Paris mon Amour Vol. III | 20 Books of Hours from Paris 1460 - 1500 | Cat. 81

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LXXXI H T 



LXXXI Gewidmet François Avril und Nicole Reynaud, denen die Kunde von den Handschriften Unabsehbares zu danken hat


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III 20 Stundenbücher aus Paris 1460 – 1500 Vom Coëtivy-Meister, François le Barbier Fils, Polignac-Meister, Meister der Traités théologiques, Meister von Karl VIII., Meister von C. P., Meister der Chronique Scandaleuse, Gaguin-Meister, Meister der Philippa von Geldern, Gotha-Meister, Meister des Etienne Poncher, Meister der Mettler-Pèlerinage, Meister des Jean Budé III., Jean Coene

Katalog lxxxi Heribert Tenschert 2018


Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com

Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.

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Autoren: Prof. Dr. Eberhard König, Dr. Christine Seidel, Dr. h. c. Heribert Tenschert Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert Fotos: Athina Nalbanti, Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-30-2


Vor­wort Ent­schei­dend ist es, ei­nen Blick für die­se Kunst zu ge­win­nen. Und wich­ti­ger noch, nicht von ih­rer ver­meint­ li­chen Ein­gän­gig­keit da­bei den Aus­gang zu neh­men, son­dern viel­mehr der Zä­sur zu den vor­auf­ge­hen­den Jahr­zehn­ten der Hand­schrif­ten-Pro­duk­ti­on, wie sie in den Bän­den I und II un­se­res Ka­ta­log­werks skiz­ ziert wor­den sind. Die­ser Bruch – ob von Ein­zel­nen sta­tu­iert oder struk­tu­rell un­um­gäng­lich ge­wor­den, gilt gleich – ist der Leit­fa­den je­des tie­fe­ren Ver­ständ­nis­ses für eine Evo­lu­ti­on, die nach 1460 dem Ant­litz der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei im Spie­gel des Stun­den­buchs das kom­men­de Jahr­hun­dert über sei­ne nur ihm ei­ ge­ne mi­mi­sche Ex­pres­si­vi­tät ein­zeich­net. Nicht, daß ich mich hier über Ge­bühr er­he­ben möch­te: aber die Mög­lich­keit, die­se Ent­wick­lung in vie­len – und den gül­tig­sten – Er­schei­nungs­for­men ohne nam­haf­te Aus­ set­zer an ei­nem Ort zu über­blicken, ist wohl noch nie in solch wei­tem, schö­nem Bo­gen aus­ge­zo­gen wor­den wie in „Pa­ris mon Am­our“ I-IV, wo­bei der letz­te Band, aber­mals mit 20 nen­nens­wer­ten Ma­nu­skrip­ten be­stückt, je­doch der Jah­re 1500 – 1550, noch in der er­sten Hälf­te 2018 die Rei­he schlie­ßen wird. Wie denn auch an­ders? Im denk­wür­di­gen Ka­ta­log „Quand la pein­ture était dans les livres“ von 1993 ha­ben die bei­den sub­lim­sten fran­zö­si­schen Ken­ner des Zeit­raums, Fran­çois Avril und Ni­cole Reynaud, Dedik­an­den die­ses Ban­des, auch Pa­ris ge­streift (mehr war es nicht) und ins­ge­samt 19 Hand­schrif­ten be­ han­delt, da­von gan­ze drei (!) Stun­den­bü­cher. Un­nütz, dar­über zu spe­ku­lie­ren, wel­chen Grund das hat­ te – es soll hier nur als Ver­gleichs­mar­ke die­nen, und es ist mir hin­läng­lich be­kannt, daß Pa­ris kei­nen Jean Fouquet her­vor­ge­bracht hat. Von den dort be­han­del­ten Künst­lern ist nur ei­ner hier nicht ver­tre­ten – der Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se (oder „Mei­ster der Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­gne“), der über­ haupt nur in fünf oder sechs Hand­schrif­ten auf­tritt und of­fen­sicht­lich sei­ner Ar­beit auf an­de­ren Ge­bie­ten er­trag­rei­cher nach­ging (Glas­ma­le­rei, Ent­wür­fe für Me­tall- und Holz­schnit­te, „Car­tons“ für Bild­tep­pi­che usw.). Da­für se­hen wir sei­nen Licht­hof – sei­nen „halo“ – hier in den Num­mern 32, 35, 36 mit hö­he­rer Klar­heit her­vor­tre­ten, als dies 1993 mög­lich war. Al­les in al­lem sind im vor­ge­leg­ten Band etwa an­dert­ halb Dut­zend Künst­ler ver­tre­ten, da­von mehr als zwei Drit­tel un­ter grif­fi­gen (Not-)Na­men, de­ren Fun­ die­rung in manch glück­li­chem Fall so­gar auf un­se­re Ar­beit (näm­lich Eber­hard Kö­nig als Rück­g rat, aber auch Ina Net­te­koven, Mara Hof­mann, Ca­ro­li­ne Zöhl u. a.) der letz­ten drei Jahr­zehn­te ge­grün­det ist, nicht zu re­den von so man­chen an­de­ren, die bei uns frü­her mit Mei­ster­wer­ken vor­stel­lig wur­den und nur vom händ­ler­ischen Zu­fall an ei­nem Er­schei­nen hier ge­hin­dert sind. Wer will und kann, rech­ne also bit­te jene Po­ten­zen den hier grup­pier­ten hin­zu, er wird auf ein hageldicht be­stück­tes Pan­ora­ma der fran­zö­si­schen Pro­duk­ti­on mit weit über 250 Klein­odien kom­men. Und wie viel ist trotz­dem noch zu ent­decken! Wenn wir ein­mal von so no­to­ri­schen Fi­gu­ren wie Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren (ehe­mals „Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon“) ab­se­hen, hier mit vier cha­rak­te­ ri­sti­schen, aber auch auf­schluß­rei­chen Lei­stun­gen prä­sent (Num­mern 29 – 32), liegt der Haupt­er­trag des Ka­ta­logs doch im Kon­tu­rie­ren bis­lang vers­chatteter oder so­gar erst­mals ans Licht tre­ten­der Cha­rak­te­re be­schlos­sen. Des­halb strei­fe ich die Pi­età des Co­ëtivy-Mei­sters in Num­mer 26 nur, sei­ne viel­leicht voll­en­det­ ste Lei­stung – und die uns zum Träu­men bringt, was aus der Hand­schrift hät­te wer­den kön­nen, wenn … Viel­mehr sol­len jene künst­le­ri­schen „Schlä­fer“ be­sun­gen wer­den, die bis­her dazu kaum An­laß bo­ten, hier aber mit Re­sul­ta­ten her­vor­tre­ten, die es in sich ha­ben. So macht das zum „Mei­ster von C. P.“ ge­tauf­te In­ di­vi­du­um in Num­mer 34 die feh­len­de künst­le­ri­sche Bin­nen­span­nung durch eine so tri­um­phie­ren­de BildGebär­freu­dig­keit wett, daß er erst mit 288 Bil­dern in ei­nem sonst nicht über nor­ma­len Um­fang hin­aus­ rei­chen­den Ma­nu­skript sein Aus­lan­gen fin­det; die Ab­bil­dungs-Ta­feln zu die­ser Num­mer pre­schen mit ent­spre­chen­der, sich selbst über­ho­len­der Evi­denz vor­an. Was für eine Ge­nug­tu­ung auch, daß der­glei­chen Schöp­fun­gen voll­stän­dig ge­blie­ben sind – ei­ner von un­zäh­li­gen Grün­den, wes­halb ich nur das Ge­samt ­ei­nes

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Vorwort Ma­nu­skripts auf­neh­me, wäh­rend so gut wie alle an­de­ren Händ­ler Ein­zel­mi­nia­tu­ren oder gar „Cut­tings“, also Bild­aus­ris­se aus ei­nem Blatt (!), zur Grund­la­ge ih­res, eben: Ge­schäfts, ma­chen. Von der Nie­der­tracht sol­cher Be­hand­lung gibt un­se­re Num­mer 38 em­pö­ren­des Zeug­nis, die, 1929 bei van Zu­ylen kom­plett mit 19 gro­ßen Mi­nia­tu­ren ver­stei­gert, da­nach – im 20. Jahr­hun­dert! – so aus­ge­wei­det wur­de, daß wir heu­te nur noch zwei Drit­tel da­von ge­ret­tet nen­nen kön­nen. Man füh­re mir ei­nen ein­zi­gen trif­ti­gen Grund für sol­che Schlacht­or­gien an, der nicht auf nied­rig­ste Pro­fit­schnei­de­rei weist. (Dies, wie im­mer, ne­ben­bei, aber nö­ti­ger als je). Be­son­ders spre­chen­de Bei­spie­le für un­ge­ahn­te Lei­stun­gen fin­den sich mehr­fach, il­lu­ster aber in den Num­ mern 35 und 39, de­ren Ma­ler bis­her (mit Aus­nah­me ei­ner un­ter weit­ge­hen­der Aus­spa­rung der Öf­fent­ lich­keit 2016 her­aus­ge­kom­me­nen Ar­beit zu zwei Ma­nu­skrip­ten in Pri­vat­hand, die bei­de von mir ka­men) eher un­ter „fer­ner lie­fen“ ran­gier­ten. Num­mer 35, ganz al­lein vom Mei­ster Karls VIII. mit na­he­zu ein­ hun­dert Bil­dern und Hun­der­ten ei­gen­hän­di­ger Bor­dü­ren über­schüt­tet, ist ein him­mel­zu­ge­wand­tes Bei­spiel, daß ein Künst­ler, wenn man ihm denn die Zü­gel schie­ßen läßt, zu Lei­stun­gen er­wach­sen kann, die dem Un­ver­lier­ba­ren der Zeit zu­ge­schla­gen wer­den müs­sen: vor al­lem der Ka­len­der und die vie­len Dut­zend schwarz­g rundi­gen Par­ti­en (wohl al­lein sei­nem In­ge­ni­um ent­sprun­gen) ma­chen aus dem in­tak­ten Ma­nu­ skript ei­nen Zau­ber­wald, in dem der Schöp­fer sei­nen Som­mer­nachts­traum hun­dert Jah­re vor Shake­speare mit Pas­si­on und dem Brio ra­di­ka­ler Er­grün­dungs­lust aus­lebt. Ähn­lich Rüh­men­des, wenn auch mit an­de­rer Grun­die­rung, muß zu Num­mer 39 ver­mel­det wer­den, noch rei­cher als Num­mer 35. Dar­in er­hebt sich der uns aus vie­len ver­streu­ten, nie­mals wirk­lich bis auf den Grund über­zeu­gen­den Hand­schrif­ten be­kann­te „Mei­ster der Chronique Scandaleuse“ zu einem Everest der Lei­stung, die durch­aus recht­fer­tig­te, ihn fort­ an „Mei­ster der Fran­çoise de Bel­le­combe“ zu nen­nen. Was er hier, in ei­nem Auf­trag, des­sen un­ge­heu­ren Preis wir zu ken­nen mei­nen (ein­tau­send Livres im Jahr 1487!?), voll­bringt, ist schlicht­weg ohne Bei­spiel und wir ver­ste­hen James Mayer de Roth­schild, sei­nen Sohn Edmond und des­sen Toch­ter Alex­an­drine sehr gut, daß sie die­se Zimelie über 100 Jah­re ge­hü­tet ha­ben. Die nicht an­ders als hypno­tisch zu nen­nen­de Wir­kung der Far­ben: das mit­tel­mee­ri­sche Blau oder das tief-tie­fe, ei­nem Latour oder La Tache ent­lie­he­ne Pur­pur, die phy­sio­gno­misch bis in die fein­sten Run­zeln durch­ge­ar­bei­te­ten Evan­ge­li­sten, vor al­lem die blü­ hen­de, bräutl­ich ent­glom­mene „Stif­te­rin“ Fran­çoise de Bel­le­combe, die un­ser Front­ispiz ziert – al­les macht aus die­sem glück­er­füll­ten Auf­trag ei­nen das Über­maß fei­ern­den Far­be­rweckungs-Got­tes­dienst, der den hier zu all sei­nen rei­chen Be­ga­bun­gen er­wach­ten Ma­ler in die er­ste Rei­he der Künst­ler je­ner Zeit rückt. Ein­gangs wur­de ge­sagt, daß man für die­se Kunst – die­se Zeit – den Blick schär­fen muß. Dem ist so, und an­hand un­se­res Bu­ches scheint es jetzt leich­ter mög­lich, auch wenn man sich nicht al­len Spiel­ar­ten des Vor­ ge­stell­ten mit glei­cher In­ten­si­tät wid­men mag, zu­mal so­gar hier der eine oder an­de­re rare Lücken­bü­ßer auf­tritt, der recht be­se­hen nur nach Maß­ga­be der Voll­stän­dig­keit Gast­recht be­kam. Aber ist es nicht mit die­ser Zeit ähn­lich wie, sa­gen wir, dem 19. Jahr­hun­dert? Der aus den Schnee­hö­hen der Re­nais­sance oder den Hain­en und Auen des An­cien Régime Ge­kom­me­ne er­kennt dort auf den er­sten Blick nur Ge­wollt­ heit, Akri­bie am fal­schen Ort, Evo­kat­ion des Im­mer­glei­chen und eine Grati­streue zum Su­jet, die ihn rat­ los, mög­li­cher­wei­se im Über­druß zu­rück­lässt. Wenn man dann sich und sei­ne Vorurteile zu­rück­nimmt, tre­ten sie all­mäh­lich aus dem Ne­bel: Delacroix und Ca­spar Da­vid F., Ma­net und Tur­ner, der so ge­lieb­te Co­urbet und Dan­te Ga­bri­el, und alle, alle an­de­ren, in ih­rem ei­ge­nen Recht, ih­rer ei­ge­nen Nacht, in ih­rem die Ewig­keit strei­fen­den Glanz. Viel­leicht er­scheint man­chem der Ver­gleich über­zo­gen oder un­ge­recht – aber wo hätte Un­ge­rech­tig­keit ei­nen an­ge­stamm­te­ren Platz als in der Kunst? Bi­ber­müh­le, 16. Fe­bru­ar 2018 H. T.

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Inhaltsverzeichnis Band III Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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26 Ein Pariser Stundenbuch, das die beiden Hälften dieses Katalogs verbindet: vom Coëtivy-Meister begonnen und erst kurz vor 1500 vom Meister der Mettler-Pèlerinage unter Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse vollendet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 27 Ein Stundenbuch des Polignac-Meisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 28 Das Pariser Stundenbuch des André Salé und seiner Frau: zwischen François Le Barbier dem Älteren und dem Polignac-Meister . . . . . . . . . . . . . . 75 29 Das Lektionar des Nicaise Delorme von 1488-1494: ein charakteristisches Werk von François Le Barbier dem Jüngeren für die AugustinerChorherren von Sankt Victor in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 30 Ein Stundenbuch vom Meister des Jacques de Besançon, also François Le Barbier dem Jüngeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 31 Ein Stundenbuch von François Le Barbier dem Jüngeren mit Miniaturen im Stil des Gotha-Stundenbuchs und einem Kalender im Stil der Chronique Scandaleuse aus den Sammlungen Duc de la Vallière, Le Noir und W. Sneyd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 32 Ein ungemein anspruchsvolles Stundenbuch vom Meister der Traités théologiques und François Le Barbier dem Jüngeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 33 Ein komplettes Stundenbuch aus dem Umkreis von François Le Barbier dem Jüngeren aus den Sammlungen Huth und Dreyfus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 34 Das C. P.-Stundenbuch aus dem Besitz der Braguelongne-Montholon: eines der am reichsten illustrierten Stundenbücher der Zeit mit weit über 200 Miniaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 35 Ein herrliches Stundenbuch mit vielen schwarzgrundigen Bordüren: eines der schönsten Werke vom Meister Karls VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 36 Das Stundenbuch der Jehanne Hennequin vom Meister Karls VIII. . . . . . . . . 251 37 Das Stundenbuch der Jeanne Robert vom Gaguin-Meister . . . . . . . . . . . . . . . 265 38 Ein überströmend reiches Stundenbuch vom Gaguin-Meister mit Miniaturen vom Meister der Chronique Scandaleuse . . . . . . . . . . . . . . . . 281

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39 Das Stundenbuch der Françoise de Bellecombe mit 103 Bildern vom Meister der Chronique Scandaleuse: Manuskript 40 von Edmond de Rothschild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 40 Ein nobles Pariser Stundenbuch ungewöhnlichen Formats mit einer Miniatur vom Meister der Chronique Scandaleuse und farbfroher Ausmalung durch den Meister des Étienne Poncher in vorzüglichem Fanfare-Einband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 41 Ein Musterbuch der Zusammenarbeit von Pariser Künstlerateliers: sechs verschiedene Maler unter der Leitung des Meisters der Chronique Scandaleuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 42 Das Stundenbuch des Piero di Filippo Frescobaldi vom Meister der Philippa von Geldern mit einer Miniatur vom Meister des Gothaer Stundenbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 43 Das Stundenbuch der Marie de Briot vom Meister des Étienne Poncher, später im Besitz des Richard Lomenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 44 Das Stundenbuch der Bastienne Mayvret vom Meister des Étienne Poncher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 45 Das reich illuminierte Amory-Stundenbuch vom Meister des Étienne Poncher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 46 Ein Stundenbuch vom Meister der Mettler-Pèlerinage, früher im Besitz des Hauses Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

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Pa­ris eine Haupt­stadt ohne ei­nen Kö­nig und ohne ei­nen Kö­nigs­hof Um 1400 tru­gen die Nach­kom­men des un­glück­li­chen Kö­nigs Jo­hanns des Gu­ten (1319-1364) zwar Her­zogs­ti­tel, die uns gro­ße Re­gio­nen der fran­zö­si­schen Kul­tur ins Ge­dächt­nis ru­fen, wenn wir an die Her­zö­ge von Berry, Bur­gund und An­jou oder auch an Lud­wig von Orlé­ans, den Bru­der des gei­stig ge­stör­ten Kö­nigs Karls VI ., den­ken. Doch so groß auch die Bau­vor­ha­ben und die künst­le­ri­schen Auf­trä­ge die­ser Her­ren in ih­ren Län­dern wa­ren, so in­ten­siv blieb doch ihr Le­ben auf die Haupt­stadt Pa­ris kon­zen­triert.1 Was Claus Sluter für Phil­ipp den Küh­nen in Dijon und Champ­mol schuf, hat der Bur­ gun­der­her­zog kaum in Au­gen­schein ge­nom­men; und auch der Her­zog Berry hat weit mehr Zeit in Pa­ris ver­bracht als in Bour­ges und Méhun-sur-Yèvre.2 Zu­min­dest ihre Bü­ cher ha­ben die­se Her­ren fast aus­schließ­lich aus Pa­ri­ser Werk­stät­ten be­zo­gen, auch wenn Berry ein­zel­ne Künst­ler höch­sten Ran­ges wie Ja­cquem­art de Hes­din (Nr. 3)3 und spä­ter die Brü­der Lim­burg (Nr. 4)4 in Bour­ges an­sie­del­te, um sie vom haupt­städ­ti­schen Markt fern zu hal­ten. Dem Sieg der Eng­län­der bei Azin­court im Jah­re 1415 war 1420 die Be­set­zung von Pa­ ris durch Eng­län­der und Bur­gun­der un­ter Hein­rich V. ge­folgt, der von Karl VI . so­gar als Erbe der Kro­ne an­er­kannt wur­de. Dem hat­te sich der Da­up­hin Karl (1403-1461) wi­ der­setzt und nach dem Tod sei­ner Brü­der Lud­wig von Guyenne 1415 und Jo­hann von Tou­raine 1417 An­spruch auf die Thron­fol­ge er­ho­ben. Pa­ris hat­te er ver­las­sen müs­sen, um nach dem Tod sei­nes Va­ters, Karls VI ., ab 1422 zu­nächst als Kö­nig von Bour­ges ver­lacht, dann aber doch mit der Un­ter­stüt­zung von Je­an­ne d’Arc am 17. Juli 1429 zum K ­ ö­nig Karl VII . ge­krönt und schließ­lich als der Sieg­rei­che be­rühmt zu wer­den. Für mehr als hun­dert Jah­re mag die Haupt­stadt ge­ra­de noch fei­er­li­che Ein­zü­ge der fran­zö­si­schen Kö­ni­ge wie je­nen Karls VII . vom 12. No­vem­ber 1437 er­lebt ha­ben; Pa­ris war aber nicht mehr der Sitz kö­nig­li­cher Macht. Karl VII . re­si­dier­te am lieb­sten in Méhun-sur-Yèvre bei Bour­ges oder ab 1444 in Plessis-lez-Tours, weit süd­lich von Pa­ris; Lud­wig XI . zog lan­ge Zeit Am­boise vor, wo auch Karl VIII . und Lud­wig XII . ne­ben manch an­de­rem Sitz vor­nehm­lich in der Loire­ge­gend oder zeit­wei­lig so­gar in Lyon Hof hiel­ten. Bour­ges, An­gers und Tours, Le Mans und Troyes blüh­ten auf; in Nan­tes wur­de ein ehr­ gei­zi­ger Plan für den Neu­bau der Ka­the­dra­le ins Werk ge­setzt. Lo­ka­le Werk­stät­ten prä­ gen sehr viel stär­ker als zu Be­ginn des Jahr­hun­derts die fran­zö­si­sche Kunst­ge­schich­te. An­ge­sichts die­ser Ent­wick­lung ver­lor die Haupt­stadt in der Rea­li­tät an Be­deu­tung, noch mehr aber in der Wahr­neh­mung der Hi­sto­ri­ker. Für un­ser Feld, die Buch­ma­le­rei, ha­ben Fran­çois Avril und Ni­cole Reynaud in ih­rer gro­ßen Aus­stel­lung von 1993 die künst­le­ ri­sche To­po­gra­phie von 1440 bis 1520 um­ris­sen. Da­bei sind sie in zwei gro­ßen Zeit­ab­ 1

Ei­nen gu­ten Ein­blick gibt der Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004.

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Sie­he das Iti­ne­rar bei Fran­çoise Lehoux, Jean de France, duc de Berry. Sa vie, son ac­tion pol­itique (1340-1416), Pa­ris 1968, Bd. III , S. 423-513.

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Sie­he zu­letzt un­ser Buch von 2015.

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Sie­he zu­letzt un­ser Buch von 2016.

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Einleitung

schnit­ten selbst­ver­ständ­lich je­weils von der Haupt­stadt aus­ge­gan­gen, ha­ben je­doch den Re­gio­nen weit mehr Platz ein­ge­räumt als der Stadt Pa­ris, nach­dem sich Mill­ard Meiss mit den drei Bän­den über „French Painting in the Time of Jean de Berry“ noch ganz auf Pa­ris kon­zen­trie­ren konn­te.5 Wie ent­schie­den und wie ir­rig zu­gleich der mo­der­ne Blick Pa­ris und die Re­gio­nen schei­ det, zeigt das be­fremd­lich­ste Werk fran­zö­si­scher Ma­le­rei aus der Mit­te des Jahr­hun­derts: Jean Fouquets sen­sa­tio­nel­le Ma­don­na für den kö­nig­li­chen Schatz­mei­ster Étienne Che­va­ lier, heu­te in Ant­wer­pen, bis 1775 in Melun, ver­kör­pert eben­so die Kühn­heit ei­nes Ma­ lers, der sich wohl 1448 nach ei­ner Ita­li­en­rei­se in Tours nie­der­ge­las­sen hat, wie die fort­ schritt­li­che Ge­sin­nung ei­nes der treue­sten Mit­glie­der des Kron­rats, zu des­sen Amt und Le­bens­füh­rung das Rei­sen ge­hör­te.6 Daß der Schatz­mei­ster, der wohl in Melun ge­bo­ren war, aber ei­ner schon län­ger in Pa­ris an­säs­si­gen Fa­mi­lie ent­stamm­te, sei­nen Haupt­wohn­ sitz in ei­nem Pa­ri­ser Haus hat­te, in dem er so­gar Kö­nig Lud­wig XI . zu Gast hat­te, ist der Li­te­ra­tur zwar nicht wirk­lich fremd. Daß aber im Ge­mäl­de selbst auf die­ses Haus an­ge­ spielt wird, hat man über­se­hen oder nicht aus­rei­chend be­wer­tet:7 Zum er­sten Mal in der eu­ro­päi­schen Ma­le­rei über­haupt taucht in der Ant­wer­pen­er Ma­don­na aus Melun ein Mo­ tiv auf, das spä­ter ge­ra­de­zu ge­dan­ken­los vor al­lem bei der Dar­stel­lung von Au­gen wie­der­ holt wer­den soll­te: in zwei Knäu­fen von Ma­ri­as Thron wer­den Fen­ster mit den Fen­ster­ kreu­zen ei­nes pro­fa­nen Ge­bäu­des re­flek­tiert. Die­sen Um­stand ver­steht nur, wer weiß, daß Étienne Che­va­liers seit lan­gem ver­schwun­de­nes Haus in der Rue de la Verrerie die­ ser Pa­ri­ser Stra­ße ih­ren noch heu­te gül­ti­gen Na­men ge­ge­ben ha­ben soll. Wie Guille­bert de Mets in sei­ner Be­schrei­bung von Pa­ris aus dem Jahr 1434 be­rich­tet, soll es mehr Fen­ ster als das Jahr Tage ge­habt ha­ben. 8 Es hat­te be­reits Miles Baillet (1348/50-1424), dem Schatz­mei­ster von Karl VI ., ge­hört; und schon die­se Kon­ti­nui­tät von Amt und Wohn­ sitz zeigt, wie vor­sich­tig wir mit der Vor­stel­lung um­ge­hen müs­sen, mit dem Hof sei­en – nach der schwie­ri­gen Zeit eng­li­scher Be­set­zung von Pa­ris – die Per­sön­lich­kei­ten, die das Kö­nig­reich steu­er­ten, dau­er­haft der Haupt­stadt ent­frem­det wor­den. Daß ein Ja­cques Cœur sei­nen Stadt­pa­last in Bour­ges wäh­rend der 1440er Jah­re er­rich­ tet und sei­nem Sohn dort zum Amt des Erz­bi­schofs ver­hol­fen hat, ver­steht sich selbst­ ver­ständ­lich aus dem zeit­wei­li­gen Ge­wicht, das Bour­ges in den er­sten Jahr­zehn­ten der Re­gie­rung von Karl VII . zu­kam. Der kul­tu­rel­le Ader­laß, den Pa­ris seit Azin­court hin­ 5

Meiss 1967-1974; sie­he auch die her­be Re­zen­si­on von L.M.J. Delaissé im Art Bulle­tin 1969, der die Kon­zen­tra­ti­on auf Pa­ris be­k lagt.

6

Phil­ippe Co­nt­ami­ne, Charles VII. Une vie. Une pol­itique, Pa­ris 2017, S. 403, zu­fol­ge wird Étienne Che­va­lier nur von acht Per­ sön­lich­kei­ten im Kron­rat über­trof­fen, dar­un­ter Jean de Du­nois, Ba­stard von Orlé­ans, der al­ler­dings auch sehr viel län­ger mit dem Da­up­hin und Kö­nig zu­sam­men­ge­ar­bei­tet hat­te.

7

Das meint Châtelet 2009, S. 160-161.

8

Guille­bert de Metz (sic!), Descript­ion de la Ville de Pa­ris au XVe siècle, hrsg. von An­toine Le Roux de Lincy, Pa­ris 1855) geht am Ende von Kap. xxv auf die­sen Stadt­pa­last ein, nach­dem er sum­ma­risch von Häu­sern für Bi­schö­fe, Prä­la­ten und vie­le hohe Be­am­te so­wie Rit­ter ge­spro­chen hat­te: „Entre lesquelx es­toit l’os­tel de sire Mil­le Baillet en la Voirrie, qui es­toit tre­sor­ier du roy; ou quel hostel es­t oit une chap­pel­le où l’en célébroit chascun jour l’of ­fi ce divin … si y avoit des voirières autant qu’il a des jours en l’an.“ (S. 69) und im Kom­men­tar von Le Roux de Lincy, S. XLI-XLII . Schaefer 2000, S. 294, be­zieht sich auf die Er­ wäh­nung die­ser Quel­le bei: Cham­pi­on 1931, S. 146.

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Einleitung

neh­men muß­te, bleibt un­be­strit­ten; aber die Stadt war nicht nur als Sitz der Uni­ver­si­tät un­be­strit­ten die wich­tig­ste Me­tro­po­le des Hand­schrif­ten­we­sens; sie bot, wie wir im zwei­ ten Band die­ses Ka­ta­logs zei­gen konn­ten, durch die An­we­sen­heit der Eng­län­der Buch­ künst­lern nicht nur Brot, son­dern auch gro­ße Her­aus­for­de­run­gen; sonst hät­te man nicht so­gar Not­na­men wie Bed­ford-Mei­ster (Nrn. 13-15) nach den Be­satz­ern ge­bil­det. Kei­ne an­de­re Stadt als Pa­ris hät­te im Zeit­raum von 1200 bis 1500 mehr Stoff für ein der­ ar­tig ein­drucks­vol­les Buch wie die bei­den Bän­de ge­ge­ben, die Mary und Ri­chard Rouse im Jah­re 2000 ver­öf­fent­lich­ten. Man muß be­dau­ern, daß die bei­den emi­nen­ten Köp­fe aus Los An­ge­les nicht noch eine Ge­ne­ra­ti­on wei­ter ge­hen moch­ten, nach­dem sie zu Wirt­ schafts­be­zie­hun­gen zwi­schen An­dry le Mus­nier in Pa­ris und Pe­ter Schöf­fer in Mainz, also zur Druck­kunst im Pa­ri­ser Buch­we­sen, vor­ge­sto­ßen sind.9 Tat­säch­lich war Pa­ris auf son­der­ba­re Wei­se schon seit den An­fän­gen von Gu­ten­bergs „ave­ntur und kunst“ mit der neu­en Tech­nik ver­bun­den: Pe­ter Schöf­fer aus Gerns­heim am Rhein (um 1425-1503) kam di­rekt aus der fran­zö­si­schen Haupt­stadt, um seit 1452 am Druck der 42zei­li­gen Bi­bel in Mainz mit­zu­ar­bei­ten10 und nach Gu­ten­bergs Aus­schei­ den 1458 mit Jo­han­nes Fust das er­ste gro­ße Druck­haus zu füh­ren.11 Noch 1449 hat er als Schrei­ber „in glo­ri­os­issima uni­versit­ate Pa­ris­iensi“ ein im preu­ßi­schen Feu­er 1870 mit der Straß­bur­ger Bi­blio­thek un­ter­ge­gan­ge­nes Ari­sto­te­les-Ma­nu­skript voll­en­det.12 Sicht­lich hat­te also durch ihn Pa­ri­ser Schreib­kul­tur ih­ren An­teil an dem, was in Mainz ge­lei­stet wur­de. Von frü­her Auf­merk­sam­keit zeugt, daß der fran­zö­si­sche Kö­nig Karl VII . schon im Ok­to­ber 1458 Nico­las Jens­on (1420-1480) nach Mainz schick­te, um die neue Kunst zu ver­ste­hen.13 Ob Jens­on pflicht­schul­dig nach Frank­reich zu­rück­ge­kehrt ist, wis­sen wir nicht; eher wird er mit sei­nen bei Fust und Schöf­fer er­wor­be­nen Kennt­nis­sen nach Ve­ ne­dig wei­ter­ge­zo­gen sein, wo er spä­te­stens 1468 als Drucker bei Jo­han­nes und Wen­de­ lin von Spey­er ar­bei­te­te. Der Buch­druck soll­te in Pa­ris ab 1470 zu­nächst in eng­ster Be­zie­hung zur Sor­bonne Fuß fas­sen: Der aus Deutsch­land stam­men­de Jean de La Pierre 1467 und 1470 Pri­or der Uni­ ver­si­tät, spiel­te of­fen­bar eine ent­schei­den­de Rol­le. An ihn ist der Brief des eben­falls an der Sor­bonne tä­ti­gen Theo­lo­gen Guillaume Fi­chet, wohl aus dem Jahr 1470, ge­rich­tet, der dem Pa­ri­ser Erst­druck, den Gas­p arini Epi­sto­lae, vor­an­ge­stellt ist.14 Die­se be­schei­de­ nen An­fän­ge in der Re­gie­rungs­zeit Lud­wigs XI . (1461-1483) ha­ben noch kein be­son­de­ res In­ter­es­se des Kö­nigs ge­weckt; erst un­ter Karl VIII . (1470-1498), des­sen Re­gie­rungs­ ge­schäf­te bis 1491 von sei­ner Schwe­ster Anne de Beau­jeu ge­führt wer­den, ent­wickel­te 9

Rouse und Rouse 2000, S. 320-327, di­rekt vor dem „Epi­log­ue“.

