf Miniaturen geschmückte und 1502 datierte Exemplar einer Chronik der Regierungszeit Ludwigs XI . von Jean de Valognes mit Interpolationen von Jean de Roye, die als Chronique Scandaleuse bekannt ist (Paris, BnF, Ms. Clairambault 481). Avrils hohem Ansehen ist zu verdanken, daß es dabei blieb, obwohl die Handschrift für Benutzung gesperrt und in der Literatur so gut wie nie abgebildet ist (zugänglich sind immerhin die Miniaturen beispielsweise über die Banque d’images der BnF). Im Werk des Meisters der Chronique Scandaleuse nimmt das Verkündigungsbild hier einen bemerkenswerten Platz ein. Ein zweiter Maler, der uns seit langem vertraut ist, hat offenbar unter der Leitung des nur mit dem Hauptbild zum Marienof fizium hervortretenden Meisters unser Stundenbuch geradezu fröhlich illuminiert; es ist der Maler, den wir lange nach Marie Charlot nann ten und der inzwischen mit dem Pariser Bischof Étienne Poncher solide verbunden wird; wir werden ihm in den Stundenbüchern Nr. 43-45 dieses Katalogs wieder begegnen. Der Meister der Chronique Scandaleuse gewinnt seit seiner „Taufe“ 1993 immer mehr an Gewicht; er hat in dieser Handschrift zwar nur das eindrucksvolle Bild der geradezu geheimnisvoll kolorierten Marienverkündigung gemalt, die indes zu den erstaunlichsten Schöpfungen in unserem an vorzüglicher Malerei so reichen Kata log gehört. Das ungewöhnliche Format mit den schlanken Bildfeldern, die durch gol
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dene Architekturen gerahmt sind, mag mit seinem bemerkenswerten Temperament und seinem Sinn für kostbare Wirkungen zusammenhängen. Neben ihm steht der Meister des Étienne Poncher, den wir als Meister der Marie Charlot eingeführt hat ten; von ihm bleibt vor allem die schöne Darstellung von Bathseba im Bade im Ge dächtnis. LI TE RATUR :
LM II , Nr. 54.
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41 Ein Musterbuch für die Zusammenarbeit von Pariser Künstlerateliers: sechs verschiedene Maler unter der Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse
Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau und Rot, in schwarzer Textura. Paris, um 1490: Meister der Chronique Scandaleuse als Hauptverantwortlicher, mit Miniaturen vom Meister der Philippa von Geldern, vom Meister des Gotha-Stun denbuchs, dem auch nach Étienne Poncher genannten Meister der Marie Charlot sowie einem überlegenen Künstler, dazu Kalenderbilder von Jean Coene 57 Miniaturen: 16 große Miniaturen über vier Zeilen Text in Vollbordüren mit Gold grund mit bunten Akanthusranken, Grotesken auf Bodenstreifen und Vögeln, 16 Klein bilder mit dreiseitigen Goldg rundbordüren; dazu eine halbrund abgeschlossene Kopf miniatur; 24 Kalenderbilder, jeweils paarweise als sechs Zeilen hohe Felder über dem zweispaltigen Text; alle Textseiten mit einem goldgrundigen Bordürenstreifen in Text spiegelhöhe außen; zwei- bis vierzeilige Initialen zu den Psalmenanfängen mit altertümlichem Dornblattdekor; Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Initialen in Gold auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller der gleichen Art. Versalien gelb laviert. 141 Blatt Pergament, vorn und hinten jeweils 2 fliegende Vorsätze aus Pergament, weiße Sei de auf dem festen und ersten fliegenden Vorsatz; gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6) sowie die Lagen 8-9 (6), 16 (8-1, textloses Endblatt entfernt), die ergänzten Endlagen 18 bis 20 (4). Rot regliert zu 21, im Kalender zweispaltig zu 17 Zeilen; ab fol. 134 zu 18 Zeilen. Oktav (175 x 120 mm; Textspiegel: 105 x 62 mm; ab fol. 124: 110 x 65,5 mm). Vollständig und ohne jegliche Gebrauchsspuren makellos erhalten. Roter Samteinband auf Holzdeckeln, auf flachen Rücken; originaler Goldschnitt mit schöner Dentelle-Punzierung. Provenienz: Das Manuskript war, wie die Miniatur zu den XV Freuden Mariä beweist, für eine Dame bestimmt, deren Identität ungeklärt ist. Auf dem Verso des ersten fliegenden Vor satzes Wappenexlibris von Robert Heron. Zuletzt amerikanischer Privatbesitz. Text fol. 1: französischer Kalender, jeder Tag besetzt, zweispaltig angelegt; Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf roten und blauen Flächen, Sonntagsbuchsta ben b-g in Braun, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Blau, Festtage in Gold; Pari ser Heiligenauswahl. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 8), Matthäus (fol. 9), Markus (fol. 10v). fol. 11: Mariengebete: Obsecro te, redigiert für einen Mann (fol. 11), O intemerata (fol. 13v); fol. 15v leer.
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fol. 16: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 16, mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 31v), Prim (fol. 39), Terz (fol. 43), Sext (fol. 46), Non (fol. 49), Vesper (fol. 52), Text am Ende unvollständig, fol. 56v leer; Komplet (fol. 57). fol. 61: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 61), fol. 63v leer, des Heiligen Geistes (fol. 64). fol. 67: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 75v); deren Heiligenauswahl wohl pariserisch mit Gervasius und Prothasius, Dionysius, Marcellus, Sulpicius und Genovefa am Ende der weiblichen Heiligen. fol. 80: Toten-Ofzium für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 80), Matutin (fol. 85, nicht hervorgehoben), Laudes (fol. 100v). fol. 109: Gebete in französischer Sprache: XV Freuden Mariens: Doulce dame (fol. 109), VII Klagen des Herrn: Doulx dieu (fol. 113). fol. 115: Sufragien: Trinität (fol. 115v), Michael (fol. 116), Johannes der Täufer (fol. 116v), Johannes der Evangelist (fol. 117), Petrus und Paulus (fol. 117v), Sebastian (fol. 118), Nikolaus (fol. 118v), Anna (fol. 119), Magdalena (fol. 119v), Katharina (fol. 120), Margarete (fol. 120v), Genovefa (fol. 121); fol. 121v leer. Von anderem Schreiber und anderer Qualität: fol. 122: Passion Christi nach Johannes: Egressus est dominus, gefolgt von Sufragium des heiligen Martin (fol. 133). Von einer dritten Schreiberhand: fol. 134: Gebetsfolge zur Eucharistie, mit Rubriken in Französisch: Domine iesu xpriste adoro te in cruce pendentem …, A la levation du corps de nostre seigneur; Quant on lieve le calice; Quant on veult recepvoir le corps; Quant on la receu. fol. 138: Mariengebet: Stabat mater dolorosa …, gefolgt von dem Marienhymnus Salve regina misericordie, vita dulcedo … Schrift und Schriftdekor An zwei Stellen gibt es Brüche im Buch: Auf fol. 55, am Ende der Marienvesper, fehlen die letzten Zeilen des Gebets, während das darauffolgende Verso leer bleibt und die nächste Stunde auf Recto beginnt. Auch fol. 63v am Ende der Heilig-Geist-Horen bleibt leer, ohne daß hier das Ende einer Lage erreicht wurde. Offenbar war man bemüht, das gesamte Manuskript auf Recto-Miniaturen einzustellen und nahm dabei die zwei leer gebliebenen Seiten in Kauf. Ganz sicher war auch der „Termindruck“, für den die Aufteilung unter sechs verschiedene Künstler spricht, ein Grund für kleinere Anschlußprobleme. Die ergänzten Lagen mit dem Text der Passion Christi aus dem Johannesevangelium (ab fol. 122) erhalten alle ebenfalls Bordüren auf Goldgrund in gleicher Qualität, die Ergänzungen wurden also von anderer Schreiberhand recht früh geliefert und von den gleichen
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Bordürenmalern ausgestattet. Einzig in den letzten drei Lagen (ab fol. 134) mit den Gebeten zur Eucharistie werden die Bordürenstreifen etwas grob an allen vier Seiten mit Schwarz umrandet und nicht wie im Buchblock sonst nur an den Außenseiten. Auch der Initialdekor wird vereinfacht: Zweizeilige Initialen werden im Flächendekor, also in Gold auf Rot und Blau, gegeben und nicht mehr als Dornblattinitialen. Bildfolge fol. 1: Die zweispaltig angelegten Seiten des Kalenders werden von Paaren aus Monatsbildern und Tierkreiszeichen im Textspiegel eröffnet. Nur durch eine schmale schwarze Linie gerahmt, stellt sich häufig der Eindruck ein, als seien Menschen und Tierkreiszeichen kompositorisch aufeinander bezogen. Zum Januar sitzt ein reicher Mann zu Tisch, ihn bedient ein Page, und der Wassermann, ein junger Mann in modischer Kleidung, leert einen Wasserkrug (fol. 1). Zum Februar wärmt sich ein Herr am Feuer und zwei große Fische schwimmen in einem Bach (fol. 1v). Im März ein Bauer beim Trimmen von Weinreben, vermeintlich betrachtet vom Widder, der eher einem Schaf ähnelt (fol. 2). Im April ein Mädchen beim Blumenpflücken, während der Stier mit gesenktem Haupt auf sie zu zu marschieren scheint (fol. 2v). Im Mai spaziert ein junger König durch den Wald und scheint auf die Zwillinge zu blicken, die sich als nacktes Paar aus Mann und Frau im Gebüsch verstecken (fol. 3). Im Juni schreitet der Bauer mit seiner Sense zur Heumahd, während ein riesiger Krebs über den Feldweg krabbelt (fol. 3v). Im Juli begibt sich ein Bauer zu seinem Feld, zur Kornmahd, ein kleiner Löwe steht in einer Landschaft und reckt den Schwanz auf wunderliche Weise (fol. 4). Im August folgt auf das Dreschen das Kornsieben, die Jung frau sitzt als edles Mädchen mit Palmzweig vor einem Spalier (fol. 4v). Im September beginnt die Weinkelter, die Waage wird von einer jungen Frau gehalten (fol. 5). Im Oktober erst wird die Aussaat auf dem Feld gezeigt, der Skorpion rollt sich zusammen und ist nicht vom Krebs zu unterscheiden (fol. 5v). Im November schlägt man Eicheln für die Schweine ab; der Schütze wird, wie üblich, als Zentaur mit Pfeil und Bogen gezeigt (fol. 6). Im Dezember folgt das Brotbacken, der Steinbock ist wieder ein aus einem Schneckenhaus kriechender Ziegenbock (fol. 6v). fol. 7: In den Perikopen erhält nur Johannes auf Patmos eine große Miniatur (fol. 7). Vor einer lichtdurchfluteten Wasserlandschaft sitzt der Evangelist auf dem kleinen Eiland; sein Adler kommt mit ausgebreiteten Schwingen hinzu und hält das Tintenfaß. Für die folgenden Perikopen sind Kleinbilder vorgesehen: Lukas sitzt frontal zum Betrachter gewendet, neben ihm ruht der geflügelte Stier (fol. 8). Matthäus mit dem Engel ist als junger Mann beim Verfassen seines Evangeliums gezeigt (fol. 9), und Markus wendet sich zum Löwen, der mit aufgestellten Flügeln den Evangelisten beobachtet (fol. 10v). fol. 11: Auch die Mariengebete erhalten Kleinbilder: Zum Obsecro te wird thronend Maria mit Kind (fol. 11) gezeigt. Spielerisch zeigt sie dem Knaben eine Blume, nach der das Kind zu greifen versucht. Zum O intemerata erscheint die Beweinung unter dem Kreuz als innige Szene zwischen Mutter und Sohn (fol. 13v).