10 ­Da­von ist Cor­ne­lia Schnei­der über­zeugt: Pe­ter Schöf­fer: Bü­cher für Eu­ro­pa, Mainz 2003, S. 9. 11

Sie­he un­se­ren Ka­ta­log Biblia Pulcra von 2005.

12

Sie­he die Abb. der Schluß­schrift in Hell­mut Lehmann-Haupt, Pe­ter Schoeffer of Gerns­heim and Mainz, Roche­ster 1950, Abb. 1 auf S. 3.

13

Or­don­nanz vom 04. 10. 1458: „de par­venir a l’in­telligence du­dit art“: Al­f red Swierk, Jo­han­nes Gu­ten­berg als Er­fin­der in Zeug­ nis­sen sei­ner Zeit, in: Hans Wid­mann, Der ge­gen­wär­ti­ge Stand der Gu­ten­berg-.For­schung, Stutt­gart 1972, S. 80.

14

Clau­din, Bd. I, 1900, S. 20-23.

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Einleitung

sich das Sy­stem der kö­nig­li­chen Pri­vi­le­gi­en. Zwar hat sich Anne, wie wir vor al­lem durch das für sie il­lu­mi­nier­te Ex­em­plar von Vér­ards Gran­des Heu­res Roya­les mit Al­ma­nach ab 1488 (Horae B. M. V. I, Nr. 1) wis­sen, der neu­en Tech­nik zu­ge­wen­det. Doch erst Karl VIII . selbst hat wohl in vol­lem Um­fang er­kannt, wel­ches Po­ten­ti­al der Buch­druck mit sich brach­te. Un­ab­hän­gig da­von, wo die­ser Kö­nig und sein im­mer­hin in Pa­ris ge­stor­be­ner Nach­fol­ ger Lud­wig XII . (1498-1515) re­si­dier­ten, rück­te die Haupt­stadt auch durch die plötz­ lich la­wi­nen­haft ge­stei­ger­te Pro­duk­ti­on der Druck­häu­ser ins In­ter­es­se von Kö­nig und Hof. Karl VIII . un­ter­hielt of­fen­bar be­ste Be­zie­hun­gen zum Drucker An­thoine Vér­ard; nach dem Kö­nig nen­nen wir seit ge­rau­mer Zeit ei­nen Buch­ma­ler; und es ist nicht aus­ ge­schlos­sen, daß hin­ter des­sen An­ony­mat nie­mand an­ders als der zu­nächst mit Il­lu­mi­ na­tio­nen be­schäf­tig­te Drucker selbst steht (Nrn. 35-36). Zu un­se­rer Kennt­nis von Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei in der In­ku­na­bel­zeit Wie in vie­len wich­ti­gen Be­rei­chen der Buch­ma­le­rei lie­fer­te Graf Paul Dur­rieu eine gute Grund­la­ge für die Be­schäf­ti­gung mit Ma­lern in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt: 1892 ließ er ein Büch­lein über Ja­cques de Be­san­çon drucken; in die­ser recht frü­hen Ar­beit er­faß­te der gro­ße Ge­lehr­te viel zu groß­zü­gig, wie wir heu­te wis­sen, Hand­schrif­ten und Pa­ri­ser In­ku­na­beln, die für ihn von ei­ner Hand il­lu­mi­niert wa­ren. Den Künst­ler nann­te er Ja­ cques de Be­san­çon; denn ein enlumi­neur die­ses Na­mens hat­te im Jah­re 1485 der Jo­han­ nes­bru­der­schaft an St.-An­dré-des-Art im Pa­ri­ser Quar­tier latin ein Lek­ti­on­ar mit Tex­ ten zu Jo­han­nes dem Evan­ge­li­sten ge­stif­tet.15 Doch schon 1898 trat ein an­de­rer Name in den Vor­der­grund: Wie Lou­is Thuasne er­ kannt hat­te, er­wähnt Ro­bert Gag­uin, Ge­ne­ral­mi­ni­ster der Trinit­ari­er und zu­gleich ein be­deu­ten­der Au­tor, der uns hier noch be­schäf­ti­gen wird, in ei­nem Brief von 1473 an Charles de Gau­court, Gou­ver­neur von Ami­ens und Kam­mer­herr Lud­wigs XI ., ei­nen Buch­ma­ler. Er nennt ihn „eg­regius pic­t or Franc­iscus“, setzt ihn dem Apel­les gleich und preist ihn we­gen ei­ner Cité de Dieu, die in der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek er­hal­ten ist.16 Labor­de nahm den Hin­weis auf.17 In dem Na­men, der sich in­ter­na­tio­nal in der fran­zö­ si­schen Fas­sung als „Maître Fran­çois“ durch­set­zen soll­te, woll­te man ei­nen Sohn Jean Fouquets in Tours eben­so wie ei­nen Sohn von Jean Co­lombe in Bour­ges er­ken­nen; ein an­de­rer Ma­ler in Tours na­mens Sa­turn­in Fran­çois und schließ­lich ein „Maître Fran­çois l’enlumi­neur“ in Dien­sten Karls IV . Gra­fen von Maine ka­men ins Spiel – al­les Künst­ler fern der Haupt­stadt. Auf Pa­ris be­stand nur Dur­rieu, der be­reit­wil­lig auf den ge­si­cher­ten Na­men ein­ge­gan­gen war,18 um 1915 vor­zu­schla­gen, man sol­le an Fran­çois Le Bar­bier den­ 15

Pa­ris, Bibl. Maza­rine, Ms. 461; die zwei dar­in zu find­en­den Mi­nia­tu­ren bil­det Ster­ling 1990 auf S. 216 und 217 ab.

16

Pa­ris, BnF, fr. 18-19: Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 16.

17

Labor­de 1909, Nr. 54: Bd. II , S. 397-416, mit Taf. XLVII-LXIX;

18

Paul Dur­rieu, L’enlumi­neur et le mi­nia­tur­iste, in: Académie des in­script­ions et bel­les-lettres. Co­mptes ren­dus des sé­an­ces 1910, S. 330-346; und auch in spä­te­ren Pu­bli­ka­tio­nen.

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Einleitung

ken.19 Doch ob­wohl we­nig­stens Ri­chard und Mary Rouse im Jah­re 2000 dar­auf zu­rück­ ka­men,20 soll­te es nach Dur­rieus Vor­schlag fast ge­nau hun­dert Jah­re dau­ern, bis Matt­hieu Deldicque 2013 mit ei­ner er­neu­er­ten, viel de­tail­rei­cher prä­zi­sier­ten Iden­ti­fi­zie­rung die Di­stanz zwi­schen ar­chi­va­li­scher For­schung und kunst­hi­sto­ri­scher Mei­nung über­brücken konn­te: Aus dem eg­regius pic­tor Franc­iscus wur­de Fran­çois Le Bar­bier père (oder bei uns der Äl­te­re) und aus dem in­zwi­schen zu ei­nem Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon mu­tier­ten Ma­ler, den Dur­rieu 1892 vor­ge­stellt hat­te, wur­de Fran­çois Le Bar­bier fils (oder bei uns der Jün­ge­re), die wir in den Nrn. 24 im vo­ri­gen Band und nun in Nrn. 30-32 wür­di­gen. Der Fall des „eg­regius pic­t or Franc­iscus“ ist cha­rak­te­ri­stisch für die Ent­schie­den­heit, mit der Pa­ris um 1500 trotz der un­er­hör­ten Buch­pro­duk­ti­on dort, die in zahl­lo­sen In­ku­ na­beln do­ku­men­tiert ist und von Dur­rieu 1892 bei­spiel­haft in sei­ne Über­le­gun­gen ein­ ge­bun­den war, für Hand­schrif­ten­kundler als Her­stel­lungs­ort von Bil­der­hand­schrif­ten aus­ge­schlos­sen wur­de. Vor die­sem Hin­ter­grund ver­wun­dert nicht, in wel­chem Maße der Aus­stel­lungs­ka­ta­log, mit dem Jean Porc­her 1955 die Er­for­schung der fran­zö­si­schen Buch­ma­le­rei neu be­lebt hat, die Tren­nung von Hof und Haupt­stadt in den Ge­ne­ra­tio­ nen um 1500 auf die Buch­ma­le­rei über­trug und Pa­ris ganz aus den Au­gen ver­lor. Hand­ schrif­ten aus den un­ter­schied­lich­sten Re­gio­nen prä­sen­tier­te Porc­her, der mit die­ser Aus­ stel­lung zu­gleich sei­ne ei­ge­ne Tour de France, also sei­ne lang­jäh­ri­gen For­schungs­rei­sen und Pho­to­kam­pa­gnen durch ganz Frank­reich, krön­te. Zwar war er über­zeugt, daß der Tour­oner Jean Fouquet der Haupt­stadt viel ver­dank­te; doch daß Pa­ris in den Ge­ne­ra­ tio­nen um 1500 et­was bei­ge­steu­ert hät­te, kam ihm gar nicht in den Sinn. Den von ihm nicht sehr ge­schätz­ten Maître Fran­çois spricht er, zwar mit Fra­ge­zei­chen, als ei­nen Sohn Fouquets an, ohne ir­gend­wie von der Loire zu­rück an die Sei­ne zu füh­ren.21 Pa­ris stand im Zen­trum der For­schun­gen von Eleanor P. Spencer (1895-1992). Par­al­lel dazu ver­such­te sich Pe­ter Rolfe Monks, der von der Brüs­se­ler Hor­lo­ge de Sapience aus­ ging, aber nicht über den Rolin-Mei­ster hin­aus­ge­lang­te.22 Doch war Spencer al­les an­de­re als „in­toxic­ated by the idea of pu­bli­shing“, um eine für sie ty­pi­sche For­mu­lie­rung zu ver­ wen­den.23 Im­mer­hin hat sie mit ih­ren kur­zen Bei­trä­gen die Grund­la­ge da­für ge­schaf­fen, die Stil­grup­pe, die Dur­rieu un­ter dem Na­men Ja­cques de Be­san­çon als pa­ri­se­risch ein­ ge­führt hat­te, wie­der in der Haupt­stadt an­zu­sie­deln. Sie half ent­schei­dend, die Ent­wick­ lung vom Mei­ster des Jean Rolin (Nrn. 22-23) über Maître Fran­çois (Nr. 24) zu Ja­cques de Be­san­çon (Nrn. 30-32) zu ver­ste­hen, war aber nicht sehr er­picht dar­auf, Na­men zum Werk zu fin­den. 19

Paul Dur­rieu, Oder­isi da Gubbio et ce qu’on appelait à Pa­ris au témoig­na­ge de Dan­te „l’art d’enlu­mi­ner“, in: Mémo­ires de la So­ciété de l’histo­ire de Pa­ris et de l’Île de France, XLII , 1915, S. 155-170.

20 Rouse und Rouse 2000, II , S. 19. 21

Die Iden­ti­fi­zie­rung als Sohn Fouquets ver­lei­tet Porc­her in sei­nem Buch von 1959, S. 75 so­gar zu ei­nem Ta­del, wenn er schreibt: „mais Fran­çois Fouquet (s’il a droit à ce nom glo­rie­ux) n’a rien hérité de l’art de Jean: dur, as­sez vulga­ire, sans variété, sa tech­ nique ex­cell­en­te, toujo­urs égale à elle même, lui a valu pourtant un grand succès.“

22

Bis­her blieb sei­ne 1996 voll­en­de­te Mo­no­g ra­phie Pi­ety and Chivalry. The Wo­rld of the Rolin Ma­ster un­ge­druckt.

23

Sie­he un­se­re Bi­blio­g ra­phie so­wie New York Times 19.11.1992, und den Nach­ruf von Cla­ire Rich­ter Sher­man, Eleanor Patt­ erson Spencer as Educa­tor and Scho­lar, in: Jour­nal of the Wal­ters Art Gal­lery 54, 1996, S. 255-266.

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Einleitung

1961 war mit der Stif­tung Guy du Boisrouv­ray ein höchst in­ter­es­san­tes win­zi­ges Stun­ den­buch in die Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek ge­langt, das als die Très Pe­tit­es Heu­res d’Anne de Bre­ta­gne be­kannt wer­den soll­te. Doch blieb de­ren in­ni­ger Be­zug zum größ­ten Werk der Flä­chen­kunst aus der Zeit Karls VIII ., der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Pa­ri­ser Sainte Cha­ pel­le noch über ein Jahr­zehnt un­be­ach­tet.24 1973 ist Ni­cole Reynaud auf eine viel­ver­spre­ chen­de Spur ge­sto­ßen, als sie von den Ent­wür­fen des Lou­vre für Tro­ja-Tep­pi­che aus­ging und eine über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen ver­teil­te Stil­grup­pe er­kann­te, zu de­ren re­la­tiv spä­ ten Wer­ken auch Anne de Bre­ta­gnes Très Pe­tit­es Heu­res aus der Samm­lung Boisrouv­ray ge­hö­ren. Im sel­ben Heft der Re­vue de l’art griff Ge­ne­viève Sou­chal in ei­nem um­fang­rei­che­ren Bei­ trag Reynauds Ge­dan­ken auf und be­zog die Ein­horn­tep­pi­che in New York und Pa­ris mit ein.25 Zwar dach­te Reynaud bei ih­ren wohl in den 1460er Jah­ren ent­wor­fe­nen Tro­ja-Tep­ pi­chen an die aus dem Nor­den in die Loire­ge­gend und nach Bour­ges ge­lang­ten Brü­der Hen­ri und Con­rad de Vulcop; sie konn­te aber Ent­schei­den­des für Pa­ris bei­tra­gen, in­dem sie um die win­zi­ge Boisrouv­ray-Hand­schrift ein Œuvre grup­pier­te. Dem nun als „Mei­ ster der Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­gne“ ge­führ­ten Künst­ler schrieb sie eine brei­te Pa­let­te von Ar­bei­ten in un­ter­schied­lich­sten For­ma­ten und Tech­ni­ken zu. Was die No­men­kla­tur be­trifft, brach aber zu­gleich wie­der ein Kon­flikt auf, denn Souc­hals „Mei­ ster der Ein­horn­jagd“ ist wohl der­sel­be wie Reynauds „Mei­ster der Anne de Bre­ta­gne“. An Sou­chal eher als an Reynaud knüpf­te Charles Ster­ling 1990 mit ei­nem mo­nu­men­ta­ len Bei­trag zum Ein­horn-Mei­ster im zwei­ten Band sei­ner Pein­ture médiév­ale à Pa­ris an. Ster­ling schrieb zu ei­ner Zeit, in der sich Spencers Über­zeu­gung durch­ge­setzt hat­te, daß Maître Fran­çois und der Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon nir­gend­wo an­ders als in Pa­ris an­zu­sie­deln sind. So stan­den 1990 zum er­sten Mal die bei­den wich­tig­sten Stil­grup­pen der spät­go­ti­schen Buch­ma­le­rei in Pa­ris mit ei­ni­gen ih­rer wich­tig­sten Wer­ke an­schau­ lich ne­ben­ein­an­der. Doch verun­klär­te der emi­nen­te Ken­ner zu­gleich das Bild von der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei, in­dem er ver­such­te, noch eine wei­te­re be­mer­kens­wer­te Stil­grup­pe aus süd­li­che­ren Re­ gio­nen in die Haupt­stadt zu ho­len: Die Jou­ve­nel-Grup­pe, bei der man heu­te höch­stens strei­tet, ob sie aus­schließ­lich in An­gers oder nicht doch auch in Nan­tes, Poi­tiers oder so­ gar Tours tä­tig war, ver­setz­te Ster­ling nach Pa­ris; dort setz­te er die Ge­ne­ra­tio­nen­fol­ge aus dem äl­te­ren Jou­ve­nel-Mei­ster und dem jün­ge­ren Mei­ster des Gen­fer Boccaccio mit zwei in Pa­ris an­säs­si­gen Künst­lern gleich, de­ren Top­onyme mit Ypern und der Pik­ar­die ver­bin­den: An­dré d’Ypres und Co­lin d’Ami­ens. Sti­li­stisch ge­hört die Jou­ve­nel-Grup­pe an die Loire; hi­sto­risch be­schwö­ren die Na­men ei­nen in den Wer­ken nicht spür­ba­ren 24 Pa­ris, BnF, NAL 3120: Porc­her 1961, Nr. 24, noch mit ei­ner spä­ter nie wie­der auf­ge­g rif­fe­nen Zu­schrei­bung an Sa­turn­in Fran­çois aus Tours und der nicht ganz zu­tref­fen­den Be­haup­tung, die­ses sei „le plus pe­tit qui soit, certainement, de tous les man­uscrits à pein­tures“ (S. 115); 25

Die Re­vue de l’art 22, 1973, setzt mit Reynauds Bei­trag auf S. 6-21 an; dann folgt Sou­chal, Un grand pein­tre français de la fin du XVe siècle: Le Maître de la Chas­se à la Licorne auf S. 22-86. Bei­de Bei­trä­ge hat Al­ain Er­lan­de-Bran­den­bourg im Bulle­tin mo­nu­men­tal 133-1, 1975, S. 87-90, sehr po­si­tiv re­zen­siert.

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Einleitung

Be­zug zum Nor­den. In­dem er über hun­dert Sei­ten mit über hun­dert vor­züg­li­chen Ab­ bil­dun­gen ei­nem der Haupt­stadt frem­den Stil wid­me­te, spreng­te Ster­ling in sei­nem mo­ nu­men­ta­len Buch, das in wün­schens­wer­ter Fül­le die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei der Spät­go­tik vor Au­gen führt, die Zu­sam­men­hän­ge.26 Ken­ner­schaft, die sich auf die ra­ren ar­chi­va­li­schen Spu­ren ver­läßt, ver­langt vom Pu­bli­ kum Ge­duld. So nahm Reynaud die Na­men aus Ypern und Ami­ens wie­der auf, be­zog sie durch­weg auf auch von Ster­ling dis­ku­tier­te Wer­ke und Künst­ler; doch An­dré d’Ypres mach­te sie nun aus dem Mei­ster des Dreux Budé, bei dem Ster­ling an Con­rad de Vulcop denkt, und Co­lin d’Ami­ens aus Ster­lings Hen­ry (sic) de Vulcop, den man nüch­ter­ner als den Co­ëtivy-Mei­ster kennt (Nr. 26). Der Mei­ster der Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­gne hin­ge­gen schließt sich bei Reynaud als Ver­tre­ter ei­ner drit­ten Ge­ne­ra­ti­on an und heißt nun Jean d’Ypres. Die Schwach­stel­le die­ser hi­sto­ri­schen Re­kon­struk­ti­on ist Co­lin d’Ami­ens: We­gen des­sen ent­we­der zu kur­zen oder viel zu lan­gen Leb­zei­ten konn­ te es nicht bei Reynauds Vor­schlag blei­ben; doch dar­auf wer­den wir hier noch ein­mal zu­rück­kom­men.27 Ster­ling hat­te 1990 im zwei­ten Band sei­ner Pein­ture médiév­ale à Pa­ris, der in pracht­vol­ ler Wei­se mit den Ein­horn­tep­pi­chen in New York und im Cluny-Mu­se­um und den Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­gne en­det, die wich­tig­sten Pa­ri­ser Künst­ler der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts vor­ge­stellt, die als Buch­ma­ler und Ta­fel­ma­ler ge­ar­bei­tet und Tep­pi­che eben­so wie Glas­ma­le­rei ent­wor­fen ha­ben. Ni­cole Reynaud aber hat 1993 ge­mein­sam mit Fran­çois Avril das Au­gen­merk ganz auf die Buch­ma­le­rei ge­rich­tet, die stil­frem­de Jou­ve­nel-Grup­pe von der Sei­ne zu­rück an die Loire ver­setzt und da­mit ein wün­schens­wert kla­res Bild der Ver­hält­nis­se in Pa­ris prä­sen­tiert: Von blei­ben­dem Wert ist das Ne­ben­ein­an­der zwei­er Ge­ne­ra­tio­nen­fol­gen, die man wohl als Künst­ler­dy­na­sti­en an­se­hen kann, wäh­rend die Na­men, die den Künst­lern zu­ge­ord­net wur­den, heu­te, also ein Vier­tel­jahr­hun­dert da­nach, nicht mehr ganz stim­men: Vom Mei­ster des Jean Rolin über Maître Fran­çois zum Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon reicht die eine Stil­grup­ pe, die an­de­re aber vom Mei­ster des Dreux Budé über den Co­ëtivy-Mei­ster zu je­nem Künst­ler, der in der un­end­li­chen Fül­le sei­ner Ar­beit eine Sum­me sei­ner Epo­che zieht und der des­halb für Reynaud der Mei­ster der Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­ gne, für Sou­chal und Ster­ling der Mei­ster der Ein­horn­tep­pi­che und, wie wir noch se­ hen wer­den, für Ina Net­te­koven der Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte-Cha­pel­le in ei­nem war und sel­te­ner für Hand­schrif­ten, aber über­wäl­ti­gend für die Be­bil­de­rung von In­ku­na­beln ge­wirkt hat. 26 Ster­ling II , 1990, S. 76-175, Abb. 62-175; po­si­tiv auf­ge­nom­men wur­de der Vor­schlag nur von Ingo F. Wal­ther und Nor­bert Wolf in ih­rem im­mer wie­der neu auf­ge­leg­ten und in vie­le Spra­chen über­setz­ten „Ta­schen“-Buch Co­dices Selecti, Köln 2001: S. 312 f. der fran­zö­si­schen Aus­ga­be mit ei­nem we­nig in­for­mier­ten Bei­trag über das Mare histo­ria­rum des Kanz­lers Jou­ve­ nel des Urs­ins, Pa­ris, BnF, latin 4915. Grund­le­gend im­mer noch Kö­nig 1982 und Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, wo Avril die Nrn. 52-66 un­ter „L’An­jou, le Maine et le Poitou“ ab­han­delt. 27

Die ge­wich­tig­ste Stim­me da­ge­gen ist die von Ina Net­te­koven; bis­her un­ver­öf­fent­licht sind in die­sel­be Rich­tung ge­hen­de Über­ le­g un­gen, die Car­men Decu Teodorescu 2013 er­läu­ter­te bei ei­nem von Anne-Ma­rie Legaré und Phil­ippe Lo­ren­tz in Pa­ris ver­ an­stal­te­ten Kol­lo­qui­um, das als Rück­be­sin­nung 20 Jah­re nach der Aus­stel­lung von Avril und Reynaud 1993 kon­zi­piert war.

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Einleitung

Ei­ner all­ge­mei­nen Ten­denz, die auch in manch an­de­ren Fel­dern zu­rück zu Dur­rieu führt, er­hält der bei Ja­cques de Be­san­çon en­den­de Stil für die Buch­ma­le­rei grö­ße­re Be­ deu­tung, weil man man­che wei­te­re Hand von dort be­ein­flußt sieht. Ne­ben die­sen bei­ den Haupt­strän­gen der Ent­wick­lung bis etwa zum Jahr 1500 war bei Reynaud kaum noch Platz. An ei­ni­ge Künst­ler, die in un­se­rem Ka­ta­log be­geg­nen, war 1993 noch kaum zu den­ken. Das Jahr 1500, das in der Ge­schich­te des Buch­drucks durch die Tren­nung von In­ku­na­ bel- und Früh­druck­zeit eine ent­schei­den­de Mar­ke setzt, weil es die Pe­ri­ode ab­schließt, in der die neue Kunst noch in den Win­deln lag, hat­te zwar selbst kei­ne ein­schnei­den­de Wir­kung. Die bei­den De­ka­den um die­se Jahr­hun­dert­wen­de mar­kie­ren aber doch ei­nen be­deu­ten­den Wan­del, dem auch un­ser Ka­ta­log­werk mit der Be­gren­zung des hier vor­ge­ leg­ten Ban­des folgt. Da­durch wird eine wich­ti­ge Stil­grup­pe, ob­wohl sie schon um 1490 ein­setzt, in den letz­ten Band ver­wie­sen. Der hier ver­such­te Über­blick wäre je­doch un­voll­stän­dig, wenn wir nicht kurz be­leuch­ te­ten, wie die Li­te­ra­tur mit Pa­ris um 1500 um­ge­gan­gen ist: Prä­gend war die Ver­öf­fent­ li­chung von Rit­ter und Lafond aus dem Jah­re 1913, die Buch­ma­le­rei­en für den Erz­bi­ schof von Rouen und Kar­di­nal­le­ga­ten Ge­org­es d’Am­boise28 und des­sen Auf­trä­ge für Kö­nig Lud­wig XII . un­ter dem Be­griff „École de Rouen“ zu­sam­men­faß­te. Die Ein­schät­ zung galt, bis 1978 durch mei­nen Kom­men­tar des Stun­den­buchs Chri­stophs I. von Ba­den in die Li­te­ra­tur eine ge­wis­se Be­we­gung kam. Bei die­ser um 1490 ent­stan­de­nen Hand­ schrift in Karls­ru­he29 ließ sich eine Her­kunft aus Rouen eben­so we­nig auf­recht­er­hal­ten wie der Ver­weis von El­len Beer auf den Kreis von Jean Bourdichon in Tours.30 Auch für die­sen Stil­be­reich sorg­te die Pa­ri­ser Aus­stel­lung für die heu­te gül­ti­ge Ein­schät­zung: Der wich­tig­ste Ver­tre­ter der so­ge­nann­ten Schu­le von Rouen hat ei­nen gül­ti­gen Na­men er­hal­ ten und sei­nen Wohn­sitz in Pa­ris: Es ist „Jean Pi­chore, démo­urant à Pa­ris“.31 Doch spä­te­ stens an die­ser Stel­le spiel­te un­ser Haus ent­schei­dend mit. Für Heri­bert Ten­schert war Pa­ris an der Wen­de zur Re­nais­sance im­mer ein Haupt­au­ gen­merk, seit er als An­ti­quar be­gann, sich mit Bil­der­hand­schrif­ten zu be­schäf­ti­gen. Eine un­er­hör­te Mi­nia­tur der Zeit um 1500 schmückt sei­nen Ka­ta­log 20: Il­lu­mi­na­ti­on und Il­ lu­stra­ti­on von 1987 zum zehn­jäh­ri­gen Fir­men­ju­bi­lä­um des An­ti­qua­ri­ats, des­sen Name da­mals noch Ra­be­lais’ Ab­ba­ye de Thélème zum Vor­bild hat­te (siehe Abb. gegenüber).

28 ­Sie­he zu­letzt den vor­züg­li­chen Aus­st.-Kat. Ev­reux 2017. 29 ­Karls­ru­he, BLB , codex Dur­lach 1: Kö­nig 1978. 30

El­len J. Beer, In­iti­al und Mi­nia­tur. Buch­ma­le­rei aus neun Jahr­hun­der­ten in Hand­schrif­ten der Ba­di­schen Lan­des­bi­blio­thek, 2. Aufl., Karls­ru­he 1965, Nr. 73.

31

Aus­gangs­p unkt da­f ür ist die Pa­ri­ser Hand­schrift der Chants royaux du Puy No­tre Dame d’Ami­ens von 1518, fr. 145 der BnF: Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 156.

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Kat. 20, Nr. 21

HORAE B. M. V. IX, S. 4011

Mehr als drei­ßig Jah­re spä­ter mö­gen sich die hi­sto­ri­schen Er­kennt­nis­se ver­scho­ben ha­ ben; denn heu­te wis­sen wir, daß die­se ein­drucks­vol­le Dar­stel­lung Kö­nig Da­vids als Harf­ ner vom so­ge­nann­ten Mar­ta­inville-Mei­ster stammt, des­sen Be­zie­hun­gen zu Jean Bourdichon in Tours und der Schu­le von Rouen in­zwi­schen sehr viel schär­fer kon­tu­riert sind. Seit 2015 ha­ben wir auch im neun­ten Band der mo­nu­men­ta­len Se­rie Horae den Schlüs­ sel zu ge­druck­ten Va­ri­an­ten die­ser halb­fig­uri­gen Mi­nia­tur32 er­hal­ten, die uns leb­haft vor Au­gen füh­ren, wie eng die Be­zie­hun­gen zwi­schen tra­di­tio­nel­ler Kunst und neu­er Druck­ kunst wa­ren. Mit die­ser Mi­nia­tur wie mit den Ver­glei­chen aus dem un­ge­heu­ren Fun­dus der ge­druck­ten Stun­den­buch­bil­der über­schrei­ten wir be­reits die Gren­ze zu dem hier ge­ plan­ten vier­ten Band, den der Mar­ta­inville-Mei­ster mit sen­sa­tio­nel­len Wer­ken er­öff­nen wird. An­ge­legt ist die Kom­po­si­ti­on je­doch schon in un­se­rer Nr. 41, wo der Kö­nig mit der Har­fe sin­nend thront, zwar ohne sei­nen Hof­staat, je­doch in ähn­li­cher Wei­se en face. Ähn­lich in­ein­an­der ver­wo­ben sind die Din­ge im­mer wie­der: So wur­de in dem­sel­ben Ka­ ta­log von 1987 ein sti­li­stisch frü­he­res Stun­den­buch vor­ge­stellt, das für den An­ti­quar als er­ste Be­geg­nung mit dem da­für ver­ant­wort­li­chen Ma­ler prä­gend war. Wie manch schö­ 32

­Horae IX , Nr. 24, Abb. 13 auf S. 4011 (Pi­chore für Vostre in 4o, 1504-08) und Nr. 26, Abb. 15 auf S. 4024 (Pi­chore-Werk­ statt für Ana­bat in-8o, ca. 1508?).

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Kat. 20, Nr. 15

nes Buch aus dem spä­ten Mit­tel­al­ter blieb das Ma­nu­skript auch über die Ge­ne­ra­tio­nen von Re­for­ma­ti­on und Re­li­gi­ons­krie­gen in Zei­ten der Ka­tho­li­schen Re­form, die am er­ folg­reich­sten von den Je­sui­ten be­trie­ben wur­de, eine spi­ri­tu­el­le und äs­t he­ti­sche Kost­bar­ keit. Uns ver­an­laß­te die­se Nr. 15 des Ka­ta­logs 20, die für eine Ma­rie Char­lot im ge­die­ gen­sten Stil der Jah­re vor 1600 neu ge­bun­den und mit de­ren in Gold ge­präg­ten Na­men ver­se­hen war, dem un­be­kann­ten Künst­ler den Not­na­men „Mei­ster der Ma­rie Char­lot“ zu ge­ben. Nach­dem die­se Be­zeich­nung in un­se­ren Ka­ta­lo­gen bis jetzt über­lebt hat, geht es uns wie John Plum­mer, dem Ver­fas­ser des groß­ar­ti­gen New Yor­ker Aus­stel­lungs­ka­ ta­logs The Last Flowe­ring von 1982. Plum­mer hat­te sich die an­ony­men Hän­de in fran­ zö­si­schen Ma­nu­skrip­ten des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters von den Be­stän­den der Pier­pont Mor­gan Lib­rary und der Samm­lung von Hen­ry Wal­ters in Bal­ti­more er­schlos­sen und Not­na­men nach ein­zel­nen Ma­nu­skrip­ten ver­ge­ben, um sich dann doch be­keh­ren zu las­ sen, wenn ein trif­ti­ger­er Grund für ei­nen an­de­ren Na­men zu Tage trat. So wer­den auch wir uns ver­hal­ten und un­se­re Ma­rie Char­lot aus der Zeit um 1600 durch den Pa­ri­ser Bi­schof Étienne Ponc­her er­set­zen, um da­mit zu­gleich den all­ge­mei­nen Wild­wuchs der Be­nen­nun­gen zu re­du­zie­ren, den wir auch des­halb be­dau­ern, weil selbst die am be­sten be­grün­de­ten Be­zeich­nun­gen, die wir prä­gen, von an­de­ren gern über­se­hen wer­den. Un­klar mag das Ge­biet sein, das wir im­mer neu be­stel­len wol­len; um­kämpft ist es ei­ gent­lich nicht, weil die Dis­kus­sio­nen sel­ten und die Zahl der Be­tei­lig­ten klein ist. Die

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Einleitung

No­men­kla­tur ist da­bei eben­so ein Feld der Aus­ein­an­der­set­zung wie die Bi­blio­gra­phie; und das gilt nicht nur, so­weit es ums ge­gen­sei­ti­ge Zi­tie­ren geht, son­dern im ge­ra­de an­ ge­spro­che­nen Fall von Ma­rie Char­lot und Étienne Ponc­her um das Aus­blei­ben von bi­ blio­gra­phi­schen Ti­teln: Isa­bel­le Delaunay hat in Pa­ris eine um­fang­rei­che Dis­ser­ta­ti­on vor­ge­legt; doch als es dar­um ging, die­se vie­len hun­dert Sei­ten im Rah­men der Se­rie Ars nova bei Bre­pols in Tu­rnh­out an­ge­mes­sen zu ver­öf­fent­li­chen, durf­te der Her­aus­ge­ber nicht ein­mal Ein­blick in den Text neh­men. Un­ver­öf­fent­licht wie die Lon­do­ner Dis­ser­ ta­ti­on von Alis­on Sto­nes ge­ne­riert (so sagt man das heu­te) die ver­bor­ge­ne Schrift Hin­ wei­se zur Sa­che, ohne das Ge­samt­kon­zept zu ver­ra­ten.33 Für das An­ti­qua­ri­at, das in­zwi­schen aus dem baye­ri­schen Rot­thal­mün­ster längst in die schwei­ze­ri­sche Bi­ber­müh­le um­ge­zo­gen ist, schließt sich mit den nun vor­ge­leg­ten Ka­ta­ logen, deren zwei­ter Teil noch ein­mal auf zwei suk­zes­si­ve er­schei­nen­de Bän­de an­ge­legt ist, ein Kreis: Nir­gend­wo in der Welt sind im Mo­ment so vie­le ge­druck­te Stun­den­bü­ cher, die ja fast alle aus Pa­ris stam­men, ne­ben ei­ner solch stol­zen Zahl von Hand­schrif­ten ver­sam­melt wie in der Bi­ber­müh­le. Die Samm­lung der In­ku­na­beln und Früh­drucke, die nun ähn­lich wie Étienne Che­va­liers Fen­ster in der Rue de la Verrerie mehr Bän­de zählt, als selbst ein Schalt­jahr Tage hat, ist in lan­gen Jah­ren ent­stan­den und ge­wach­sen. Zu­dem kön­nen wir auf Jahr­zehn­te zu­rück­blicken, in de­nen im­mer wie­der Haupt­wer­ke der Pa­ri­ ser Buch­ma­le­rei über un­ser Haus ih­ren Weg in be­mer­kens­wer­te Samm­lun­gen ge­fun­den ha­ben; die fran­zö­si­sche Haupt­stadt stand im Ti­tel ei­ni­ger Ka­ta­lo­ge, dar­un­ter der bahn­ bre­chen­de von 1992, der sich mit Boccaccio und Pe­tra­rca in Pa­ris aus­ein­an­der­setz­te. In die­sen Jahr­zehn­ten för­der­te nicht nur die Freund­schaft zwi­schen dem An­ti­quar und sei­nem „hi­sto­ri­en d’art-mais­on“, um eine klei­ne Un­ver­schämt­heit von Al­bert Châtelet34 auf­zu­grei­fen, die wach­sen­de Ver­traut­heit mit dem Stoff. Wich­ti­ger noch war die Zu­sam­ men­ar­beit mit wis­sen­schaft­li­chen Nach­wuchs­kräf­ten von er­staun­li­chem Po­ten­ti­al. Jede von ih­nen hat mit ei­ner Ber­li­ner Dis­ser­ta­ti­on we­nig­stens ein be­mer­kens­wer­tes Buch vor­ ge­legt: Das be­gann mit Ga­brie­le Bartz, die un­se­re Se­rie Il­lu­mi­na­tio­nen mit ih­rer grund­le­ gen­den Neu­ord­nung des Boucicaut-Stils im er­sten Band er­öff­ne­te, da­mit in Ber­lin ih­ren Ma­gi­ster­grad er­hielt und in­zwi­schen ihre Dis­ser­ta­ti­on, in de­ren Zen­trum un­ser Stun­den­ buch des Guy de Laval steht, ver­öf­fent­licht hat.35 Mara Hof­mann hat un­ser Panis­se-Stun­ den­buch ent­spre­chend für ihre Ma­gi­ster­ar­beit ge­nutzt, den Text aber lei­der nie ver­öf­fent­ licht und ist dann Pa­ris et­was un­treu ge­wor­den mit ih­rem Buch zum Ge­samt­werk von Jean Poyer in Tours.36 Zu die­sem Kreis ge­hört auch die an den hier vor­ge­leg­ten Bän­den be­tei­lig­te Chri­sti­ne Sei­del, de­ren Auf­merk­sam­keit zwar im We­sent­li­chen Jean Co­lombe und Bour­ges galt, aber auch für die Haupt­stadt im­mer wie­der Auf­schlüs­se brach­te.37

33

Zu der Öf­fent­lich­keit schon ver­ra­te­nen Bits and Pi­eces sie­he die Bi­blio­g ra­phie.

34 In der Re­zen­si­on un­se­res Buchs über das Lim­burg-Stun­den­buch von 2016 in: art de l’enlumi­nure 57, 2016. S. 59. 35

Bartz 1999 und Bartz 2017.

36

Hof­mann 2004.

37

Sei­del 2017.

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Einleitung

Sehr viel en­ger je­doch war über vie­le Jah­re hin die Zu­sam­men­ar­beit mit Ina Net­te­koven und Ca­ro­li­ne Zöhl: Schon für ihre Dis­ser­ta­tio­nen, die ge­ra­de­zu bei­spiel­haft für die Schei­ dung der bei­den hier vor­ge­leg­ten Ka­ta­log­bän­de ste­hen könn­ten, nutz­ten sie Hand­schrif­ ten und ge­druck­te Bü­cher der Bi­ber­müh­le. Mit Net­te­kovens Ar­beit über den Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se wird der wich­tig­ste noch spät­go­tisch ge­präg­te Ent­wer­fer von ge­druck­ ten Stun­den­buch­bil­dern ge­wür­digt; da­bei ist der Au­to­rin je­doch Reynauds Ver­such, dem Ma­ler ei­nen Na­men zu ge­ben, gleich­sam un­ter den Hän­den zer­bro­chen. Ca­ro­li­ne Zöhl hin­ge­gen konn­te mit ih­rem Buch dem erst 1992 und 1993 er­kann­ten Jean Pi­chore ent­ schei­den­de Kon­tu­ren ge­ben.38 Bei­de ar­bei­ten wei­ter; so hat Ina Net­te­koven zwei aus un­ se­rem Hau­se stam­men­de Hand­schrif­ten in ei­nem schö­nen Buch ver­öf­fent­licht; dar­in um­reißt sie un­se­re Kennt­nis vom Mei­ster Karls VIII ., der hier die Nrn. 35 und 36 bei­ ge­steu­ert hat, in wür­di­ger Wei­se.39 Vor al­lem den Er­geb­nis­sen die­ser bei­den füh­len sich An­ti­quar wie Kunst­hi­sto­ri­ker ver­pflich­tet: So heißt der Ma­ler mit den vie­len Na­men hier nicht nach den Très Pe­tit­es Heu­res und auch nicht nach den Ein­horn­tep­pi­chen, son­dern nach der Apo­ka­lyp­sen­ro­se. Ihr In­si­stie­ren auf dem mo­nu­men­ta­len Glas­bild gibt dem Œuvre noch eine be­son­de­re Di­men­si­on; zu­dem kann Net­te­koven noch auf das ein­zi­ge ei­ni­ger­ma­ßen ver­läß­li­che Wand­bild ver­wei­sen, das des Künst­lers Hand ver­rät, eine Wur­ zel Jes­se in ei­ner Chor­ka­pel­le von Saint-Séverin in Pa­ris. Wir fol­gen ihr auch in­so­fern, als wir auf die von Reynaud all­zu kühn be­haup­te­ten Na­men für die Ge­ne­ra­tio­nen­fol­ge, die zu die­sem Künst­ler führt, bei Nr. 26 wie bei Nr. 31 ver­zich­ten. Dem un­er­müd­li­chen En­ga­ge­ment von Ina Net­te­koven und Ca­ro­li­ne Zöhl wird we­sent­ lich das mo­nu­men­ta­le, nun auf neun Bän­de an­ge­wach­se­ne Ka­ta­log­werk Horae B. M. V. ver­dankt, mit dem sich der An­ti­quar den Traum er­füllt hat, für je­den Tag des Jah­res ein ge­druck­tes Stun­den­buch zu prä­sen­tie­ren. Die­sem gro­ßen wis­sen­schaft­li­chen Werk ge­recht zu wer­den, ist nun auch eine Ab­sicht der bei­den Ab­schluß­bän­de über Stun­den­ bücher aus Pa­ris, die un­ter­strei­chen, was uns mit Pa­ris ver­bin­det: Pa­ris no­tre am­our Die ein­und­zwan­zig Hand­schrif­ten und ihre Ge­stal­ter Im er­sten Stun­den­buch in die­sem drit­ten Teil­band un­se­res Ka­ta­logs Pa­ris mon am­our tritt das gan­ze Spek­trum der Stil­ent­wick­lung im letz­ten Drit­tel des 15. Jahr­hun­derts und un­se­rer ken­ners­chaftlichen Ar­beit an­schau­lich zu Tage: Denn Nr. 26 ist um 1460 an­ge­legt wor­den; er­hielt zu­nächst nur eine Mi­nia­tur, die Pi­età. Sie ist ein rei­fes Werk des Co­ëtivy-Mei­sters, den man vom Wie­ner Stun­den­buch des Olivier de Co­ëtivy (ÖNB , cod. 1929)40 aus de­fi­niert und den wir 2007 in un­se­rem Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter Neue Fol­ge IV ge­wür­digt ha­ben.41 Im zwei­ten Band nahm die­ser Künst­ler eine be­deu­ ten­de Rol­le ein; denn dort war er im­mer­hin in gleich drei Num­mern, 19 bis 21, prä­sent. 38

Net­te­koven 2004, Zöhl 2004.

39

Net­te­koven 2016.

40

Pächt und Thoss I, 1974, S. 29-32 und Abb. 32-41.

41

Ina Net­te­koven in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter. Neue Fol­ge IV, S. 239-294, zum Co­ëtivy-Mei­ster; Dies., Der Mei­ster der Apo­ka­lyp­ sen­ro­se und die Pa­ri­ser Buch­kunst um 1500, Tu­rnh­out 2004.

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Einleitung

Wir wa­ren zu­dem in Nr. 19, dem frü­he­sten die­ser drei Stun­den­bü­cher, auf ei­nen ent­ schei­den­den Mo­ment in sei­ner Kar­rie­re ge­sto­ßen. Dort hat­te er sich an ei­nem Auf­trag be­tei­li­gen dür­fen, den der Mei­ster des Étienne Sau­de­rat ver­wal­te­te. Die Art, wie er sich mit sei­nem orts­frem­den Stil, der sicht­lich aus dem Nor­den stammt, in ei­nem alt­an­säs­si­ gen Pa­ri­ser Ate­lier ein­ni­ste­te, ließ er­ken­nen, daß er frisch in die Haupt­stadt ge­kom­men war und an­ders, als Ni­cole Reynaud meint, nicht in zwei­ter Ge­ne­ra­ti­on schon dort ge­ bo­ren wur­de. Als Bru­der und nicht Sohn steht die­ser ful­mi­nan­te Buch- und Ta­fel­ma­ler, der auch Chor­fen­ster für Saint Séverin ent­wor­fen hat, ne­ben dem Mei­ster des Dreux Budé, wo­mit wir wie Ina Net­te­koven zu den Na­men Hen­ry und Con­rad de Vulcop für bei­de zu­rück­kom­men. Nach Pa­ris bringt die­ser Künst­ler neue Ide­en, ins­be­son­de­re für das Ko­lo­rit und die Na­tur­wie­der­ga­be. Die Pla­sti­zi­tät die­ser ei­nen Mi­nia­tur über­trifft noch die ein­drucks­vol­len Bil­der in Nr. 20 aus LM NF IV (Abb. unten links). Im vor­her­ge­hen­den Band die­ses Ka­ta­logs wäre Nr. 26 in sei­ner ge­sam­ten Ge­stalt ein Fremd­kör­per ge­we­sen: Die Fer­tig­stel­lung er­folg­te näm­lich erst eine Ge­ne­ra­ti­on spä­ter;

Kat. 68, Nr. 20

Kat. 81, Nr. 26

und mit ihr wird der Bo­gen ge­schla­gen, der den nun vor­ge­leg­ten drit­ten Band um­faßt:

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Einleitung

Der Mei­ster der Chronique scandaleuse und je­ner Nach­fol­ger von Maître Fran­çois, also Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren (Nr. 24), den wir nach der Mett­ler-Pèleri­na­ge nen­nen, ha­ben das Ma­nu­skript kurz vor 1500 erst voll­en­den kön­nen. Bot un­ser Rück­blick auf die Li­te­ra­tur den Ein­druck, es habe in Pa­ris im Grun­de nur zwei Haupt­strän­ge von Buch­ma­le­rei in der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts ge­ge­ben, so führt uns Nr. 27 vor Au­gen, wie viel noch zu tun ist, wenn man den Buch­ma­lern, die ne­ben dem Co­ëtivy-Stil und dem Stil der bei­den Fran­çois Le Bar­bier greif­bar sind, ge­ recht wer­den will: Der Ma­ler die­ser Hand­schrift ori­en­tiert sich an de­ren Bild­vor­la­gen, hat wohl beim äl­te­ren Le Bar­bier ge­lernt, dann aber selb­stän­dig ne­ben dem jün­ge­ren ge­ ar­bei­tet. Mit ei­ge­nen Bild­ideen will er Auf­merk­sam­keit er­re­gen. Bei ihm wirft sich im Pfingst­bild ein Apo­stel auf den Bo­den und liegt bei der Er­öff­nung der To­ten-Ves­p er der Leich­nam be­reits im of­fe­nen Grab. In sei­nem köst­lich­sten Bild, der Ma­rien­ver­kün­di­ gung, scheint Ma­ria mit Ga­bri­el über bei­der Schrift­ver­ständ­nis zu dis­ku­tie­ren. Mit sei­ nen er­staun­li­chen Far­ben brilliert der Ma­ler; und er ex­pe­ri­men­tiert, in­dem er das Blau der An­nunziata mit Sil­ber höht. Vor­züg­li­che Ar­beit lei­ste­te die­ser Ma­ler auch bei der Il­lu­mi­nie­rung von Drucken.42 2003 ha­ben wir sei­ne Kunst in ei­nem Stun­den­buch von 1494 ge­fun­den und vor­ge­schla­gen, ihn nach ei­nem Stun­den­buch in Pri­vat­be­sitz Pol­ignac-Mei­ster zu nen­nen.43 Nr. 27 ist sehr viel frü­her als die In­ku­na­bel ent­stan­den und be­weist mit dem Rand­schmuck der Bild­sei­ten, der kon­se­quent nach ei­ge­nen hier­ar­chi­schen Prin­zi­pi­en ge­ord­net ist, daß der Ma­ler spä­ te­stens ge­gen 1470 selb­stän­dig eine Werk­statt un­ter­hielt. Er ist ein vor­züg­li­cher Be­ob­ ach­ter von Vö­geln. Per­spek­ti­ve mag er nicht wirk­lich be­herr­schen; doch sie fas­zi­niert ihn. Aber noch wis­sen wir we­nig von die­sem künst­le­ri­schen Tem­pe­ra­ment. In der fa­ta­len Nei­gung der Li­te­ra­tur, für jede ab­wei­chen­de Stil­ten­denz gleich eine wei­te­ re Hand zu po­stu­lie­ren, se­hen wir ei­gent­lich eine Schwä­che. So wäre es uns am lieb­sten, wir könn­ten auch in Nr. 28 den Pol­ignac-Mei­ster er­ken­nen, zu­mal die Be­bil­de­rung die­ ses Stun­den­buch weit­ge­hend die­sel­ben Vor­la­gen be­nutzt, je­doch ohne jene Mo­ti­ve, die Nr. 27 aus­zeich­nen. So be­gnü­gen sich die Ver­kün­di­gung und das Pfingst­wun­der mit den ge­wohn­ten Bild­for­meln. Beim Gold­bro­kat wech­selt die Vor­lie­be von blau­em zu ro­tem Grund; vor al­lem aber fehlt dem Ko­lo­rit die Hef­tig­keit. Man könn­te die­se Ei­gen­schaf­ten als Hin­weis deu­ten, im Ge­fü­ge der Werk­stät­ten sei der für Nr. 28 ver­ant­wort­li­che Ma­ ler ein Nach­fol­ger des Pol­ignac-Mei­sters. Doch ver­ra­ten Schrift und Schrift­de­kor, daß Nr. 28 äl­ter sein dürf­te. Hier ha­ben wir die­ses Stun­den­buch dem mar­kan­te­ren Werk des Pol­ignac-Mei­sters nach­ge­ord­net, weil we­sent­li­che Grund­zü­ge in Nr. 27 ent­schie­de­ner zu Tage tre­ten. Als kon­kur­rie­ren­de Ma­ler aus der Werk­statt von Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren ge­hör­ten bei­de wohl zur Ge­ne­ra­ti­on von des­sen Sohn. Nä­her am äl­te­ren Künst­ ler wird der Pol­ignac-Mei­sters ge­we­sen sein; des­halb ge­bührt ihm hier der Vor­zug, auch 42

So ge­stal­te­te er den Per­ga­ment­druck von Pi­gouchets Stun­den­buch für Rom vom 23. Ok­to­ber 1494: Horae Nr. 10, Bd. I, S. 110.

43

Sot­heby’s New York, 24.4.1985, lot 100, und Sot­heby’s Lon­don, 20.6.1995, lot 110.

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Einleitung

wenn die er­hal­te­nen Hand­schrif­ten in der Chro­no­lo­gie für schein­ba­re Un­ord­nung sor­ gen. Als das Pa­ri­ser Stun­den­buch des An­dré Salé und sei­ner Frau, über die wir sonst nichts wis­ sen, ist Nr. 28 durch das Livre de rai­son aus­ge­wie­sen. Mit sei­nem Ein­band und Tex­ten aus dem letz­ten Vier­tel des 16. Jahr­hun­derts be­zeugt die­ses Buch in sei­ner heu­ti­gen Ge­stalt die ge­gen­re­for­ma­to­ri­sche Rück­be­sin­nung auf Stun­den­bü­cher des aus­ge­hen­den Mit­tel­ al­ters, die hun­dert Jah­re spä­ter die Spi­ri­tua­li­tät mit­be­stim­men soll­te. Nach die­sen Buch­ma­lern aus dem Um­feld der Werk­statt der Le Bar­bier ist es nun Zeit, zu Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren zu kom­men: Er hat die tra­di­tio­nel­le­re und sorg­fäl­

François Le Barbier der Jüngere

„Jacques de Besançon"?

ti­ge­re klei­ne Mi­nia­tur des Evan­ge­li­sten mit dem Gift­kelch im Jo­han­nes-Lek­ti­on­ar ge­malt, das der Il­lu­mi­na­tor Ja­cques de Be­san­çon 1485 der Jo­han­nes­bru­der­schaft von Saint-An­ dré-des-Arts in Pa­ris ge­stif­tet hat. Schon früh hat­te der Um­stand, daß in dem schma­len Ms. 461 der Maza­rine-Bi­blio­thek ein zwei­tes Bild, dies­mal Jo­han­nes auf Patmos, von an­ de­rer Hand ist, zur um­ständ­li­chen For­mu­lie­rung „Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon“ ge­ führt. Daß die­ser bis­her an­ony­me Künst­ler nicht aus Be­san­çon stammt, war klar;44 und Deldiques Nach­weis des tat­säch­li­chen Na­mens hat 2014 die­se Tat­sa­che un­ter­stri­chen. So­weit ich weiß, ha­ben nur wir ein­mal eine Hy­po­the­se ge­wagt, wer denn nun hin­ter dem 44 Frei­lich hat Ster­ling II , 1990, S. 216, den Un­ter­schied bei­sei­te ge­wischt, in­dem er wie­der von Ja­cques de Be­san­çon al­lein sprach und die klei­ne Mi­nia­tur trotz der in sei­nen Ab­bil­dun­gen ekla­tant zu Tage tre­ten­den Un­ter­schie­de in sei­ner Bild­un­ ter­schrift der­sel­ben Hand gab.

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Einleitung

hi­sto­ri­schen Ja­cques de Be­san­çon stecken mag. Das ge­schah 1993 in un­se­rem er­sten aus­ schließ­lich fran­zö­si­schen Stun­den­bü­chern ge­wid­me­ten Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V. In Nr. 22 ste­hen dort Mi­nia­tu­ren von Fran­çois Bar­bier dem Jün­ge­ren ne­ben fort­schritt­ li­che­ren, aber läs­si­ger ge­mal­ten Bil­dern, die vage an den Stil der Chronique scandaleuse an­schlie­ßen (Abb. der Jo­han­nes-Sei­te und der Hir­ten­ver­kün­di­gung siehe unten). In die­ ser al­ten Nr. 22 aus Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V be­geg­nen wir also ei­nem Ge­gen­satz, wie er auch in Maza­rine 461 zu fin­den ist. Am An­fang un­se­rer ein­drucks­vol­len Se­rie von Ar­bei­ten des jün­ge­ren Fran­çois Bar­bier steht kein Stun­den­buch, son­dern mit Nr. 29 ein Lek­ti­on­ar für Nicaise Delorme, Abt der

Kat. 30, Nr. 22

Au­gu­sti­ner-Chor­her­ren von Sankt Vic­t or in Pa­ris, das zwi­schen 1488 und 1494 ent­stan­ den sein muß. Noch im­mer kann man Zu­hö­rer ver­blüf­fen, die sich Bü­cher im Mit­tel­al­ter nur in Mönchs­hän­den vor­stel­len kön­nen, wenn man da­von er­zählt, wie ra­pi­de der An­teil der Klö­ster an der Buch­pro­duk­ti­on im Lau­fe des spä­te­ren Mit­tel­al­ters ab­ge­nom­men hat. In die­sem Fal­le er­reicht der Rück­zug monastisc­her Buch­kunst ei­nen be­son­de­ren Hö­ he­punkt: Aus­ge­rech­net der Abt ei­nes seit sei­ner Grün­dung im frü­hen 12. Jahr­hun­dert für das Buch­we­sen un­er­hört be­deu­ten­den Hau­ses war kurz vor 1500 auf die füh­ren­de

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Einleitung

städ­ti­sche Buch­ma­ler­werk­statt an­ge­wie­sen, um sein Lek­ti­on­ar wür­dig be­bil­dert zu se­ hen und zwar in ei­ner pa­ri­se­risch ge­präg­ten Spät­go­tik, die sich den neu­en Ten­den­zen der Re­nais­sance noch ver­schließt. Die Be­stim­mung die­ser Hand­schrift für Sankt Vic­t or ruft eher an­ek­do­tisch ins Be­wußt­sein, daß aus­ge­rech­net die dor­ti­gen Au­gu­sti­ner­chor­ her­ren en­gen Kon­takt mit den Main­zer Druckern hat­ten: Bei ih­nen wur­de Jo­hann Fust be­gra­ben, nach­dem er ver­mut­lich am 30. Ok­to­ber 1466 an der Pest in Pa­ris ge­stor­ben war; für ihn stif­te­te sein Schwie­ger­sohn Pe­ter Schöf­fer dann eine To­ten­mes­se an Sankt Vic­t or, die er mit ei­nem Teil der Ko­sten für ein Ex­em­plar sei­ner zwei­bän­di­gen Pracht­ aus­ga­be der Hie­ro­ny­mus­brie­fe von 1470 be­zahl­te. Die bei­den Le Bar­bier ver­tre­ten in Pa­ris eine hohe spät­go­ti­sche Kul­tur. Ob­wohl sie of­ fen­bar eine gan­ze An­zahl von Buch­ma­lern be­ein­flußt ha­ben, ist die Ab­gren­zung ih­res Werks ge­gen­über ih­ren Zeit­ge­nos­sen ganz und gar un­pro­ble­ma­tisch. Da der jün­ge­re den Vor­la­gen­schatz sei­nes Va­ters ge­erbt und em­sig be­nutzt hat, ist Hän­de­schei­dung zwi­schen ih­nen zu­wei­len nicht ganz ein­fach. Bei noch so in­ten­si­ver Fa­mi­li­en­ähn­lich­keit zwi­schen ih­ren Ge­stal­ten müß­te man bei­de auch ein­mal mit­ein­an­der oder ne­ben­ein­an­ der in ein und dem­sel­ben Ma­nu­skript fin­den; doch ei­nen sol­chen Fall hat bis­her nie­mand be­ob­ach­tet; nicht ein­mal Grau­zo­nen sind be­merkt wor­den. Der jün­ge­re Le Bar­bier ar­bei­tet mit hö­her auf­ge­schos­se­nen ha­ge­ren Fi­gu­ren; die­sel­be Ten­denz be­trifft sei­ne Köp­fe und de­ren Mo­del­lie­rung. Fi­gu­ren­grup­pen bin­det der äl­te­ re in Grau­wer­te ein, wäh­rend beim jün­ge­ren die ein­zel­nen Ge­stal­ten kla­rer ge­schie­den sind. In­te­rieurs wie Land­schaf­ten sind kla­rer ge­zeich­net und ein­fa­cher be­leuch­tet. Ins­ ge­samt also wan­deln sich von Va­ter zum Sohn Ko­lo­rit und Mal­wei­se. Mit Bil­dern, die noch ein­mal die Prä­zi­si­on und Zart­heit des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters ver­kör­pern, be­ ein­drucken bei­de Ma­ler. Zu­gleich ver­kör­pert ihre Kunst bei­spiel­haft ei­nen Grund­zug von Pa­ris im Spät­mit­tel­al­ter: So in­ten­siv die Stadt auch An­re­gun­gen aus Nord und Süd ein­lud, so le­ben­dig blie­ben doch kon­ser­va­ti­ve Trends; und die­se Ten­denz be­dien­te Fran­ çois Le Bar­bier der Jün­ge­re fast noch ver­läß­li­cher als sein Va­ter. Wäh­rend der Va­ter die gro­ßen Auf­trä­ge so gut wie im­mer selb­stän­dig aus­ge­führt hat, trifft man den jün­ge­ren Le Bar­bier eher sel­ten al­lein an wie in un­se­rer Nr. 30, de­ren Schrift noch ganz der Pa­ri­ser Tra­di­ti­on ver­pflich­tet ist, wäh­rend der Schrift­de­kor fort­ schritt­li­cher wirkt. Sehr viel häu­fi­ger hat er of­fen­bar Zu­sam­men­ar­beit mit an­de­ren, meist jün­ge­ren Künst­lern ge­sucht. Wie weit er selbst die Auf­ga­ben ver­tei­len konn­te, bleibt un­ ge­klärt; denn Fran­çois Bar­bier der Jün­ge­re ver­tritt zwar of­fen­bar ei­nen an­ge­se­he­nen äl­ te­ren Stil; er über­läßt aber, wie wir es bei Num­mer 32 in die­sem Ka­ta­log se­hen wer­den, die wich­tig­sten Mi­nia­tu­ren zu­wei­len an­de­ren Buch­ma­lern. Die Ge­stal­tung des Stun­den­buchs Nr. 31 do­mi­niert Fran­çois Bar­bier der Jün­ge­re: Alle Mi­nia­tu­ren grö­ße­ren For­mats fol­gen dem Vor­la­gen­schatz, den er be­reits vom Va­ter über­ nom­men hat­te. Nach­dem er je­doch mit Mi­cha­el ein er­stes Klein­bild für die Suff­ragien aus­ge­führt hat­te, über­gab er die­sen Teil am Ende des Ma­nu­skripts ei­nem Ma­ler, den wir eben­falls schon aus Num­mer 22 in LM V ken­nen: er hat dort die Evan­ge­li­sten und ei­ni­ge klei­ne­re Mi­nia­tu­ren bei­ge­steu­ert und steht dem Mei­ster nahe, der das Go­tha­er

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Einleitung

Stun­den­buch aus­ge­malt hat.45 Hier trifft man das­sel­be Ko­lo­rit; enge Ver­wandt­schaft ver­ ra­ten die Evan­ge­li­sten und die klei­nen Mari­en- und Hei­li­gen­bil­der. Auf den Go­tha-Mei­ ster wer­den wir in Num­mer 41 die­ses Ka­ta­logs und vor al­lem bei Num­mer 58 im vier­ ten Band zu­rück­kom­men. Ein ganz an­de­res Tem­pe­ra­ment, das Fran­çois Bar­bier dem Jün­ge­ren noch frem­der als dem Go­tha-Mei­ster ist, ver­ra­ten die zum Teil ge­ra­de­zu wit­zi­gen Ka­len­der­mi­nia­tu­ren. Die Art, wie ei­ni­ge Fi­gu­ren ge­se­hen wer­den, ist eben­so un­kon­ven­tio­nell wie der kräf­ti­ge Fa­rb­auf­trag bei den klei­nen Bild­chen. Ent­fernt kommt der Stil der Chronique scandaleuse ins Spiel; doch reizt mich die Vor­stel­lung, man habe es hier mit der­sel­ben Hand zu tun, die im Lek­ti­on­ar Maza­rine 461 Jo­han­nes auf Patmos ge­malt hat; das wäre dann wohl der Stif­ter von 1485: Ja­cques de Be­san­çon selbst. Von viel grö­ße­rem Ge­wicht ist dann Nr. 32, das letz­te Stun­den­buch in un­se­rer Rei­he mit Mi­nia­tu­ren von Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren. Hier tritt er ge­gen­über dem Mei­ ster der Traités théologiques zu­rück, in­dem er ge­nau die Auf­ga­ben über­nimmt, die in Nr. 31 von ei­nem Mei­ster im Stil des Go­tha-Stun­den­buchs er­le­digt wur­den: Mit fünf gro­ßen Mi­nia­tu­ren er­öff­net Fran­çois Le Bar­bier die drei nach­ge­ord­ne­ten Per­ik­open und die bei­den Ma­rien­ge­be­te am An­fang des Texts, ge­stal­tet dann die klei­nen Hei­li­gen­bil­ der für die Suff­ragien am Ende des Buch­blocks in sei­ner be­währ­ten Ma­nier, sorg­fäl­tig, dem Vor­la­gen­schatz ge­treu, aber ohne das Feu­er, das sein klei­nes Mi­cha­els­bild in Nr. 31 so ein­drucks­voll ver­riet. Alle in der Text­hier­ar­chie füh­ren­den In­cipits blie­ben ei­nem Künst­ler vor­be­hal­ten, des­ sen ei­gent­li­ches Haupt­werk die­se Mi­nia­tu­ren in un­se­rer Nr. 32 sind. Die Bild­sei­ten be­ an­spru­chen wie text­lo­se Voll­bil­der die gan­ze Flä­che des Blatts; doch ste­hen sie wie Jean Fouquets Ma­le­rei­en im Stun­den­buch für Étienne Che­va­lier aus den 1450er Jah­ren auf Sei­ten, auf de­nen der Schrei­ber of­fen­bar die ge­wohn­ten In­cipits ein­ge­tra­gen hat­te. Der Ma­ler kon­zi­piert sein ei­ge­nes Lay­out, in­dem er wie Jean Co­lombe im Stun­den­buch für Lou­is de Laval, latin 920 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek, für die In­cipits in die durch­ weg noch spät­go­ti­sche Ar­chi­tek­tur far­bi­ge Sockel ein­fügt, auf die dann die Schrift ein­ ge­malt wird. Die Zu­sam­men­ar­beit die­ses Künst­lers mit dem jün­ge­ren Fran­çois Le Bar­bier ist spek­ta­ ku­lär; denn wenn wir die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts in zwei Strän­ge glie­dern, dann ge­hört der Ma­ler der Haupt­bil­der in Nr. 32 zu der Li­nie, die vom Co­ëtivy-Mei­ster zum Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte-Cha­pel­le führt. Of­fen­bar sind sich die Mit­glie­der der bei­den Ate­liers zwei­er nach Ge­ne­ra­tio­nen­fol­gen ge­trenn­ter Fa­mi­li­en aus dem Weg ge­gan­gen; eine zwei­te Hand­schrift, in der bei­de Stil­ ten­den­zen ver­eint sind, ken­nen wir nicht.