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fol. 16: Die Matutin des Marienofziums eröffnet wie gewohnt mit der Verkündigung (fol. 16). Vor einem prächtigen roten Bett mit einem zum Sack aufgezogenen Vorhang hat sich Maria an ihrem Betpult, vielleicht auf einem Hocker, niedergelassen. Von links tritt der Engel mit dem Lilienzepter ein, so sanft, als wolle er ihr soeben an die Schulter tippen. Mit einem Lächeln wendet sich die zukünftige Gottesmutter zu ihm und empfängt die Botschaft mit Freude. Zu den Laudes treffen Maria und Elisabeth zur Heimsuchung (fol. 31v) vor der Stadt aufeinander. Da der Horizont recht tief liegt, erhebt sich das Haupt der Jungfrau eindrucksvoll gegen den Himmel, während die Greisin gleichsam aus der Landschaft auftaucht. In einem rafnierten Wechsel von sattem Rot und Blau in den Gewändern der beiden Frauen erhält die Komposition einen besonderen Reiz. Nicht nur Elisabeth verdeckt als ältere verheiratete Frau mit einem weißen Kopfputz ihr Haar, auch Maria trägt einen weißen Schleier, um das grandiose Farbspiel zu komplettieren. Bei der Geburt des Kindes zur Prim (fol. 39), die von einem Maler aus dem Pichore-Umfeld gemalt wurde, den wir als den Gotha-Meister definiert haben (Nr. 58), dominiert ganz die elegant aufragende Marienfigur. Vor ihr liegt in einer Aureole der strahlende Knabe, hinter ihr kniet Joseph und in den Tiefen des Stalls blicken in einer rafnierten monochromen Malerei zwei Hirten durch das Fenster. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 43) stammt vom Meister des Étienne Poncher. In einen spielerischen Wechsel von Blau und Braun gekleidet drehen sich die beiden Hirten auf der Rast und recken ihre Hälse, um die strahlende Engelserscheinung am Himmel zu sehen. Dort präsentiert der Engel das Gloria in excelsis über eine ebenfalls aufgeschreckte Schafsherde, die in einem Gatter weidet. Der Gotha-Meister übernimmt die Miniatur der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 46). In einem engen Innenraum hat sich der älteste König vor die Gottesmutter mit dem Sohn gekniet, lebendig greift der Junge nach der Gabe. Der jüngste König wird als geradezu schwarzer Mohr gezeigt und ist ins Gespräch mit dem mittleren vertieft. In einer wunderbaren hellen Malerei auf dunklem Grund taucht der betende Joseph aus dem Hintergrund auf. Die lebendigen Pinselstriche, aufgeweckten Physiognomien, leuchtenden Farben und flirrenden Goldhöhungen zeigen, daß die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 49) wieder vom Meister der Chronique Scandaleuse gemalt wurde. Den winzigen und erschrocken dreinblickenden Knaben hat der gütige Simeon in einem Tuch über den Altar gehoben. Maria, die betend vor dem Altar kniet, wird nur von einer Frau begleitet, die die Täubchen in einem Korb präsentiert. Geduldig wartet ein Akolyth hinter dem Altar auf die Instruktionen des Priesters. Zur Vesper wird der Kindermord (fol. 52) gezeigt, der eigentlich eher in flämischen Handschriften als in französischen an dieser Stelle zu finden ist. Zentral und eigentümlich in die Tiefe entrückt thront unter einem hängenden Schlußstein des Bildrahmens Herodes stoisch in einer großen Halle. Vorn wird vor seinen Augen eine jammernde
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Frau von zwei Soldaten bedroht, die ihr sogleich das Kind entreißen werden. Kompositorisch ist dieses Konzept des gestaffelten Bilds, wenn auch weniger komplex, besonders eng mit dem Kindermord verwandt, der in der Pichore-Werkstatt für gedruckte Stundenbücher erstmals ab 1504-06 von Simon Vostre verwendet wurde (siehe Horae B. M. V. IX , Nr. 22, S. 3996, Abb. 9). Die Marienkrönung als Abschluß des Marienofziums zur Komplet (fol. 57) überrascht durch die Raumtiefe und die Farbwirkung: Jesus trägt einen roten Mantel über kräftig blauem Rock, Marias Gewand ist umgekehrt gefärbt; beides wird durch Gold belebt und hebt sich eindrucksvoll vom hellgrünen Tuch ab, mit dem der Gottesthron ausgeschlagen ist. Hinter dem Thron ist violetter Goldbrokat gespannt; darüber wird der von den Hauptfiguren bestimmte Hauptakzent noch einmal durch einen runden Baldachin in Rot vor dem tief blauen Fond wiederholt. Überraschenderweise folgt die Miniatur einem alten Vorbild, das auf Jean Fouquet aus Tours zurückgeht: Vor dem mit Tuch verhangenen großen Thron kniet Maria und hat soeben die Krone von ihrem Sohn empfangen, den ein Engel begleitet. Besonders nah, allerdings seitenverkehrt ist die von Fouquet im angevinischen Stundenbuch für den Gebrauch von Paris (BnF, Ms. lat. 1417) gestaltete Version (fol. 64v), die noch nicht den italienischen Dekor der großen Stundenbücher Fouquets einsetzt. fol. 61: Die Horen von Heilig Kreuz eröffnen traditionell mit einer Kreuzigung (fol. 61), die hier vielfigurig erscheint. Links trauern Maria und Johannes, während rechts der Zenturio auf den Gottessohn weist. Dahinter drängt sich ein Heer von Soldaten, deren Zahl sich an der Menge der erhobenen Speere ablesen ließe. Als Maler kam hier wieder der Meister des Étienne Poncher ins Spiel. Das Pfingstbild zu den Horen von Heilig Geist (fol. 64) zeigt eine fast verhüllte Maria. Sie führt die Apostel an, die von links in einen Kirchenraum drängen und in schillernde Farben gekleidet sind, Über dem jugendlichen Johannes, der am weitesten rechts kniet, erscheint die Taube des Heiligen Geistes, sendet Flammen aus und wird von den staunenden Aposteln angebetet. Die Bußpsalmen erhalten ebenfalls ungewöhnliches Bild: Der thronende König David mit der Harfe (fol. 67) ist allein in einem Palastraum unter einem Baldachin gezeigt. Zwar gibt es eine ähnliche Ikonographie schon einmal bei Jean Colombe aus Bourges, der den psalmodierenden David büßend vor der Bundeslade zeigt (Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 148, fol. 110v). Allerdings findet sich der näherliegende Vergleich auch hier in den Metallschnitten aus der Pichore-Werkstatt: In der Quart-Serie für Simon Vostre, zwischen 1504-08 entstanden, ist der thronende David mit der Harfe Hauptthema (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 24, S. 4011, Abb. 13). In einer eindrucksvollen Halbfigur wird wenig später David mit der Harfe vom Martainville-Meister gemalt werden in einem Stundenbuchbild, das den Deckel unseres Katalogs 21 schmückte. Auch die Auferweckung des Lazarus (fol. 80) zur Vesper des Totenofziums mag in diesem Bildumfeld ihre Wurzeln haben. In einem Kircheninneren erweckt Jesus den Toten,
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während sich die Umstehenden die Nasen zuhalten. In unserem Lomenie-Stundenbuch vom Meister der Marie Charlot (Nr. 43) findet sich das Thema in ähnlicher Weise gestaltet und auch dort könnte man meinen, daß das Interesse an dieser Ikonographie über die ab 1504 auftauchenden Metallschnitte der Pichore-Werkstatt entsteht (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 23, S. 4003, Abb. 13 [für Thielman Kerver ca. 1504-06] und Nr. 24, S. 4011, Abb. 14 [die Quart-Serie für Simon Vostre, ca. 1504-08]). Die Fünfzehn Freuden Mariens werden eingeleitet mit einem Bild der Beterin vor der thronenden Muttergottes mit Kind (fol. 109). Ganz in Rot, mit schwarzer Haube, kniet die Dame vor der Gottesmutter, die ein musizierender Engel begleitet. Das Christuskind streckt das Ärmchen aus, und hier, eigentlich absolut ungewöhnlich, blickt die Beterin direkt auf die Muttergottes mit dem Christuskind und nicht sinnend in die Ferne. Das folgende Herrengebet erhält die halbfigurige Darstellung des segnenden Christus (fol. 113), der riesenhaft mit Weltkugel vor einem blauen Ehrentuch erscheint, das vor einer steinvertäfelten Pilasterwand steht. So groß ist er dargestellt, daß das Bildfeld seine Schultern überschneidet. Die Suffragien erhalten Kleinbilder mit Heiligen, vorwiegend in Landschaft: Trinität nach dem für Psalm 119 entwickelten Schema (fol. 115v), Michaels Kampf mit dem Teufel (fol. 116), Johannes der Täufer mit dem Lamm (fol. 116v), Johannes der Evangelist mit dem vergifteten Kelch (fol. 117), Petrus und Paulus in Landschaft (fol. 117v), Sebastians Pfeilmarter mit einem modisch gekleideten Bogenschützen links (fol. 118), Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich (fol. 118v), Anna lehrt Maria lesen (fol. 119), Magdalena mit Salbgefäß (fol. 119v), Katharina mit dem zerschlagenen Rad neben sich (fol. 120), Margarete vor dem Dunkel des Verlieses aus dem Drachen ausbrechend (fol. 120v), Genovefa mit dem Streit von Engel und Teufel um ihre Kerze (fol. 121). Die nachträglich hinzugefügte Passion Christi nach Johannes erhält eine Kopfminiatur mit der Gefangennahme Christi (fol. 122): Die dicht gedrängten Figuren reichen mit ihren Köpfen so weit in den Bogenabschluß, daß sie zu beiden Seiten abgeschnitten werden. Verantwortlicher hier war der Gotha-Meister. Zuschreibung Die Händescheidung ist in diesem Buch eine besonders faszinierende Aufgabe, die eine gründliche Vertrautheit nicht nur mit dem einen Manuskript, sondern eigentlich jene Kenntnis der gesamten französischen Buchmalerei um 1500 verlangt, die in der Bibermühle seit den 1980er Jahren entwickelt wurde: Die klugen und in ihrer Kombination zuweilen geradezu amüsanten Kalenderbilder aus Monatsarbeit und Tierkreiszeichen werden einem Maler verdankt, den wir als Jean Coene kennen, weil wir um 2000 ein isoliertes Kreuzigungsbild erwerben konnten, das dieses Mitglied einer seit der Zeit um 1400 in Paris nachweisbaren Buchmalerfamilie mit weit entfernten Wurzeln in Brügge signiert hat (LM NF I, Nr. 2). Zu ihm siehe hier die Nrn. 56 und 57 in Band IV.
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Mit Johannes auf Patmos tritt der für das Gesamtprojekt verantwortliche Meister her vor, den man seit der Pariser Ausstellung von 1993 als Meister der Chronique Scandaleuse bezeichnet, die leider in der Bibliothèque nationale unter Verschluß gehalten wird und auch verdammt schlecht publiziert ist. Er hat die Verkündigung und den brillanten David als Harfner und damit die beiden Hauptminiaturen sowie den Löwenanteil der großen Bilder geschaff en. Im Laufe der Jahre wurden wir vertraut mit dem Maler, der die Kreuzigung und die Hir tenverkündigung gestaltet hat; wir haben ihn nach dem Stundenbuch der Marie Charlot benannt und werden bei den Nrn. 43 und 44 auf ihn zurückkommen, nicht ohne dar auf hinzuweisen, daß Isabelle Delaunay in ihrer ärgerlicherweise nie publizierten Dis sertation dieselbe Stilgruppe unter der Bezeichnung „Maître d’Étienne Poncher“ führt. Über unser Haus ist ein Stundenbuch, das in der nationalsozialistischen Zeit veräußert wurde, wieder in die Forschungsbibliothek Gotha zurückgekehrt. Ina Nettekoven hat dieses Werk 2007 veröffentlicht und dabei jenen Maler aus dem Umfeld von Jean Pi chore definiert, der in diesem Manuskript die drei Bilder mit dem Stall von Bethlehem, den drei Königen und der Gefangennahme gemalt hat. Schließlich hat man dem Meister der Philippa von Geldern die Bilder zu den drei Evangelisten und zu den Suffragien an vertraut, so daß man in diesem Stundenbuch eine erstaunliche Anzahl von eng mitein ander verwandten Buchmalern auf engstem Raum in gleichzeitig entstandenen Arbeiten vergleichen und bewerten kann. Nicht so leicht ist die Beurteilung des gewichtigsten Bildes in diesem Stundenbuch: Es zeigt den Salvator segnend (fol. 113) und übertrifft mit der Halbfigur alles, was sonst hier geboten wird. Der Rahmen der Miniatur schneidet die Schultern ab, wohl auch deshalb, weil ein Touroner Tafelbild als Vorlage gedient haben wird, das vom Musée des BeauxArts in Tours erworben wurde. Für Pascale Charron und Pierre-Gilles Girault (im Aus st.-Kat. Tours 2012, Nr. 31) stammt es von Jean Bourdichon, während König im Ausst.Kat. Paris 2010-11, Nr. 128, für den Meister des Münchner Boccaccio plädierte und die Malerei damit sehr viel enger an Jean Fouquet in Tours band. Auch Buchmalereien aus der Loire-Region dieser Zeit zitieren ein ähnliches Vorbild; am engsten verwandt ist eine Miniatur aus Tours, vom Meister der Missalien della Rovere; sie findet sich im Stundenbuch der Marguerite de Rohan (Princeton, UL , Garrett 55, fol. 114: Hofmann 2003, S. 59) und schmückt den Deckel des von Hourihane 2014 publi zierten Kolloquiumsband (ohne dort nachgewiesen zu werden). Unklar bleibt, wie weit vielleicht der Meister der Chronique Scandaleuse doch in der Lage war, ein solches Stil phänomen eigenhändig zu meistern. Dieses wunderbar reiche und ebenso erhaltene Stundenbuch stammt aus Paris; denn nur dort sind die fünf oder gar sechs Maler zu fassen, die gemeinsam mit der Bebil derung betraut waren. Es entstand unter der Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse, dem vielleicht sogar die beste Miniatur, der Salvator auf fol. 113, zu
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zutrauen ist (ein ähnliches, aber bescheideneres Stundenbuch von ihm wurde bei Pierre Bergé am 21.11.2007 als lot 2 für nicht weniger als 200.000 Euro versteigert). Im Zusammenspiel der Maler erlaubt dieses zudem mit seinem ganzen Bildbestand erhaltene Stundenbuch einen geradezu einzigartigen Blick auf die eng miteinander verbundenen Pariser Buchmaler um 1500! LI TE RATUR :
Das Manuskript ist bisher nicht veröffentlicht.
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42 Das Stundenbuch des Piero di Filippo Frescobaldi vom Meister der Philippa von Geldern mit einer Miniatur vom Meister des Gothaer Stundenbuchs
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Le Mans. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in schwarzer Textura, mit roten Rubriken. Paris, um 1500: Meister der Philippa von Geldern und der Meister des Gothaer Stundenbuchs Dreizehn große Bilder, davon zwei ganzseitig in Vollbordüre und elf als große Miniatu ren über vier Zeilen Text mit Initialen von drei, meist aber vier Zeilen Höhe in Rund bögen mit Säulchen und Krabbenbesatz, in Kompartiment-Bordüren mit Blumen und Akanthus, Schnecken und zuweilen auch Grotesken. Alle Textseiten mit Bordürenstrei fen derselben Art außen. Kleinere Initialen mit Goldbuchstaben auf rostroten, seltener blauen Gründen mit Goldzier: Psalmenanfänge zweizeilig; Psalmenverse, am Zeilenbeginn, einzeilig; Zeilenfüller derselben Art oder als goldene Zweige. Versalien meist unbehandelt. 125 Blatt starkes Pergament, das erste ein leeres Vorsatz, regliert wie der Kalender; dazu je ein Doppelblatt neueres Pergament als festes und fliegendes Vorsatz. Gebunden in 17 Lagen, vorwiegend zu acht Blatt, davon abweichend die beiden Kalenderlagen 1 (8-1 – das leere er ste Blatt entfernt) und 2 (6) sowie die Endlage des Marien-Offiziums 10 (4) und im weiteren Textverlauf die Lagen 11 (6) und 14 (6). Keine Reklamanten. Zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen, regliert in Rot. Oktav (195 x 130 mm; Textspiegel: 102 x 68 mm). Vollständig, breitrandig, im Kalender und in der letzten Lage etwas gebräunt, im eigentlichen Buchblock sehr gut erhalten. Gebunden in Brokat des 17. Jahrhunderts mit Gold- und Silberfäden, über Holzdeckeln, zi selierte Silberspange. Provenienz: Auf dem leeren ersten erhaltenen Blatt der ersten Lage ein wohl eigenhändiger Be sitzeintrag aus einer bedeutenden italienischen Familie: „Di piero di filippo frescobaldi“ (wohl Piero Frescobaldi, Bischof von San Miniato 1654, vergl. Spreti III, S. 280). Im Vorderdeckel zwei Kupferstiche mit den Wappen-Exlibris von Henry White (sale Sotheby’s, Juni 1902, Nr. 1137) und Edward Petre. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, einfache Tage in Schwarz, Feste und Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstaben a-g in Schwarz. Die Heiligenauswahl mit Fest von Julian (27.1.), Gervasius und Prothasius (19.6.) sowie ein fachen Heiligentagen von Liphardus (3.6.) und Baudomirus (3.11.) weist auf Le Mans; der Kalender enthält dazu einige Heilige der angrenzenden Diözesen, so Remigius von Rouen (19.1.) und andere von dort sowie Jovinus von Poitiers (1.6.) und Benedikt (15.7.), der ausdrücklich als Bischof von Angers bezeichnet wird.