45

Go­tha, For­schungs­bi­blio­thek, Memb. II 70: Ina Net­te­koven und Cor­ne­lia Hopf, Das Go­tha­er Stun­den­buch (Patrimonia 312), Go­tha 2007.

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Kat. 81, Nr. 32

Privatbesitz

In­ner­halb sei­ner Grup­pe nimmt der für die Haupt­mi­nia­tu­ren in Nr. 32 ver­ant­wort­li­che Künst­ler eine Son­der­rol­le ein, die Ina Net­te­koven un­ter­sucht hat; sie hat die Hand nach ei­ner Samm­lung von Traités théologiques, fr. 9606 der BnF ge­tauft. 46 Ähn­lich ge­stal­tet sind nur Haupt­bil­der ei­nes Stun­den­buchs in Pri­vat­be­sitz,47 in dem der Mei­ster der Traités théologiques dem Mei­ster Karls VIII . (hier Nr. 35 und 36) die nach­ge­ord­ne­ten In­ cipits mit Klein­bil­dern über­las­sen hat. Die Ge­stal­tung mit spät­go­ti­schen Stre­be­pfei­lern läßt noch stär­ker an Jean Co­lombe den­ken48 (sie­he Abb. oben). Dazu wür­de wie­der­um pas­sen, daß un­ser Ma­nu­skript, so pa­ri­se­risch die An­la­ge durch Fran­çois Le Bar­bier den Jün­ge­ren auch ist, für den Ge­brauch von Rom be­stimmt ist und in der Hei­li­gen­aus­wahl an süd­li­che­re Re­gio­nen den­ken läßt. Zum er­sten Mal kommt in un­se­rem Ka­ta­log mit die­sem Ma­nu­skript auch der Stun­den­ buch­druck in den Blick: denn bei Da­vid und Go­li­ath rückt die Schlacht ge­gen die Phi­li­ ster in den Mit­tel­grund; links vorn bricht der Rie­se Go­li­ath, von ei­nem Stein aus Da­vids Schleu­der an der Stirn ge­trof­fen, zu­sam­men. Die­sel­be Kom­po­si­ti­on wird in Nr. 38 im Stil der Chronique scandaleuse wie­der­keh­ren; ent­spre­chend sieht ein Me­tall­schnitt des

46 Net­te­koven 2007, S. 56f.; Ni­cole Reynaud (Aus­st.-Kat. 1993, Nr. 145) war noch un­ent­schie­den, ob die Mi­nia­tu­ren von ih­ rem Mei­ster der Très Pe­tit­es Heu­res der Anne de Bre­ta­g ne oder, wie wir nun mei­nen, von ei­nem ei­gen­stän­di­gen Künst­ler aus des­sen en­gem Um­feld stam­men. 47

Net­te­koven 2016, S. 229-230 un­ter „Pri­vat­be­sitz an­onym“ und Abb. 140, 179 und 180.

48 Net­te­koven 2016, Abb. 180 mit Ge­gen­über­stel­lung der Mi­nia­tur aus un­se­rem Ma­nu­skript

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Kat. 81, Nr. 38

Kat. 81, Nr. 32

HORAE B. M. V. IX, S. 3937

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Einleitung

Mei­sters der Apo­ka­lyp­sen­ro­se für Du­pré ca. 1489 aus.49 Die Tat­sa­che, daß sich bei­de Mi­ nia­tu­ren sei­ten­gleich zur Gra­phik ver­hal­ten, ist be­mer­kens­wert: Da­vid agiert in al­len drei Bei­spie­len ge­gen die Le­se­rich­tung. So sah si­cher auch die Me­tall­plat­te aus, die dann beim Drucken sei­ten­ver­kehrt wur­de. Sind des­halb die bei­den Mi­nia­tu­ren vom Druck ab­hän­gig? Mit Nr. 33 blei­ben wir noch im Um­feld der bei­den Fran­çois Le Bar­bier. Der da­für ver­ ant­wort­li­che Il­lu­mi­na­tor hat von Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren Ent­schei­den­des ge­ lernt, hat viel­leicht so­gar in un­se­rem Foucault-Boccace mit ihm zu­sam­men­ge­ar­bei­tet.50 Viel­leicht ist er der Ma­ler des Stun­den­buchs Wal­ters 258 in Bal­ti­more, das Jean Budé III (um 1430-1502), dem Va­ter des be­rühm­ten Guillaume Budé, ge­hört hat. Die Her­kunft aus der Werk­statt der Le Bar­bier er­klärt wohl auch die Nähe zu pro­fa­ner Il­lu­stra­ti­on, die vor al­lem Fran­çois Le Bar­bier der Äl­te­re pfleg­te. Aus des­sen Mal­wei­se er­klä­ren sich das Ko­lo­rit mit üp­pi­ger Gold­höhung und die en­er­gi­sche Ab­kehr von den noch bis um die Jahr­hun­dert­mit­te in Pa­ris ver­brei­te­ten wei­chen Dra­pe­ri­en. So viel die Ge­sichts- wie auch die Kör­per­bil­dung den Le Bar­bier ver­dankt, so un­ter­schei­den sich doch die Phy­ sio­gno­mi­en eben­so wie die Pro­por­ti­on­ierung der eher ge­drun­ge­nen Fi­gu­ren, die nicht in die Bild­tie­fe vor­drin­gen. Die Art, wie der Ma­ler den Vor­der­grund re­li­ef­haft ge­stal­tet, er­ reicht den über­zeu­gend­sten Ef­fekt, wenn er sich bei den Drei Le­ben­den und Drei To­ten ganz auf die Kon­fron­ta­ti­on von nur ei­nem Paar vorn kon­zen­triert. Auf ganz an­de­re Wei­se ver­blüfft das nun fol­gen­de Stun­den­buch Nr. 34 durch sei­ne Be­bil­ de­rung des To­ten-Of ­fi­zi­ums; denn dort fol­gen, nach der Er­öff­nung durch die Ge­schich­ te vom Gast­mahl des Rei­chen und dem Tod des ar­men La­za­rus zu den Nok­tur­nen neun kon­se­quent an der Hi­obs­ge­schich­te ori­en­tier­te Haupt­mi­nia­tu­ren, die in den Bor­dü­ren von Mo­ti­ven aus dem To­ten­tanz er­gänzt sind. Das Buch ist in Schrift und Schrift­de­kor tra­di­tio­nell an­ge­legt; doch üp­pig ein­ge­setz­tes Gold, in Fo­lie eben­so wie mit dem Pin­sel auf­ge­tra­gen, zeigt, daß schon die Auf­trag­ge­ ber kei­ne Ko­sten scheu­en woll­ten. Zwei of­fen­bar erst als Zu­satz zu ver­ste­hen­de text­lo­se Voll­bil­der be­wei­sen, daß die Ar­beit des Künst­lers bei den Geld­ge­bern auf Zu­stim­mung stieß. In Kon­kur­renz mit dem Buch­druck, be­son­ders Stun­den­bü­chern von Du­pré 1488 und 1489, de­ren Bil­der in ei­ni­gen Mi­nia­tu­ren va­ri­iert wer­den, be­müht sich der Ma­ler, sei­ne Ei­gen­art zu be­wei­sen. Über­bord­end dicht und ein­falls­reich il­lu­mi­niert er schon den Ka­len­der. Sei­ne Bild­phan­ ta­sie ver­langt ent­we­der Er­gän­zung durch Bei­fi­gu­ren oder durch Ne­ben­sze­nen, die bei eher ge­läu­fi­gen The­men die Haupt­mi­nia­tu­ren un­ter­stüt­zen, wo­bei es sicht­lich auf die Men­ge an­kommt. Selbst die bei­den ganz­sei­ti­gen Bil­der, de­ren Pro­por­tio­nen vom Rest ab­wei­chen, sind von der Hand des für die ge­sam­te Aus­ma­lung ver­ant­wort­li­chen Künst­ lers: Die Far­be ist über­all dünn auf­ge­tra­gen und zeigt, wie gra­phisch ge­ar­bei­tet wird. Hel­ le Töne und gro­ße Flä­chen von dün­nem Pin­sel­gold für Ar­chi­tek­tu­ren und Mö­bel­stücke schaf­fen eine ins­ge­samt sehr lich­te Wir­kung. 49

Horae IX , S. 3937, Nr. 13.

50 LM NF I: Boccaccio und Pe­tra­rca in Pa­ris, Rot­thal­mün­ster 1997, S. 51.

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Einleitung

Zwei­fel­los ge­hört das Stun­den­buch Nr. 34, zu dem wir kein Par­al­lel­stück ken­nen, ins Um­feld der Le Bar­bier; de­ren an­däch­ti­ge Sorg­falt und ge­die­ge­ne Wie­der­ho­lung er­prob­ ter Bild­kon­zep­te ei­ni­gen Ma­lern aber of­fen­bar nicht mehr ge­nügt hat. Die­se Ten­denz stei­gert sich noch beim Mei­ster Karls VIII ., des­sen Stun­den­buch cod. Brev. 5 der Würt­ tem­ber­gi­schen Lan­des­bi­blio­thek in Stutt­gart durch den dün­nen Fa­rb­auf­trag un­se­rem Ma­nu­skript nahe steht. Der Mei­ster Karls VIII . hat die Su­che nach neu­en Bild­ideen ge­ra­de­zu zum Prin­zip sei­ nes Tuns ge­macht. Von ihm prä­sen­tie­ren wir mit Nr. 35 und 36 zwei neue Wer­ke. Zwar hat Jean Porc­her 1955 nach dem fran­zö­si­schen Kö­nig, der von 1470 bis 1498 leb­te, ei­ nen Ma­ler be­nannt, der zwei hin­rei­ßen­de Por­träts, viel­leicht von Karl VIII . und Anne de Bre­ta­gne, ge­malt hat.51 Wir aber neh­men den Kö­nig zum Pa­ten ei­nes an­de­ren Künst­lers, der ein ganz au­ßer­ge­wöhn­lich bil­der­rei­ches Stun­den­buch aus­ge­malt hat, das die Si­gna­ tur des Kö­nigs trägt. Es wur­de of­fen­bar von An­thoine Vér­ard für Karl VIII . an­ge­legt und hat Ina Net­te­koven so­gar zu der vor­sich­ti­gen Ver­mu­tung an­ge­regt, der Ver­le­ger, der be­ kannt­lich von Hau­se aus Il­lu­mi­na­tor war, sei viel­leicht der Ma­ler selbst.52 Da­für sprä­che, daß die Mi­nia­tu­ren Gra­phi­ken des Mei­sters der Gran­des Heu­res für Vér­ard sti­li­stisch na­he­ste­hen, sie ha­ben mit ih­nen aber kaum eine ein­zel­ne Bild­idee ge­mein­sam. An­ders als das na­men­ge­ben­de Werk ist Nr. 35 durch sei­ne bril­lan­te und kom­plet­te Er­ hal­tung viel­leicht das glück­lich­ste Werk die­ses Künst­lers. Un­ge­mein fa­rb­star­ke Ma­le­rei führt hier ein raf ­fi­nier­tes Spiel mit Bild­aus­schnit­ten vor, von Ganz­fi­gu­ren bis zum kon­ se­quen­ten Clo­se-Up. So viel­fäl­tig ist kein wei­te­res Ma­nu­skript in die­sem Œuvre.53 Wie­ der er­staunt, wie we­nig sich der Mei­ster Karls VIII . um ikono­gra­phi­sche Kon­ven­tio­nen schert; so lie­fert er mit Nr. 35 ein über­bord­end reich be­bil­der­tes Pa­ri­ser Stun­den­buch, das an­schau­lich macht, wie wich­tig sei­ne Kunst und sein Ein­falls­reich­tum für das Auf­ blü­hen des un­ge­mein bil­der­rei­chen Buch­drucks in Pa­ris wa­ren. Die Bild­phan­ta­sie tri­ um­phiert schon im Ka­len­der eben­so wie sein Sinn für sonst kaum er­prob­te Farb­ef­fek­te, ins­be­son­de­re mit schwar­zen Grün­den. Je­des der sel­te­nen Wer­ke vom Mei­ster Karls VIII . hat un­ver­kenn­ba­ren Cha­rak­ter. Bei Nr. 36 wis­sen wir durch ei­nen zwar schwer les­ba­ren, von Jean-Luc Deuffic aber dan­kens­ wer­ter Wei­se ent­zif­fer­ten Ein­trag, für wen das Buch ge­schaf­fen wur­de, und zwar für eine Je­han­ne Hen­ne­quin, Groß­mut­ter ei­ner Anne Le Co­nte, de­ren Toch­ter oder Sohn die­ se An­ga­be im 16. Jahr­hun­dert in das Buch hin­ein­ge­schrie­ben hat. Es könn­te jene 1495 ge­stor­be­ne Je­han­ne Hen­ne­quin ge­we­sen sein, Ehe­frau des 1485 ver­stor­be­nen Nico­las Mau­roy, der sei­ner­seits 1472 Lieutenant général in Troyes war. Die Mau­roy ge­hör­ten zu 51

Pa­ris, BnF, lat. 1190, Stun­den­buch­f rag­ment mit in den Ein­band ein­ge­las­se­nen Bild­nis­sen auf Per­ga­ment: Aus­st.-Kat. 1955, Nr. 340, mit Taf. XXXVII-XXXVIII .

52

Schwei­zer Pri­vat­be­sitz: Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter N. F. VI , 2009, 23a; Net­te­koven 2016, S. 231-233.

53

Net­te­koven 2016, S. 225- 230, kennt drei Stun­den­bü­cher in der Pa­ri­ser Ar­se­nal­bi­blio­thek Ms. 414, 1176 und 1181, dazu das eben er­wähn­te Stun­den­buch cod. Brev. 5 in Stutt­gart, eine Mi­nia­tur im Bre­vier lat. 1289 der BnF so­wie die hier be­schrie­be­ ne Hand­schrift. Hin­zu kom­men zwei Stun­den­bü­cher bei Sot­heby’s Lon­don und je­nes Bei­spiel in Pri­vat­be­sitz, in dem er mit dem Mei­ster der Traités théologiques zu­sam­men­ar­bei­te­te (zu ihm sie­he hier Nr. 32).

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Einleitung

je­nen Fa­mi­li­en, die wie die Liboron oder die Le Peley in Troyes als Auf­trag­ge­ber von Ma­ nu­skrip­ten und an­de­ren Kunst­wer­ken her­vor­ge­tre­ten sind. Das heißt frei­lich nicht, daß un­ser Stun­den­buch in Troyes ent­stan­den sein müß­te; denn so be­mer­kens­wert die Buch­ ma­le­rei in Troyes mit Künst­lern wie dem von uns nach un­se­rem Stun­den­buch des Si­mon Liboron54, von Avril um­ständ­lich „Maître du Pierre Mich­ault de Guyot Le Peley“ 55 ge­ nann­ten Mei­ster auch war, so blieb doch im­mer ein An­reiz, sich ein sol­ches Buch aus der Haupt­stadt zu be­schaf­fen. Dazu paßt die Li­ta­nei, de­ren Hei­li­gen­aus­wahl wirkt, als habe je­mand die wich­tig­sten Pa­ri­ser Kir­chen­pa­tro­ne hier ver­ei­ni­gen wol­len. Von der Frei­heit des Mei­sters von Karl VIII . im Um­gang mit ikono­gra­phi­schen Kon­ven­tio­nen zeugt das Bild zu den Buß­psal­men; dort stellt er die er­ste Sal­bung Da­vids durch Sa­mu­el dar, die man am pro­mi­nen­te­sten im Breviarium Gri­mani fin­det.

Kat. 31, Nr. 35

54 LM V, 1993, Nr. 23. 55

Pa­ris, BnF, fr. 1645: Aus­st.-Kat. Les Très riches heu­res de Cham­pa­g ne, Châlons-en-Cham­pa­g ne, Troyes und Reims 2007, Nr. 26.

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Einleitung

Den Künst­ler, der das nun fol­gen­de Stun­den­buch der Je­an­ne Ro­bert, Nr. 37, ge­stal­tet hat und der an Nr. 38 aus­führ­lich be­tei­ligt war, kennt man seit 1993 als Mei­ster des Ro­bert Gag­uin. Aus­gangs­p unkt der Be­nen­nung ist nicht nur für uns, die wir die na­men­ge­ben­de Hand­schrift 1993 prä­sen­tie­ren konn­ten, son­dern auch für Avril das De­di­ka­ti­ons­ex­em­ plar der Über­set­zung von Cä­sars De bel­lo Gallico, die Ro­bert Gag­uin für Karl VIII . vor­ ge­legt hat (siehe Abb. S. 31). 56 Mit sei­ner Fas­sung des be­rühm­ten Tex­tes führt der Ge­ne­ral des Trinit­ari­er-Or­dens schon im Jah­re 1488 die Grup­pe je­ner fran­zö­si­schen Ge­lehr­ten und Li­te­ra­ten an, die sich in den De­ka­den um 1500 – durch­aus auch im Weich­bild der Ita­li­en-Feld­zü­ge von Karl VIII ., Lud­wig XII . und Franz I. – neu mit der An­ti­ke be­schäf­tig­ten. Ih­ren Hö­he­punkt soll­te die­se Be­we­gung in den Über­set­zun­gen fin­den, die der Dich­ter und dann Bi­schof Octovien de Saint-Gel­ais von Ovids Her­oi­den und ganz im Ein­klang mit im­pe­ria­len Am­bi­tio­nen Lud­wigs XII . so­gar von Vergils Aen­eis ver­faß­te (zu ihm sie­he hier Nr. 51). Mit Ro­bert Gag­uin, der un­se­rem an­ony­men Ma­ler sei­nen Na­men lei­hen muß, kom­men wir noch ein­mal zu je­nem Li­te­ra­ten zu­rück, der 1473 vom „eg­regius ma­gi­ster Franc­iscus“ be­rich­tet und da­mit schließ­lich auch den ent­schei­den­den Hin­weis auf Fran­çois Le Bar­ bier den Äl­te­ren ge­ge­ben hat­te. Im Fa­rb­ge­schmack an Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ ren ori­en­tiert, im Fa­rb­auf­trag dis­zi­pli­nier­ter als der Mei­ster Karls VIII . ist die­ser Ma­ ler, des­sen hin­rei­ßen­de Mi­nia­tu­ren im Stun­den­buch der Je­an­ne Ro­bert wir be­reits im Jah­re 2000 im drit­ten Band der Neu­en Fol­ge der Se­rie Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter als Nr. 22 vor­ge­stellt ha­ben. Für den Gag­uin-Mei­ster cha­rak­te­ri­stisch bleibt sei­ne Ver­bin­dung mit dem Buch­druck; des­halb sei so­gleich auf ein bis­her un­be­kann­tes und von ihm il­lu­mi­nier­tes, erst neu­er­ dings von der Bi­ber­müh­le er­wor­be­nes Stun­den­buch hin­ge­wie­sen: Alle 792 Bil­der, die gro­ßen Mi­nia­tu­ren eben­so wie sämt­li­che klei­nen, die den Text in den Rand­strei­fen be­ glei­ten, hat er in die­ser von Phil­ippe Pi­gouchet ge­druck­ten (und wohl auch ver­leg­ten) Aus­ga­be vom 19. April 1494 (GW 13177) ge­stal­tet. Als sein ar­beits­in­ten­siv­stes chefd’œuvre wür­de das Buch, wäre es ein Ma­nu­skript, ei­nen Eh­ren­platz in die­sem Ka­ta­log ver­die­nen.57 Be­son­ders im­po­niert die Frei­heit, mit der die ge­druck­ten Bil­der vom Gag­ uin-Mei­ster um­in­ter­pre­tiert sind. In Horae B. M. V. I, konn­ten wir bei Nr. 31, ei­ner il­lu­ mi­nier­ten Va­ri­an­te von Thiel­mann Ker­vers Druck für Guillaume Eustace vom 20. Juni 1500, der dort als Nr. 30 be­schrie­ben wird, zei­gen, mit wel­cher künst­le­ri­schen Frei­heit un­ser Ma­ler die nach Ent­wür­fen des Mei­sters der Apo­ka­lyp­sen­ro­se ge­stal­te­ten Drucke ins 16. Jahr­hun­dert hin­über­führt. Doch auch das Stun­den­buch der Je­an­ne Ro­bert ist ein über­zeu­gen­des Bei­spiel für die Kunst die­ses be­mer­kens­wer­ten Pa­ri­ser Ma­lers. In der ge­wag­te­sten Mi­nia­tur ver­sucht der Gag­uin-Mei­ster, die vie­len Zeit­ge­nos­sen zu über­tref­fen, die zu den Buß­psal­men nicht 56

LM VI , 1993/94, Nr. 35; Aus­st.-Kat. 1993, Nr. 141 f., S. 262-264.

57

Be­bil­dert ist der Druck mit den Me­tall­schnit­ten des Mei­sters der Gran­des Heu­res für Vostre: Nr. 12 in Band IX von Horae, S. 3951 ff.

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Pigouchet, 19. 4. 1494

HORAE B. M. V. I, Nr. 31

HORAE B. M. V. IX, S. 3951

HORAE B. M. V. IX, S. 3975

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Chantilly, Musée Condé, ms. 79

Kat. 81, Nr. 37

mehr wie die Le Barbiers Davids Buße, sondern den Anlaß dafür, die Verführung durch Bathseba, darstellten. Der weibliche Akt, der in Stundenbüchern höchstens in Kalenderbildern einen bescheidenen Platz hatte, wenn die Zwillinge als Liebespaar begrifen wurden, erhielt hier eine aufs höchste genutzte Chance; und sie ergrif unser Maler nicht nur in unserem Manuskript, sondern auch im Stundenbuch des Morin d’Arfeuille, in dem er neben Jean Pichore arbeitete58 (siehe Abb. oben links). Doch mit derselben Menschlichkeit wußte der Meister auch die Mondsichelmadonna zu veranschaulichen. Den Anonymus nach Robert Gaguin zu nennen, macht übrigens auch deshalb Sinn, weil die literarische Arbeit des Trinitariers in ähnlicher Weise aus der spätgotischen Tradition Frankreichs zu aus der Antike geschöpftem Neuen führt. Bei der nun folgenden Nr. 38 war der Gaguin-Meister nicht der Hauptverantwortliche; doch stammen von ihm die meisten im Buch verbliebenen Miniaturen. Doch seit diese einst sehr üppig ausgestattete Handschrift, die noch 1929 ihre komplette Bebilderung besaß, gefleddert wurde, fehlen die Eröfnung der Marien-Matutin und der Textbeginn der Bußpsalmen. Immerhin verblieb im Buch die textlose Bildseite zum 1. Bußpsalm; dort wird Davids Sieg über Goliath in derselben Komposition dargestellt, die bereits in Nr. 32 in Übereinstimmung mit einer Graphik vom Meister der Apokalypsenrose benutzt worden war. 58

Chantilly, Musée Condé, ms. 79: Fréderic Vergne, La Bibliothèque du Prince, Paris 1995, S. 276.

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Einleitung

Die­se Mi­nia­tur ist wie die an Gra­phik ori­en­tier­te Bild­sei­te zur Jo­han­nes-Per­ikope, das Kreu­zi­gungs­bild und der Be­ginn der To­ten-Ves­p er mit klei­nen Rand­bil­dern er­gänzt; de­ren Dis­p o­si­ti­on läßt dar­auf schlie­ßen, daß der Be­ginn der Mari­en-Matutin und der Buß­psal­men eben­so wie die durch Re­pro­duk­ti­on auf ei­ner Ta­fel im Sot­heby-Ka­ta­log von 1929 do­ku­men­tier­te Er­öff­nung des To­ten-Of ­fi­zi­ums als Dop­pel­sei­ten an­ge­legt wa­ ren. Von die­sen Haupt­bil­dern hat man dem Gag­uin-Mei­ster nur die To­ten-Ves­p er an­ ver­traut. Dort hat er die ar­chi­tek­to­ni­sche Rah­mung von den an­de­ren gro­ßen Bild­sei­ten über­nom­men, je­doch nicht recht ver­stan­den. Doch die Ka­len­der­bil­der be­wei­sen sei­ne be­mer­kens­wer­te Bild­phan­ta­sie. Sei­ne Ei­gen­art be­stimmt alle im Ma­nu­skript ver­blie­be­ nen Bil­der zu den Ma­rien­stun­den und die Dar­stel­lun­gen in den Suff­ragien. Die sehr viel ma­le­ri­scher auf­ge­tra­ge­ne Far­be und das Ko­lo­rit mit der Vor­lie­be für tie­fes Blau und dunk­les Pur­pur­rot, die üp­pig mit Gold geh­öht sind, rückt die an­de­ren gro­ßen Bild­sei­ten eben­so wie die klei­nen Evan­ge­li­sten­por­träts in den Stil­kreis der Chronique scandaleuse. Wie im 1502 da­tier­ten und mit zwölf Mi­nia­tu­ren ge­schmück­ten Ex­em­ plar die­ser Chro­nik der Re­gie­rungs­zeit Lud­wigs XI ., das Avril und Reynaud 1993 zum „man­uscrit pi­lo­te“ der ge­sam­ten Stil­grup­pe ge­macht ha­ben,59 schafft ein Sinn für Rot­tö­ne bei Mün­dern und Wan­gen ge­mein­sam mit ei­ner Vor­lie­be für klei­ne waa­ge­rech­te Au­gen­ schlit­ze cha­rak­te­ri­sti­sche Ge­sich­ter, an de­nen man den Stil phy­sio­gno­misch be­stim­men kann. Doch ob die Hand des Mei­sters zu er­ken­nen ist, bleibt an­ge­sichts der über­wäl­ti­ gen­den Qua­li­tät im hier an­schlie­ßen­den Ma­nu­skript zu klä­ren. Mit die­ser Nr. 39, dem Stun­den­buch der Fran­çoise de Bel­le­combe vom Mei­ster der Chronique scandaleuse, er­reicht der hier vor­ge­leg­te Teil­band des Ka­ta­logs Pa­ris mon am­our nach Num­mer 35 sei­nen ei­gent­li­chen Hö­he­punkt. Das Buch hat ein­mal James Mayer de Roth­schild ge­hört, ist des­halb ei­gent­lich nicht ganz un­be­kannt; doch selbst Chri­sto­ pher de Hamel hat­te in sei­nem ge­schei­ten Buch über die Roth­schild-Hand­schrif­ten kei­ ne rech­te Vor­stel­lung von der ein­drucks­vol­len Qua­li­tät. 60 Da­mit kön­nen wir für die­ses Ma­nu­skript be­an­spru­chen, eine der gro­ßen Bil­der­hand­schrif­ten der Pa­ri­ser Roth­schilds end­lich be­kannt ma­chen zu kön­nen! Zu­dem nimmt es im rei­chen Œuvre sei­nes Schöp­ fers ei­nen ho­hen Rang ein, zu­min­dest als das schön­ste Stun­den­buch mit Mi­nia­tu­ren sei­ ner Hand. An­ders als die mei­sten Künst­ler, von de­nen hier die Rede ist, fügt sich die­ser Ma­ler nicht ein­fach in die Tra­di­ti­on der Le Bar­bier und des Mei­sters der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte Cha­pel­le und sei­ner Vor­gän­ger in Pa­ris ein. Vom locke­ren Fa­rb­auf­trag her ist an Jean Poyer in Tours zu den­ken, der die­se Buch­ma­le­rei viel­leicht mit­ge­prägt hat. Oft ver­stößt der Mei­ster der Chronique scandaleuse ähn­lich wie der Mei­ster Karls VIII . ge­gen die ge­wohn­te Mo­tiv­wahl. Das wird be­son­ders deut­lich an­ge­sichts des Bil­der­reich­tums un­ se­rer Nr. 39. Zu­dem brilliert hier der un­ge­wöhn­li­che Fa­rb­sinn des Künst­lers, der in er­ 59

Pa­ris, BnF, Ms. Clairambault 481, Text von Jean de Valognes mit In­ter­po­la­tio­nen von Jean de Roye: Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, S. 275-277.

60 Chri­sto­pher De Hamel, The Roth­schilds and the­ir Co­llect­ions of Illu­min­ated Man­uscripts, Lon­don 2005, S. 54 und öf­ter.

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Einleitung

ster Li­nie auf ein ge­ra­de­zu un­glaub­lich schö­nes Blau und ein Pur­pur­rot aus­ge­rich­tet ist, des­sen Kraft im Zu­sam­men­spiel mit hel­lem Grün, Vio­lett und fei­nen Grau­tö­nen, durch vir­tuo­se Gold­höhung hier vor al­lem im Ver­gleich mit Nr. 38 noch we­sent­lich ge­stei­gert wird. Man müß­te mehr über Fran­çoise de Bel­le­combe aus dem Mâconnais wis­sen, de­ren schö­nes Bild­nis im Buch ent­hal­ten ist, um die­ses ein­zig­ar­ti­ge Haupt­werk des Mei­sters der Chronique Scandaleuse mit der hier be­son­ders in An­spruch ge­nom­me­nen Bild­phan­ ta­sie mit je­weils vier Rand­bil­dern zeit­lich end­gül­tig ein­ord­nen zu kön­nen, al­ler­dings ist der über­lie­fer­te Hin­weis auf eine Schen­kung von ein­tau­send Livres im Jahr 1487 durch ih­ren Mann ein ernst­zu­neh­men­der An­halt. In der nun fol­gen­den Nr. 40, ei­nem be­son­ders ed­len Buch in vor­züg­li­chem Fan­fa­re-Ein­ band, hat der Mei­ster der Chronique Scandaleuse nur die Ver­kün­di­gung ge­malt, frei­lich mit sei­nem ex­qui­si­ten Sinn für ma­le­ri­sche Wir­kung und über­ra­schen­des Ko­lo­rit, so daß die­ses Bild zu den er­staun­lich­sten Schöp­fun­gen in un­se­rem an vor­züg­li­cher Ma­le­rei so rei­chen Ka­ta­log ge­hört. Die üb­ri­ge Aus­ma­lung hat er dem Mei­ster des Étienne Ponc­her über­las­sen, den wir lan­ge nach Ma­rie Char­lot nann­ten. Von die­sem Ma­ler, der für den Pa­ri­ser Bi­schof Étienne Ponc­her ge­ar­bei­tet hat und dem wir in den Stun­den­bü­chern Nr. 43-45 wie­der be­geg­nen wer­den, zeugt vor al­len an­de­ren die schö­ne Bat­hseba im Bade. Von ganz an­de­rer Kom­ple­xi­tät ist dann das Stun­den­buch Num­mer 41, das die in der Bi­ ber­müh­le seit den 1980er Jah­ren ge­wach­se­ne Ken­ner­schaft er­schlie­ßen hilft: Min­de­stens fünf Ma­ler ha­ben dar­an un­ter der Lei­tung des Mei­sters der Chronique Scandaleuse in Pa­ris um 1490 ge­ar­bei­tet: Die Ka­len­der­bil­der kön­nen wir aus der An­ony­mi­tät her­aus­ lö­sen; denn ih­ren Ma­ler ken­nen wir als ei­nen um 1500 in Pa­ris an­säs­si­gen Jean Co­ene. 1993 konn­ten wir ein iso­lier­tes Kreu­zi­gungs­bild aus ei­nem Miss­ale in Quart­for­mat er­ wer­ben, das de jos co­ene, also von Jo­han­nes Co­ene si­gniert. 61 Den ei­gen­ar­ti­gen Na­men, der ei­gent­lich an jü­di­sche Her­kunft den­ken läßt, trug eine seit der Zeit um 1400 in Pa­ris nach­weis­ba­re Buch­ma­ler­fa­mi­lie mit weit ent­fern­ten Wur­zeln in Brügge.62 Für das Ge­samt­pro­jekt ver­ant­wort­lich war der Mei­ster der Chronique scandaleuse. Er hat die Ver­kün­di­gung ge­malt eben­so wie Da­vid als Harf­ner, den wir be­reits oben im Zu­ sam­men­hang mit dem Stun­den­buch­druck und dem Mar­ta­inville-Mei­ster er­wähnt ha­ ben, von letz­te­rem wur­de in die­ser Ein­lei­tung die Da­vids-Mi­nia­tur ab­ge­bil­det. Man wird ihm auch die mei­sten gro­ßen Mi­nia­tu­ren zu­schrei­ben. Hin­ge­gen ver­rät die Kreu­zi­gung den von Isa­bel­le Delaunay nach dem Pa­ri­ser Bi­schof Étienne Ponc­her be­nann­ten Ma­ler, den wir frü­her als Mei­ster der Ma­rie Char­lot be­zeich­ne­ten. Nach ei­nem Stun­den­buch, das von der Go­tha­er Bi­blio­thek in den 1930er Jah­ren ver­äu­ßert, durch un­se­re Ver­mitt­ 61

LM NF I, 1997, Abb. auf S.320. Zu ihm sie­he hier die Nrn. 56 und 57.

62

Der Name Ja­cques Co­ene, dem in sei­ner Hei­mat­stadt Brügge so­gar eine ro­man­ti­sche In­schrif­ten­ta­fel an der Onze Lieve Vro­uwe Kerk ge­wid­met ist, gei­stert durch die Li­te­ra­tur; mein letz­ter As­si­stent, Joris Co­rin Hey­der (Book Il­lu­mi­na­ti­on and Jan van Eyck’s Early Years, in: Aus­st.-Kat., The Road to Van Eyck, hrsg. von Friso Lam­me­rtse und Ste­phan Kem­per­dick, Rot­ ter­dam 2012, S. 62) wähnt, wir sei­en alle ei­nig, das sei der Boucicaut-Mei­ster ge­we­sen; doch weit ge­fehlt! Rouse und Rouse 2000, II , S. 56 f.. Zu­letzt hat sich Al­bert Châtelet mit Ja­cques, in dem er den Pa­ri­ser Mei­ster der Ma­rien­krö­nung sieht, und ei­nem er­sten Jean Co­ene im Um­feld von Jan van Eyck aus­ein­an­der­ge­setzt. (L’Âge d’or du man­uscrit à pein­tures, Dijon 2000, S. 108-110 und pas­sim zu Ja­cques und 275 zu Jean).

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Einleitung

lung aber wieder nach Gotha zurückgekehrt ist,63 haben wir einen Maler getauft, der hier beispielsweise die beiden Bilder mit dem Stall von Bethlehem und die Gefangennahme gemalt hat. Schließlich hat der Meister der Philippa von Geldern, dem wir in Nr. 42 begegnen werden, die Sufragien bebildert. Schwer einzuschätzen ist die Halbfigur des Salvators, die an ein Tafelbild in Tours, eine Neuerwerbung des Musée des Beaux-Arts, denken läßt, die ich dem Meister des Münchner Boccaccio gegeben habe.64 Noch enger verwandt ist jedoch eine Miniatur im Stundenbuch der Marguerite de Rohan in Princeton. 65 Die Version dort stammt vom Meister der Missalien della Rovere und wird in Tours entstanden sein. Die wunderbare Variante in unserer Nr. 41 könnte der Meister der Chronique scandaleuse gemalt haben; dann würde sie erneut den Bezug dieses Künstlers in Paris zu Touroner Malern um 1500 bestätigen, die wie Jean Poyer aus Fouquets Nachfolge um malerische Wirkungen bemüht waren. Mit dem Stundenbuch Nummer 41 wird deutlich, welche Vielfalt in Paris möglich war und welch führende Rolle dabei der Meister der Chronique scandaleuse spielen konnte, vielleicht weil er im Gegensatz zu den Le Barbiers sehr viel besser mit überregiona-

Princeton, UL, Garrett 55 63

Kat. 81, Nr. 41

Ina Nettekoven, Forschungsbibliothek Gotha. Das Gothaer Stundenbuch (Patrimonia 312), Gotha 2007.

64 Für Pascale Charron und Pierre-Gilles Girault (im Ausst.-Kat. Tours 2012, Nr. 31) stammt die Konzeption von Jean Bourdichon, während ich im Ausst.-Kat. Paris 2010-11, Nr. 128, für den Meister des Münchner Boccaccio plädierte (König 2010). 65

Princeton, UL , Garrett 55, fol. 114: Mara Hofmann, Le Maître des Missels della Rovere, art de l’enluminure 6, 2003, S.59; ohne Hinweis auf die Herkunft schmückt es den Deckel des von Colum Hourihane publizierten Kolloquiumsbandes Manuscripta Illuminata, Princeton 2014.

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Einleitung

len Trends ver­traut war. Pro­ble­ma­tisch bleibt die Struk­tur von Werk­statt und Auf­trag. Die Ar­beits­ver­tei­lung ist in je­der der fünf hier be­schrie­be­nen Hand­schrif­ten, Nr. 26 und Nrn. 38-41, an­ders struk­tu­riert. Man wird kaum an­neh­men wol­len, die Auf­trag­ge­ ber sei­en selbst von Werk­statt zu Werk­statt ge­lau­fen, um ihr Stun­den­buch Schritt für Schritt voll­en­den zu las­sen. Schmerz­lich wird uns be­wußt, wie we­nig wir wis­sen und wie ge­ra­de­zu un­über­wind­lich die Di­stanz zwi­schen den hi­sto­ri­schen Stu­di­en von Rouse und Rouse 2000 und der An­schau­lich­keit ist, die Ken­ner­schaft am er­hal­te­nen Ma­te­ri­ al zu lie­fern im­stan­de ist. Zum Glück sind nicht alle Fäl­le so schwie­rig: Un­se­re Nr. 42, ein Stun­den­buch für den sehr sel­te­nen Ge­brauch von Le Mans, das sei­nen Ti­tel ei­nem Ein­trag aus der Mit­te des 17. Jahr­hun­derts ver­dankt, in dem sich ein Piero di Fi­lippo Fresco­baldi, wohl der Bi­schof von San Mi­ni­ato, als Be­sit­zer aus­gibt, hat der Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern ge­stal­ tet. Die ein­zi­ge Mi­nia­tur frem­der Hand hat der Mei­ster des Go­tha­er Stun­den­buchs in der Ent­ste­hungs­zeit hin­zu­ge­fügt. Den Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern er­kennt man an den recht klei­nen Köp­fen mit cha­rak­te­ri­sti­schem Ge­sichts­aus­druck, der ins­be­son­de­re durch die Prä­zi­si­on um die Au­gen­par­tie er­zeugt wird. Den mäch­ti­gen Kör­pern in vo­lu­ mi­nö­sen Dra­pe­ri­en gilt die Auf­merk­sam­keit des Ma­lers. Den Ho­ri­zont legt er in die­ser Hand­schrift eben­so nied­rig wie in sei­nem be­rühm­ten Ex­em­plar der Danse macabre des femmes66, so daß die Häup­ter der Fi­gu­ren in der Re­gel vor dem Him­mel er­schei­nen. Für Otto Pächt und Dag­mar Thoss ge­hör­te der Ma­ler 1977 noch zur Schu­le von Rouen. 67 Den Not­na­men hat John Plum­mer 1982 von ei­nem Ex­em­plar von Lud­olph von Sach­ sens Le­ben Jesu in fran­zö­si­scher Fas­sung ab­ge­lei­tet, das 1506 für Phili­ppa von Gel­dern, die zwei­te Frau des loth­rin­gi­schen Her­zogs René II , ge­schaf­fen wur­de.68 Erst Avril und Reynaud ha­ben im Künst­ler zu Recht ei­nen Pa­ri­ser Buch­ma­ler er­kannt.69 Der Mei­ster des Stun­den­buchs aus Go­tha hat nur eine ein­zi­ge Mi­nia­tur bei­ge­tra­gen, ein text­lo­ses Weih­nachts­bild, das auf ei­ner zu­nächst leer ge­blie­be­nen Ver­so-Sei­te der ent­ spre­chen­den Mi­nia­tur des Haupt­ma­lers auf Recto ge­gen­über­steht, sie­he hier die Ab­bil­ dung auf S. 348 bis 349. Die­ser Pa­ri­ser Kol­le­ge wur­de of­fen­bar mit Wis­sen des be­auf­ trag­ten Mei­sters ge­be­ten, ein zwei­tes Bild zu ei­nem be­reits ge­stal­te­ten The­ma zu ma­len, als gehe es hier um ei­nen er­staun­li­chen Stil­ver­gleich! Die Aus­rich­tung die­ses Stun­den­ buchs, das in Pa­ris vom Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern mit mo­nu­men­ta­len Mi­nia­tu­ ren ge­schmückt wur­de, auf die Di­öze­se Le Mans paßt eben­so wie die Be­stim­mung des Stun­den­buchs der Je­han­ne Hen­ne­quin aus Troyes (Nr. 36) zu ei­ner dann auch für den Stun­den­buch­druck wich­ti­gen Ten­denz: Eine gan­ze Ge­ne­ra­ti­on von Fran­zo­sen soll­te aus wei­ten Tei­len des Lan­des mit Aus­nah­me we­ni­ger Re­gio­nen wie dem Ly­on­nais und der Tou­raine ihre Bü­cher in er­ster Li­nie aus Pa­ris be­zie­hen. 66 ­Pa­ris, BnF, fr. 995: Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 153. 67

Pächt und Thoss, Fran­zö­si­sche Schu­le II , Wien 1977, ha­ben den­sel­ben Stil in Hand B der bil­der­rei­chen Hand­schrift der Trio­ mphes de Pétrarque, cod. 2581/82 der Wie­ner ÖNB , ne­ben Pi­chore und an­de­ren ge­f un­den: dort S. 39.

68 Lyon, Bibl. mun., ms. 5125: von Plum­mer zi­tiert in: Aus­st.-Kat. New York 1982, Nrn. 91-92. 69

Der Lud­olph von Sach­sen für Phili­ppa von Gel­dern war in Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993 die Nr. 152.

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Einleitung

Drei Stun­den­bü­cher vom Mei­ster des Étienne Ponc­her, also un­se­rem al­ten Mei­ster der Ma­rie Char­lot, schlie­ßen sich an: Nr. 43 stammt aus dem Be­sitz ei­ner Ma­rie de Briot; Nr. 44 hat ei­nen cha­rak­te­ri­sti­schen Ein­band der Zeit um 1600, auf dem in Gold­prä­gung der Name der Be­sit­ze­rin Bast­ienne Mayvret ein­ge­tra­gen ist. Schwie­rig ist die Be­stim­ mung von Nr. 45; dort hat ein frü­he­rer Be­sit­zer ge­meint, Wap­pen ei­ner Fa­mi­lie Amory vor­zu­fin­den; viel­leicht aber deu­ten die Wap­pen tat­säch­lich auf die Fa­mi­lie Ponc­her und da­mit auf das Um­feld des Pa­ri­ser Bi­schofs, der in­zwi­schen dem Ma­ler sei­nen Na­ men leiht. Étienne Ponc­her (1446-1525) wur­de 1503 zum Bi­schof von Pa­ris ge­wählt und stieg 1519 zum Erz­bi­schof von Sens auf; un­ter Lud­wig XII . war er von 1512 bis 1514 auch Gar­ de des Sceaux. Sein zwei­bändi­ges Pontifik­ale70 mag sich nicht so gut für Ver­glei­che mit Stun­den­bü­chern eig­nen, ist aber eine gute Ba­sis, auch die Wert­schät­zung des Ma­lers zu be­ur­tei­len, der zu­wei­len ge­druck­te Stun­den­bü­cher il­lu­mi­niert hat.71 Der Ma­ler ge­hört zu je­nen Künst­lern aus dem Kreis der Le Bar­bier, die sich von de­ren fein­glied­ri­ger Spät­ go­tik lö­sten und For­men aus der Re­nais­sance in ihr Schaf­fen in­te­grier­ten. Er ent­wickelt ei­ge­ne Vor­lie­ben, hat bei­spiels­wei­se be­grif­fen, daß sich der Hei­li­ge Geist zum er­sten Mal bei der Tau­fe Chri­sti zeigt; des­halb er­setzt er das Pfingst­wun­der gern durch die­se Sze­ne. Zwi­schen 1490 und 1510 wird man sei­ne Tä­tig­keit wohl an­neh­men dür­fen. Sei­ne recht ein­fa­chen Mi­nia­tu­ren zeu­gen in Nr. 43 von ei­ner sym­pa­thi­schen Fri­sche der Auf­fas­sung; des­halb hal­ten wir die­se Hand­schrift für ein re­la­tiv frü­hes Werk. In Nr. 44 spürt man eine zu­neh­men­de gra­phi­sche Ori­en­tie­rung des Ma­lers. Die­ses Werk ist sei­ner­seits aber be­mer­kens­wert durch die Art, wie die gro­ßen Bild­sei­ten in Haupt­bild und Bas-de-page auf­ge­teilt sind. Das führt in Nr. 45, ei­nem Werk der Spät­zeit mit ein­fach kom­po­nier­ten, aber sehr tref­fen­den und ein­drucks­vol­len Mi­nia­tu­ren, zum in­ter­es­san­ten Ver­stoß ge­gen ikono­gra­phi­sche Kon­ven­tio­nen, wenn dort der Rei­che in der Höl­le un­ter dem Jüng­sten Ge­richt und nicht dem ar­men La­za­rus in Abra­hams Schoß er­scheint. Das letz­te Stun­den­buch in die­sem Teil­band un­se­res Ka­ta­logs Pa­ris mon am­our, Nr. 46, stammt von zwei Ma­lern, die wohl aus der Werk­statt der Le Bar­bier her­vor­ge­gan­gen sind, mit de­nen sich aber bis­her nie­mand be­schäf­tigt hat. Den Ma­ler des Ka­len­ders kann man schlecht or­ten; wir ken­nen und schät­zen aber be­son­ders die Hand, die alle Bil­der im Buch­block ge­malt hat. Sie ist uns schon seit lan­gem durch klu­ge und an­spre­ chen­de Il­lu­mi­nie­rung von ge­druck­ten Stun­den­bü­chern der spä­ten 1480er Jah­re auf­ge­ fal­le­n72, au­ßer­dem durch ei­ni­ge hoch­ste­hen­de Mi­nia­tu­ren in un­se­rer Num­mer 26. Wir nen­nen den Ma­ler nach sei­nem um­fang­reich­sten Werk „Mei­ster der Mett­ler-Pèleri­na­ge“ und mei­nen da­mit die be­deu­ten­de Pa­ri­ser Hand­schrift in Pri­vat­be­sitz, die ein­mal dem 70 ­Pa­ris, BnF, lat. 956-957: Lero­quais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX . 71

So hat er ein Per­ga­ment­ex­em­plar ei­nes Stun­den­buchs für den Ge­brauch von Rom, für Si­mon Vostre, um 1505, Horae I, Nr. 40 (S. 352) aus­ge­malt.

72

Er hat in un­se­rem Ka­ta­log Horae am Stun­den­buch der Anne de Beau­jeu mit­ge­ar­bei­tet (I,1) und die Nr. I,3 aus­ge­malt; in Bd. IV taucht er wie­der auf, weil er an der Nr. Del­ta mit­ge­ar­bei­tet, Ep­si­lon ganz il­lu­mi­niert, in Kappa das Dop­pel­bild zur Mari­ en-Matutin ge­stal­tet und das dort als Lamb­da ver­zeich­ne­te Frag­ment der Gran­des Heu­res Roya­les von An­thoine Vér­ard ko­ lo­riert hat.

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Samm­ler Ar­nold Mett­ler-Specker aus Sankt Gal­len ge­hört hat, was des­sen Ex­li­bris und No­ti­zen sei­ner Hand be­zeu­gen.73 Das um­fang­rei­che Œuvre des Mei­sters der Mett­ler-Apo­ka­lyp­se um­faßt auf Per­ga­ment ge­druck­te In­ku­na­beln der vor­nehm­sten Art.74 Ge­mein­sam mit dem Mei­ster der Apo­ ka­lyp­sen­ro­se hat er die Danse macabre für Karl VIII . be­ar­bei­tet,75 nicht den ein­zi­gen Auf­trag für die­sen Kö­nig.76 Ein Stun­den­buch mit Mi­nia­tu­ren von ihm ist kürz­lich von Fled­de­rern auf­ge­bro­chen und in Ein­zel­blät­tern ver­streut wor­den; als voll­stän­di­ges Stun­ den­buch mit Be­bil­de­rung von sei­ner Hand ist uns nur ein wei­te­res Ma­nu­skript be­kannt, das man in Ma­drid mit Kai­ser Karl V. ver­bin­det.77 Da­mit ha­ben wir in die­sem Ka­ta­log fast alle we­sent­li­chen Pa­ri­ser Buch­ma­ler des spä­ten 15. Jahr­hun­dert ver­sam­melt. Es sind mehr, als man in den bei­den gro­ßen Aus­stel­lungs­ ka­ta­lo­gen der letz­ten Jahr­zehn­te, Plummers New Yor­ker Last Flowe­ring von 1982 und dem gro­ßen Pa­ri­ser Pan­ora­ma von Avril und Reynaud 1993 fin­det. Beim Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte-Cha­pel­le in Pa­ris müs­sen wir uns mit Nr. 32 vom eng ver­ wand­ten Mei­ster der Traités théologiques be­gnü­gen, kön­nen aber zu­gleich auf die Gra­ phi­ken ver­wei­sen, die der stil­prä­gen­de Künst­ler selbst un­er­müd­lich für den Buch­druck ent­wor­fen hat. Sie wur­den in un­ge­zähl­ten Va­ri­an­ten ge­druckt und teil­wei­se von den hier dis­ku­tier­ten Ma­lern wie vom Gag­uin-Mei­ster neu in­ter­pre­tiert und sind in un­se­rer Se­rie Horae ab­ge­bil­det. Das Glück, eine Bil­der­hand­schrift die­ses un­ge­mein sub­ti­len Künst­lers vor­wei­sen zu kön­nen, hat­ten wir noch nicht. Aber wer weiß? Die­ses Glück hat­ten wir hin­ge­gen beim Mei­ster des Kar­di­nals von Bour­bon, den man nach ei­ner un­er­hört bil­der­rei­chen Hand­schrift der Vie et mir­acles de mon­sei­gneur Saint Lou­is für den Kar­di­nal Charles de Bour­bon nennt78 und der hier dies­mal wirk­lich fehlt. Er be­geg­ne­te uns im Foucault-Boccace, dem 1997 der er­ste Band der Neu­en Fol­ge der Se­ rie Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter und da­mit ei­ner un­se­rer frü­he­ren Bei­trä­ge zur Er­for­schung der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei um 1500 ge­wid­met war. Dort hat er un­se­re Auf­merk­sam­keit durch die grau­sa­me Dar­stel­lung der Er­obe­rung von Je­ru­sa­lem ge­fes­selt79, siehe Abb. gegenüber, oben rechts. Vom Tod han­deln auch die be­sten Bil­der in ei­nem er­staun­li­chen Früh­werk die­ses Künst­ lers, ei­nem Stun­den­buch für den Ge­brauch von Pa­ris, das wir im Jahr 2000 als Nr. 20 im drit­ten Band der Neu­en Fol­ge do­ku­men­tiert ha­ben. Fas­zi­nie­rend sind dort die Farb­ ge­bung, die Emo­ti­on und die Bild­phan­ta­sie. Das Kreu­zi­gungs­bild ist kost­bar um­ge­ben 73

Men­sing, Am­ster­dam 5.4.1935, lot 27; zu­letzt Auk­ti­on Mau­rice Burrus: Chri­stie’s London, 25.05.2016, lot 19.

74

Hier­zu ge­hö­ren das Wie­ner Ex­em­plar von Vér­ards Lance­lot und die Chroniques de France in Worms­ley so­wie ein Ex­em­plar des Oro­se, Vèl­ins 682 der BnF.

75

Pa­ris, BnF, Est., Te 8 fol. rés.: sie­he Fa­rbabb. 134-136 bei Net­te­koven 2004.

76

So war er am Mer des Hysto­ires von Pierre Le Rouge für Karl VIII . (Vél­ins 676-677) be­tei­ligt.

77 Ma­drid, Bibl. nac., Vit. 24.3: Aus­st.-Kat. Les Rois Bi­blio­phi­les, Brüs­sel 1985, Nr. 64. 78 ­Pa­ris, BnF, fr. 2829: Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 148; sie­he auch die Re­pro­duk­ti­on al­ler Bild­sei­ten von Ri­chard, Gous­set und Avril, Pa­ris 1990. 79

LM NF I, 1997, S. 222 und Abb. von fol. 184 auf S. 223.

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Einleitung

Kat. 38, Nr. 1

Kat. 45, Nr. 20

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von nicht we­ni­ger als neun Ne­ben­sze­nen am Rand; die er­staun­lich­ste Lei­stung aber bie­ tet die Mi­nia­tur zur To­ten-Ves­p er: Dort wird vor ei­nem Spie­gel das ge­ra­de be­gin­nen­ de Lie­bes­spiel ei­nes jun­gen (ehe­bre­che­ri­schen?) Paa­res grau­sam vom Tod un­ter­bro­chen, der näch­tens ins Schlaf­ge­mach ein­ge­drun­gen ist und nun sei­nen Speer ge­gen die schö­ne Frau er­hebt.80

80 LM NF III , 2000, Nr. 20; die ge­nann­ten Bil­der re­pro­du­ziert auf S. 300 und 316.

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26 Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch, das die bei­den Hälf­ten die­ses Ka­ta­logs ver­bin­det: vom Co­ëtivy-Mei­ster be­gon­nen und erst kurz vor 1500 vom Mei­ster der Mett­ler-Pèleri­na­ge un­ter Lei­tung des Mei­sters der Chronique Scandaleuse voll­en­det


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in schwarzer Textura, mit roten Rubriken. Paris, um 1460: Coëtivy­Meister und um 1490-1495: Meister der Chronique Scandaleuse und Meister der Mettler­ Pèlerinage Dreizehn große Miniaturen mit Rundbogenabschluß über vier Zeilen Text, sechs da­ von mit einem leicht eingezogenen Rundbogen sowie variantenreichen Vollbordüren: eine Goldgrundbordüre mit farbigem Akanthus, eine traditionelle Tintenspiralbordü­ re mit blau­goldenem Akanthus und Blüten sowie einem dreiseitigen Zierstab alternie­ rend in Rot und Blau, der nur hier aus einer vierzeiligen Dornblattinitiale sprießt, zwei Akanthusbordüren auf Dornblattrest mit Blumendekor und neun Kompartimentbordü­ ren auf Rot, Blau, Braun, Gold und Pergamentgrund mit bunten Akanthusranken, über­ all belebt mit Vögeln, Insekten und vollfarbigen Grotesken auf kleinen Bodenstreifen, dazu weiße Initialen mit Banderolendekor auf Rot außen und Gold innen mit Blumendekor, eine aus grünem Astwerk geschwungene Initiale auf Rot mit Camaïeu­Akanthusdekor auf rotem Grund. Jede Textseite mit einer Bordüre außen aus Akanthus und Blumenwerk auf Dornblattrest, zweizeilige Initialen in Rot oder Blau mit weißem Liniendekor auf Gold mit Akanthusdekor, einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Gold auf rotblauem Grund mit weißem Liniendekor, Zeilenfüller in der gleichen Art. Versalien gelb laviert. 191 Blatt Pergament, dazu je ein Doppelblatt als festes und fliegendes Vorsatz. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 8 (6 – Zäsur vor der Marien-Vesper), 13 (8-1 – das erste Blatt vor fol. 95, vielleicht wegen Fehler in der Litanei, ohne Textverlust entfernt), 17 (6), 22 (4 – Zäsur vor Stabat mater). Waagerechte Reklamanten am unteren Rand fast überall noch an Oberlängen erkennbar, jedoch beschnitten. Zu 15 Zeilen, rot regliert. Groß-Oktav (216 x 155 mm; Textspiegel: 112 x 71 mm). Vollständig, breitrandig und in ausgezeichnetem Zustand. In einem roten Samteinband über Holzdeckeln, auf fünf sichtbare Bünde, mit zwei Messingschließen. Gepunzter Goldschnitt wohl noch aus der Zeit um 1500. Keine Hinweise auf frühere Besitzer. Sotheby’s London, 13.12.1965, Nr. 211. Text fol. 1: Marien­Ofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 1 – mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 27), Prim (fol. 40), Terz (fol. 47), Sext (fol. 52v), Non (fol. 58), Vesper (fol. 63), Komplet (fol. 71v).