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fol. 13: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 13 – die Erwartung, daß Maria in der Todesstunde dem treuen Beter erscheine, auf fol. 16 von einem Inquisitor getilgt), O intemerata (fol. 16 – auf fol. 17v vier Zeilen entsprechend getilgt), Alma (irrig als Olma) redemptoris mater (fol. 19v), Ave regina (fol. 20), Regina celi letare (fol. 20v), In terveniat pro nobis (fol. 20v). fizium für den Gebrauch von Le Mans mit den eingeschalteten Horen fol. 21: Marienof von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Marien-Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 32), Kreuz-Matutin (fol. 42), Geist-Matutin (fol. 43v), Marien-Prim (fol. 45), Terz (fol. 51), Sext (fol. 55), Non (fol. 58v), Vesper (fol. 62v), Komplet (fol. 68). fol. 73: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 83); die äußerst ungewöhnliche Heiligenauswahl mit Clarus unter den Märtyrern sowie Turibius und Liborius unter den Bekennern weist auf Le Mans; dazu einige seltenere Heilige wie Aldericus von Autun oder Sens, Bertrandus von St.-Bertrand de Comminges in den Pyrenäen. fizium: Vesper (fol. 89), Matutin (fol. 92v), Laudes (fol. 112v). fol. 89: Totenof fol. 117: Suffragien in anderer Schrift: Johannes der Täufer (fol. 117), Johannes der Evange list (fol. 117v), Peter und Paul (fol. 117v), Jakobus der Ältere (fol. 118v), Stephanus (fol. 119), Laurentius (fol. 119v), Sebastian (fol. 120), Nikolaus (fol. 121), Anna (fol. 121v), Magdale na (fol. 122), Katharina (fol. 122v), Margareta (fol. 123), Barbara (fol. 124). fol. 124v: Textende. Schrift und Schriftdekor Zwar stellt sich bei Textura in Stundenbuch-Handschriften, die um 1500 illuminiert wurden, immer wieder der Verdacht ein, sie seien möglicherweise früher entstanden und liegen geblieben, ehe man zur Illuminierung schritt; hier aber paßt die Schrift zum recht späten Dekor: Die Formen scheinen dem Schreiber nicht mehr ganz selbstverständlich zu sein; sie wandeln sich im Laufe der Arbeit bis hin zu dem Punkt, wo man offenbar von anderer Hand eine in den Maßen übereinstimmende Lage mit Suffragien anfügte, deren Zierbuchstaben ebenso wie die Bordüren jedoch aus demselben Guß sind wie der übrige Buchschmuck. Die Bordüren stehen in der Tradition der Pariser und Rouennaiser Buchmalerei des letz ten Drittels des 15. Jahrhunderts. Zwar wäre möglich, daß die Verantwortlichen gereist sind; doch scheint hier ähnlich wie bei den zeitgleichen gedruckten Stundenbüchern eher ein Buch aus Paris für den seltenen Gebrauch von Le Mans bestellt worden zu sein. Die gesamte Aufmachung steht für solide Arbeit aus der Metropole. Bildfolge fol. 13: Für die Mariengebete genügt ein großes Bild, das die Thronende Madonna mit Kind zeigt: Auf einem Thron, von dessen Baldachin eingerolltes Tuch wie von einem Betthimmel zu beiden Seiten herabhängt und der deshalb vielleicht zugleich als das wür
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dige Bett der Jungfrau zu verstehen ist, zumal sie ja oft auf einem solchen die Anbetung der Könige entgegennimmt, sitzt die Jungfrau mit einer goldenen Krone. Der Knabe trägt einen goldenen Kittel und scheint ganz versonnen mit der Hand der Muttergottes zu spielen. Monumentalarchitektur mit großen farbigen Steinspiegeln bildet die Rück wand des Thronsaals, dessen Boden aus grünem Estrich besteht. fizium für die gewohnten Bil fol. 21: Unterschiedlich große Bilder dienen im Marien-Of der; nur die Horen von Heilig Kreuz erhalten dazu das Erkennungsbild, während die von Heilig Geist bildlos gehalten sind. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 21) zeigt die Jungfrau unter einem Balda chin kniend, ein Buch in der Linken; zu ihr schreitet der Engel von links in rosafarbe nem Gewand, ohne Mantel oder Dalmatika. Mit der erhobenen Rechten weist Gabri el auf die goldenen Strahlen aus der Höhe. Von der grauen Steinarchitektur sind kaum Einzelheiten zu erkennen. Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 32) läßt die monumentalen Gestalten von Ma ria und Elisabeth fast das ganze Bildfeld bestimmen; denn Marias Haupt ragt über den Kämpfer des Säulchens, das als Rahmung dient, hinaus. Die beiden Frauen treffen ein ander auf einem Weg, Maria von links, vor einem Felsabbruch mit begrüntem Hügel, Elisabeth vor weiter entfernten Hügeln. Das Haus des Zacharias wird nicht gezeigt. Die Kreuzigung zur Kreuz-Matutin (fol. 42) beschränkt sich auf die Muttergottes und den Lieblingsjünger zu Seiten des toten Gekreuzigten, von dessen Händen das Blut in Bögen nach unten spritzt, daß es die Gesichter und dabei offenbar im Zusammenhang der Eucharistie sogar die Münder von Maria und Johannes erreichen soll. Die Figuren sind mächtig, die Landschaft recht nahräumig und ohne jeden Blick auf die nahe Stadt. Die Anbetung des Kindes als das gewohnte Thema zur Marien-Prim ist im heutigen Zu stand des Manuskripts gleich zweimal dargestellt: auf fol. 44v als Vollbild in einer gold grundigen Bordüre und auf fol. 45 als das hier gewohnte Kopfbild über vier Zeilen Incipit mit vierzeiliger Initiale in einer Kompartiment-Bordüre. Wahrscheinlich sorgten schon die Besteller oder frühen Besitzer dafür, daß diese Doppelseite entstand; denn die text lose Miniatur befindet sich auf der Rückseite vom Textende der Heilig-Geist-Matutin; zudem hat man, um die Bilder einander anzugleichen, die beiden Miniaturen in gleicher Weise mit flankierenden Säulchen und einem Bogen gerahmt, der mit derselben Art von krautigen Krabben, jeweils zwei seitlich und einem Paar auf dem Scheitel, besetzt ist. Damit zeigt sich hier ein interessanter Aspekt des Sammelns. Die beiden Bilder passen von den Proportionen recht gut in die Handschrift, auch wenn das eingeschaltete Voll bild auf einen etwas schmaleren Textspiegel eingerichtet ist und mit den Bordüren et was weniger weit ausgreift. Das Nebeneinander läßt die unterschiedliche Anschauung zweier Maler von derselben vertrauten Szene erkennen: Beide zeigen übereinstimmend in einem aus hölzernen Bal ken und Brettern gezimmerten Stall die Jungfrau Maria als ein wenig nach vorn gerückte Hauptfigur und den Ziehvater Joseph zurückgesetzt, in Anbetung des nackten Jesuskna
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ben, der in einer ovalen Krippe liegt, sowie dazu Ochs und Esel gelagert und aufmerk sam zum Geschehen blickend. Auf fol. 44v fluchtet die Architektur nach rechts und öff net sich hinten zur Landschaft, aus der bereits zwei Hirten zum Flechtzaun gekommen sind, während auf fol. 45 durch Fachwerk hindurch ein zentraler Blick auf die geschlos sene bildparallele Rückwand gegeben wird. Diesen Verhältnissen entspricht die Vertei lung von Joseph und Maria: Dem räumlichen Zug nach rechts hinten gemäß sind beide auf fol. 44v nach links gerückt und blicken auf das Kind rechts vor sich, während sie auf fol. 45 einander gegenüber knien, das Kind links vor sich. Der Neugeborene liegt einmal auf einer geflochtenen Krippe, die mit einem weißen ovalen Tuch bedeckt ist, das ande re Mal auf frisch grünem Heu. Joseph ist auf fol. 44v ein Greis, auf fol. 45 hat er hinge gen noch braunes Haar. Unter der Erscheinung eines Engels im Bogenscheitel der Miniatur, der den des Lesens Unkundigen ein unbeschriebenes goldenes Spruchband präsentiert, sind zwei Männer bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 51) niedergekniet. Der Bärtige in buntem Rot und Blau links zeigt mit der Linken zum Engel und ruft offenbar laut, während der jün gere rechts in Ocker und Altrosa still betet. Einige Schafe tauchen zwischen beiden auf. Die Landschaft ist wieder nahräumig, mit einem Rasenstück vorn und einem niedrigen Felsabbruch bei den Hirten, deren Gestalten starke Schatten auf den Boden werfen. Der Maler schätzt es, die Kämpferhöhe des rahmenden Bogens auf ungewohnte Weise in die Figurenkomposition einzubeziehen; das sieht man bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 55): Die rechts thronende Maria hat ihr Haupt zur Höhe der Kapitelle erho ben, was einen architektonisch einleuchtenden Sinn ergibt. Die von links hereingetrete nen beiden jüngeren Könige ragen hingegen mit ihren Köpfen darüber hinaus und wirken deshalb weiter nach hinten gerückt. Der jüngste König ist mit Blau, Weiß und Rot bunt gekleidet, die beiden anderen in gedeckten Tönen, die in der Architektur wiederkehren; es ist keineswegs der Stall von Bethlehem aus Fachwerk und Brettern, sondern ein auf wändiger Steinbau mit ähnlichen farbigen Steinspiegeln wie bei der Verkündigung. Auch bei der Darbringung zur Non (fol. 58v) erreicht nur Maria gemeinsam mit dem Knaben auf Simeons Händen die Kapitellhöhe; der greise Priester und Joseph, der hier das Taubenkörbchen trägt, ragen darüber hinaus. Simeon steht hinter dem weit nach links gerückten Altar und hält das nackte Knäblein auf einem weißen Tuch. Maria kniet rechts, auch sie mit einem Tuch auf den Händen, während Joseph zurückgesetzt mittig gestellt ist. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 62v) beansprucht die Heilige Familie das ganze Bildformat; sie kommt von rechts auf einem sandigen Weg mit Grasnarben; die Landschaft ist nur durch einen Hügel rechts und einen fernen Berg in der Mitte angedeu tet. Der Horizont liegt auf der Höhe des Eselskopfs; selbst der in einen goldenen Kittel gekleidete Knabe nimmt schon einen höheren Blickpunkt ein; die Betrachter sind also gehalten, sich vor den Gestalten zu verneigen und sie vor dem leuchtenden Himmel zu sehen.
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Über Wolken und unter einem undurchdringlichen hellen Blau steht Gottes Thron be reit für die Marienkrönung zur Komplet (fol. 68): Die Gestalt der Jungfrau löst sich gleichsam aus dem Blau der gekräuselten Wolken links. Sie kniet vor ihrem Sohn, der mit einer Sphaira in der Linken so auf dem Thron Platz genommen hat, daß rechts neben ihm – für die Betrachter also links – Platz für die Gottesmutter bleibt. Dort erscheint über dem purpurnen Throntuch ein Engel mit der Krone. fol. 73: Davids Buße war zur Entstehungszeit unseres Manuskripts schon nicht mehr das Hauptthema für die Bußpsalmen – davon gibt unser Katalog einen Eindruck. Hier kehrt das aus dem früheren 15. Jahrhundert gewohnte Thema auf ungewohnte Weise wieder: Der König kniet unter einem Baum, dessen Stamm sich rechts mit der rahmenden Säu le erhebt. Vor sich hat er eine Art Tisch, der mit blauem Goldbrokat bedeckt ist, an dem die Harfe lehnt und auf dem der rote Kronhut liegt. Der noch recht junge König betet zu Gott, der sich als Halbfigur in einer Wolkenaureole vor hellem Gelb zeigt. Einen ent scheidenden Effekt schafft auch hier die karge Landschaft – eine gelbgrüne Wiese rechts zum Baum hin genügt, links wird ein niedriger Hügel mit ein wenig Buschwerk ins Blau der Ferne getaucht. Schon Davids betende Hände ragen über den Horizont hinaus. fol. 89: Hiob mit seinen Freunden hat sich gegen 1500 in Frankreich als Hauptthema zum Toten-Of fizium durchgesetzt, so auch hier. Die Freunde treten von links heran; man sieht sie, wenn man den niedrigen Horizont bedenkt, etwa aus der Warte des Dulders, dessen Haupt dann doch noch ein wenig über den Horizont hinausragt. Nur mit einem Lendentuch um die Hüften sitzt Hiob, das rechte Bein in eigenartiger Weise unterge schlagen, auf dem Dung, der am Waldrand aufgeschüttet ist. Er blickt nicht auf zu den vornehmen Männern, die zu ihm hinausgekommen sind. Gesten der Hände bezeichnen das Gespräch. Die Maler Der gesamte Grundbestand an Bebilderung in dieser Handschrift wurde vom Meister der Philippa von Geldern geschaffen. Man erkennt die Hand in erster Linie an den recht kleinen Köpfen mit charakteristischem Gesichtsausdruck, der insbesondere durch die Präzision um die Augenpartie erzeugt wird; dazu sind die großen Körper in voluminö sen Draperien ebenso charakteristisch wie die schlichten Landschaften, die einerseits verraten, daß sich der Maler eher für monumentale Figuren interessiert, zugleich aber auch, daß er auf die überzeugende Wirkung des Einfachen setzt. Als erste haben sich Otto Pächt und Dagmar Thoss mit dem Stil auseinandergesetzt, der diese Handschrift bestimmt; für sie handelte es sich noch um ein Mitglied der Schule von Rouen (wie sie 1913 Ritter und Lafond umrissen hatten). Für den Notnamen hat sich John Plummer 1982 auf eine französische Fassung des Lebens Jesu von Ludolph von Sachsen bezogen, das 1506 für Philippa von Geldern, die zweite Frau des lothringischen Herzogs René II , geschaffen wurde (Lyon, Bibl. mun., ms. 5125 – Avril und Reynaud 1993, Nr. 152).) Das Œuvre umrissen haben Avril und Reynaud, bei denen der Künstler als ein in Paris ansässiger Buchmaler erscheint.
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Hinzu kommt hier der Meister des Stundenbuchs aus Gotha, das nun wieder dorthin zurückgekehrt ist (siehe unsere Nr. 58). Seine Eigenart hat Ina Nettekoven in der Publi kation für die Kulturstiftung der Länder von 2007 definiert; sie findet sich hier in einer einzigen Miniatur, dem textlosen Weihnachtsbild auf fol. 44v, zweifelsfrei wieder. Da der Randschmuck einschließlich des Bildrahmens aus der Werkstatt stammt, die auch alle anderen Bildseiten gestaltet hat, erweist sich ein eigentümlicher Umstand: Off enbar wurde der Pariser Kollege, den wir nach der Gothaer Handschrift nennen, mit Wissen des Meisters der Philipp von Geldern herangezogen, ein zweites Bild zu einem Thema zu gestalten, das bereits in der Handschrift bearbeitet war; denn die betreffende Minia tur findet sich nicht auf einem eingeschalteten Blatt, sondern auf der leer gebliebenen Rückseite vom Ende der Geist-Matutin, die vielleicht am Ende einer Lage dadurch zu Problemen führte, weil der Schreiber für das gewohnte Pfingstbild zuvor keinen Platz gelassen hatte. Ein vollständig erhaltenes Stundenbuch für den sehr seltenen Gebrauch der Diözese Le Mans, das in Paris vom Meister der Philippa von Geldern mit großen Miniatu ren geschmückt wurde, in denen insbesondere durch die Einstellung des meist recht niedrigen Horizonts bei schlichten nahräumigen Landschaften die Monumentalität der Figuren dadurch gesteigert wird, daß ihre Häupter in der Regel vor dem Him mel erscheinen. Das Buch fügt sich in das besondere Interesse des Antiquariats Ten schert, die Kenntnis der Pariser Buchkunst im Übergang zum gedruckten Buch zu befördern. Dazu paßt auch dieser Kodex auf das Vorzüglichste; denn hier treffen wir auf zwei Maler, die um 1500 gute Miniaturen für das Buchwesen der Hauptstadt schufen. Dabei zeigt sich der Meister der Philippa von Geldern als Verantwortlicher, der – anders als in vielen seiner Werke – die Bebilderung für den gesamten Kodex liefert, in den dann vom Erstbesitzer noch eine Miniatur von Kollegenhand einge fügt wurde. LIT ER AT UR :
Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge VI , 2009, Nr. 27
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43 Das Stundenbuch der Marie de Briot vom Meister des Étienne Poncher, später im Besitz des Richard Lomenie
Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken, in Rot, mit einem Kalender in Braun, ge schrieben in dunkelbrauner Bastarda. Paris, c. 1495/1500: Meister des Étienne Poncher (Meister der Marie Charlot) 41 Bilder: 10 große Miniaturen, gerahmt von Architekturbordüren in Pinselgold in der Art italienischer Renaissancerahmen mit Pilastern oder Säulen; 19 neunzeilige Klein bilder für untergeordnete Texte; 12 Monatsbilder im Kalender im Bas-de-page mit drei seitigen Bordürenklammern auf Pinselgoldg rund: gerahmt entweder von dreiseitigen Kompartiment-Bordüren, teils mit schwarzen und goldenen Kompartimenten, oder von Goldgrundbordüren oder Akanthus auf buntem Grund mit Schriftrollen, dazwischen immer wieder kleine Grotesken, Vögel und Insekten; jede Textseite mit einem Bordüren streifen außen in Kompartiment-Dekor, dreizeilige Initialen zu den Textanfängen in Blau mit weißem Akanthusdekor oder in Gold auf Rot mit goldenem Liniendekor; zweizeilige Initialen zu den Psalmenanfängen in gleicher Art, einzeilige Initialen zu den Psalmenversen, am Zeilenbeginn, in Pinselgold auf Flächen in Blau, Rot oder Umbra; Zeilenfüller in gleicher Art oder als Knotenstöcke mit Pinselgoldhöhung. Versalien gelb laviert. 115 Blatt Pergament, vorne 1 fliegendes und hinten 2 fliegende Vorsätze aus altem Pergament, das in zwei Kolumnen regliert ist. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6); die Kollationierung des Buchblocks nicht möglich. Die Bilder zu den Lau des sowie Non und Vesp er fehlen. Reste von horizontalen Reklamanten im Totenoffizium. Rot regliert zu 23, im Kalender zu 33 Zeilen. Oktav (173 x 120 mm, Textspiegel: 108 x 63 mm). Brauner Juchten(?)-Ledereinband des mittleren 16. Jahrhunderts: flacher Rücken mit vier Kompartimenten in goldener Akanthusranken-Prägung, falsche Bünde in Perlstabvergoldung; Deckel im „Centre-and-Cornerpiece“-Stil innerhalb von drei Goldfileten, wobei die vier großen dreiseitigen Eckplatten ebenso wie die in Rautenform gehaltene beherrschende Zentralplat te in Entrelac-Manier über Schraffurgold gestaltet sind, während der Zwischenraum mit ei nem Semé aus winzigen Bourbonlilien-Stempeln gefüllt ist; in den Zentralplatten ovale Schil de, die einen Namen trugen, mit einiger Sicherheit „Marie“ (vorn) und „De Briot“ (hinten); Stehkantenfilete, gepunzter Goldschnitt. Der Einband weist Gebrauchsspuren auf, v. a. in den Gelenken und den Ecken, und zeigt bemerkenswerte Parallelen zu jenem des Stundenbuchs der Marie Charlot (unser Kat. 20, Nr. 15, Abb. S. 71), das vom selben Künstler illuminiert wurde. Auf dem vorderen Innendeckel das in Kupfer gestochene Wappen-Exlibris von Richard de Lomenie mit der Devise „Je maintiendray“; auf dem Verso des ersten fliegenden Vorsatzes die Angabe: M 62.