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fol. 79: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 92v); die Heiligenauswahl mit Pariser Elementen, aber auch Hinweisen auf südlichere Regionen wie Limoges: bei den Märtyrern ohne Dionysius; die Bekenner enden mit Martialis, Benedikt, Germanus und Fiacrius (vor Fiacrius ein Blatt wohl schon vom Schreiber entfernt); aufällig unter den vielen hier angerufenen Frauen: Perpetua, Petronilla, Thecla, Iulienna, Anastasia, Genovefa und Brigida, am Ende Columba, Barbara, Ursia, Radegondis, Lunastica, Rosa und Martha. fol. 100v: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 100v), des Heiligen Geistes (fol. 108v). fol. 115: Toten­Ofzium für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 115), Matutin (fol. 123v, nicht markiert), Laudes (fol. 150, nicht markiert). fol. 164: Pro animabus deffunctis: Avete omnes anime; Suffragien: Trinität (fol. 165v), Maria, mit dem Salve regina beginnend (fol. 166). fol. 168: Stabat mater. fol. 170v: Erste Suffragiengruppe und weitere Gebete: Georg (fol. 170v), Bartholomäus (fol. 171), Matthäus (fol. 171v), Michael (fol. 172), Sebastian (fol. 172v) ; Sieben Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos (fol. 174), Herrengebete: Domine ihesu xp(rist)e qui pro nobis peccatoribus (fol. 176), weitere Suffragien: Maurus (fol. 177v), Fiacrius (fol. 178), Veronica (fol. 178v), Katharina mit Versgebet Gaude virgo katherina als Antiphon und „Canticum“ O gloriosa virgo et martir katherina am Schluß (fol. 180), Barbara (fol. 182), Heilig Geist: Veni sance spiritus als Sufragium (fol. 183). fol. 184: Zweite Suffragiengruppe: Johannes der Täufer (fol. 184), Peter und Paul (fol. 184), Petrus (fol. 184v), Andreas (fol. 185), Jakobus der Ältere (fol. 185v), Markus (fol. 186), Stephanus (fol. 186v), De reliquiis (fol. 187), De confessoribus (fol. 187v), Nikolaus (fol. 187v), Maria Magdalena (fol. 188), Valeria (fol. 188v), Plurimorum virginum (fol. 189), De martiribus (fol. 189v), De omnibus sanctis (fol. 189v), Omnium sanctorum (fol. 190v), De pace (fol. 190v), Eutropius (fol. 191). Hier besonders aufällig Valeria von Limoges und die Hervorhebung des heiligen Eutropius von Saintes am Ende der Auswahl. fol.191v: Textende. Schrift und Schriftdekor Das Buch ist in einer Textura mit deutlicher Unterscheidung von Schriftgrößen geschrieben, die schon für die Zeit um 1460 recht altertümlich wirkt; die Handschrift blieb zumindest eine Generation lang fast unbearbeitet liegen, ehe man sie mit Bordüren und Bildern schmückte. Nur die hinreißende Bildseite zum Stabat mater, fol. 168, entstand sofort nach Fertigstellung von Schrift und Initialdekor: Die Initiale ist aus einem grünen Knotenstock gebildet und mit rosafarbenem Akanthus gefüllt. Eine Zierleiste mit Blumen auf Blattgold umgibt Textfeld und Miniatur. In der rot umrandeten Vollbordüre erscheinen blau-gol-

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dener Akanthus und Blumenzweige mit Resten von Dornblatt vor Pergamentgrund, in einer um 1460 in Paris gewohnten Manier. Nicht leicht zu klären ist die Frage, wie weit der mit ähnlichen Elementen arbeitende Randschmuck der Textseiten und der anderen Bildseiten bereits aus dieser Entstehungszeit stammt. Die Grundelemente bleiben gleich; denn Reste von Dornblatt und rote Ränder sind überall zu sehen. Der blau-goldene Akanthus wirkt zwar teilweise flacher; doch besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Freilich stammen die großen Initialen unter den übrigen zwölf Miniaturen mit ihren weiß modellierten Akanthusformen ebenso wie die Groteske auf fol. 1 vom Ende des 15. Jahrhunderts. Bildfolge fol. 1: Zum Marien-Ofzium der in Frankreich gewohnte Zyklus aus Kindheitsgeschichte mit abschließender Marienkrönung: Eine dunk le Monumentalarchitektur mit Renaissanceformen deutet den Tempel als Schauplatz der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 1): Die Muttergottes sitzt in einer nach rechts fluchtenden niedrigen Kapelle, das ofene Gebetbuch auf dem Schoß, das Haupt leicht gesenkt, die Hände zum Gebet gefügt, die demütige Ecclesia verkörpernd. Von links ist der Engel in rosafarbener Dalmatika eingetreten und, ein wenig im Raum zurückgesetzt, niedergekniet. Mit dem überlangen Zeigefinger der Rechten weist er zur Taube, die von links oben prächtig aufflatternd zur Jungfrau herabfliegt. Aus der Landschaft links tritt Maria bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 27) auf die würdige Elisabeth zu, die aus dem stattlichen Steinhaus mit großem Wehrturm rechts nach vorn gekommen ist, nun in gebührendem Abstand vor der Jungfrau niederkniet und ihre Rechte weit nach dem gesegneten Leib ausstreckt. Zwei in violett getöntes Weiß gekleidete Engel mit roten Flügeln haben Maria über die hügelige Landschaft begleitet. Recht trefend ist die schlichte Landschaft unter dem leuchtend hellen Himmel gestaltet, mit schönen Schatten auf dem Weg. Wie so oft ragt der Stall von Bethlehem mit seinem Giebel von links ins Bild der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 40): Maria hat den nackten Jesusknaben auf ihren Mantelzipfel gelegt, in kunstvoller Verkürzung, ganz auf die Muttergottes ausgerichtet. Die Jungfrau kniet mit leicht zurückgenommenem Oberkörper, dessen Schlankheit sich im Mantel abzeichnet, und betet. Joseph ist derweil rechts ebenfalls ins Knie gesunken, um auf seinen Stock gestützt verwundert zu ihr zu schauen. Hinter ihm türmt sich über Felsen eine bucklige Wiese; daneben ist noch ein wenig Platz für einen dif usen Blick in blaue Ferne. Unter einem Engel, der nur blau in Blau mit wenigen goldenen Lichtern im Bogenabschluss erscheint, lauschen zwei Männer der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 47). Der eine steht barhäuptig und schaut auf, als wolle er auch die Betrachter des Bildes auf den Engel hinweisen; der andere ist im Profil niedergekniet und hat die Hände zum Gebet gefügt. Im Mittelgrund drängt sich die Herde vor einem Hügel und Felsen, zwischen denen ein Spalt den Blick in die Ferne erlaubt. Rote Beinkleider und ein roter Rock schaf-

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fen unten eine Einheit; umbrafarbene Kittel bilden darüber eine zweite Schicht; herrliches tiefes Blau kommt mit dem Schultertuch des linken Hirten hinzu und verbindet zu dem billigeren Himmelsblau. In ähnlicher Disposition wie im Bild zur Prim ragt der Stall auch bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 52v) von links in die Szene. Davor hat Maria mit dem nackten Knaben Platz genommen; ein Tüchlein bedeckt dessen Lenden, wie er sich zum ältesten König wendet, der aus der Tiefe des Raum gekommen und deshalb etwas zurückgesetzt kniet. Der mittlere König steht rechts, der jüngste ist in die Mitte gerückt. Für Landschaft ist kaum Platz. Inmitten einer Monumentalarchitektur steht bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 58) der Altar unter einem graugrünen Baldachin; dorthin ist Maria getreten, von einer Magd begleitet, die en face die Bildmitte einnimmt; in ihrem Korb tauchen die Köpfe von zwei Tauben auf. Die Muttergottes, die als einzige einen Nimbus trägt, gibt den Jesusknaben in die Hände des greisen Simeon, der rechts im Profil wartet. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 63) bemüht sich Joseph mit energischem Schritt auf dem schräg nach rechts unten führenden, mit Steinen besäten Weg weiterzukommen. Der Esel streckt seinen Kopf weit vor, während Maria mit dem munteren Jesuskind Blickkontakt hat. Hinter der Wegbiegung links wird ein Sämann von den Soldaten des Herodes nach der Heiligen Familie gefragt. Dafür, daß er die Häscher in die falsche Richtung führt, wird er göttlich belohnt; denn im Kornwunder ist seine Neusaat zu reifem Korn aufgeschossen. Der Heerhaufen, der das Kind sucht, ist gewaltig; vor dem Himmel heben sich Lanzen in unerhörter Zahl ab, ehe der Blick auf Burg und Stadt im Blau der Ferne stößt. Vom Kompositionstyp her kann die Marienkrönung zur Komplet (fol. 71v) kaum erstaunen, wohl aber von der geradezu goldschmiedehaften Präzision, mit der die einzelnen Sphären in Zeichnung und Farbe erfaßt sind: Maria kniet links vor dem himmlischen Thron, neben dem ihr schon eine Bank gerichtet ist, die das Bild nach hinten abschließt. Wolken rechts vorn und Blicke auf blaue und feurig goldene Sphären machen schon unten deutlich, daß sich das Geschehen im Himmel abspielt. Gottes Thron steht rechts und wird schräg von der Seite gesehen; ein blauer Brokat spannt sich unter einer Maßwerkrose im goldenen Bogen, von dem nur eine Hälfte gezeigt wird. Dort sitzt der greise Vater als Papst mit Tiara, in weißem Gewand mit rosafarbenem Mantel, der innen hellgrün gefüttert ist. Auf der Bank liegt ein Kissen im gleichen Grün für sie bereit. Das feurige Gold unter Gottes Füßen setzt sich oben als Zentrum der himmlischen Pracht fort, geht dann in Blau über; und in diesen farbigen Sphären wimmelt es von Engeln in farbigem Camaïeu, nicht als puttenhafte Seraphim und Cherubim, sondern in Gewänder gehüllt. Von anderer Statur sind die beiden Engel, die über Marias Haupt in violetten Dalmatiken schwebend knien und ihre Krone halten. fol. 79: Landschaftliche Dynamik macht den wesentlichen Efekt auch bei Davids Buße zu den Bußpsalmen aus: Rechts im Mittelgrund ragt ein zerklüfteter Fels auf; er hin-

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terfängt den greisen König, der vorn auf einem rauhen Weg kniet; sein Haupt ragt über den Horizont, wird aber von den Burgbergen im Hintergrund doch hinterfangen; die Wiese hinter David setzt seinen Kontur fort. Sein Blick öfnet sich genauso, wie sich die Landschaft nach links hin öfnet. Dort steht, geradezu an den linken Bildrand gelehnt, die Harfe und ragt sogar über den Horizont hinaus. Gott erscheint links oben als Halbfigur in Wolken. fol. 100v: Die Horen eröfnen mit den üblichen Erkennungsbildern: Die Kreuzigung zu den Horen von Heilig Kreuz (fol. 100v) nutzt den Querbalken des Kreuzes, um den kosmischen Himmel mit Sonne, Mond und Sternen vom irdischen abzutrennen. Links türmt sich ein Berg auf zu einer Burgruine; in der Mitte gleitet der Blick über Gewässer zu weiteren Bergen. In eindrucksvoller Dramatik sind die beiden Gruppen unter dem Kreuz einander gegenüber gestellt: Maria, Johannes und zwei weitere heilige Frauen sind von vorn gesehen. Vor dem greisen Zenturio, der Jesu Gottessohnschaft erkennt, steht ein Soldat im verlorenen Profil und scheint keckes Leugnen zu verkörpern. Den emotionalen Höhepunkt bilden die Muttergottes, die in ihrem Schmerz zusammensinkt, und Johannes, der fassungslos zu seinem toten Herrn aufschaut. Auf ganz andere Weise ist Maria Hauptfigur bei der Ausgießung des Heiligen Geistes zu den Horen vom Heiligen Geist (fol. 108v): Sie kniet links unter einem rosafarbenen Baldachin vor ihrem Betpult mit einem Buch, in dem sie gerade zurückblättert, den Blick ganz auf die Schrift gerichtet, als müsse sie in ihrem vollen Wissen erst gar nicht zur Taube aufschauen. Die ist den Aposteln erschienen, die, vom Kolorit her bereits leicht abgedunkelt, im Hintergrund des palastähnlichen dunklen Raums knien, von Petrus links angeführt. Eine Sonderrolle nimmt der Lieblingsjünger Johannes ein; er hat als einziger das Recht, mit Maria im gut ausgeleuchteten Vordergrund zu knien. fol. 71: Bilder aus der Geschichte Hiobs setzten sich als Hauptthema zum Toten-Ofzium gegen Ende des 15. Jahrhunderts immer mehr durch. Hier wird Hiob auf dem Dung gezeigt: Den Schauplatz in der Landschaft bestimmt ein abweisendes graues Gebäude links, das der Hauptfigur dadurch kompositorisch Kraft gibt. Das Gebäude ist wirkungsvoll modelliert; genau auf seine Ecke hin ist der Dulder ausgerichtet, wie er nackt, mit einem Bündel des Dungs über der Scham dasitzt und mit gekreuzten Armen zu den Freunden auf blickt, die mit Hermelinkappe und Hermelinkragen vor dem Dunghaufen niedergekniet sind, um intensiver auf ihn einreden zu können, während Hiobs Frau und ein jüngerer Mann herzutreten. fol. 168: Die Beweinung unter dem Kreuz war gegen den Wortsinn des Gebetstexts im späten Mittelalter das gewohnte Thema zum Stabat mater. Hier erweist sie sich als die schönste Miniatur des ganzen Stundenbuchs; denn sie ist ein eindrucksvolles Werk des Coëtivy-Meisters: Das Kreuz steht, wie in der Pariser Buchmalerei des dritten Jahrhundertviertels üblich, nicht auf einem Berg, sondern an einem Abhang, der nach links aufsteigt und hier zu einem pittoresken Felsen führt. In der Mitte öfnet sich der Blick über eine Senke hin zu einer Stadt, deren Mauern bildparallel die ganze Breite einnehmen,

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ehe dahinter niedrige Berge den Abschluß unter diesigem Himmel bilden. Maria sitzt zu Füßen des Kreuzes, ganz in ein herrliches Blau gekleidet, das eindrucksvoll durchmodelliert ist. Den toten Sohn hat man ihr auf den Schoß gelegt, und nun präsentiert sie ihn den Frommen, während Johannes und Magdalena Haupt und Füße des Toten mit würdigen Gesten in bitterem Schmerz verehren. Beide sind farblich aufeinander abgestimmt durch Weiß und Lila. Ein etwas kräftigerer Rotton kommt noch hinzu durch den Mantel, den eine Frau hinter Johannes um ihr Haupt gelegt hat und durch denjenigen, der Magdalena von den Schultern gesunken ist. Bunt hingegen sind die beiden Greise hinter Magdalena gekleidet, Nikodemus und Joseph von Arimathia, namentlich nicht unterscheidbar. Eine gewisse Verwandtschaft mit einem Frühwerk von Jean Fouquet, der Pietà im Pariser Stundenbuch latin 1417, fol. 191, ist unverkennbar (siehe Ausst.-Kat. Jean Fouquet, Paris 2003, Abb. S. 181). Zu den Malern Das Buch ist um 1460 in Paris angelegt worden; damals entstand die Pietà; und sie erweist sich als ein reifes Werk, in dem alle erstaunlichen Qualitäten jenes Malers vereint sind, den man als Coëtivy-Meister bezeichnet. Auf ihn sind wir in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter Neue Folge IV anlässlich der drei Nrn. 20-22 und der Nummern 19-21in diesem Katalog ausführlicher eingegangen. Er wird nach dem Wiener Stundenbuch des Olivier de Coëtivy genannt (cod. 1929 der ÖNB), wurde lange mit Henry de Vulcop identifiziert, von Nicole Reynaud inzwischen mit Colin d’Amiens, und neuerdings von Ina Nettekoven wieder mit Vulcop. Zur Kenntnis seiner Kunst trägt unsere Miniatur, gerade im Vergleich mit Nr. 20 aus LM NF IV Folgendes bei: Zuweilen hat der Maler, insbesondere indem er stärker als seine Zeitgenossen Schwarz zur Modellierung nutzte, eine Art von plastischer Durchbildung erreicht, die im Kontext der Pariser Buchmalerei erstaunt und diese eine Miniatur von den sonst gewohnten Bildern entschieden absetzt. Vom hohen Anspruch des Auftrags, der ofenbar dann doch abgebrochen wurde, zeugen die schöne Blumen-Zierleiste und die höchst ungewöhnliche Knotenstock-Initiale, die an die heraldische Tradition des Hauses Orléans seit den Zeiten des 1407 von Johann Ohnefurcht ermordeten Louis d’Orléans denken läßt: Noch im Stundenbuch der Marguerite d’Orléans, latin 1156B der BnF, Paris, kehrt das Motiv als Familienzeichen auf fol. 13 wieder (Eberhard König mit Christine Seidel, Das Stundenbuch der Marguerite d’Orléans, Luzern 2013). Unter der Leitung jenes vielbeschäftigten Pariser Malers, den Avril und Reynaud nach dem Exemplar der Chronique Scandaleuse der Sammlung Clairambault Ms. 481 in der Pariser Nationalbibliothek bezeichnet haben, wurde das Buch dann im späten 15. Jahrhundert vollendet: Der Meister der Chronique Scandaleuse ist an seinem Sinn für Zwischentöne, im Kolorit wie in der Mimik seiner Figuren, leicht zu erkennen. Ausgangspunkt kann hier die Anbetung des Kindes sein; denn deren gedeckte Farben sind ebenso wie das Antlitz des Ziehvaters für den Maler charakteristisch; dazu paßt auch die Faltengebung mit den sparsamen goldenen Lichtern und der Flächigkeit von Josephs Ge-

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wandung. Die nahräumigen Landschaften ebenso wie die dunklen Interieurs mit flachem Renaissance-Dekor verraten den Maler ebenso, so daß ihm schließlich die Marienverkündigung, das Weihnachtsbild, die Hirtenverkündigung, die Anbetung der Könige und die Darbringung im Tempel zugeschrieben werden können. Die übrigen Miniaturen sind von einem guten Pariser Buchmaler, in dessen Kunst noch viel aus der Zeit von Maître François nachwirkt, den wir inzwischen als François le Barbier den Älteren bezeichnen können (Nr. 24 im zweiten Band dieses Katalogs von 2017). Man mag ihn zuweilen fast mit dem Gaguin-Meister verwechseln. In unserem Katalog Horae B. M. V. von 2003 bzw. 2014 sind wir zum ersten Mal auf seine unverkennbare Identität gestoßen und haben versucht, seine Eigenarten zu umreißen. Sie prägen ein außergewöhnlich reich und sorgfältig ausgemaltes Exemplar der Pèlerinage des Guillaume de Digulleville, das ein Hauptstück in der berühmten Auktion Mettler 1929, Nr. 38, war und über die Sammlung Maurice Burrus 2016 in französischen Privatbesitz gelangte. Ihm, den wir als „Meister der Mettler-Pèlerinage“ eingeführt haben, sind die meisten Bilder in diesem Stundenbuch zu verdanken. Besonders herausragend erweisen sich dabei die Flucht nach Ägypten und die oben ausführlich charakterisierte Marienkrönung, die von einem künstlerischen Geist zeugen, der Dynamik und hohe Präzision auf eine Weise verbindet, die ihn vor vielen Pariser Malern seiner Zeit auszeichnet. Von seinen Qualitäten zeugt auch der David, der freilich etwas zu monumental konzipiert zu sein scheint. Ein eindrucksvolles Manuskript, im Buchblock vollständig erhalten, aber ohne Ka­ lender: ein Pariser Stundenbuch der Zeit um 1460, mit Textura in verschwenderi­ schem Umgang mit dem Pergament geschrieben, breitrandig und auf jeder Textseite mit einem Bordürenstreifen. Jedoch ein Auftrag, dessen Bearbeitung nach Vollen­ dung einer begeisternden Bildseite des Coëtivy­Meisters abgebrochen wurde. Eine Generation später hat der Meister der Mettler­Pèlerinage unter Leitung des Mei­ sters der Chronique Scandaleuse die Ausmalung abgeschlossen. Eindrucksvoll mo­ numentale Bilder vom Meister der Chronique Scandaleuse stehen nun neben Minia­ turen, in denen der bisher kaum beachtete Mitarbeiter Dynamik und hohe Disziplin verbindet und uns zeigt, wie wenig wir noch immer von der Bandbreite der Pariser Buchmalerei um 1500 wahrgenommen haben. LI TE RATUR: Ina Nettekoven, Der Meister der Apokalypsenrose und die Pariser Buchkunst um 1500, Turnhout 2004. Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge IV, S. 239-294, zum Coëtivy-Meister. Nicole Reynaud, in Avril und Reynaud 1993, S. 274-277, zum Meister der Chronique Scandaleuse. Katalog Horae B. M. V. I, 2003, S. 32-34 und 50 und IV, 2014, mehrfach, zum Meister der Mettler-Pèlerinage. LM NF VI , Nr. 5.

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Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot, Blau und Gold, in brauner Textura, der Name Mariens im gesamten Manuskript durchgehend in Gold. Paris, ca. 1465/70: Polignac­Meister aus dem Umfeld von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren 12 große Miniaturen mit eingezogenem Rundbogenabschluß über fünf Zeilen Text, zwei davon mit vierseitigen Bordüren auf Pinselgoldgrund und drei mit Kompartiment­Bor­ düren, die übrigen auf Pergamentgrund mit großen blau­goldenen Akanthus­ und grü­ nen Blattranken, dazwischen zahlreiche Streublumen, Blattranken und Früchte sowie große Vögel, Insekten und Grotesken; zwei historisierte Initialen mit dreiseitiger Bordü­ re gleicher Art; zahlreiche Bordürenstreifen mit eng geführten Tintenspiralen und kur­ zen Akanthusranken, Blüten, Blattwerk und Tieren auf allen Textseiten mit zweizeili­ gen Zierbuchstaben. Vierzeilige Initialen in Rot und Blau mit weißem Liniendekor auf Gold, Blüten- und Fruchtzweige im inneren Feld; ein- bis dreizeilige Initialen in Pinselgold auf Rot und Blau; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 212 Blatt Pergament, davon 7 hinzugefügte Blätter zur Texterweiterung, vorne und hinten je 1 fliegendes und ein festes Vorsatz aus altem Pergament mit Besitzvermerken des 16. Jahrhunderts. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) sowie die Lagen 10 (8-1; Bl. 7 fehlt), 11 (8-1; Bl. 4 fehlt), 24 (4) und die Endlage 26 (6). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; gelegentlich Reste horizontaler Reklamanten. Duodez (139 x 95 mm, Textspiegel: 78 x 49 mm). Bis auf zwei Blätter vollständig; die goldenen Einträge im Kalender von einem Goldschläger beschädigt. Frisch und farbkräftig erhalten. Brauner Kalblederband des 16. Jahrhunderts auf vier Bünde, Rückenkompartimente mit vergoldeten Lilienstempeln, Deckel mit gestempelten Kastenrahmen und Grotesken, an den Ecken und als zentrales Medaillon vergoldete Blattranken; zwei Schließen, Reste von Goldschnitt. Nachdem zunächst in den Mariengebeten dem Geschlecht der Betenden keine Aufmerksamkeit galt, wurden weibliche Formeln schon früh hineinkorrigiert; dem entspricht die Darstellung einer Beterin zu den XV Freuden Mariä (fol. 191). 1583 wurde das Manuskript von einem „Françoys de…“ [rasierter Familienname in den Besitzeinträgen] erworben, wie Einträge auf dem ersten fliegenden Vorsatz vorn und dem festen Vorsatz hinten verraten. Vorn wird die Formel verwendet: qui les trouvera les luy randra et il payera… Auf dem ersten fliegenden Vorsatz hat sich im 17. Jahrhundert weiterhin eine Marie desplain als Besitzerin der Handschrift eingetragen. Der Eintrag „6980 Ph“ auf dem Vorsatz weist das Stundenbuch als Besitz von Sir Thomas Phillipps (1792-1872) aus; aus dessen Sammlung ging die Handschrift 1977 über Robinson

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an H. P. Kraus, der sie an Neil F. Phil­lips ver­kauf­te. Am 2. Dez. 1997 als lot 71 ge­lang­te die Hand­schrift in die Samm­lung Beverly A. Bat­tersby. Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, Hei­li­gen­na­men ab­wech­selnd in Rot und Blau, Fest­ta­ge in Gold, Gol­de­ne Zahl und Sonn­tags­buch­sta­be a in Gold, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g in Braun, rö­mi­sche Ta­ges­zäh­lung al­ter­nie­rend in Blau und Rot. Die Hei­li­gen­aus­wahl deu­tet auf Pa­ris mit Gen­ovefa (3.1.) und Dio­ny­si­us (8.10.) als Fest. fol. 15: Per­ik­open: Jo­han­nes als Suff­ragium (fol. 15), Lu­kas (fol. 17), Mat­thä­us (fol. 18v) und Mar­kus (fol. 20). fol. 21v: Sie­ben Ver­se des Hei­li­gen Bern­hard: Il­lu­mi­na ocu­los meos. fol. 23: Ma­rien­ge­be­te re­di­giert für ei­nen Mann, al­ler­dings mit der Hin­zu­fü­gung weib­ li­cher For­men durch zeit­ge­nös­si­sche Hand, so daß man auch fa­mula tua (fol. 25v) le­sen kann: Ob­secro te (fol. 23); O in­teme­rata (fol. 27v). fol. 33: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matutin (fol. 33, mit drei Nok­tur­ nen), Lau­des (fol. 59v), Prim (fol. 72v), Terz (fol. 79), Sext (An­fang fehlt vor fol. 84), Non (An­fang fehlt vor fol. 88), Ves­p er (fol. 92), Komplet (fol. 100). fol. 107: Horen: von Hei­lig Kreuz (fol. 107) und von Hei­lig Geist (fol. 111). fol. 117: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 131) mit Pa­ri­ser Hei­li­gen: Steph­anus, Dio­ny­si­us, Per­petua und Gen­ovefa. fol. 137: To­ten­of ­fi­zi­um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 137), 1. Nok­turn (fol. 146v mit Ru­brik), Lau­des (fol. 174 mit Ru­brik). fol. 191: Fran­zö­si­sches Ma­rien­ge­bet: Doulce dame, ge­folgt vom Her­ren­ge­bet: Doulx dieu (fol. 198). fol. 202: Suff­ragien: Chri­stoph­orus (fol. 202), Se­ba­sti­an (fol. 203v). fol. 204: Spä­te­re Er­gän­zun­gen ver­schie­de­ner Hän­de, die In­itia­len blie­ben leer: Suff­ragium des Hei­li­gen Fran­zis­kus und Suff­ragium des Hei­li­gen An­to­ni­us von Padua (fol. 205), ge­folgt von ei­nem Ge­bet an den Hei­li­gen Gatian von Tours (fol. 206v) und ei­nem wei­te­ren Ge­bet an den Hei­li­gen Fran­zis­kus (fol. 207). fol. 208v: Chri­stus­ge­bet: Ave cor­pus domi­ni nostri Ihesu Chri­sti, ge­folgt von ei­nem Ge­bet an die Hei­li­ge Anna (fol. 209). Schrift und Schrift­de­kor Das Ma­nu­skript ist in ei­ner recht ge­drun­ge­nen Tex­tura ge­schrie­ben. Noch set­zen die Psal­men­ver­se am Zei­len­an­fang ein; des­halb sind vie­le Zei­len­fül­ler er­for­der­lich. Zier­ buch­sta­ben von ein bis drei Zei­len Höhe wer­den mit dünn auf­ge­tra­ge­nem Pin­sel­gold auf

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abwechselnd braunroten und blauen Flächen gestaltet. Kräftige schwarze Linien dienen meist nur an zwei Seiten als Konturen, als ob eine Schattenwirkung angestrebt wäre, die jedoch anders als in zeitgenössischen Handschriften nicht einheitlich mit Licht von links oben rechnet, sondern ohne erkennbare Systematik auf anderen Textseiten Licht von rechts oben annimmt. Nur die zweizeiligen Initialen werden von Bordürenstreifen außen begleitet, die zum Textfeld hin mit einer feinen goldenen Leiste ausgestattet sind und auf Dornblatt jeweils ein großes Motiv auf weisen: meist sind es Blumen, seltener blau-goldener Akanthus und beim Monat Januar sogar auf Recto und Verso ein großer Pfau, der sein Rad schlägt. Die beiden Bild-Initialen werden von dreiseitigen Rankenklammern hervorgehoben, in denen das Dornblatt durch die farbigen Elemente weit zurückgedrängt wird. Die mit großen Miniaturen geschmückten Seiten erhalten Vollbordüren in einer klaren hierarchischen Ordnung: Die schlichteste Stufe arbeitet mit dichtem farbigen Dekor aus blau-goldenem Akanthus und stilisierten Blumen; die Felder sind zum Textspiegel mit einer feinen goldenen Linie, nach außen hingegen mit roten Linien abgegrenzt. Jeweils zwei Lebewesen beleben diese Bordüren: vorwiegend ornithologisch gut beobachtete Vögel (so beispielsweise ein prachtvoller Hahn zur Heimsuchung), ein Afe und eine Hirschkuh und nur drei Grotesken, zuweilen auf niedrigen Bodenstreifen. Die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist sowie die Toten-Vesper werden durch Kompartiment-Bordüren hervorgehoben, die mit dem Wechsel von Pergament- und Goldgrund arbeiten. Die Belebung durch Vögel und Tiere fällt weg. Nur die traditionell als Haupttexte zu verstehenden Incipits von Marien-Matutin und Bußpsalmen erhalten Randschmuck auf geschlossenem Goldgrund; hier sind dann vier Vögel zu finden. Bildfolge fol. 23: Nachdem die Perikopen bildlos geblieben waren, erhielten die beiden Mariengebete jeweils eine historisierte Initiale: In einem sechszeiligen Feld wird zum Obsecro te die Beweinung unter dem Kreuz, also die Pietà, gezeigt: Vor einem nach rechts abfallenden Hügel, der Gras und Buschwerk trägt, und vor dem nur knapp gezeigten Kreuzesstamm sitzt die Muttergottes, ganz in Blau, jedoch mit einem weißen Schleier. Starr liegt der tote Christus auf ihrem Schoß. Sie hat die Hände zum Gebet gefügt. Gegen den Ablauf des Karfreitags verstößt der dunkle Himmel mit Sternen; denn der Erlöser wurde ja bei Einbruch der Nacht bestattet. In einer nur vierzeiligen Initiale folgt zum O intemerata die Maria mit dem Kind (fol. 27v) als Halbfigur: der Knabe in Rot, sie ganz in Blau, vor rotem Grund sitzend. fol. 33: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen verraten bei aller Verwandtschaft mit der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier ein bemerkenswertes eigenes Temperament:

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Die Matutin eröfnet eine farbstarke Verkündigung (fol. 33): Gerahmt von goldenen Säulen, die einen Fries tragen, rückt die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel ganz in den Vordergrund. Die raumgreifenden Figuren lassen nur wenig vom Interieur erkennen, das eher Tempel als Palast ist; ein roter Baldachin, der auch an ein Bett denken läßt, mit einem hochgebundenen Vorhang, wie ihn Kunsthistoriker zuweilen mit der Schwangerschaft verbinden, zeichnet die Jungfrau aus. Drei Fenster sind in die bildparallele Rückwand geschnitten; rechts hingegen zeichnet sich dunkel ein Torbogen ab, durch den wohl der Engel gekommen ist; darüber zeigt sich der greise Gottvater vor Himmelblau. Marias Betpult mit geöfnetem Buch ist ein Stück in die Tiefe gerückt; es scheint aus reliefiertem Stein gefertigt zu sein und ist mit einem hellblauen Tuch bedeckt. Maria senkt ihr Haupt, weist mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer rechten Hand auf das Buch, vor dem ihre Linke erscheint, als diskutiere sie mit Gabriel über den Text. Der Erzengel, der in der Linken ein dünnes Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung hinter sich; schwer lesbar steht das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes aber schwebt winzig dem Ave voraus. Von besonderem Reiz ist der Einsatz von Metall: Gabriels Mantel und seine Flügel sind in Pinselgold angelegt und mit Rot schattiert; Marias Blau aber wird auf eine geradezu einzigartige Weise mit Silber gehöht! In der bis zum Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 59v) vor einer nach rechts abfallenden Hügellinie. Von hier ist Maria mit einer jugendlichen Magd übers Gebirge gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen. Meist tritt sie aus dem stattlichen Haus des Zacharias, hier aber sieht es so aus, als habe sie ein Stadttor verlassen. Während Maria ihre Linke nach der betagten Frau ausstreckt, hat diese ihre Hände zum Gebet gefügt; eine Berührung findet nicht statt. Zu derselben Bildtradition gehört das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 72v): Vor dem dunklen Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einer niedrigen Mauer führt, kniet Maria; den nackten Knaben hat sie auf den Saum ihres Mantels gelegt; dort richtet sich das Jesuskind auf und macht mit der Rechten eine energische Sprechgeste. Joseph ist von rechts herbeigekommen; im Begrif niederzuknien, weist er mit dem linken Zeigefinger verwundert auf das Kind. Nur der Esel taucht links hinter Maria auf. Ein rundes Tischchen mit einem kleinen Stilleben aus Brot, Zinnkanne und Becher gehört zu den ungewöhnlichen Aspekten dieses Bildes. Der Ausblick nach rechts hinten führt zu einer durch eine Mauer nach vorn waagerecht abgeschlossenen Stadtansicht voller Türme. Eine Hirschkuh und ein Stieglitz tummeln sich in der Bordüre. Selbst in der recht ofenen Landschaft der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 79) wird in der vorderen Ebene ein Figurenrelief gebildet: aus einem links am Boden hockenden Hirten, der sich mühsam aufrichtet, nachdem ihm der Hut vom Kopf gefallen ist, und einem eigentümlich starr bewegten älteren, der im Profil nach links gewendet ist. Beide blicken auf zum kleinen Engel im Bogenabschluß der Miniatur. Die Herde drängt sich

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hin­ter ih­nen vor ei­nem nach links steil an­stei­gen­den Burg­berg und ne­ben ei­nem Wäld­ chen; in der Fer­ne liegt eine ähn­lich wie in der vo­ri­gen Mi­nia­tur dar­ge­stell­te Stadt. Im Ge­gen­sinn zur Land­schaft der Heim­su­chung steigt bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 92) das Ge­län­de nach rechts an; die turm­rei­che Stadt liegt nun links hin­ ten. Von ei­ner gol­de­nen Säu­le stürzt in der Bild­mit­te ein heid­ni­sches Göt­zen­bild her­ab. Von der­sel­ben blon­den Magd wie bei der Heim­su­chung, die nun aber nur ein vio­let­tes Kleid trägt, be­glei­tet, rei­tet Ma­ria auf dem Esel. Sie hält das wei­ße Wickel­kind in den Ar­men, wäh­rend sich Jo­seph zu ihr um­dreht, um ihr ver­mut­lich eine Frucht zu rei­chen. Über dunk­lem Blau mit sil­ber­nen Wol­ken steht Got­tes Thron; hier fin­det die Ma­rien­ krö­nung zur Komplet (fol. 100) statt: Ma­ria kniet links auf dem Blau, das die Kon­tu­ren ih­res Man­tel­saums verun­klärt. Als grei­ser Papst mit Tia­ra seg­net sie Gott­va­ter, der auf sei­nem schräg ge­stell­ten Thron rechts sitzt. Auf ei­ner bis zum lin­ken Bild­rand rei­chen­ den Bank mit nied­ri­ger Rücken­leh­ne wird die Mut­ter­got­tes Platz neh­men. Das wird eher links ge­sche­hen als vor der son­der­ba­ren ver­gol­de­ten Ta­fel in der Bild­mit­te, die in BlendMaß­werk mit Lan­zet­ten, drei Vier­päs­sen und ei­ner Rose noch im Stil des Ray­on­nant ge­ schmückt ist. Ein En­gel taucht hin­ter der Leh­ne auf und setzt ihr die Kro­ne aufs Haupt. fol. 107: Zu den Horen sind auch hier die be­kann­ten Er­ken­nungs­bil­der ge­schal­tet: Die Kreu­zi­gung zu den Hei­lig-Kreuz-Horen (fol. 107) setzt das Kreuz vor ei­nen der cha­ rak­te­ri­sti­schen schräg nach rechts ab­fal­len­den Hü­gel, hin­ter dem ei­gen­tüm­lich dun­kel Je­ru­sa­lem auf­taucht. Das Kreuz ist nah an die vor­de­re Bild­ebe­ne ge­rückt; die obe­ren Ecken des Quer­bal­kens wer­den vom Bo­gen­ab­schluß der Mi­nia­tur ab­ge­schnit­ten. Ma­ ria steht mit Jo­han­nes und ei­ner un­kennt­li­chen zwei­ten Frau links, der Zen­tu­rio, mit ei­nem ho­hen Hut, in blau­em Gold­bro­kat un­ter dem seit­lich ge­schlitz­ten ro­sa­far­be­nen Man­tel, spricht zu ei­nem jün­ge­ren Sol­da­ten, der sich ab­rupt zu ihm um­dreht. Im glei­ chen Grau wie die Stadt­sil­hou­et­te sind die vie­len Hel­me von Sol­da­ten ge­hal­ten, die sich hin­ter dem Zen­tu­rio drän­gen. Der schwar­ze Dop­pel­ad­ler des rö­mi­schen Reichs prangt in ei­nem Feld­zei­chen dar­über. Ra­di­kal auf Ma­ria als Haupt­per­son ein­ge­rich­tet ist das Pfingst­wun­der zu den Hei­ligGeist-Horen (fol. 111): Vor ei­nem ro­sa­far­be­nen Eh­ren­tuch er­scheint sie un­ter der Tau­ be des Hei­li­gen Gei­stes als Halb­fi­gur über ei­nem Tisch, auf dem ein Buch auf­ge­schla­ gen ist, zwi­schen dem ju­gend­li­chen Jo­han­nes links und dem grei­sen Pe­trus, hin­ter de­nen wei­te­re Apo­stel ste­hen. Den Vor­der­grund aber nimmt ein Apo­stel ein, der vor Schreck sein Buch hat fal­len las­sen und nun auf al­len Vie­ren am Bo­den ver­weilt und sich müht, die Au­gen vor dem Licht zu ver­ber­gen. fol. 117: Zu den Buß­psal­men wird Da­vids Buße in ei­ner Pa­last­ka­pel­le ge­zeigt: Ge­rahmt ist das Bild von drei Bö­gen Maß­werk in Gold-Ca­maïeu, auf de­ren frei im Raum hän­gen­ den Ba­sen zwei Jüng­lin­ge als wei­ße Sta­tu­et­ten ei­nen Schwert­kampf füh­ren. Vor ei­nem von der Schmal­sei­te ge­zeig­ten Al­tar, der über ei­ner wei­ßen Decke ein mit Ein­zel­fi­gu­ren ge­schmück­tes lang­ge­streck­tes Ret­abel trägt, kniet Da­vid, mit ei­nem ori­ent­ali­sier­en­den Hut, wie ihn schon der Zen­tu­rio trug, auf dem Haupt, ei­nem ro­sa­far­be­nen Um­hang

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über blauem Goldbrokat (ebenfalls wie beim Zenturio) und einem Hermelinkragen betet er zu einer Lichterscheinung. fol. 137: Das Begräbnis auf einem Friedhof zur Toten-Vesper nimmt eine in Paris häufig verwendete Konzeption auf, die heute gern, aber nicht ganz zu Recht, als Blick auf den Friedhof der Innocents gilt: Mit einem durch zwei Türme flankierten Tor rechts hinten und vom Karner umschlossen ist der Friedhof, auf dem kein Kreuz oder Grabmonument steht. Der für das Bild ausgewählte Moment wird sonst kaum dargestellt: Vorn ist ein Grab ausgehoben; der in weißes Leinen eingenähte Leichnam liegt bereits darin; während zwei Totengräber bereits Erde über ihn schaufeln, liest ein Priester die Liturgie aus einem Buch, das ihm von einem kindlichen Akolythen gehalten wird; ihn begleitet ein zweiter Priester. Wie in vielen Vergleichsbildern sammeln sich die Pleurants links; ungewohnt lebendig ist das Gespräch der weltlich gekleideten Männer. Gottes Anwesenheit wird durch goldenes Licht im Bogenabschluß der Miniatur bezeichnet. fol. 191: Ein Madonnenbild und eine Gottesdarstellung eröfnen die beiden französischen Gebetsfolgen am Schluß des Bandes: Auch beim Bild der Madonna mit Beterin zu den XV Freuden Mariä (fol. 191) läßt sich der Maler etwas Besonderes einfallen: In einer Miniatur, die ganz vom Rot der ausgespannten Tücher, verschiedenen Blautönen, einem grünen Fliesenboden und dem hellen Inkarnat der Figuren bestimmt ist, steht der Jesusknabe in goldenem Kittel auf Marias Schoß; er weist seine Mutter auf die Beterin rechts, deren Kleid mit einem Hermelinkragen geschmückt ist. Hinter dem zeltartigen runden Baldachin taucht ein Engel mit einem langen Blasinstrument auf, mit dem er das Gebet begleitet. Bemerkenswert ist die Art, wie das Blau vom dunklen Ton bei Maria im Kleid der Beterin zu einer helleren Tönung wechselt, die dann den Kittel und die Flügel des Engels bestimmt. Ein Eichelhäher ist im unteren Randstreifen trefend dargestellt; ähnliche Flügel hat ein zweiter Vogel rechts außen, der jedoch nicht bestimmt werden kann. Die VII Klagen des Herrn eröfnen auf ungewohnte Weise mit einer von Psalm 109 geläufigen Darstellung der Trinität (fol. 198): Vor Silberbrokat, von je drei feurigen Seraphim flankiert, die sich leuchtend vom tief blauen Grund abheben, thronen Sohn und Vater in weißen Gewändern, von einem zartvioletten Mantel umschlossen, und halten das geöfnete Buch des Lebens; zwischen ihnen schwebt die Taube des Heiligen Geistes. Christus hat ein kleines Kreuz in der Rechten, der als Papst mit Tiara gekrönte greise Vater eine Sphaira in der Linken. Zum Stil Für die ältere Literatur, die nicht einmal überzeugt war, daß die Folge von Buchmalern, in deren Mitte der Coëtivy-Meister steht, überhaupt in Paris gearbeitet hat, stand die Pariser Kunst der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ganz im Zeichen von Maître François, in dem wir seit 2014 durch Quellennachweis von Mathieu Deldicque den recht gut in der Hauptstadt dokumentierten François Le Barbier den Älteren erkennen kön-

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nen (sie­he Nr. 24). Zu­gleich ist die­se Iden­ti­fi­zie­rung mit ei­nem Na­men ohne flä­mi­sches Topo­nym ge­eig­net, die in der Li­te­ra­tur stän­dig be­ste­hen­de Be­reit­schaft zu dämp­fen, al­ les Gute in Pa­ris auf Gä­ste aus dem Nor­den zu­rück­zu­füh­ren. Zu den in­ter­es­san­te­ren Ma­lern aus dem Um­feld der bei­den Fran­çois Le Bar­bier ge­hört der Ma­ler die­ser Hand­schrift: In sei­nen Bild­vor­la­gen ori­en­tiert er sich an de­ren Vor­ga­ ben, so daß man den Ein­druck er­hält, er habe wohl beim äl­te­ren Le Bar­bier ge­lernt und dann par­al­lel zum jün­ge­ren ge­ar­bei­tet. Of­fen­sicht­lich geht es ihm dar­um, durch ver­schie­ de­ne Bild­ideen im Rah­men des von den Auf­trag­ge­bern Ver­lang­ten auf sich auf­merk­sam zu ma­chen. So prangt der Dop­pel­ad­ler über der Kreu­zi­gung, wirft sich ein Apo­stel bei der Aus­gießung des Hei­li­gen Gei­stes auf den Bo­den, liegt der Tote auf dem Fried­hof be­ reits im of­fe­nen Grab. In der Ma­rien­ver­kün­di­gung, die si­cher zu den schön­sten Mi­nia­ tu­ren die­ses Ma­lers ge­hört, spielt er mit Sil­ber als Höhung für Blau, er­reicht durch die Nähe der bei­den Fi­gu­ren eine ein­drucks­vol­le Dra­ma­tik, die er auf das Schrift­ver­ständ­ nis be­zieht, und brilliert in den Far­ben. Per­spek­ti­ve in In­te­rieur und Land­schaft in­ter­ es­siert ihn, ohne daß er sie nach den zu sei­ner Zeit ver­füg­ba­ren Re­geln wirk­lich be­herr­ schen wür­de. In der Bi­ber­müh­le ist der Ma­ler schon ein­mal durch sei­ne bril­lan­te Il­lu­mi­nie­rung ei­nes Per­ga­ment­drucks von Pi­gouchets Stun­den­buch für Rom vom 23. Ok­to­ber 1494 her­ vor­ge­tre­ten (Nr. 10, Horae B. M. V. I, 2003, S. 110). Da­mals ha­ben wir vor­ge­schla­gen, ihn nach dem Pol­ignac-Stun­den­buch der Samm­lung Paul Franc­is Webster zu be­nen­nen (Sot­heby’s New York, 24.4.1985, Nr. 100: ein be­son­ders reich von un­se­rem Ma­ler aus­ ge­stat­te­tes Stun­den­buch für Mel­chi­or de Pol­ignac, 1661-1741, fran­zö­si­scher Bot­schaf­ter am pol­ni­schen Hof; spä­ter Sot­heby’s Lon­don, 20.6.1995, Nr. 110). Das hier vor­ge­stell­te Stun­den­buch für Pa­ri­ser Ge­brauch ist si­cher ei­ni­ge Jahr­zehn­te frü­her ent­stan­den und be­weist, daß der Ma­ler spä­te­stens ge­gen 1470 selb­stän­dig ge­ar­bei­tet hat. Ein ein­drucks­vol­les Werk ei­nes Pa­ri­ser Buch­ma­lers, der wohl aus der Werk­statt von Maître Fran­çois, also Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren, her­vor­ge­gan­gen ist und als ein Ge­ne­ra­ti­ons­ge­nos­se von des­sen Sohn an­ge­se­hen wer­den muß. Die­ser Mei­ ster des Pol­ignac-Stun­den­buchs baut auf dem Vor­la­gen­schatz sei­nes Leh­rers auf, ver­steht es aber, durch in­ter­es­san­te ei­ge­ne Hin­zu­fü­gun­gen und ir­ri­tie­ren­de Bil­der wie das Pfingst­wun­der so­wie durch eine Far­ben­pracht, wie sie die Mi­nia­tur mit der Ma­rien­ver­kün­di­gung prägt, eine ei­ge­ne Note in die Pa­ri­ser Kunst des letz­ten Drit­ tels des 15. Jahr­hun­derts ein­zu­brin­gen. Von be­son­de­rem Reiz ist der nach kla­ren hier­ar­chi­schen Prin­zi­pi­en ge­ord­ne­te Rand­schmuck der Bild­sei­ten, vor al­lem we­gen der be­ob­ach­te­ten Vö­gel. So steht die­ses Stun­den­buch ex­em­pla­risch für ei­nen recht glück­li­chen Mo­ment der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei und führt uns ein be­mer­kens­wer­tes künst­le­ri­sches Tem­pe­ra­ment vor Au­gen. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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28 Das Pa­ri­ser Stun­den­buch des An­dré Salé und sei­ner Frau: zwi­schen Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren und dem Pol­ignacMei­ster


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot, Blau und Gold, in brauner Textura. Paris, ca. 1460/70: Ein Buchmaler zwischen François Le Barbier dem Älteren und dem Polignac­Meister 19 Bilder, davon 15 große Miniaturen mit Rundbogenabschluß über vier Zeilen Text mit dreizeiligen Dornblatt­Initialen: die fünf wichtigsten Incipits mit Kompartiment­Bordü­ ren auf Gold und Pergament mit einfacher goldener Umrandung des Bild­ und Textfeldes; die zehn übrigen mit Doppelstab zum Falz hin und Zierleisten des Flächendekors unten und außen, dazu Dornblattbordüren, belebt mit blau­goldenem Akanthus in den Ecken und buntem Blütendekor und Früchten; drei siebenzeilige Kleinbilder für die Evangeli­ stenporträts mit Doppelstab und dreiseitiger Bordürenklammer von links; eine siebenzei­ lige Bild­Initiale mit entsprechendem Randschmuck; Psalmenanfänge mit zweizeiligen Initialen in Gold auf roten und blauen Flächen; entsprechende Psalmenverse am Zeilenbeginn; Zeilenfüller der gleichen Art; Versalien gelb laviert. 150 Blatt Pergament, dazu 1 festes und drei fliegende alte Pergamentvorsätze vorn und ein festes sowie fünf fliegende Vorsätze aus dem 16. Jh. hinten, dicht beschrieben. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die erste Kalenderlage 1 (12), die Lagen 3 (4), 11 (6-1, ohne Textverlust), 19 (6) und die Endlage 20 (2+1). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (162 x 113 mm, Textspiegel: 85 x 53 mm). Brauner Ledereinband des 16. Jahrhunderts auf vier Bünde, Rückenkompartimente mit vergoldeten Palmettenstempeln, Deckel mit geprägtem Medaillon, dieses stark abgerieben. Auf fol. 150 setzen Nachträge mit dem Charakter eines umfangreichen livre de raison und hinzugefügten Gebetstexten ein, beginnend mit einem Vertrag von André Salé und seiner Frau Marie Naslin, vom 13. November 1579, bei dem einige Juristen und Kaufleute aus Paris, offenbar aus der Pfarrei Saint-Germain-l’Auxerrois, genannt werden. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen alternierend in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe a in Gold auf Rot und Blau, römische Tageszählung alternierend in Blau, Rot und Gold. Pariser Heiligenauswahl im Kalender. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16v) und Markus (fol. 18v). fol. 19v: Mariengebet: Obsecro te (fol. 19v), redigiert für einen Mann, fol. 24/v leer.

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fol. 25: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 25), Laudes (fol. 49), Prim (fol. 61), Terz (fol. 67), Sext (fol. 71), Non (fol. 75), Vesper (fol. 78v), Komplet (fol. 81v). fol. 87: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 100), die Heiligenauswahl weist auf Paris mit Gervasius und Prothasius sowie Genovefa. fol. 104: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 104) und Heilig Geist (fol. 107v). fol. 111: Totenofzium, für unbestimmten Gebrauch: Vesper (fol. 111); die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 114), Laudes (fol. 137v). fol. 142: Französische Gebete: XV Freuden Mariä Doulce dame (fol. 142) und VII Kla­ gen des Herrn Doulx dieu (fol. 147v). Schrift und Schriftdekor Mit der großzügigen Textura erweist sich dieses Manuskript noch der Pariser Buchkunst der Mitte des 15. Jahrhunderts verpflichtet. Dem entspricht der traditionelle Flächendekor für ein- bis zweizeilige Initialen sowie für die Zeilenfüller. Randdekor und Bebilderung folgen wie in Nr. 27 einer strikten Hierarchie: das Mariengebet Obsecro te eröfnet mit einer siebenzeiligen Bild-Initiale; dieselben Maße haben die Bilder zu drei Perikopen. Rankenklammern genügen. Der Beginn des Johannes-Evangeliums und neun weitere, weniger prominente Incipits sind mit Doppelstab zum Falz hin und Zierleisten des Flächendekors unten und außen ausgestattet und haben dazu Dornblattbordüren, die mit blau-goldenem Akanthus in den Ecken und buntem Blütendekor und Früchten belebt sind. Nur die fünf wichtigsten Incipits erhalten Bordüren mit wechselnden Kompartimenten; dabei wird blau-roter Akanthus auf Gold gesetzt, während Blumen auf dem Pergamentgrund erscheinen. Der Dekor, der durchweg auf die Belebung durch Grotesken, Tiere und Vögel verzichtet, wirkt deutlich früher als die Ausstattung unserer Nr. 27. Bildfolge fol. 13: Die Perikopen eröfnen mit einem schönen Bild von Johannes auf Patmos: In der besten Tradition des älteren François Le Barbier wird die Insel Patmos anmutig als kleines Eiland mit einem schönen Blick auf das ferne Ufer mit der Stadt Ephesus geschildert. Ein einziger Baum markiert die kleine Anhöhe, auf der Johannes sitzt. Er schreibt nach links gewendet auf ein Schriftband; diensteifrig steht neben ihm der Adler und hält das Futteral und das Tintenfaß im Schnabel. Die sieben Zeilen hohen Kleinbilder mit den drei weiteren Evangelisten sind mit in den oberen Ecken abgerundeten Goldrahmen wie von unprofilierten Bögen umfaßt: Lukas mit dem Stier (fol. 14v) sitzt nach rechts gewendet vor einer aus großen Steinen gefügten Wand mit zwei Fenstern und einem davor gespannten roten Goldbrokat, wie er

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auch links für einen Baldachin über dem Evangelisten benutzt wird. Da sitzt der bärtige Evangelist und schreibt in ein Buch, das er auf den Knien hält; links neben ihm, räumlich in die Tiefe gerückt, steht ein niedriger Tisch mit einem zweiten geöfneten Buch. Aufmerksam schaut der Stier zum Evangelisten auf. Der Türbogen rechts hinter dem Tier schaf t den Eindruck, das Interieur, das in einigen anderen Miniaturen wiederholt wird, sei eigentlich für ein Bild der Verkündigung an Maria konzipiert worden, bei der der Engel von rechts kommt; das bestätigt dann auch die Miniatur zur Marien-Matutin. Matthäus mit dem Engel (fol. 16v) ist nach links gewendet, hebt die Feder, während links der kleine Engel dienstfertig wartet. Für Markus mit dem Löwen (fol. 18v) wird die Disposition des Lukasbildes wiederholt; die wenig geschickte Gestaltung des Löwen mit den in der Luft schwebenden Vorderbeinen zeigt, wie stark die Darstellung dieses Tiers von heraldischen Formeln bestimmt war. fol. 19v: In einer sieben Zeilen hohen Initiale zum Obsecro te ein Bild von Maria mit dem Kind als Büste: der Knabe in Violett, sie ganz in Blau, vor rotem Goldbrokat nach rechts gewendet. fol. 25: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die meisten Darstellungen folgen Vorlagen, die auch für Nr. 27 benutzt worden sind: Die Matutin eröfnet eine farbstarke Verkündigung (fol. 25): Unprofiliert bleibt der goldene Rahmen, der jedoch oben einen doppelten Bogen mit einem hängenden Schlußstein ausbildet. Die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel wird ähnlich geschildert wie in Nr. 27; doch rücken die Gestalten nicht ganz so weit in den Vordergrund und lassen etwas mehr vom Interieur erkennen, das wieder eher Tempel als Palast ist. Die Bespannung des Baldachins und das bildparallele Ehrentuch sind wie bei Lukas und Markus roter Goldbrokat. Der Baldachin läßt auch hier an ein Bett denken und hat ebenfalls einen hochgebundenen Vorhang, den man zuweilen mit der Schwangerschaft verbindet. Nur zwei Fenster sind in die bildparallele Rückwand geschnitten; rechts hingegen zeichnet sich der Torbogen ab, durch den wohl der Engel gekommen ist. Göttliches dringt nur durch goldene Strahlen ein, die wie dichter Regen von rechts oben auf Maria gerichtet sind und die winzige Taube begleiten. Marias hölzernes Betpult mit geöfnetem Buch ist ein Stück in die Tiefe gerückt. Maria senkt in demütigem Gebet ihr Haupt. Der Erzengel weist wortlos mit der Rechten in die Höhe. Sein Mantel und seine Flügel sind in Pinselgold angelegt und mit Rot schattiert; Marias Blau bleibt ohne Höhung mit Metallfarben. Eine bis zum Meister des Jean Rolin (Nrn. 22-23) zurückgehende Tradition wird bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 49) variiert: Die dominante Hügellinie fällt nun nach links ab. Dort kommt ein steiniger Pfad von einem entfernten Hügel herab, auf dem Maria an einem niedrigen bildparallelen Flechtzaun vorbeigeschritten ist. Ihr tritt Elisabeth aus dem Haus des Zacharias entgegen; die betagte Frau sinkt in die Knie und streckt ihre Linke aus zu Marias gesegnetem Leib.

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Zu der­sel­ben Bild­tra­di­ti­on ge­hört das Weih­nachts­bild mit der An­be­tung des Kin­des zur Prim (fol. 61): Der dunk­le Stall von Beth­le­hem steht nun bild­par­al­lel; der Gie­bel wird aber schräg nach rechts in die Bild­tie­fe ver­kürzt und führt hin zu ei­ner nied­ri­gen Mau­ er. Kräf­ti­ge schwar­ze Li­ni­en in den wie aus Bunt­sand­stein ge­füg­ten Mau­ern un­ter­strei­ chen den rui­nö­sen Zu­stand des Stalls. Ma­ria kniet links; den ganz un­be­weg­ten nack­ten Kna­ben hat sie auf ein recht­ecki­ges wei­ßes Tuch ge­legt; die­ses Mo­tiv läßt an Al­tar­tü­ cher den­ken, auf die der Leib Chri­sti in Form der Ho­stie ab­ge­legt wird. Jo­seph kniet ein Stück im Raum zu­rück­ge­setzt, ne­ben dem Esel, der mit sei­nem Zaum­zeug und der Be­we­gung der Bei­ne stolz wie ein Roß wirkt. Links hin­ter Ma­ria taucht der Och­se auf. Der Aus­blick nach rechts hin­ten führt zu ei­nem schlich­ten Hü­gel und der va­gen An­ deu­tung ei­ner Stadt. Die Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 67) folgt recht ge­nau der­sel­ben Vor­la­ge wie für das ent­spre­chen­de Bild in un­se­rer Nr. 27: mit ei­nem links am Bo­den hocken­den Hir­ten, der sich müh­sam auf­rich­tet, aber noch den Hut auf dem Kopf be­hal­ten hat, und ei­nem äl­te­ren, der im Pro­fil nach links ge­wen­det ist. Bei­de blicken auf zum klei­nen En­gel im Bo­gen­ab­schluß der Mi­nia­tur. Die Her­de drängt sich hin­ter ih­nen vor ei­nem nach rechts über Fels­ab­bruch an­stei­gen­den Berg; in der Fer­ne wird die Stadt aus­führ­li­cher als bei der An­be­tung des Kin­des dar­ge­stellt. Bei der An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 71) ist der Stall ge­nau­so wie im Weih­nachts­ bild dar­ge­stellt. Jo­seph und die bei­den Tie­re feh­len. Auf sehr un­ge­wohn­te Wei­se wird die Ge­stalt Ma­ri­as wie­der­holt; denn sie kniet hier eben­so wie der äl­te­ste Kö­nig, der ei­ nen of­fe­nen Kelch dar­bie­tet. Hin­ter bei­den steht der mitt­le­re, mit ei­nem Ziborium in der Rech­ten und ei­ner gro­ßen Geld­kat­ze im Gür­tel. Über ihm prangt, ganz or­na­men­tal, der Stern. Ei­gen­tüm­lich klein und un­ge­schickt ins Bild ge­setzt ist der bart­lo­se jüng­ste Kö­nig. Das schon bei Lu­kas, Mar­kus und der Ma­rien­ver­kün­di­gung ge­zeig­te In­te­rieur mit rund­ bo­gi­ger Tür, zwei Fen­stern und ei­nem ro­ten Gold­bro­kat als Eh­ren­tuch kehrt bei der Dar­brin­gung zur Non (fol. 75) als Tem­pel wie­der. Nun steht rechts ein Al­tar, ohne Bal­ da­chin. Wäh­rend eine klei­ne Magd, die kein Tau­ben­op­fer, son­dern nur ei­nen dün­nen gol­de­nen Stab hält, un­ter dem Bo­gen ver­harrt, kniet Ma­ria vor dem Al­tar, über den sich der bar­häup­ti­ge Prie­ster Simeon beugt, um ihr den Kna­ben zu­rück­zu­ge­ben, der be­gie­ rig ist, zur Mut­ter zu kom­men. Die Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 78v) stimmt im we­sent­li­chen mit dem Bild in Nr. 27 über­ein. Wie die Land­schaft der Heim­su­chung steigt bei die­ser das Ge­län­de nach rechts an; die turm­rei­che Stadt taucht in der Bild­mit­te auf. Ma­ria rei­tet auf dem Esel. Sie hält den in sei­nen vio­let­ten Rock ge­klei­de­ten Je­sus­kna­ben in den Ar­men, wäh­rend sich Jo­seph nach rechts rich­tet. Von ei­ner dort­hin ver­scho­be­nen gol­de­nen Säu­le stürzt ein heid­ni­sches Göt­zen­bild her­ab. Über dun­kel­blau­en Wol­ken steht Got­tes Thron; hier hat die Ma­rien­krö­nung zur Komplet (fol. 81v) be­reits statt­ge­fun­den: Ma­ria, die schon ihre gol­de­ne Kro­ne trägt, kniet links auf dem Blau, das die Kon­tu­ren ih­res Man­tel­saums verun­klärt. Als grei­ser Papst mit

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Tiara segnet sie Gottvater, der auf seinem diesmal bildparallel gestellten Thron rechts sitzt. Auf einer bis zum linken Bildrand reichenden Bank vor einem ausgespannten Tuch wird die Muttergottes Platz nehmen. Ein Engel faßt sie behutsam am Oberarm, als sei sie vor Gottes Thron auf Fürbitter angewiesen. fol. 87: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße wie in Nr. 27 in einer Palastkapelle gezeigt, die ähnlich gestaltet ist wie die bereits beschriebenen Interieurs. Besonders eng verwandt ist der seitenverkehrt gegebene Tempel der Darbringung: Gerahmt ist das Bild von schlichtem Gold. Vor dem von seiner Schmalseite gezeigten Altar, der mit blauem Goldbrokat bedeckt ist, kniet David, mit einem orientalisierenden Hut auf dem Haupt, einem rosafarbenen Umhang über Blau und einem Hermelinkragen; er betet zu einer Erscheinung Gottes in einem Fenster, wobei die Anordnung an die Erscheinung in der Marienverkündigung von Nr. 27 erinnert. Anders als im dortigen Davidbild wird der König mit der Harfe erkennbar gemacht: Sie steht auf dem Altartisch am linken Bildrand. fol. 104: Die Horen eröfnen auch hier mit den bekannten Erkennungsbildern: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 104) setzt das Kreuz vor bestirnten Himmel, in dem – fast einzigartig – die Sonne zwischen der Gruppe von Maria mit Johannes und dem ihnen zugewandten Erlöser erscheint. Rechts steht der Zenturio mit einem hohen Hut; er hat keinen Gesprächspartner, sondern nur eine dichte Schar von Soldaten hinter sich, wie er erstaunt zum Gekreuzigten auf blickt. In vereinfachter Form kehrt das hier schon mehrfach gesehene Interieur beim Pfingst­ wunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 107v) wieder. Auf geradezu kuriose Weise wird die Disposition der Marienverkündigung wiederholt. Zwar drängt von links die Apostelschar, von Maria angeführt, kniend ins Bild; doch ihnen zugewendet kniet der Lieblingsjünger Johannes als eigentümliches Echo des Erzengels Gabriel. In einem Fenster in der rechten Seitenwand taucht die Taube dort auf, wo sich Gott gezeigt hatte. fol. 111: Das Bild mit dem Totenofzium in einer Kirche zur Toten-Vesper verdeutlicht, welche Probleme manche Buchmaler mit der Raumdarstellung hatten: Unser Maler hatte ofenbar gemeint, er könne sein Standard-Interieur einfach auf einen größeren Zusammenhang in einer Kirche übertragen. Das Thema verlangte den Altar mit dem davor abgestellten Katafalk und drei Geistliche beim Chorgesang. Rechts hinter den Chorsängern ist die Welt noch in Ordnung; denn bildparallel steht dort die Seitenwand mit drei Fenstern und einem roten Brokattuch davor. Dann nimmt der Katafalk eine gewagte Schräge und führt zum Altar, der links in einen Nebenraum ausweichen muß. fol. 142: Ein Madonnenbild und eine Gottesdarstellung eröfnen die beiden französischen Gebete am Schluß des Bandes: Ausgerechnet zu den XV Freuden Mariä wird die Pietà (fol. 142) gezeigt. Das Bild stammt aus dem Kontext des Mariengebets O intemerata; denn links taucht die recht kleine Gestalt Johannes des Evangelisten auf, der in manchen Versionen jenes Texts neben Maria der Adressat ist. Auf einem ornamental wirkenden runden Hügel sitzt die Mut-