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Text fol. 1: Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Braun, Festtage in Rot oder Blau, Goldene Zahl und der Sonntagsbuchstabe a in Rot, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun; der Kalender folgt einem Pariser Formular, der Heilige Ursinus am 30. Dezember weist nach Rouen. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 8), Matthäus (fol. 9) und Markus (fol. 10). fol. 11: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 11); O intemerata (fol. 13v); Ave cuius conceptio (fol. 15). fol. 16: Marienof fizium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 16, mit drei Noktur nen), Laudes (fol. 29, Anfang fehlt), Prim (fol. 36), Terz (fol. 40), Sext (fol. 43), Non (fol. 46, Anfang fehlt), Vesper (fol. 48, Anfang fehlt), Komplet (fol. 52). fol. 56: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 64), darunter die Pariser Heiligen Gervasius und Prothasius, Marcellus und die heilige Genovefa; doch auch Leobin von Chartres. fol. 68: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 68), des Heiligen Geistes (fol. 70v). fol. 73: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 73), Matutin (fol. 78, nicht markiert), Laudes (fol. 93v, mit Rubrik). fol. 102: Suffragien: Trinität (fol. 102), Michael (fol. 102v), Johannes der Täufer (fol. 103), Petrus und Paulus (fol. 103v), Stephanus (fol. 104), Sebastian (fol. 104v), Christophorus (fol. 105), Nikolaus (fol. 105v), Antonius Abbas (fol. 106), Magdalena (fol. 106v), Anna (fol. 107), Alle Heiligen Jungfrauen (fol. 107v). fol. 108: Passion Christi nach Johannes, gefolgt von den Herrengebeten Deus qui volu isti pro redemptione (fol. 114v), Deus qui manus tuas et pedes tuos und O beatissime domine (fol. 115). Schrift und Schriftdekor Noch in Bastarda geschrieben, die der später benutzten Fere-Humanistica bereits nahe kommt, jedoch mit fortschrittlichen Initialen versehen, steht dieses Manuskript, dessen Kalender mit 33 Zeilen bereits das steile Format hat, das erlaubt, die Monate auf einer Seite zu präsentieren, an der Schwelle zum 16. Jahrhundert: Dazu passen die einzeiligen Pinselgold-Buchstaben auf Blau, Rot oder Umbra ebenso wie die Knotenstöcke als Zei lenfüller. Größere Initialen sind in Blau mit weißem Akanthusdekor oder in Gold auf Rot mit goldenem Liniendekor gestaltet. Zu den Kompartiment-Bordüren in der Tradition der Le Barbier kommen Varianten mit schwarzen und goldenen Kompartimenten ebenso wie Fonds mit reinem Pinselgold oder Akanthus auf buntem Grund mit Schriftrollen hinzu. Kleine Miniaturen sind nur in den Senkrechten und oben mit Goldleisten gerahmt, wo bei winzige schwarze Marken in den oberen Ecken den architektonischen Charakter der Ränder bezeichnen. Für die zehn großen Miniaturen sind Renaissancerahmen ein
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gesetzt, die in der Entstehungszeit in Paris noch zur Ausnahme gehören. Die flachen mit Pinselgold bemalten Pilaster sind mit farbigen Steinspiegeln gegliedert. Stärker der Renaissance verpflichtet sind die Säulen mit ihren farbigen Schäften, auch wenn sie aus dem Repertoire der Le Barbier entwickelt sein dürften. Bildfolge fol. 1: Den Kalender, der pro Monat nur eine Seite braucht, begleiten in der Mitte der Bordüren die Tierkreiszeichen, meist auf einem Bodenstreifen, sowie die Monatsdarstellungen in Bildfeldern im Bas-de-page, deren rahmende Säulchen an querformatige Druckstöcke für Bordüren erinnern: Im Januar sitzt ein Herr zu Tisch und läßt sich von einem Pagen Wein und Speise servieren; der Wassermann als bekleideter Knabe leert einen Krug in einen Fluß. Im Februar sitzt ein vornehmes junges Paar vor einer Tafel; dazu drei (!) Fische in einem Fluß. Im März werden die Weinreben zurückgeschnitten; der Widder. Im April pflücken zwei junge Damen Blumen von einem Spalier, um Kränze zu flechten; der Stier von vorn gesehen, ruhend. Im Mai spaziert ein Paar durch die Landschaft; die Zwillinge als nacktes Paar hinter einem blauen Schild. Im Juni machen die Bauern Heu; der rote Krebs. Zum Juli folgt dann die Kornmahd; der Löwe. Im August sind zwei Männer mit Korndreschen beschäftigt; die Jung frau mit dem Palmwedel. Im September bei der Aussaat schleppt ein zweiter Mann einen zweiten Sack mit Saatgut herbei; eine Hand hält die Waage. Im Oktober wird der Wein gekeltert; der Skorpion. Im November werden die Schweine geschlachtet; der Schütze als Kentaur. Im Dezember schließlich das Brot gebacken; der Steinbock in einem Ammonshorn; die senkrechte Bordüre mit einem Schriftband, dessen große Buchstaben SA MA und AVE MAT DEI wohl als Salve Maria und Ave Mater Dei zu verstehen sind. fol. 7: Die Perikopen und die Mariengebete eröffnen mit Halbfiguren in neunzeiligen Kleinbildern: Johannes auf Patmos (fol. 7) erblickt beim Schreiben das Tier mit den neun Köpfen aus der Apokalypse (obwohl der Text aus dem Evangelium stammt): Lukas schreibt in Gesellschaft des Stiers (fol. 8). Matthäus läßt sich das Evangelium von einem Engel präsentieren (fol. 9), und Markus wird von einem zahmen Löwen begleitet (fol. 10). fol: 11: Zu den Mariengebeten die Mondsichelmadonna mit Kind halbfigurig (fol. 11) und die Pietà (fol. 13v). fol. 16: Das Marienofzium war mit dem gewohnten Zyklus versehen; doch fehlen drei Bilder: Die Verkündigung (fol. 16) zur Matutin des Marienofziums ist auf eine schmale Nische mit einem Rundbogen im Zentrum hin ausgerichtet; die linke Seitenwand ist mit Pilastern gegliedert, zwischen denen ein Blick ins Freie gegeben wird; hier auch wird die Holztonne sichtbar, die den Raum überwölbt, während die rechte Seite fast ganz von einem runden Baldachin verstellt ist. Von links ist der Engel in der Dalmatika eines Diakons eingetreten und ins Knie gesunken, während die betende Maria in würdevoller Ruhe rechts kniet.
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Die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 36) bezieht die Hirten mit ein: Unter dem Dach des Stalls, der rechts steht, kniet die ganz in Blau gewandete Maria in Anbetung des Kindes. Joseph kommt hinter ihr, auf einen Stock gestützt, herbei; vor dem Ochsen schnuppert der Esel nach dem Jesuskind, das nackt auf einem weißen Tuch liegt. Ein kleiner Engel hat sich links vorn zur Anbetung hinzugesellt; sein Erscheinen läßt an Vorbilder von Mittel- oder Oberrhein denken, da dort Engelchen im 15. Jahrhundert gern solche Szenen bevölkern. Hinter dem Zaun blicken bereits vier Hirten hervor. Dennoch folgt zur Terz die Hirtenverkündigung (fol. 40): Vorn hat sich ein Hirtenpaar niedergelassen. Während der junge Hirte links auf die drei Engel im Himmel blickt, die das Gloria in excelsis anstimmen, hat die rechts am Boden hockende Hirtin spielerisch ein Schaf auf ihren Schoß genommen. Hinten links sitzt ein Hirte mit seiner Sackpfeife; ein weiterer steht rechts hinten und schaut verwundert in die Höhe. Die Darstellung spielt dicht vor einem stolzen Gebäudekomplex rechts; von dort ist wohl ein offenbar wohlhabender Greis gekommen, der mit untergeschlagenen Armen auf das Geschehen unten blickt. Zur Anbetung der Könige zur Sext (fol. 43) thront Maria en face auf einem mit rotem Goldbrokat verhängten Thron, der bis zum Dach des Stalls reicht; rechts dahinter schaut Joseph verlegen hervor. Von rechts ist der älteste König niedergekniet; ihm schließt sich der mittlere an, während der jüngste links hinzutritt. Die Komposition folgt also einem in Italien beliebten Kompositionsmuster, das derselbe Maler seitenverkehrt im Stundenbuch der Bastienne Mayvret (Nr. 44) verwendete. Die Marienkrönung zur Komplet (fol. 52) beschließt den Marienzyklus. Unter einem runden Baldachin, der außen rot, innen grün bespannt ist, hat Gottvater auf seinem mit Maßwerk verzierten goldenen Thron würdevoll die Hand zum Segen erhoben. Vor ihm kniet die Muttergottes, die bereits die Krone auf dem Haupt trägt und sich sogleich auf den für sie vorbereiteten violett bespannten Thron rechts setzen wird. Drei jugendliche Engel warten dort auf sie, während feurige Seraphim, blaue Cherubim und golden leuchtende Engel gleicher Art den Fond bilden. fol. 56: Die Bußpsalmen eröffnet Bathseba im Bade (fol. 56), die rechts im Bild als reizender Akt in einem Teich steht, der von einem prächtigen runden Brunnen gespeist wird, der das eigentliche Schaustück der Miniatur ist: Auf zwei Ebenen speien Köpfe, darunter auch Löwen, Wasser in eine obere Schale und in den Teich unten. Aus dem Fenster seines Palastes schaut König David herab. Im Hintergrund links tobt bereits jene Schlacht, in der ihr Ehemann sein Leben verlieren wird. Seitenverkehrt kehrt diese Komposition im Stundenbuch der Bastienne Mayvret (Nr. 44) wieder; beide Male wirkt es, als seien zwei für die Bebilderung von Bußpsalmen in Manuskripten und Drucken getrennte Bildfelder hier einfach ineinander integriert worden. Eine solche Kombination bietet seitengleich mit der hier beschriebenen Miniatur ein zwischen 1497-1502 entstandener Metallschnitt vom Meister der Apokalypsenrose für Thielman Kerver (siehe Horae IX , Nr. 17, S. 3977, Abb. 14).
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Für die Kreuzigung (fol. 68) zur Heilig-Kreuz-Matutin ist das Kreuz vor einer Stadtvedute mit zwei stumpfen Türmen errichtet. Links steht Maria klagend mit Johannes und weiteren Frauen, rechts kniet Magdalena als beherrschende Figur, die Hände flehend vor der Brust gefaltet. Hinter ihr deutet der Zenturio mit seinem Gefolge auf den wahren Sohn Gottes, den er erst in dessen Tode erkennt; das geschieht unter einer Fahne mit rotem Doppeladler auf Gold. Zur Matutin des Heiligen Geistes zeigt der Maler ein selten als Erkennungsbild eingesetztes Motiv: die Taufe Christi im Jordan (fol. 70v). Während ein Engel den Rock Christi hält, erscheint am Himmel in einer Engelsgloriole Gottvater segnend. Das Bild kehrt an derselben Stelle beim selben Maler im Amory-Stundenbuch (Nr. 45) wieder. fol. 73: Noch hat sich die Auferweckung des Lazarus (fol. 73) als Erkennungsbild des Totenofziums nicht ganz durchgesetzt; in gedruckten Pariser Stundenbüchern sollte das Thema erst ab 1504 in den Metallschnitten der Pichore-Werkstatt auftauchen (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 23, S. 4003, Abb. 13 [für Thielman Kerver ca. 1504-06] und Nr. 24, S. 4011, Abb. 14 [die Quart-Serie für Simon Vostre, ca. 1504-08]). Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts wird man die Szene hin und wieder in der nordfranzösischen und auch der flämischen Buchmalerei finden. Lazarus war im Fliesenboden eines Sakralraums beigesetzt worden. Nun sitzt er aufrecht im geöffneten Grab, von Petrus im Rücken gestützt, und betet zu Christus, der von rechts mit dem jugendlichen Johannes und anderen Jüngern hinzugekommen ist. Vor der Zuschauermenge erkennt man die mit Nimben ausgezeichneten Schwestern des Toten, Martha und Magdalena, die beide mit Salbtöpfen auftreten. Neunzeilige Kleinbilder mit Halbfiguren, meist vor Landschaft bebildern zum Abschluß die Suffragien: Trinität (fol. 102) mit Sohn und dem als Papst gekrönten Vater im gemeinsamen rosafarbenen Mantel mit dem Buch des Lebens und der Geist-Taube. Michaels Sieg über den Teufel (fol. 102v). Johannes der Täufer mit dem Lamm auf der verdeckten Hand (fol. 103). Petrus und Paulus im Gespräch (fol. 103v). Stephanus (fol. 104) als Diakon mit Märtyrerpalme und einem Stein in der Hand. Sebastiansmartyrium mit einem Bogenschützen (fol. 104v). Christophorus (fol. 105) mit dem Knaben, links ein Felsenufer, über weitem Meer bei sehr niedrigem Horizont. Nikolaus, dem einer der drei Jünglinge betend aus dem Bottich entgegentritt (fol. 105v). Antonius im Feuer stehend (fol. 106). Maria Magdalena (fol. 106v) mit Salbgefäß. Anna (fol. 107) mit der kleinen Maria an der Hand vor einem karminroten Tuch. Allerheiligenbild (fol. 107v) mit Margarete und einer weiteren Jungfrau im Vordergrund sowie zwei Bischöfen oder Äbten, einem Kardinal und dem heiligen Christophorus in zweiter Reihe, wobei das Christuskind in die rechte obere Ecke gequetscht ist. Ebenfalls ein neunzeiliges Bild eröffnet die Johannespassion mit Gefangennahme Christi und Judaskuß (fol. 108): Von behelmten Soldaten umdrängt ist Jesus nach links gerückt; Judas bedrängt ihn; Malchus stürzt vor den beiden zu Boden. Petrus wird nicht gezeigt. Es scheint, als seien die Bilder von Christophorus, Nikolaus, Antonius und der Gefangennahme nicht von der Hand unseres Malers.
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Zum Stil Alle Miniaturen sind einheitlich von jenem Maler ausgeführt, den wir als Meister der Marie Charlot mit Nr. 15 in Katalog 20, einem im späten 16. Jahrhundert mit diesem Namen auf dem Einband bezeichneten Stundenbuch, eingeführt haben. Niemand hat te sich vor 1988 mit dem Buchmaler je befaßt, als das Stundenbuch der Marie Charlot beschrieben werden mußte. Bei der Erfassung der gedruckten Stundenbücher konnte die Illuminierung des Pergamentexemplars eines Stundenbuchs für den Gebrauch von Rom, für Simon Vostre, um 1505, Horae I, Nr. 40, diesem Maler zugeschrieben werden (S. 352). Parallel dazu und ohne auf unsere Bemühungen einzugehen, hat Isabelle Delaunay ein Œuvre um Handschriften für Étienne Poncher (1446-1525) zusammengestellt: 1503 zum Bischof von Paris gewählt, stieg Poncher 1519 zum Erzbischof von Sens auf; von 1512 bis 1514 war er unter Ludwig XII . auch Garde des Sceaux. Sein zweibändiges Pontifikale (Leroquais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) hat selbstverständlich den Vor teil, von einem Auftraggeber aus dem engsten Umfeld des Königs zu zeugen, eignet sich aber nicht so gut für Vergleiche mit Stundenbüchern. Der Maler, den man gelegentlich mit der Illuminierung von gedruckten Stundenbüchern betraut hat, wird schon ab etwa 1490 gearbeitet haben; um 1510 ist seine Tätigkeit wohl erloschen. Die recht einfachen Miniaturen zeugen von einer bemerkenswerten Frische der Auff as sung. Noch hat sich die graphische Orientierung des Malers, die man in unserer Nr. 44 finden wird, nicht durchgesetzt. Unser Stundenbuch stammt somit aus den Jahren kurz vor 1500. Ein Pariser Stundenbuch aus den Jahren kurz vor 1500, um drei Bilder beraubt, den noch reich illustriert. In Schrift und Schriftdekor noch älterer Tradition verpflichtet, bemerkenswert in der Frische der Bilder. Wie das Stundenbuch der Marie Charlot, das die Grundlage für unsere Beschäftigung mit dem Maler war, ist dieses Manu skript in einen goldgeprägten Ledereinband des späteren 16. Jahrhunderts gebun den und beweist damit die anhaltende Bedeutung solcher Stundenbücher in Zeiten, in denen die Jesuiten die katholische Spiritualität bestimmten. Der verantwortliche Maler hat unter anderem für Étienne Poncher (seit 1503 Bischof von Paris) gear beitet und gehört zu jenen Künstlern aus dem Kreis der Le Barbier, die sich von de ren feingliedriger Spätgotik lösten und Formen aus der Renaissance in ihr Schaffen integrierten. Er entwickelt eigene Vorlieben, hat beispielsweise begriffen, daß sich der Heilige Geist zum ersten Mal bei der Taufe Christi zeigt; deshalb ersetzt er das Pfingstwunder gern durch diese Szene. LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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44 Das Stundenbuch der Bastienne Mayvret vom Meister des Étienne Poncher
Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Braun, Rot und Blau, in niedriger Bastarda. Paris, um 1500: Meister des Étienne Poncher (oder Meister der Marie Charlot) 46 Bilder: 13 Bildseiten in goldenen Rahmen, zusammengesetzt aus einem Hauptbild und einer Szene im Bas-de-page, mit sieben Zeilen Text und vierzeiligen Initialen; 19 Kleinbilder und eine historisierte Bordüre; größere Zierbuchstaben aus weißem Akanthus auf rotem Grund mit Binnenfeld in Pinselgold mit weißem Akanthusdekor, zweizeilig zu den Psalmenanfängen; einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Pinselgold auf Flächen in Rot, Blau und Umbra mit goldenem Liniendekor; Zeilenfüller gleicher Art. Versalien gelb laviert. 97 Blatt Pergament, vorne und hinten je ein fliegendes Vorsatz aus Papier. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), Lage 2 (8-1, 8 ohne Textverlust) und Lage 8 (4); keine Reklamanten. Rot regliert zu 29, im Kalender zu 33 Zeilen. Klein-Okatv (156 x 96 mm, Textspiegel: 89 x 52 mm). Vollständig und brillant erhalten. 1593 für Bastienne Mayvret gebunden in einen braunen Maroquinband auf fünf sichtbare Bünde; auf dem Vorder- und Hinterdeckel doppelter Rahmen mit Lorbeerranken in den Zwickeln und einem von Lorbeer gerahmten Medaillon mit der Kreuzigung sowie dem Namen Bastienne (vorne) Mayvret (hinten); 1593 datiert; Goldschnitt, Spuren von zwei Seidenschließbändern. Provenienz: Keine Hinweise auf frühere Besitzer. Bastienne Mayvret ist sonst nicht nachgewiesen. Text fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache; nicht jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Braun, Festtage in Rot oder Blau, Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstabe a in Rot oder Blau, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun. Die Heiligenauswahl wenig spezifisch. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 8), Matthäus (fol. 9) und Markus (fol. 10). fol. 10v: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 10v), O intemerata (fol. 12v). fol. 14: Marienofzium für den Gebrauch von Rom, mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 14), Laudes (fol. 24v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 31), Matutin von Heilig Geist (fol. 32), Marien-Prim (fol. 33), Terz (fol. 36), Sext (fol. 39), Non (fol. 41v), Vesper (fol. 44), Komplet (fol. 48); gefolgt von dem Adventsofzium (fol. 51v).
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fol. 58: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 67v), darunter die Pariser Heiligen Gervasius und Prothasius und Genovefa sowie Bischof Claudius aus dem Jura. fol. 69: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 69), Matutin, durch eine Rubrik hervorgehoben (fol. 72), Laudes, durch eine Rubrik hervorgehoben (fol. 84). fol. 90v: Sufragien: Trinität (fol. 90v), Michael (fol. 91), Johannes der Täufer, Petrus und Paulus (fol. 91v), Christophorus (fol. 92), Sebastian (fol. 93), Nikolaus (fol. 93v), Claudius (fol. 94), Antonius Abbas (fol. 94v), Fiacrius (fol. 95), Anna, Magdalena (fol. 95v), Katharina (fol. 96), Barbara (fol. 96v), Margarete (fol. 97). Schrift und Schriftdekor Die Schrift ist eine niedrig laufende Bastarda, die in manchen Details schon zur FereHumanistica oder Gotico-Antiqua tendiert, die wir hier zuerst in Nr. 32 angetroffen haben. Dazu passen das Blau für die Rubriken ebenso wie die Initialen: Mit Pinselgold auf blauen, roten und umbra-braunen Flächen gemalt sind die einzeiligen Zierbuchstaben am Zeilenbeginn; bei der Einrichtung der Texte fällt gerade im Vergleich zu Nr. 32 auf, daß man sich Mühe gab, möglichst wenig Platz für Zeilenfüller zu lassen, die entweder in der gleichen Art gehalten oder als Knotenstöcke ausgebildet sind. Größere Zierbuchstaben sind nur aus rosafarbenem Akanthus gebildet; Binnenfelder meist mit Blüten auf Pinselgold geschmückt. Bordüren bleiben auf die mit Kleinbildern versehenen Seiten beschränkt; sie sind durchweg mit dem gängigen System der Kompartimente gestaltet, also mit blau-goldenem Akanthus auf Pergamentgrund und Blumen auf kräftig konturiertem Muschelgold. Die sieben Zeilen Incipit zu den Hauptbildern sind mit Tintenkonturen begrenzt und wirken, als seien sie auf die Malerei aufgeklebt. Sie überspielen die Aufteilung der Bildseiten in Hauptbild und Bas-de-page, weil sie die als waagerechte Trennung eingesetzten Goldrahmen weitgehend verdecken. Kräftigere profilierte Leisten rahmen die gesamte Malerei auf solchen Seiten; wenig motiviert wirken Spielereien mit kleinen MaßwerkMotiven unter der oberen Kante. Bildfolge fol. 7: Für die Perikope des Johannes hat der Maler eine selten in Manuskripten, dafür aber umso häufiger in gedruckten Stundenbüchern verwendete Ikonographie gewählt – siehe dazu unseren Katalog Horae IX , Nrn. 5 und 6 (Metallschnitt vom Meister des Jean Dupré, bereits ca. 1488, und Anthoine Vérard, ca. 1489), 9 (Metallschnitt vom Meister der Grandes Heures für Denis Meslier, ca. 1490), 12 (Metallschnitt des Meisters der Grandes Heures für Simon Vostre, ca. 1491), 15 (Metallschnitt des Meisters der Apokalypsenrose für Simon Vostre, 1495-98), 22 (Metallschnitte in Oktav der Pichore-Werkstatt für Simon Vostre, 1504-06), usw.: Auf einem Markplatz, umgeben von Schaulustigen und unter Anweisung des Hauptmanns, hat man den nackten Johannes in ein siedendes Ölbad gestellt. Schergen befeuern den Kessel, einer von ihnen kippt
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von oben heißes Öl hinzu. Auf wundersame Weise übersteht der Heilige die Ölmarter unbeschadet und taucht verjüngt aus dem Kessel auf. Im Bas-de-page wird derweil die üblichere Erkennungsszene gezeigt: Johannes auf Patmos, der, begleitet von dem Adler, die Apokalypse schreibt. Die übrigen Perikopen und das sich anschließende Mariengebet erhalten achtzeilige Kleinbilder: Halbfigurig sind die Evangelistenbilder: Lukas mit dem Stier (fol. 8), Matthäus als junger Mann mit dem Engel (fol. 9) und Markus mit dem Löwen (fol. 10). fol. 10v: Als Halbfigur gezeigt wird auch Maria mit dem Kind, die ihr Haar mit ihrem blauen Mantel verhüllt. fol. 14: Vor dem Marienofzium ist auf der letzten Textseite der Mariengebete eine Bildbordüre mit der Wurzel Jesse (fol. 13v) eingerichtet. Halb erwacht dreht sich Jesse im unteren Rand der Bordüre um, besungen von David mit der Harfe, während nach links die Reihe der Könige bis hin zur leuchtenden Erscheinung von Maria mit Kind als Rankenblüte im äußeren Randstreifen aufsteigt. Auf dem gegenüberliegenden Recto erscheint ein lebendiges Bild der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 14). Vor einer Renaissance-Wand, die links ins Freie geöffnet ist, hat Maria rechts unter einem runden Baldachin an ihrem Betpult Platz genommen. Aufgeschreckt von dem reizenden Gast, der von links hinzutritt und auf Gottvater weist, der aus dem Himmel ins Haus blickt, hat Maria die Arme erhoben und sich von ihrem Pult weggedreht. Der schwung volle Pinselstrich des Malers und seine Tendenz zu rundlichen, lieblichen Formen und frischen Farbtönen machen die Miniatur zu einem frohlockendlebendigen Bild. Mariä Tempelgang im Bas-de-page geht diesem Geschehen voraus. Die typologische Dimension der Verbindung der alttestamentlichen Wurzel Jesse und der Verkündigung zum Marienofzium war insbesondere im frühen StundenbuchDruck sehr beliebt und findet sich z. B. in der Holzschnittserie vom Meister des Jean Dupré für Dupré von ca. 1488 (Horae IX , Nr. 3, S. 3913, Abb. 2a). Dort sind Verkündigung und Wurzel Jesse in der Bordüre auf einer Platte kombiniert. In der Metallschnittserie des Meisters der Apokalypsenrose, erstmals bei Jean Dupré um 1489 eingesetzt, ist dem Motiv sogar eine eigene Platte gewidmet (Horae IX , Nr. 8, S. 3933, Abb. 2) und in seiner Werkstatt kontinuierlich wiederholt (siehe Horae IX , die Serien Nrn. 11 und 13 von ca. 1491, 15 von 1495-98, 17 von 1497-1502). Dieser Meister hat sogar ein stark übermaltes Wandbild der Wurzel Jesse in einer der Chorkapellen der Pariser Kirche Saint-Severin geschaffen. In einer leuchtenden Landschaft treffen Maria und Elisabeth zur Heimsuchung (fol. 24v) aufeinander. Maria, die von links übers Gebirge gekommen ist, wird von Joseph begleitet und von ihrer Base empfangen, die schon beide Hände ausgestreckt hat, um den Bauch der Jungfrau zu berühren. Hinter ihr ist mit besonders viel Detailverliebtheit eine Wasserburg dargestellt. Im Bas-de-page hat der Maler Maria am Webstuhl im Tempel ge-
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zeigt. Der Engel bringt ihr dort, freilich zur Non und nicht zu den Laudes, täglich Wasser und Brot, damit sie ungestört ihre Arbeit verrichten kann. Zu den Heilig-Kreuz-Horen wird wie üblich die Kreuzigung (fol. 31) gezeigt. Etwas klein ragt das Kruzifix in den Himmel, um Platz für die Gruppe der Trauernden links, die flehende Maria Magdalena am Fuße des Kreuzes und das Heer des Zenturio zu bieten, der auf den wahren Sohn Gottes verweist. Im Bas-de-page wird von der Kreuztragung der Moment gezeigt, in dem ein Scherge zum Hieb mit dem Stock ausholt. Das Pfingstbild (fol. 32) zu den Horen von Heilig Geist ist auf Maria konzentriert. Hier wiederholt sich unter ganz anderen Voraussetzungen als in unseren Manuskripten der Le Barbier die Analogie zur Marienverkündigung: Unter einem ähnlichen Baldachin wie dort kniet die Muttergottes vor ihrem Pult, nun im Kreise der Apostel mit Petrus links und Johannes rechts. Von links kommt die Taube und wird staunend von den Anwesenden angebetet. Im Bas-de-page ist die Taufe Christi gezeigt, die sowohl im Marie de Briot- als auch im Amory-Stundenbuch vom selben Meister (Nrn. 43 und 45) Hauptthema zu diesen Horen ist. Zur Marien-Prim wird die Geburt Christi (fol. 33) freudvoll inszeniert. Während Maria und Joseph den auf eine altarähnliche Krippe gebetteten Knaben anbeten, sind drei Engel hinzugekommen, um einen Hymnus von einem Notenblatt anzustimmen. Im Basde-page gehen Joseph und Maria auf der Suche nach einer Herberge mit Ochs und Esel zum verfallenen Stall von Bethlehem, nachdem sie anderswo abgewiesen wurden. Zur Terz findet die Hirtenverkündigung (fol. 36) nicht auf einer weiten Wiese, sondern in einem umzäunten Gatter statt. Während die Schafe grasen, sind zwei Hirten und ihr Hund aufgeschreckt und blicken gen Himmel: Dort sind erneut drei Engel erschienen und weisen auf einen Lobgesang, der, in Text und Notation unterschieden, aus einem Chorbuch stammen könnte. Im Bas-de-page folgt die Anbetung der Hirten. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 39) sitzt Maria leicht nach links gedreht, unter dem schadhaften Dach des Stalls; Joseph ist abwesend. Von links ist der älteste König niedergekniet; ihm schließt sich der mittlere an, während der jüngste als dunkelhäutiger Jüngling mit krausem Haar in modischer Kleidung von rechts hinzutritt. Die Komposition folgt also einem in Italien beliebten Kompositionsmuster, das derselbe Maler seitenverkehrt im Stundenbuch der Marie de Briot (Nr. 43) verwendete. Im Bas-de-page sind die drei Könige vor dem Palast des Herodes zu sehen, die dort halten und fragen, wo denn der Heiland geboren worden sei. Eine besonders feierliche Szene bietet die Darbringung im Tempel (fol. 41v) zur Non. Mächtig ragt der große Altar unter einem prachtvollen runden Baldachin in den Raum. Rechts kniet Maria vor der Mensa, begleitet von einer jungen Frau mit Kerze und Joseph, der die Tauben bringt. Der eindrucksvoll große Priester Simeon, von einem Akolythen begleitet, hat den Knaben auf einem weißen Tuch entgegengenommen. Spielerisch streckt der Junge den Arm nach seiner Mutter. Im Bas-de-page steht der zwölfjährige Je-
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sus im Tempel, im langen Rock, auf dem Altar und diskutiert aufgeweckt mit einer Schar gelehrter Männer im Tempel. Zur Vesp er begibt sich die Heilige Familie auf die Flucht nach Ägypten (fol. 44). Wäh rend ein Idol vor einem Burgtor von der Säule stürzt, bietet ein Bäumchen, das keine Datteln trägt, Maria seine roten Früchte (Kirschen?!) an. Im Kontrast zu der idyllisch wirkenden Szene im Hauptbild steht der Kindermord im Bas-de-page: Vergeblich ver suchen dort zwei Frauen, ihre Kinder den Soldaten zu entreißen. Den Abschluß zur Komplet bildet auch hier die Marienkrönung (fol. 48). Die Wolken decke hat sich geöffnet und gibt den Blick frei auf den mit päpstlicher Tiara unter einem Baldachin thronenden Gottvater, der die Muttergottes segnet. Demütig die Hände zum Gebet gefügt, erwartet sie die Krone, die ihr zwei Engel aufs Haupt setzen werden. Im Bas-de-page sind bei Mariä Himmelfahrt analog zu Bildern von Christi Himmelfahrt nur der Saum ihres Kleides und ein wenig von ihrem Mantel zu sehen, während die Apo stel mit Petrus links und Johannes rechts noch am Bett der Gottesmutter verweilen und betend aufschauen. Im Eröffnungsbild der Bußpsalmen werden wie in Nr. 43, nun aber seitenverkehrt, zwei Bildmotive aus der Davidgeschichte kombiniert: Bathseba im Bade (fol. 58) tänzelt im Wasser eines rechteckigen Bades und läßt einen Strahl aus der vom rechten Bildrand ab geschnittenen Löwenfontäne auf ihre Hand fallen, während David sie vom Fenster seines Palastes aus beobachtet. Im Hintergrund rechts tobt eine Schlacht, die auf den Tod von Bathsebas Ehemann Uria hinweist, den David auf diese Weise herbeiführt. Ein beson ders schönes kompositorisches Äquivalent, das die Hauptszene der Bathseba zwar völlig anders wiedergibt, die im Hintergrund tobende Schlacht aber ähnlich begreift, bietet ein zwischen 1497-1502 entstandener Metallschnitt vom Meister der Apokalypsenrose für Thielman Kerver (siehe Horae IX , Nr. 17, S. 3977, Abb. 14). Das Bas-de-page zeigt Da vids Buße in der Einöde; die Harfe steht links, der Kronhut liegt rechts auf einer klei nen Klippe. So betet der greise König barhäuptig zu Gottvater, der mit päpstlicher Tia ra rechts neben dem Schriftfeld schwebt. Das Totenof fizium erhält eine recht detaillierte Darstellung des Gleichnisses vom Rei chen und dem armen Lazarus (fol. 69). Während sich der Reiche am Bankett mit Kir schen(?) satt ißt, bittet der Aussätzige, der eine Klapper trägt, am Tor um eine Spende, wird aber vom Pagen abgewiesen. Im Hintergrund entschwindet seine Seele dem Kör per, von einem Engel getragen. Im Bas-de-page folgen die Höllenqualen des Reichen, der flehend auf seine Zunge weist, die vor Hitze glüht. Lazarus in Abrahams Schoß fleht er an, ihm Wasser zu reichen; doch ist ihm keine Linderung seiner Qual vergönnt. Zu den Suffragien werden neunzeilige Kleinbilder mit den Heiligen als Halbfiguren geschaltet: Trinität mit Sohn und päpstlichem Vater nach Psalm 109 im gemeinsamen rosafarbenen Mantel mit dem Buch des Lebens und der Taube zwischen sich vor tief blauem bestirnten Himmel (fol. 90v). Michaels Kampf mit dem Teufelsdrachen (fol. 91). Johannes der Täufer in der Einöde und auf derselben Seite Petrus und Paulus in einem
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Gebäude (fol. 91v). Christophorus mit dem Einsiedler, der die Lampe hält (fol. 92). Seba stian mit Pfeilen gespickt allein vor dem blauen Himmel (fol. 93). Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich (fol. 93v). Claudius als Bischof vor blauem Ehrentuch (fol. 94). An tonius Abbas mit dem Schwein vor der Einsiedelei (fol. 94v). Fiacrius als Mönch mit ei nem Spaten(fol. 95). Anna lehrt Maria lesen und auf derselben Seite Maria Magdalena mit dem Salbtopf (fol. 95v). Katharina mit dem Schwert und dem Palmzweig (fol. 96). Barbara mit Palmzweig und dem trinitarischen Turmmodell in der Linken (fol. 96v). Margarete aus dem Drachen im Kerker ausbrechend (fol. 97). Zum Stil Alle Miniaturen sind einheitlich von jenem Maler ausgeführt, den wir als Meister der Marie Charlot eingeführt haben, nach einem Stundenbuch, dessen Einband aus dersel ben Zeit stammt wie der hier vorliegende und mit dem Namen dieser späteren Besitze rin bezeichnet wurde (Kat. 20, Nr. 15). Parallel dazu und ohne auf unsere Bemühungen einzugehen, hat Isabelle Delaunay von zwei Handschriften für Étienne Poncher (14461525) ausgehend ein Œuvre zusammengestellt; diese Benennung hat selbstverständ lich den Vorteil, daß der Notname von einem Auftraggeber des Malers aus dem engsten Umfeld des Königs stammt, der 1503 zum Bischof von Paris und 1519 zum Erzbischof von Sens wurde. Ponchers zweibändiges Pontifikale (Leroquais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) eignet sich aber nicht so gut für Vergleiche mit Stundenbüchern. Der Maler, den man gelegentlich mit der Illuminierung von gedruckten Stundenbüchern betraut hat, wird schon ab etwa 1490 gearbeitet haben; um 1510 ist seine Tätigkeit wohl erloschen. Unser Stundenbuch stammt aus den Jahren um 1500. Ein äußerst charmantes, komplett und breitrandig erhaltenes Pariser Stundenbuch aus den Jahren um 1500, fortschrittlich in Schrift und Schriftdekor, bemerkenswert in der ikonographischen Durchdringung, zu der die Einteilung der großen Bildseiten in Hauptbild und Bas-de-page wesentlich beiträgt. Der verantwortliche Maler hat unter anderem für Étienne Poncher (seit 1503 Bischof von Paris) gearbeitet und ge hört zu jenen Künstlern aus dem Kreis der Le Barbier, die sich von deren feinglied riger Spätgotik lösten und Formen aus der Renaissance in ihr Schaffen integrierten. LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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45 Das reich illuminierte AmoryStundenbuch vom Meister des Étienne Poncher
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Ka lender in Rot und Blau, in dunkelbrauner Fere-Humanistica. Paris, c. 1500: Meister des Étienne Poncher (Meister der Marie Charlot) 57 Bilder: acht Incipits mit Kopfbildern über vier Zeilen Text mit dreizeiliger Initiale in Akanthus auf Pinselgold oder Blau; davon fünf in Architekturbordüren mit zusätzlichen Szenen im Bas-de-page; eine mit Fortsetzung des Bildes unter dem Textfeld und zwei mit Kopfbildern in Vollbordüren; 20 Kleinbilder von acht bis elf Zeilen Höhe, 24 Kalen derbilder in Vollbordüren, die unten durch die Bildfelder durchbrochen sind. Der Rand schmuck durchweg ohne Unterscheidung von Kompartimenten, entweder mit Akanthus ranken und großen Blütenstielen auf Pinselgold oder mit Blumenspalier. Kleinbilder mit Vollbordüren. Bordürenstreifen in Höhe des Textspiegels auf jeder Textseite; kleinere Initia len wie die zu den großen Incipits: zweizeilig zu den Psalmenanfängen, einzeilig zu Psalmen versen, die im Zeilenverlauf stehen. Versalien gelb laviert. 148 Blatt Pergament, vorne und hinten je 2 fliegende Vorsätze aus Papier. Gebunden in La gen zu acht Blatt, davon abweichend nur die Kalenderlage 1 (12). Irreführende moderne Foli ierung in Bleistift rechts oben; Reste von vertikalen Reklamanten. Rot regliert zu 22, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (170 x 108 mm, Textspiegel: 100 x 57 mm). Komplett, makellos und breitrandig erhalten. Dunkelroter Maroquinband des 17. Jahrhunderts auf flachen Rücken, dieser gänzlich mit Fi leten sowie ornamental-floralen Stempeln in Pointillé-Manier bedeckt; Deckel in Filetenrah mung mit breiter Dentellebordüre und eingestelltem Hochrechteck aus vier Fileten bzw. durch brochenen Linien; Stehkanten in Pointillé, feste Marmorpapiervorsätze, Goldschnitt, wohl von Luc-Antoine Boyet (vgl. Katalog Esmerian II, 1972, Nrn. 57, 67 und 70). Provenienz: Auf dem leer gebliebenen fol. 148v ein moderner Hinweis auf das Wappen der französischen Familie Amory, mit der Beschreibung: „Aux armes de Amory (France): d’azur à un chevron d’argent accompagné de trois étoiles d’or, deux en chef, une en pointe.“ Ein solches Wappen mit drei Blüten oder Sternen, in den Farben jedoch nicht voll lesbar, ist auf fol. 29 offenbar nachträglich zwischen zwei Putten, die wohl Heraldik präsentieren sollten, eingemalt worden. In gleicher Weise über den ursprünglichen Dekor gelegt, farblich jedoch ein deutiger auf d’azur au chevron d’or, also Blau mit einem goldenen Sparren, festgelegt ist das Wappen auf fol. 79. Ein solcher Schild, auf fol. 13 vollfarbig und ohne meubles, gehört zum Originalbestand. Der Name Amory oder Amaury bezeichnet mehrere französische Adelsfamilien; er wird mit sehr unterschiedlicher Heraldik verbunden. Die Amory, die seit dem 13. Jahrhundert in der Gegend von Saint-Malo nachgewiesen sind, hatten ein ähnliches, aber von beiden Formen in unserem Stundenbuch markant abweichendes Wappen. Vielleicht sind die Herren von Mont
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fort-Amaury im Département Yvelines (berühmt durch Ravels Boléro), westlich von Versailles gemeint. Doch bleibt offen, ob in unserem Stundenbuch überhaupt von Amory die Rede sein darf und wo die dann angesiedelt waren. Angesichts der unsicheren Überlieferung wäre es ver lockend, das hier nicht zur ursprünglichen Malerei gehörende Wappen mit den drei Rosen mit der Familie Poncher zu verbinden; dem wichtigsten Prälaten diesen Namens verdankt der ver antwortliche Maler einen seiner beiden Notnamen, wenn er als Meister des Étienne Poncher bezeichnet wird. Dessen Farben waren auf Gold ein roter Sparren, freilich mit einem Mohren kopf und mit drei schwarzen Jakobsmuscheln (d’or au chevron de gueules, accompagné de trois coquilles de sable). Da Farben in der spätmittelalterlichen Heraldik gar nicht so entscheidend waren, steht unser Stundenbuch deshalb vielleicht in Verbindung mit der Familie des Pariser Bischofs Étienne Poncher, der als hoher Prälat selbst kein solches Gebetbuch gehabt haben dürf te, wohl aber für ein Familienmitglied bei „seinem“ Maler bestellt haben könnte. Text fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstabe A in Weiß auf Gelb und Rot; Sonntagsbuchstaben b-g in Braun. Die Wahl des Lateinischen müßte eigentlich dafür sorgen, daß hier ein recht sorgfältig konzipierter Kalender vorliegt. Angesichts der Gestaltung irritiert die Wahl des Lateinischen; denn zu abwechselnd in Rot und Blau kopierten und auf jedem Tag besetzten Kalendarien gehört eigentlich das Französische in dialektaler Färbung. Die Heiligenauswahl, die in Latein meist sorgfältiger kontrolliert sein müßte, ist nicht eindeutig bestimmbar. Sie bietet Heilige aus den unterschiedlich sten Gegenden, darunter Augulus, Bischof von Augsburg (7.2.). Zahlreiche Eintragun gen sind überraschend, so Oswaldi regis für König Oswald von Northumbrien am 4.8. fol. 13: Perikopen: Johannes als Suffragium (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 15v) und Markus (fol. 17). fol. 18: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 18), O intemerata (fol. 20v), Stabat mater (fol. 22), Ave cuius conceptio (fol. 23v), O illustrissima et excellentissima virgo (fol. 24), Gaude flore virginali (fol. 25v), Ave regina celorum (fol. 26v), Alma rede mptoris (fol. 27), Regina celi letare (fol. 27v), Inviolata integra et casta es (fol. 27v), gefolgt von einem Gebet, das, laut Rubrik, jeden Tag gebetet, dem Tod in Sünde vorbeugt: Ma ter digna dei (fol. 28); fol. 28v leer. fol. 29: Johannes-Passion. fol. 37: Marienof fizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 37), Laudes (fol. 43v), Prim (fol. 50), Terz (fol. 53), Sext (fol. 55v), Non (fol. 58), Vesper (fol. 59v), Komplet (fol. 65); Adventsoffizium (fol. 72v); fol. 78v leer. fol. 79: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 79), des Heiligen Geistes (fol. 81v); fol. 84/84v leer.
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fol. 85: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 92), in der knappen Auswahl die Pariser Heiligen Gervasius und Prothasius. fol. 96: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 96), Matutin, mit einer Rubrik (fol. 100). fol. 123: Sufragium der Trinität, gefolgt von Herrengebeten. fol. 133: Sufragien: Michael (fol. 133), Johannes der Täufer (fol. 133v), Petrus und Paulus (fol. 134), Jacobus (fol. 134v), Laurentius (fol. 135), Christophorus (fol. 135v), Sebastian (fol. 136), Alle Heiligen (fol. 136v), Nikolaus (fol. 137), Claudius (fol. 137v), Antonius Abbas (fol. 138), Fiacrius (fol. 138v), Martin (fol. 139), Anna (fol. 139v), Magdalena und auf derselben Seite Margarete (fol. 140), Barbara (fol. 140v), Katharina (fol. 141v), Apollonia (fol. 141v), Genovefa (fol. 142v). fol. 143: Lateinische Gebete für den Tagesverlauf und für verschiedene Anlässe, eingeleitet durch französische Rubriken. fol. 148: Textende; fol. 148v leer. Schrift und Schriftdekor Nicht mehr in einer Bastarda, sondern in Gotico-Antiqua oder Fere-Humanistica, die sich in Paris erst um 1490 durchsetzte, ist dieses Manuskript angelegt. Die AkanthusInitialen, die auch für die einzeiligen Zierbuchstaben eingesetzt werden, sind in kräftigem Blau und Gold gestaltet. Zum fortschrittlichen Charakter gehören die Rubriken, deren Blau im Adventsofzium fast eine ganze Seite füllt. Der Randschmuck, der auf Textseiten Bordüren in Höhe des Textspiegels vorsieht, kommt durchweg ohne Kompartimente aus. Man verteilt entweder Akanthusranken und Blütenstiele auf Pinselgold oder kleine Blüten und Blätter in farbigen Spalieren. Die Kleinbilder erhalten Vollbordüren; das gilt auch für den Kalender, wo jedoch die nach unten versetzten Miniaturen den Randschmuck durchbrechen. Bildfolge fol. 1: Den Kalender zieren im Bas-de-page Monatsbilder auf Recto und Tierkreiszeichen auf Verso. Zum Januar gießt sich ein edler Herr am Tisch Wein aus einer Schale in den Mund (fol. 1), der Wassermann schüttet als rotblonder kleiner Junge einen Wasserkrug aus (fol. 1v). Zum Februar wärmen sich Herr und Dame am Feuer (fol. 2); viele große, karpfenähnliche Fische schwimmen in einem Fluß (fol. 2v). Im März schneidet ein Bauer die Weinreben (fol. 3), und der Widder mit gedrehten Hörnern bückt sich mit seinem langen Fell so, als wolle er soeben zum Sprung ansetzen (fol. 3v). Im April hat eine junge Dame Blumen gepflückt (fol. 4), der Stier, der auf sonderbare Weise seinen Schwanz unter dem Bauch lang nach oben reckt, schreitet langsam voran (fol. 4v). Im Mai tauschen junge Edelleute unter einem Baum Blumen miteinander (fol. 5), während die Zwillinge als nacktes Paar in einem Gesträuch stecken (fol. 5v). Im Juni wird von einem jungen
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Bauern das Gras gemäht (fol. 6), der Krebs liegt wie eine Languste mit grauem Panzer am Ufer einen Gewässers (fol. 6v). Im Juli schneidet ein Bauer das Korn (fol. 7), während der Löwe zwischen einzelnen Bäumen umherzuspringen scheint (fol. 7v). Im August ist Zeit für die Korndresche, die ein junger Bauer wild am Fuße eines antizipierenden Baus vollführt (fol. 8), während die Jungfrau als Edeldame mit einem Palmenzweig erscheint (fol. 8v). Die Aussaat wird im Monat September auf den Feldern begangen (fol. 9), die Waage hält eine aus den Wolken kommende Hand, die auf den göttlichen Richterspruch verweist (fol. 9v). Im Oktober wird der Wein gekeltert (fol. 10), der Skorpion kriecht ei nem Tausendfüßler gleich über einen Stein am Flußufer (fol. 10v). Im November wer den Eicheln geschlagen (fol. 11), wie üblich erscheint der Schütze als bogenschießender Zentaur (fol. 11v). Im Dezember bäckt man Brot (fol. 12) und der Steinbock kriecht als langhorniger Ziegenbock aus einer Muschel (fol. 12v). Die Perikopen eröffnen mit einer ungewöhnlichen Darstellung von Johannes auf Patmos (fol. 13). Der junge Evangelist, dem der Adler das Tintenfaß hält, sieht als Motiv aus der Apokalypse eine halbfigurige Marienerscheinung auf der Mondsichel. Geradezu einzig artig ist die Zuneigung des Jesusknaben zu Johannes; denn er beugt sich vor, als wolle er seinen Lieblingsjünger berühren. Im Bas-de-page wird der Evangelist, der hier den Gift becher, aus dem das Gift in Form einer Schlange entweicht, als Attribut in der Hand hält, nach Patmos verschifft. In einer dritten Art von Bild wird in Gold-Camaïeu in der Architekturbordüre der kniende Augustus mit der Tiburtinischen Sibylle gezeigt, die den Kaiser auf die Marienerscheinung im Johannesbild hinweist. Im Sockel der Archi tekturbordüre erscheint ein goldener Sparren auf blauem, mit Ranken verziertem Wap penschild. Die folgenden Perikopen erhalten elfzeilige Kleinbilder, die die folgenden drei Evangeli sten als Halbfiguren zeigen: Lukas als Madonnenmaler (fol. 14v), Matthäus mit dem En gel (fol. 15v) und Markus (fol. 17), der als einziger als ergrauter alter Mann gezeigt wird. Zum Mariengebet erscheint Maria als Halbfigur vor einem Ehrentuch (fol. 18). Die ei gentümlich altertümliche Art der Darstellung und des Faltenwurfs lassen keinen Zweifel daran, daß mit diesem Bild eine byzantinische Marienikone im Besitz des René d’Anjou gemeint ist, die auch von Barthélemy d’Eyck in einem Stundenbuch des Herzogs (Paris, BnF, Ms. lat. 17332, fol. 15v) und von Georges Trubert (Los Angeles, Getty Museum, ms. 48, fol. 159) gemalt wurde. Zum Lobe des heiligen Bildes sind, wie in einem verzier ten Rahmen, zwei Engel links und rechts in der Bordüre zu sehen. Während im Hintergrund noch Christus auf dem Ölberg zu sehen ist, findet im Vor dergrund schon die wilde Gefangennahme Christi (fol. 29) statt. In Blau tritt Judas vor das Getümmel der Soldaten und verrät den Heiland mit seinem Kuß, während Petrus dem Malchus das Ohr abgeschlagen hat. Die Marien-Matutin eröffnet mit der Verkündigung (fol. 37) in einer Ädikula mit golde nen Säulen, in deren Schaft rechts auch ein Prophet eingestellt ist, der Maria mit ecce mater rede(m)ptoris bezeichnet, während der Vers Tota pulcra es amica mea
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et macula … aus dem Hohenlied im Fries oben steht. In einem durch eine Loggia zur Landschaft geöffneten Raum kniet Maria unter einem Baldachin, unterbricht ihr Ge bet und empfängt nun demütig mit erhobenen Händen den lebhaft bewegten Engel, der das in weißen Lettern eingeschriebene ave spricht, mit der Rechten zur Taube über sich weist und mit seinen lieblichen Gesichtszügen fast an mittelrheinische Malerei erinnern könnte. Im Bas-de-page erscheint der Kuß an der Goldenen Pforte. Die nachfolgenden Stunden werden von acht- bis zehnzeiligen Kleinbildern eingeleitet: Zur Heimsuchung (fol. 43v) vor dem Stadttor zur Laudes werden die zwei Frauen von Joseph und einer Dienerin begleitet. In der Geburt Christi (fol. 50) zur Prim nutzt der Maler die Enge des kleinen Formats und entwickelt ein inniges Halbfigurenbild von Ma ria und Joseph in Anbetung des Kindes. Zur Terz erscheint ein goldener Engel am Him mel zur Hirtenverkündigung (fol. 53). Auch die Anbetung der Könige (fol. 55v) profitiert vom intimen Charakter des kleinen Formats. Voll Zuneigung beugt sich der älteste Kö nig vorsichtig zu dem Knaben, der auf dem Schoß der Mutter die Gabe entgegennimmt. Zur Non ist Maria mit Joseph und einer Frau zur Darbringung im Tempel (fol. 58) ge kommen. Während Simeon den Knaben schon mit verhüllten Händen auf den Altar gehoben hat, greift der Junge in einer kindlichen Geste nach seiner Mutter. Zur Vesp er zeigt der Maler nicht nur die Flucht nach Ägypten (fol. 59v), deren Zentrum der leuch tend rot gekleidete Jesusknabe ist, sondern im Hintergrund auch das Kornwunder, das wir im C. P.-Stundenbuch, Nr. 34, schon gefunden haben. Zur Komplet schließlich fin det die Marienkrönung (fol. 65) vor einem goldenen Ehrentuch statt. Während Gott in Gestalt des Sohnes die Mutter segnet, reicht ein Engel die Krone über den Goldbrokat. Die Kreuzigung (fol. 79) zur Matutin von Heilig Kreuz ist von besonderer Farbfrische. Vor leuchtendem Himmel ist das Kreuz aufgerichtet und wird von Maria in Blau und Johannes in zartem Violett und einem tiefroten Mantel gerahmt. Den Fuß des Kreuzes umklammert Maria Magdalena. Während im Bas-de-page mit der Kreuztragung noch auf die Ereignisse vor der Kreuzigung hingewiesen wird, bringen die beiden Greise, die in Gold-Camaïeu in den Säulen der Architekturbordüre gezeigt sind, bereits die Leitern für die Kreuzabnahme. Im Sockel außen ist das Wappen der Johannesbordüre (fol. 13) in Gold-Camaïeu wiederholt, nun mit drei Blüten besetzt, zwei oben, einer unten. Die Heilig-Geist-Horen eröffnet der verantwortliche Maler hier wie schon in Nr. 43 mit einem ungewöhnlichen Erkennungsbild: Die Taufe Christi im Jordan (fol. 81v) durch den Täufer, wobei ein Engel Jesu Rock hält und Gottvater in einer Aureole segnend Chri stus als seinen Sohn bezeichnet, wie das Schriftband verrät (hic es – sic – filius meus dilectus in quo). Passend dazu spannen die goldenen Putten auf den Kapitellen der Säulen der Bordüre feierlich ihre Fest ons über die Szene. Ins Bas-de-page ist das eigent liche Erkennungsbild gerückt: Vor einem Betpult knien Maria und dahinter die Apo stel und erleben die Ausgießung des Heiligen Geistes (im Pilaster links), die sich in ro ten Flammen manifestiert. Den Witz des Malers zeigt der kleine Engel, der links hinter dem Bogen hervorschaut.
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Die Bußpsalmen ziert eine reizende Bathseba im Bade (fol. 85), die in einem Brunnen badet, dessen Wasser aus einer Maske entspringt und auf ihre Hand rieselt, während die Wellen sanft ihre Scham umspielen. König David und ein Vertrauter beobachten die schöne Badende vom Balkon des Palastes. Zum Totenof fizium schildert der Maler drastisch das Jüngste Gericht (fol. 96). Von zwei Engeln, die die Posaunen des Jüngsten Tages blasen, ist der als Schmerzensmann gezeigte Weltenrichter umgeben; zu seiner Rechten, also links im Bild bittet ihn Maria mit heili gen Jungfrauen (die gekrönte dürfte Katharina sein); rechts scharen sich die Apostel, mit dem Täufer darüber, alle nur als Halbfiguren. Auf die links mit einem goldenen Schrift band verkündete Auff orderung surgite mortui et venite ad iudicium hin stehen die Toten aus ihren Gräbern auf. Von Erlösung ist nichts zu sehen, nur Teufel, die rechts Verdammte in die Höllenfeuer stoßen; auch im Binnenfeld der Architektur rechts setzt sich die Höllenqual fort. Im Bas-de-page wird aus der weit verbreiteten Bildvorlage mit der Darstellung des Reichen in der Hölle ein (auch aus Nr. 44) vertrautes Motiv aufge nommen, zu dem eigentlich der arme Lazarus in Abrahams Schoß gehört, wie er in un serem C. P.-Stundenbuch (Nr. 34) die Totenvesp er eröffnet. Weil er nicht barmherzig war, brennt nun seine Zunge in der Hölle; Linderung ist ihm nicht vergönnt. Die Ver bindung dieses Gleichnisses mit einer Endzeitvision hat ein weit entferntes Vorbild im weltberühmten romanischen Portal von Moissac. fol. 123: Für die Suffragien sind zwölf Kleinbilder von elf Zeilen Höhe vorgesehen, al lerdings nicht für jedes Suffragium. Bebildert sind: die Trinität als Gnadenstuhl vor ei nem Ehrentuch (fol. 123), Michaels Sieg über den Teufel (fol. 133), Johannes der Täufer bei einer Predigt (fol. 133v), Petrus und Paulus (fol. 134), Laurentius mit dem Rost (fol. 135), Sebastians Pfeilmarter (fol. 136), Nikolaus mit den drei Jünglingen im Bottich (fol. 137), Fiacrius (fol. 138v), Anna lehrt Maria lesen (fol. 139v), Barbara (fol. 140v), Gen ovefa mit der Kerze zwischen Engel und Teufel (fol. 142v). Zum Stil Alle Miniaturen sind einheitlich von jenem Maler ausgeführt, den wir nach einem im 16. Jahrhundert auf dem Einband beschrifteten Stundenbuch als Meister der Marie Char lot eingeführt haben (Kat. 20, Nr. 15). Parallel dazu und ohne auf unsere Bemühungen einzugehen, hat Isabelle Delaunay vom zweibändigen Pontifikale (Leroquais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) und einer weiteren Handschrift für Étienne Poncher (1446-1525) ausgehend ein Œuvre desselben Stils zusammengestellt: Ihr so definierter Notname hat den Vorteil, von einem Auftraggeber aus dem engsten Umfeld des Königs zu zeugen, der 1503 zum Bischof von Paris und 1519 zum Erzbischof von Sens wurde und unter Ludwig XII . auch Garde des Sceaux war. Das Großformat dieser Bände eignet sich aber nicht so gut für Vergleiche mit Stundenbüchern. Im Falle der hier beschriebenen Handschrift reizt der Gedanke, die nicht endgültig identifizierten Wappen könnten mit der Familie des Bischofs verbunden sein. Der Maler, den man gelegentlich mit der Illuminierung von
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gedruckten Stundenbüchern betraut hat, wird schon ab etwa 1490 gearbeitet haben; um 1510 ist seine Tätigkeit wohl erloschen. Aus dieser Spätzeit stammt unser Stundenbuch. Ein sehr einheitliches, taufrisch und breitrandig erhaltenes Pariser Stundenbuch aus den Jahren um 1500. In Schrift und Schriftdekor fortschrittlicher als die bei den vorausgehenden Manuskripte, beweist dieses Stundenbuch den zuweilen küh nen Umgang mit ikonographischen Konventionen, wenn beispielsweise der Reiche in der Hölle unter dem Jüngsten Gericht erscheint. Der verantwortliche Maler hat unter anderem für Étienne Poncher (seit 1503 Bischof von Paris) gearbeitet und ge hört zu jenen Künstlern aus dem Kreis der Le Barbier, die sich von deren feinglied riger Spätgotik lösten und Formen aus der Renaissance in ihr Schafen integrierten. Hier begegnen wir ihm in seiner Spätzeit mit einfach komponierten, aber sehr tref fenden und eindrucksvollen Miniaturen, die öfter auch einmal ikonologisch ausge tretene Pfade verlassen.
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46 Ein Stundenbuch vom Meister der Mettler-Pèlerinage, früher im Besitz des Hauses Liechtenstein
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Blau, geschrieben in dunkelbrauner Textura. Paris, c. 1500: Meister der Mettler-Pèlerinage und ein weiterer im Kalender 42 Bilder: 13 große Miniaturen über fünf Zeilen Incipit mit vierzeiligen Dornblatt-Initialen in Vollbordüren, fünf Kleinbilder zu den Perikopen und zwei Sufragien mit Bordürenklammer von außen; 24 Kalenderbilder im äußeren Randstreifen der Recto-Seiten mit dem Monatsbeginn; alle Kalenderseiten mit Bordürenstreifen in Textspiegelhöhe, die von ungewöhnlichen Schmuckleisten begleitet werden, die sich als Klammer von der Falzseite um den Textspiegel legen. Durchweg Kompartiment-Bordüren mit dem Wechsel von Pergamentgrund und Flächen in Pinselgold. Alle Textseiten mit einem Bordürenstreifen außen; zwei- bis einzeilige Initialen in Blattgold auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 157 Blatt Pergament, vorne 3 und hinten 2 fliegende Vorsätze aus altem Pergament. Vorwiegend gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12); der Beginn des Mariengebets und das Ende fehlen zwischen fol. 19/20 und 20/21 ebenso wie der Beginn der Suffragien. Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; keine Reklamanten. Oktav (185 x 130 mm, Textspiegel: 114 x 68 mm). Farbfrisch und in den Miniaturen gut erhalten, jedoch nicht ganz vollständig: ein Blatt aus dem Obsecro te als fol. 1 fehlgebunden, von den Mariengebeten sonst nur ein weiteres Blatt, fol. 20, erhalten; der Anfang der Suffragien fehlt. Olivbrauner Maroquinband des 18. Jahrhundert auf fünf echte Bünde, Rücken mit Kastenvergoldung und floral-ornamentalen Stempeln verziert; Deckel in breiter Bordüren-Rahmung aus Bienenrolle zwischen jeweils drei Filetenbündeln, Steh- und Innenkantenvergoldung, blaue Seidenmoiré-Vorsätze, Goldschnitt. Provenienz: Auf dem festen Vorsatz, der wie der erste fliegende Vorsatz mit blauer Seide bespannt ist: Ex libris Liechtensteinianis, also die fürstlich-liechtensteinische Bibliothek, die Ende der 40er Jahre über H. P. Kraus aufgelöst wurde. Text Vorsatz mit einem Blatt aus dem Textblock und einem Incipit: Ofcium B. Mariae Virginis et Defunctorum. Coloniae 1502 (!). fol. 1: das zweitletzte Blatt des Mariengebets Obsecro te, das hier an fol. 20 anschließen müßte. fol. 2: Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Braun, Festtage in Blau, Goldene Zahl in Blau, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf rot-blauem Grund,
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Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Römische Tageszählung in Rot und Braun. Die Heiligenauswahl mit Fest des Dionysius und dem Tag der heiligen Columba von Sens (30.12.). fol. 14: Perikopen: Johannes (fol. 14), Lukas (fol. 15v), Matthäus (fol. 17) und Markus (fol. 18v). fol. 20: Mariengebet Obsecro te: Anfang fehlt; fol. 1 schließt hier an; danach fehlt das Ende des Texts. fol. 21: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 38v), Prim (fol. 49v), Terz (fol. 53v), Sext (fol. 57), Non (fol. 60v), Vesper (fol. 64v), Komplet (fol. 70v), Advents-Ofzium (fol. 75v). fol. 81: Horen von Heilig Kreuz (fol. 81), von Heilig Geist (fol. 85). fol. 89: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 100). fol. 107v: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 107v), Matutin (fol. 114v), Laudes, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 136). fol. 149/v leer und unregliert. fol. 150: Suffragien: Anna (Anfang fehlt, fol. 150), Katharina (fol. 150v), Barbara (fol. 151). Schrift und Schriftdekor Die Textura und deren Ausstattung mit Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen zeigt die Verankerung in der Tradition. Geradezu veraltet ist auch die Einrichtung der Bildseiten mit fünf Zeilen Incipit sowie vierzeiligen Dornblatt-Initialen. Hingegen ist der Randschmuck auf Kompartiment-Bordüren eingestellt, die Pergamentgrund und schwarz konturierten Fond mit Pinselgold abwechseln. In dieser Art sind die Vollbordüren zu den Kopf bildern, die Bordürenklammern zu den fünf Kleinbildern und die sonst überall eingesetzten Randstreifen in Textspiegelhöhe dekoriert. Besonders auffällig und ungewohnt sind die Schmuckleisten, die sich nur im Kalender, dort aber auf Recto und Verso als Klammer von der Falzseite um den Textspiegel legen. Bildfolge fol. 2: Der Kalender ist mit einer Folge von Monatsbildern und Tierkreiszeichen versehen, die jeweils auf den Recto-Seiten in einer schmalen Architekturbordüre am äußeren Blattrand übereinandergestellt werden. Ganz und gar ungewöhnlich ist die Rahmung durch mit bunten Schmucksteinen besetzte goldene Leisten, die oben und unten den Bordürenstreifen und den Textspiegel begleiten und sich dann zum Falz hin schließen: Zum Januar sitzt ein reicher Herr am Tisch, und der Wassermann, als nackter blonder Knabe, schüttet einen Wasserkrug in einen Fluß (fol. 2). Zum Februar wärmt sich ein Herr am Feuer, und zwei große Fische schwimmen in einem Fluß (fol. 3). Ein weiß ge-
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kleideter Bauer schneidet die Weinstöcke im März und erscheint damit in einer Farbe passend zum Fell des Widders, der sich mit seinen gedrehten Hörnern stolz aufrichtet (fol. 4). Im April träg ein junger Edelmann Blütenstängel, der Stier reckt im unteren Bildfeld den Kopf nach rechts (fol. 5). Im Mai wird der Ausritt eines jungen Herrn gezeigt, die Zwillinge stecken als nacktes Paar in einem Gesträuch (fol. 6). Im Juni wird ein Schaf zum Scheren von einem jungen Hirten auf den Schultern getragen, der Krebs liegt feuerrot am Ufer einen Gewässers (fol. 7). Im Juli ist erst die Heumahd, wohl weil der Maler durch das ungewohnte Bild zum Juni aus dem Rhythmus gekommen war; dazu zeigt sich der Löwe aufrecht sitzend. Im August ist hier erst Zeit für die Kornmahd, während die Jung frau mit einem Palmenzweig zwischen blühenden Bäumen sitzt (fol. 9). Die Aussaat wird im Monat September auf den Feldern begangen, die Waage wird von einer aus den Wolken kommenden Hand getragen und dadurch mit göttlichem Richterspruch verbunden (fol. 10). Im Oktober wird der Wein gekeltert, während sich der Skorpion als gepanzerter Vielfüßler mit drachenähnlichem Kopf in der Landschaft windet (fol. 11). Schon im November wird ein Schwein geschlachtet, der junge Metzger hat soeben den Hals des Tieres durchbohrt, wie üblich erscheint der Schütze als bogenschießender Zentaur (fol. 12). Im Dezember wird Brot gebacken, und der Steinbock reckt als langhorniger Ziegenbock frech den Kopf nach oben (fol. 13). Die Perikopen eröffnen mit einer großen Miniatur, die Johannes auf Patmos (fol. 14) zeigt. In stille Zurückgezogenheit versunken, schreibt der jugendliche Evangelist in die Seiten seines aufgeschlagenen Buches. Der Adler hebt die Flügel und streckt den Hals so, als hätte er die Vision des Heiligen erblickt. Danach folgen drei Kleinbilder mit den Halbfiguren der Evangelisten: Lukas (fol. 15v), erstaunlich jung und mit seinem braunen Bart christusähnlich, schreibt ins Profil gedreht sein Evangelium. Matthäus ist ein Greis mit der Gelehrtenkappe, dem der Engel ein Buch aufgeschlagen hält (fol. 17). Wie der jugendlich bartlose Johannes sieht Markus aus, der neben dem Löwen sitzt und seine Schreibfeder prüft (fol. 18v). Das Marienofzium eröffnet wie gewohnt mit der Verkündigung (fol. 21) zur Matutin. Obwohl wir die bildparallele Rückwand mit der geöffneten Fensterfront sehen, ist das Hauptereignis schräg angelegt. Denn der kniende Erzengel rechts wendet uns eigentlich den Rücken zu und dreht den Kopf ins Profil, damit wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Überraschung der Maria richten können, deren Betpult links unter rotem Baldachin eigentlich zum Betrachter hin ausgerichtet ist. In ihrer Lektüre unterbrochen, vernimmt sie die Worte des Engels, während die Taube über dessen Haupt schwebt. Zu den Laudes folgt die Heimsuchung (fol. 38v). Vor sonderbar steil aufragenden Türmen im Mittelgrund erwartet die Base Elisabeth Maria. Diese hält den Saum ihres blauen Mantels vor dem Körper und erlaubt der erfreuten Alten, ihren Leib zu berühren. Zwei halbwüchsige Engel sind der Jungfrau wie zwei kleine Pagen gefolgt und unterstreichen ihre Würde. Zur Prim findet die Anbetung des Kindes (fol. 49v) im Stall statt, von dem nur die schadhafte Rückwand und ein Deckenbalken gezeigt wird. Auf einem weißen Tuch, das die
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rechteckige Krippe bedeckt, liegt der Knabe wie auf einem Altar und wird von Maria und Joseph, der die Flamme einer Kerze schützt, angebetet. Vergnügt blicken Ochs und Esel auf die Szene, und zwei Engel sind herbeigekommen, um einen nicht lesbaren Gesang anzustimmen. Zur Hirtenverkündigung (fol. 53v), die die Terz eröffnet, erscheint nur ein Engel und verkündet auf einem langen, wieder nicht lesbaren Schriftband die Geburt des Heilands. In Aufregung versetzt, blicken zwei riesenhafte Hirten gen Himmel, einer bereit, die Hände zum Gebet zu falten, während die Schafe ruhig auf der Wiese grasen. Die Sext ist der Anbetung der Könige (fol. 57) vorbehalten. Maria hat vor einem roten Goldbrokat, der als Ehrentuch hinter ihr in denselben Stall gespannt ist, wie er zur Weihnacht gezeigt wurde, mit dem nackten Knaben im Arm Platz genommen. Vor ihr kniet bereits der älteste König und reicht seine Gabe dar. Dahinter spricht der mittlere zum jüngeren, während der Stern zwischen ihren Köpfen am Himmel strahlt. Von rechts ist Maria mit Joseph, der eine Kerze und ein Körbchen mit Tauben mitführt, zur Darbringung im Tempel (fol. 60v) vor dem Altar niedergekniet. Den nackten Knaben hat sie Simeon übergeben, der als Heiliger mit Nimbus und goldenem Gewand mit bloßen Händen Jesus hält, der in amüsanter Weise über den Altartisch auf seine Mutter zuschreitet und beide Hände zu ihr ausstreckt. Zur Vesper hat der Maler eine in der Pariser Buchmalerei fast nie gezeigte Ikonographie gewählt: Thema ist Herodes, der den Kindermord befiehlt (fol. 64v). Vor dem in der Landschaft stehenden König knien rechts drei Soldaten und nehmen den Auftrag entgegen, während der weißbärtige König den Befehl erteilt und in Haltung und Gestik dabei von einem rot gekleideten Berater mit blauer Kappe nachgeahmt wird. Zur Komplet des Marienofziums wird die Marienkrönung (fol. 70v) nach traditionellem Muster dargestellt. Maria kniet vor dem thronenden Gottvater auf einer Wolkenbank. Während sie die Hände zum Gebet gefaltet hat und Gottvater sie segnet, haben ihr zwei Engel über die Thronbank hinweg, die neben dem mit blauem Tuch ausgeschlagenen Gottesthron auf sie wartet, wohl soeben die Himmelskrone aufs Haupt gesetzt. Rot glüht der Himmel mit goldenen Strahlen; doch Seraphim sind nicht gezeigt. Bei der Kreuzigung (fol. 81) zur Matutin von Heilig Kreuz blicken Maria und Johannes, hinter denen weitere Frauen an ihren Nimben erkennbar sind, zum blutüberströmten Erlöser auf, während rechts vielleicht der Zenturio mit seinem Heer im Angesicht des wahren Gottessohnes verstummt. Als übliches Erkennungsbild der Heilig-Geist-Horen wird auch hier ein Pfingstbild (fol. 85) geschaltet. Durch das Fenster links ist die Taube, mit einer flammenden roten Strahlenaureole, in den Kirchenraum geflogen. Rechts haben sich die Apostel kniend hinter Johannes, die Muttergottes und Petrus geschart, in Anbetung des Wunders. In unseren Stundenbüchern aus den Jahrzehnten um 1500 ist Bathseba im Bade das gängige Eingangsbild zu den Bußpsalmen (fol. 89): Diesmal steht die nackte Bathseba
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bis zu den Knien im Wasser; nur leicht überspielt ihre Scham ein transp arenter Schlei er. Während eine winzige Dienerin ihre Kleider am Ufer hütet, blickt König David aus einem in die Bildmitte gesetzten Turm seines Palasts auf die Badende. Wie auf einem Bett, mit aufgerichtetem Oberkörper, liegt Hiob auf dem Dung (fol. 107v) zum Beginn des Totenof fiziums. Nur mit einem Lendentuch bekleidet, hat er die Hände zum Gebet gefaltet. Die drei Freunde sind hinzugekommen und reden nun auf ihn ein. Zu den verbleibenden Suffragien werden zwei Kleinbilder geschaltet: Katharina (fol. 150v) und Barbara (fol. 151). Der verantwortliche Maler Alle Miniaturen, außer dem Kalender, sind von einer Hand, die noch Verbindungen mit der Werkstatt der Le Barbier verrät. Außer uns hat sich niemand mit diesem Maler beschäftigt. Man trifft auf ihn insbesondere bei der Illuminierung von Drucken der späten 1480er Jahre: Er hat in unserem Katalog Horae am Stundenbuch der Anne de Beaujeu mitgearbeitet (I,1) und die Nr. I,3 ausgemalt. Er taucht in Bd. IV wieder auf, weil er an Delta beteiligt war, Epsilon ganz illuminiert, in Kappa das Doppelbild zur Marien-Matutin gestaltet und das als Lambda verzeichnete Fragment der Grandes Heures Royales von Anthoine Vérard koloriert hat. Wir nennen ihn nach seinem umfangreichsten Werk Meister der Mettler-Pèlerinage und meinen damit die bedeutende Digulleville-Handschrift, die dem Sammler Arnold Mettler-Specker aus Sankt Gallen gehört hat, bei Mensing, Amsterdam 5.4.1935, als lot 27 versteigert wurde und vor kurzem bei der Versteigerung Burrus wieder aufgetaucht und in französischen Privatbesitz gewandert ist. Dieser Illuminator hat auch das Wiener Exemplar von Vérards Lancelot und die Chroniques de France in Wormsley sowie ein Exemplar des Orose, Vélins 682 der BnF, illuminiert. Schließlich war er am Mer des Hystoires von Pierre Le Rouge für Karl VIII . beteiligt (Vélins 676-677). Ferner hat er die Danse macabre für Karl VIII . gemeinsam mit dem Meister der Apokalypsenrose bearbeitet (BnF, Est., Te 8 fol. rés.: siehe Farbabb. 134-136 bei Nettekoven 2004). Ein Stundenbuch, das in Madrid mit Kaiser Karl V. verbunden wird, stammt ebenfalls von seiner Hand (Vit. 24.3: Ausst.-Kat. Les Rois Bibliophiles, Brüssel 1985, Nr. 64). Die Kalenderminiaturen stammen von einem anderen Maler – am nächsten kommt ihm die Werkstatt des Poncher-Meisters (hier Nrn. 43-45). Ein bis auf wenige Verluste gut erhaltenes Stundenbuch, bis auf den Kalender vollstän dig gestaltet vom Meister der Mettler-Pèlerinage, der zu den wichtigsten Illuminato ren der frühesten bebilderten Pariser Drucke gehörte und sich hier als ein selbständi ger Künstler aus dem Umfeld der Le Barbier zeigt, mit einem von Schrift und Initialen her ganz der Tradition verhafteten Werk von solider Qualität, das als eines der extrem seltenen Manuskripte mit Miniaturen seiner Hand unsere Aufmerksamkeit verdient. LIT ER AT UR :
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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Register Zum rascheren Auffinden von Autoren, Übersetzern und Bearbeitern (1); Buchmalern (2), Schreibern (3); Buchbindern (4); sowie Auftraggebern und Provenienzen (5). Die Nummern beziehen sich auf diejenigen des Katalogs. Da es sich bei den Handschriften durchgehend um Stundenbücher handelt, werden diese im Register nicht eigens aufgeführt. A Amory, Familie (5) 45 Aubry, Jean Thomas (5) 40
Hennequin, Jehanne (5) 36 Heron, Robert (5) 41 Huth, Henry (5) 33
B Barbier Fils, Francois Le (2) 28 (Stil), 29, 30, 31, 32, 33 (Stil) Baron, Charles (5) 37 Battersby, B. A. (5) 27 Bellecombe, Françoise de (5) 39 Boyet, Luc-Antoine (4) 45 Bragelongne, Madeleine de (5) 34 Breslauer, Bernard (5) 29 Briot, Marie de (5) 43
K Kraus, H. P. (5) 27, 29, 46
C Coene, Jean (2) 41 Coëtivy-Meister (2) 26 D Delorme, Nicaise (5) 29 Desplain, Marie (5) 27 Dreyfus, Familie (5) 33 Dreyfus, George (5) 33 Duru, Hippolyte (4) 33 F Frescobaldi, Piero di Filippo (5) 42 G Gaguin-Meister (2) 37, 38 Gotha-Meister (2) 31, 41, 42 H Harewood, Earls of (5) 30
L Lansburgh, Mark (5) 29 La Vallière, Duc de (5) 31, 36(?) Le Conte, Anne (5) 36 Le Jeûne, Perrette (5) 37 Le Noir, J.-C.-P. (5) 31 Liechtenstein, Fürsten von (5) 46 Lomenie, Richard de (5) 43 Lucas & Dingwall, Baroness (5) 40 M Marius Michel (4) 33 Mayvret, Bastienne (5) 44 Meister der Chronique Scandaleuse (2) 26, 31, 38, 39, 40, 41 Meister der Marie Charlot, siehe Meister des E. Poncher Meister der Mettler-Pèlerinage (2) 26, 46 Meister der Philippa von Geldern (2) 41, 42 Meister des Robert Gaguin, siehe Gaguin-Meister Meister der Traités théologiques (2) 32 Meister des Etienne Poncher (2) 40, 41, 43, 44, 45 Meister des Gothaer Stundenbuchs, siehe Gotha-Meister
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Register
Meister des Jacques de Besançon, siehe Barbier Meister Karls VIII . (2) 35, 36 Meister von C. P. (2) 34 Montholon, Anne de (5) 34 Montholon, J. de (5) 34 Mutry, Coquebert de (5) 37 N Nanton, Louis de (5) 39 Naslin, Marie (5) 28 Nettancourt, N. J. de (5) 35 P Perdrier, Anne de (5) 34 Perdrier, Charles de (5) 34 Perrins, Charles W. Dyson (5) 29 Petre, Edward (5) 42 Phillipps, Sir Thomas (5) 27 Phillips, Neil F. (5) 27 Polignac-Meister (2) 27, 28 Q Quaritch, Bernard (5) 29
R Riva, Conte (5) 39 Rivière (4) 29 Robert, Jeanne (5) 37 Rothschild, Alexandrine de (5) 39 Rothschild, Betty de (5) 39 Rothschild, Edmond de (5) 39 Rothschild, James Mayer de (5) 39 S Salé, André (5) 28 Sneyd, Sir Walter (5) 31 Sourget, Patrick (5) 35 St. Victor, Augustiner von (5) 29 T Thibaron-Joly (4) 39 Tolson, G. H. (5) 33 Tregaskis (5) 33 V Van Zuylen, Baron (5) 38 W White, Henry (5) 42
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Zuletzt erschienen:
I & II 25 Stundenbücher aus Paris 1380 – 1460
2 Bände mit jeweils 320 Seiten und ca. 335 Farbtafeln Zusammen € 200,-
IV 2 Stundenbücher aus Paris 100– 10
Miniatur aus dem Stundenbuch der Katharina von Aragon
Erscheint im Mai/Juni dieses Jahres
UNIVERS ROMANTIQUE Les Français peints par eux-mêmes
Alle nennenswerten Bücher Frankreichs mit Illustrationen zwischen 1825 und 1875 in einer einzigartigen Reihe von Original-Zeichnungen, Aquarellen, 111 Exemplaren auf Chinapapier, im Kolorit der Zeit etc. 600 Exemplare vor allem aus den Sammlungen Beraldi · Bonnasse Brivois · Carteret · Clapp · De Rouvre · Descamps-Scrive Duché · Esmerian · Adrian Flühmann · Gallimard Gavault · Lafond · Lebœuf de Montgermont Lainé · Legrand · Meeus · Perier · Petiet Rattier · Van der Rest · Ripault Roudinesco · Schumann Tissot-Dupont Villebœuf Vautier etc.
4 Bände mit ca. 2000 Seiten und 4000 Farbabbildungen
Erscheint im April/Mai 2018
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