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ter­got­tes, ganz in Blau, je­doch mit ei­nem wei­ßen Schlei­er. Ei­gen­tüm­lich ge­wun­den liegt der tote Chri­stus auf ih­rem Schoß. Sie hat die Hän­de zum Ge­bet ge­fügt. Ge­gen den Ab­ lauf des Kar­frei­tags ver­stößt wie in der Bild-In­itia­le zum Ob­secro te in Nr. 27 der dunk­le Him­mel mit Ster­nen; denn der Er­lö­ser wur­de ja bei Ein­bruch der Nacht be­stat­tet. Die VII Kla­gen des Herrn er­öff­nen mit der glei­chen von Psalm 109 ab­ge­lei­te­ten Dar­ stel­lung der Tri­ni­tät (fol. 147v) wie in Nr. 27: Vor ei­nem ho­hen Thron­bal­da­chin, der in sei­ner schlan­ken Form die bei­den Per­so­nen der Drei­ei­nig­keit ge­gen die Wei­te des best­ irnten Him­mels zu­sam­men­faßt, sit­zen Sohn und Va­ter in wei­ßen Ge­wän­dern, von ei­nem ge­mein­sa­men vio­let­ten Man­tel um­schlos­sen und hal­ten das ge­öff­ne­te Buch des Le­bens; zwi­schen ih­ren Stirn­en schwebt die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes. Chri­stus hat ein Kreuz in der Rech­ten, der als Papst mit Tia­ra ge­krön­te grei­se Va­ter eine Spha­ira in der Lin­ken. Zum Stil Die mei­sten Mi­nia­tu­ren die­ses Stun­den­buchs ar­bei­ten mit den­sel­ben Bild­vor­la­gen, die auch in Nr. 27 be­nutzt wur­den. Doch feh­len die dort ent­schei­den­den Mo­ti­ve wie Ma­ri­ as Ge­spräch über die Hei­li­ge Schrift in der Ver­kün­di­gung oder der zu Bo­den ge­stürz­te Apo­stel im Pfingst­wun­der. Be­stimm­te Vor­lie­ben keh­ren wie­der, sind aber an­ders ge­wich­ tet, so der Ein­satz von Gold­bro­kat, der in Nr. 27 nur mit blau­em Grund, hier vor al­lem mit ro­tem vor­kommt. Wäh­rend da­bei sehr ähn­lich ge­ar­bei­tet wird, blei­ben die Far­ben in der hier be­schrie­be­nen Hand­schrift dump­fer und trocke­ner. Daß der ver­ant­wort­li­che Ma­ler aus dem Um­feld der bei­den Fran­çois Le Bar­bier stammt, de­nen letzt­lich die Bild­vor­la­gen ver­dankt sind, ist nicht wei­ter zu be­zwei­feln. Doch wird es sich eher nicht um die­sel­be Hand wie in Nr. 27 han­deln, son­dern um ei­nen zwei­ten Il­lu­mi­na­tor, der eben­falls beim äl­te­ren Le Bar­bier ge­lernt und dann par­al­lel zum jün­ge­ ren ge­ar­bei­tet hat. Die enge Ver­bin­dung zum Ma­ler des Pol­ignac-Stun­den­buchs wirft ein nicht leicht zu deu­ten­des Licht auf des­sen An­fän­ge: Die ikono­gra­phi­schen Be­zü­ge zwi­schen den Mi­nia­tu­ren le­gen ei­gent­lich eine Ab­hän­gig­keit der Nr. 28 von Nr. 27 nahe; dem wi­der­spre­chen aber en­er­gisch die Schrift und vor al­lem der Schrift­de­kor, der in Nr. 28 sicht­lich äl­te­rer Pra­xis ver­dankt ist. Ein voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch von ei­nem Buch­ma­ler, der wohl aus der Werk­statt von Maître Fran­çois, also Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren, stammt und Ge­ne­ra­ti­ons­ge­nos­se von des­sen Sohn wie auch des Pol­ignac-Mei­sters ge­we­sen sein dürf­te. Durch den Ein­band, das Livre de rai­son und wei­te­re Er­gän­zun­gen aus dem letz­ten Vier­tel des 16. Jahr­hun­derts ein be­mer­kens­wer­tes Bei­spiel für die Rück­be­ sin­nung auf Stun­den­bü­cher des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters in der Ge­gen­reformation! LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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29 Das Lek­ti­on­ar des Nicaise Delorme von 1488-1494: ein cha­rak­te­ri­sti­sches Werk von Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren für die Au­gu­sti­ner-Chor­her­ren von Sankt Vic­t or in Pa­ris


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Lek­ti­on­ar für Sankt Vic­tor in Pa­ris. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in kräf­ti­gem Rot, ge­schrie­ben in Tex­tura. Pa­ris, um 1490: (Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon:) Fran­çois Le Bar­bier der Jün­ge­re 15 Bil­der, da­von 13 Mi­nia­tu­ren als Recht­ecke von sechs bis sie­ben Zei­len Höhe, am Sei­ ten­an­fang mit Rund­bo­gen­ab­schluß in der Bor­dü­re; mit zweiz­ei­li­gen blau­en AkanthusIn­itia­len auf pur­pur­nen Flä­chen in vier­sei­ti­gen Kom­par­ti­ment­bor­dü­ren; zwei vierz­ei­li­ge Bild-In­itia­len der­sel­ben Art ohne Rand­schmuck. Zweiz­ei­li­ge Akanthus-In­itia­len bei Le­ sun­gen, ein­zei­li­ge als Pa­ra­gra­phen­zei­chen und bei In­cipit von an­ders­wo auf­zu­su­chen­den Le­sun­gen, ab­wech­selnd in Blau auf Rot und um­ge­kehrt. Ver­sa­li­en kal­li­gra­phisch her­vor­ge­ ho­ben, aber nicht im­mer gelb la­viert. 131 Blatt Pergament, vorne und hinten je ein Binio modernes Pergament, das äußere Blatt jeweils als festes Vorsatz. Gebunden in Lagen von acht Blatt, davon abweichend nur Lage 12 (8-1: das fünfte Blatt, mit Magdalena, fehlt nach fol. 92) sowie die Endlage 17 (4). Drei Seiten vor der Zäsur von fol. 81 und drei Endblätter leer. Übereinstimmende Kollationierung, signiert RF (Roland Folter, bei H. P. Kraus, New York) im hinteren Deckel. Reklamanten in derselben Schrift wie der Text unregelmäßig, regelmäßiger erst gegen Ende des Manuskripts. Fo­lio (300 x 195 mm, Text­spie­gel: 204 x 127-130 mm). Rot reg­liert zu 15 Zei­len. Bis auf das Blatt nach fol. 92 voll­stän­dig; frisch und breit­ran­dig er­hal­ten. Die er­ste Mi­nia­tur wohl im 19. Jahr­hun­dert aus­ge­bes­sert; ein klei­nes Loch in der In­itia­le da­ne­ben. Ge­bun­den auf fünf ech­te Bünde in schwar­zes Ma­ro­quin des spä­ten 19. Jahr­hun­derts, mit Si­ gna­tur bound by riviere and son im vor­de­ren In­nen­deckel; nur die In­halts­an­ga­be miss­ ale / ro­m an­um // cir­ca / 1470-80 / auf Rücken und Deckel mit floral-or­na­men­ta­ler Blind­prä­gung, Gold­schnitt. Pro­ve­ni­enz: Wohl schon vor 1490 in Auf­trag ge­ge­ben von Nicaise Delorme, Abt der Au­gu­sti­ ner-Chor­her­ren von Sankt Vic­tor in Pa­ris (1438-1516, im Amt 1488-1516), und 1494 voll­ en­det. Spä­ter bei Bern­ard Quaritch (Facs. from Illu­min­ated Man­uscripts III, pl. 129); zu Robson. Von dort 1902 an Charles W. Dyson Perr­ins, des­sen ver­gol­de­tes Le­der-Ex­li­bris und zwei Pa­pier­kle­ber, mit Nr. 46 (vorn), Nr. 86 (hin­ten); des­sen Sale II, 1.12.1959, Nr. 79: £ 2.800,- an Mark Lans­burgh, des­sen Sale eben­da, 11.12.1961, Nr. 140: £ 2.500,- an Ed­wards. Sot­heby’s, 6.12.1967, Nr. 61: £ 3.500,-. B. Bres­lau­er, Cat. 109, 1988, Nr. 10: $ 225.000,-. H. P. Kraus, Cat. 188, 1991, Nr. 23: $ 375.000,-. Eu­ro­päi­scher Pri­vat­be­sitz. Text Tem­po­ra­le fol. 1: Dom­inica pri­ma aduen­tus domi­ni; es fol­gen die drei wei­te­ren Sonn­ta­ge des Ad­ vents, Vigilia nat­alis dni., In gallicantu, In au­ro­ra.

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fol. 8v: In die na­tivitatis d(omi)ni. Von den meist im Tem­po­ra­le um Weih­nach­ten auf­ge­nom­me­nen Hei­li­gen, die hier an den Be­ginn des Sanct­ora­les ver­setzt sind, ist nur eine Ru­brik und drei An­fangs­wor­te zum Fest des Tho­mas von Can­ter­bu­ry üb­rig ge­blie­ben (Sancti thome mr., fol. 9v). Es fol­gen Do(mini)c(a) in­fra octabas, In circu(m)cis­ione d(omi)ni, Ad matu­ti­nas i(n) epyphania, In die D(o)m(ini)ca i(n)fra oc­tab(as), In octabas epypha­nie, Do(mini)c(a) i. post octabas, vier wei­te­re Sonn­ta­ge, D(o)m(ini)ca i(n) sept­uagesima, da­nach wei­te­re Sonn­ta­ge bis Do(mini)c(a) in ramis mit Ver­weis auf 1. Ad­vents­sonn­tag und dann Pas­si­on nach Mat­ thä­us (fol. 27). fol. 38v: Feria v. i(n) cena d(omi)ni. (Grün­don­ners­tag), In vigilia pasche. fol. 40v: In die pasche; es fol­gen Wo­chen­ta­ge der Oster­wo­che und Sonn­ta­ge bis zur Him­ mel­fahrt. fol. 50: In die as­censionis, D(o)m(ini)ca i(n)fra octabas as­censionis, In vigilia pen­thec­ost(is). fol. 52: In die sancto pen­thec­oste(m), da­nach die Wo­chen­ta­ge der Pfingst­wo­che, In die tri­ni­ta­tis mit Ver­weis auf Weih­nachts­t ext, In die sacramenti (Fron­leich­nam); da­nach die wei­te­ren 25 Sonn­ta­ge des Kir­chen­jahrs. fol. 79v-80v leer. Sanct­ora­le fol. 81: Sancti ste­phani pro­thomartyris, In nat­ale s(an)cti iohannis euang(e)l(ist)e, In na­tal(e) s(an)c(t)or(um) i(n)noce(n)t(i)u(m). fol. 83: S(an)c(t)oru(m) fa­bi­ani & seba­sti­ani, Co­nversionis sancti pauli. fol. 84v: Pur­ificatio bea­te ma­rie, Ca­thedra sancti petri. fol. 86: In die annu(n)ciationis, Phil­ippi et iacobi. fol. 88v: In dedicat­ione eccle­sie, D(o)m(ini)ca in­fra oc­tab(as), In die oct. fol. 90v: In die s(an)c(t)i ioh(ann)is bap(tis)te, die Apo­stel­fe­ste nur mit Ver­weis auf die Tex­te zu Be­keh­rung Pauli und Ca­thedra Petri, Ok­tav der Apo­stel mit Ru­brik „In die“ am Ende von fol. 92v. fol. 93: we­gen des Blatt­ver­lusts fehlt viel­leicht Vic­t or von Mar­seille (21.7.); das er­hal­te­ne Texten­de ge­hört zu Mag­da­le­na (22.7.). fol. 93v: Sancti iacobi ap(osto)li., Sa(n)cti petri ad vincula nur mit Ver­weis auf Ca­thedra Petri; Sancte Anne nur mit Ver­weis auf Weih­nacht; In trans­fi­gu­ra­ti­one d(omin)ni, In die tra(n)slationis co­rone spin­ee. fol. 95v: In die as­sumptionis bea­te ma­rie, nach drei lee­ren Zei­len und aus­führ­li­cher Ru­ brik auf Ver­so als An­fang der Sei­te; In decollac­ione sancti iohannis bap­tiste, In die na­tivitatis

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virginis ma­rie mit Ver­weis auf Anna, Ex­altatio sancte cru­cis, In die sancti mathei, Mi­chae­lis ar­ch­an­geli, Luce evan­ge­liste. fol. 100v: In die o(mn)i(u)m s(an)c(t)orum, In die sancti an­dree, In die co­nceptionis sancte ma­rie mit Ver­weis auf Anna, Thome apo­stoli. Co­mmune sancto­rum fol. 103: In vigilia vnius apo­stoli, da­nach die üb­li­chen Tex­te mit Vigil und Fest nach der Hier­ar­chie der Li­ta­nei; am Ende In in­uent­ione vel trans­lac­ione ali­cuius sancti (fol. 124), De an­gel­is, De cruce, De sancta ma­ria, T(em)p(or(e) pasc­ali eu(a)ngeliu(m). Nach­trä­ge fol. 125v: Joh. 11,21-27 (in Schrift und De­kor ähn­lich, mit dunk­le­rer Ru­brik). fol. 126v (in Son­der­form der An­ti­qua mit ro­ten Ru­bri­ken, spä­te­res 16. Jh.): In festo S. Patris n(ost)ri. Au­gu­stini et alio­rum docto­rum, In con­ver­si­one ei­us­dem S.Patris Au­gu­stini, In die S. Trinitinita (sic!). fol. 129 (in fei­ner Schreib­schrift des 17. Jh.s): In Festo In­uentionis Stæ Cru­cis. fol. 130-131 leer. Schrift und Schrift­de­kor In groß­formi­ger Tex­tura ist das Buch so ge­schrie­ben, daß es ohne Mühe im Got­tes­dienst ge­le­sen wer­den konn­te. Da die mei­sten Tex­te nur aus der ro­ten Ru­brik und ei­ner Le­sung aus den Evan­ge­li­en be­ste­hen, de­ren Vers­an­fän­ge mit Ver­sa­li­en in gel­ber Lavie­rung be­ gin­nen, be­schränkt sich der De­kor im we­sent­li­chen auf die zweiz­ei­li­gen An­fangs­buch­ sta­ben der Le­sun­gen. Wo In­cipits nur kurz an­ge­ge­ben wer­den, die an­ders­wo im Buch auf­zu­fin­den sind, ge­nü­gen ein­zei­li­ge In­itia­len der­sel­ben Art. Fa­rb­wech­sel von Rot mit Mu­ste­rung in Pin­sel­gold und Blau mit Weiß oder um­ge­kehrt be­stimmt die­se Zier­buch­sta­ben. Die Bil­der sind meist nur au­ßen und oben mit Gold­lei­ sten um­ran­det, die bei In­te­rieurs – wie für die aus­füh­ren­de Werk­statt cha­rak­te­ri­stisch – fei­ne Maß­werk-Ver­hän­ge bil­den. Be­schrän­kung auf ei­nen we­sent­li­chen Fa­rb­klang macht die Stär­ke des Rand­sch­mucks aus, der nur bei den mit Bild­fel­dern ver­se­he­nen In­cipits ein­ge­setzt wird: Das Prin­zip der Kompartim­en­te sorgt für die Ein­tei­lung in pur­pur­ro­te und gol­de­ne Flä­chen; blau­gol­de­ ner Akanthus füllt die ro­ten Flä­chen, Blu­men die gol­de­nen. Bild­fol­ge fol. 1: Ein­zug in Je­ru­sa­lem: Auf dem Esel rei­tet Je­sus, bart­los, mit Jo­han­nes und Pe­trus im Ge­fol­ge; in der Bild­mit­te Bäu­me, in die Leu­te ge­klet­tert sind, rechts das Stadt­tor mit jun­gen Män­nern, die gol­den geh­öhte Tü­cher vor dem Er­lö­ser aus­brei­ten.

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fol. 8v: Thro­nen­de Tri­ni­tät: In der Art der Bil­der zum 109. Psalm sit­zen in Jesu Ge­stalt Sohn und Va­ter [?] auf dem Thron, die Tau­be zwi­schen sich, über dem Buch des Le­bens. fol. 38v: Letz­tes Abend­mahl: Um ei­nen run­den Tisch sit­zen die zwölf Apo­stel mit Je­ sus in der Mit­te; an des­sen Brust ruht Jo­han­nes, wäh­rend Je­sus dem Ver­rä­ter Ju­das das Brot reicht, der am Griff da­nach und am leuch­tend ro­ten Geld­beu­tel er­kenn­bar wird. Pe­trus hebt fra­gend die Hand, die an­de­ren Apo­stel sind wie ge­wohnt nicht ein­zeln iden­ ti­fi­ziert. fol. 41: Oster­mor­gen: Kom­bi­niert wer­den die öst­li­che Tra­di­ti­on, die zu Ostern nur die Frau­en am Gra­be zeig­te, und die west­li­che, die den Auf­er­stan­de­nen aus dem of­fe­nen Sar­ ko­phag stei­gend dar­stell­te. Doch ver­drängt die mo­der­ne­re west­li­che Sze­ne, die eine in der Bi­bel nicht be­schrie­be­ne Si­tua­ti­on zeigt, das äl­te­re Oster­bild nach links in den Hin­ ter­grund. Über der Stadt Je­ru­sa­lem geht ge­ra­de die Son­ne auf. Recht un­ge­wohnt rea­gie­ren die Sol­da­ten, die als Grab­wäch­ter ein­ge­schla­fen wa­ren: ­Ei­ner im Hin­ter­grund hat sei­ne Lan­ze er­grif­fen, die bei­den vorn aber voll­füh­ren in ih­rem Schrecken ge­ra­de­zu akro­ba­ti­sche Be­we­gun­gen. fol. 50: Him­mel­fahrt Chri­sti: Un­ter flan­kie­ren­den Bäu­men knien die Scha­ren der Apo­ stel um den zy­lin­dri­schen Hü­gel, von dem Chri­stus in den Him­mel auf­ge­fah­ren ist. Des­ sen Füße ha­ben deut­li­che Spu­ren im Gras hin­ter­las­sen. Dort knien ein­an­der zu­ge­wandt Ma­ria und Jo­han­nes, wäh­rend von Chri­stus nur ein Stück des Ge­wan­des mit den Fü­ßen vor dem ab­rupt in kräf­tig dunk­les Blau ver­än­der­ten Him­mel er­scheint. fol. 52: Pfingst­wun­der: Un­ter ei­nem ro­ten Bal­da­chin kniet Ma­ria links und blickt an­ däch­tig in das auf ih­rem Pult auf­ge­schla­ge­ne Buch; Jo­han­nes kniet rechts, ihr zu­ge­wandt; die an­de­ren drän­gen sich dicht da­hin­ter. Nicht die Tau­be, son­dern nur Flam­men er­schei­ nen un­ter der nied­ri­gen Bal­ken­decke und strah­len zu den Köp­fen aus. fol. 81: Stei­ni­gung des Steph­anus: In ei­ner vierz­ei­li­gen Bild-In­itia­le be­tet der Dia­kon Steph­anus kniend zu ei­ner Er­schei­nung Got­tes, wäh­rend ein Mann hin­ter ihm Stei­ne schleu­dert und ein an­de­rer wei­te­re Stei­ne auf­sam­melt. fol. 83: Se­ba­sti­ans Pfeil­mar­ter mit geist­li­chem Be­ter: An ei­nen Baum links ge­bun­den wen­det sich der hei­li­ge Se­ba­sti­an schmerz­er­füllt von zwei Bo­gen­schüt­zen ab, die von rechts auf ihn zie­len. Sie sind teil­wei­se von ei­nem Geist­li­chen am Bet­pult ver­deckt, der mit Schwarz über Weiß die Tracht der Au­gu­sti­ner von Sankt Vik­tor in Pa­ris trägt, die man mit dem Habit von Do­mi­ni­ka­nern ver­wech­seln könn­te. fol. 84v: Dar­brin­gung im Tem­pel: Der hei­li­ge Simeon, als Prie­ster mit ei­ner Mi­tra auf dem Haupt, hält be­reits das Je­sus­kind und blickt über den Al­tar zur Mut­ter­got­tes, die ihre Hän­de eben­so wie er mit wei­ßem Tuch ver­hüllt hat. Zwei Män­ner blicken wie Wäch­ter auf die Die­ne­rin mit Tau­ben­körb­chen und Ker­ze, Jo­seph, der hier kei­nen Nim­ bus trägt, und drei weib­li­che Hei­li­ge, die rechts knien und von der hei­li­gen Mo­ni­ka, der Mut­ter des Or­dens­grün­ders Au­gu­stin­us, an­ge­führt wer­den.

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fol. 86: Ma­rien­ver­kün­di­gung: In ei­nem ganz ähn­lich wie der Tem­pel der Dar­brin­gung kon­zi­pier­ten Raum, der durch zwei go­ti­sche Bö­gen oben rhythmisiert ist, kniet Ma­ria links un­ter ei­ner Art run­dem Ziborium, wie es auch über Simeons Al­tar an­ge­bracht war, an ih­rem Bet­pult. Mit gol­de­nem Li­lien­zep­ter ist der als Dia­kon ge­klei­de­te Erz­en­gel Ga­ bri­el nie­der­ge­kniet. Das in wei­ßen Buch­sta­ben vor den Hin­ter­grund ge­schrie­be­ne ave ma­r ia ragt hoch zur Got­tes­er­schei­nung in ei­nem klei­nen Fen­ster. fol. 88v: Kirch­weih: Der Blick er­faßt eine eins­chiffige Kir­che bis zur Ap­sis mit ei­nem völ­lig un­ge­schmück­ten Al­tar. Links singt ein geist­li­cher Chor, in der Mit­te lie­gen wei­ße Holz­bret­ter, die sich kreu­zen. Das Ende sei­ner Krüm­me nutzt ein Bi­schof, um ge­mein­ sam mit sei­nem Mi­ni­stran­ten dar­auf Let­tern zu schrei­ben, die je­doch kei­nen les­ba­ren Sinn er­ge­ben. Vor der rech­ten Sei­ten­wand des Kir­chen­raums ste­hen drei vor­nehm ge­ klei­de­te Jüng­lin­ge. Ein gro­ßer Bot­tich von Gre­gor­ius­was­ser, also ei­nem mit Wein, Salz und Asche ver­setz­ten Weih­was­ser, das vor al­lem zur Kirch­wei­he be­rei­tet wur­de, schiebt sich in den Raum. Ein Hund streunt vorn her­um, viel­leicht nur, weil der Ma­ler zei­gen will, wie gut er Schat­ten ma­len kann. fol. 90v: Pre­digt Jo­han­nes des Täu­fers: Ins Ka­mel­fell ge­klei­det steht der Täu­fer vor ei­ nem Wäld­chen, ihm zu Fü­ßen sitzt das Lamm; er stützt sich auf ein Ge­stell aus Holz­ stä­ben und spricht zu Frau­en und Män­nern, nicht weit von ei­ner Stadt. fol. 96: Mari­ens Tod und Him­mel­fahrt: In ei­nem Raum, der nach hin­ten in ei­nem gro­ ßen Bo­gen zum Him­mel ge­öff­net ist, steht das Ster­be­bett der Jung­frau Ma­ria, mit dem Kopf­en­de un­ter ei­nem ro­ten Bal­da­chin links. Die Ster­ben­de er­hält von Pe­trus, der mit ge­kreuz­ter Sto­la als Liturg wirkt, Se­gen und Weih­was­ser, wäh­rend Jo­han­nes ihr die Ster­be­ker­ze und ei­nen gro­ßen gol­de­nen Palm­we­del reicht; ein drit­ter Apo­stel schwingt das weit­ge­hend vom Bett ver­deck­te Weih­rauch­faß. Vor dem Bett wei­len drei Apo­stel, ei­ner sitzt auf dem Bo­den, zwei knien, wäh­rend die üb­ri­ge Schar von rechts hin­ten her­ an­dringt. fol. 100v: Al­ler­hei­li­gen­bild: In ein­drucks­vol­ler Dich­te scha­ren sich drei Krei­se von Hei­ li­gen über ei­nem schma­len Wol­ken­band um die Got­tes­er­schei­nung im Kreis der Se­ ra­phim. Ei­ni­ge soll­ten wohl durch At­tri­bu­te be­zeich­net wer­den; doch in der Mit­te un­ ten weiß man nicht, ob ne­ben Ka­tha­ri­na Bar­ba­ra mit dem Turm oder Mag­da­le­na mit dem Salb­topf ge­meint ist. Links hin­ter Kö­nig Lud­wig von Frank­reich hält Pe­trus ei­ nen Kelch; Fran­zis­kus feh­len die Stig­ma­ta; Pe­trus Mar­tyr trägt das Schwarz der Be­ne­ dik­ti­ner. Steph­anus ist an den Stei­nen, Lau­ren­ti­us am Rost zu er­ken­nen; doch wie der Dia­kon zwi­schen bei­den heißt, bleibt wie­der un­klar. Die für die Be­stim­mung un­se­res Ma­nu­skripts wich­tig­ste Ge­stalt aber ist der hei­li­ge Vic­t or mit Fle­urs-de-lis auf Blau am rech­ten Rand; er ist der Na­mens­p a­tron des Pa­ri­ser Au­gu­sti­ner­klo­sters, für das der Band ge­schaf­fen wur­de. fol. 103: Apo­stel­schar: Pe­trus mit den Schlüs­seln, Pau­lus mit dem Schwert und Jo­han­ nes mit dem Schlan­gen­kelch ste­hen vor der Apo­stel­schar, die sich hin­ter ih­nen drängt, vor tief­blau­em Grund in ei­ner vierz­ei­li­gen In­itia­le.

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Zum Stil Ein Ver­gleich des Oster­bil­des auf fol. 41 mit der mo­tiv­isch schlich­te­ren In­itia­le aus ei­ nem heu­te ver­lo­re­nen Chor­buch (Pa­ris, Mus­ée de Cluny) führt zu je­nem Aus­gangs­p unkt, von dem aus Paul Dur­rieu 1896 eine Stil­grup­pe um Ja­cques de Be­san­çon be­stimmt hat, die da­mals noch all das um­faß­te, was heu­te zwi­schen dem Mei­ster des Jean Rolin (Nrn. 22-23), dem lan­ge als Maître Fran­çois be­kann­ten Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren und dem nicht mit Ja­cques de Be­san­çon selbst, son­dern nur mit dem nach ihm be­nann­ten an­ony­men Mei­ster, hin­ter dem sich Fran­çois Le Bar­bier der Jün­ge­re ver­birgt, auf­ge­teilt wird. Zwei­fel­los hat man es hier mit der­sel­ben Hand zu tun, die das schö­ne Clip­ping im Cluny-Mu­se­um ge­schaf­fen hat. In durch­weg gu­ter Qua­li­tät prä­sen­tiert sich die­se Hand in un­se­rem Ma­nu­skript. Des­sen stol­ze Grö­ße macht uns klar, daß auch in den Hoch­zei­ten des per­sön­li­chen Ge­ bet­buchs zu­neh­mend klei­nen For­mats edle Bän­de für den li­tur­gi­schen Ge­brauch ge­schaf­ fen wur­den. Die kla­re For­men­spra­che von Fran­çois Le Bar­bier Fils fügt sich vor­züg­lich in die Auf­ga­be, mit den Bil­dern durch die Fe­ste des Kir­chen­jahrs zu füh­ren. Von ganz be­son­de­rer Be­deu­tung ist die Be­stim­mung des Ma­nu­skripts für den Abt von Sankt Vic­ tor: Die Au­gu­sti­ner­chor­her­ren, die dort schon im Jah­re 1113 durch Lud­wig VI . an­ge­ sie­delt wa­ren, ha­ben seit der Grün­dung ih­rer Ab­tei im Buch­we­sen der Haupt­stadt eine füh­ren­de Rol­le ge­spielt. Für Ver­tre­ter des frü­he­sten Buch­drucks bil­de­te ihr Klo­ster eine ent­schei­den­de An­lauf­stel­le in Pa­ris; schließ­lich wur­de Jo­hann Fust aus Mainz, der auf ei­ner Han­dels­rei­se mit Bü­chern von Fust und Schöf­fer in Pa­ris ge­stor­ben ist, dort be­gra­ ben. Die Ver­hält­nis­se hat­ten sich in der Zeit ge­gen 1500 so weit um­ge­kehrt, daß selbst eine sol­che für das monas­t i­sche Buch­we­sen über meh­re­re Jahr­hun­der­te füh­ren­de Ab­tei von dem nun auf­blü­hen­den welt­li­chen Buch­we­sen Zime­li­en wie die­ses Lek­ti­on­ar be­zog, das der seit 1488 am­tie­ren­de Abt der Au­gu­sti­ner-Chor­her­ren Nicaise Delorme in Auf­ trag ge­ge­ben hat. Mit sei­ner statt­li­chen Grö­ße und sei­nem Reich­tum an gu­ten, für die Ent­ste­hungs­zeit cha­rak­te­ri­sti­schen Bil­dern könn­te die­ses Lek­ti­on­ar für Nicaise Delorme, Abt der Au­gu­sti­ner-Chor­her­ren von Sankt Vik­tor in Pa­ris, ge­ra­de­zu Aus­gangs­p unkt ei­ner Samm­lung oder doch we­nig­stens ei­ner Er­kun­dung der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei an der Schwel­le zum 16. Jahr­hun­dert sein. Als cha­rak­te­ri­sti­sche Ar­beit vom Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon, in dem wir Fran­çois Le Bar­bier den Jün­ge­ren er­ken­nen dür­ fen, ver­tritt es eine spä­te Pha­se der ganz pa­ri­se­risch ge­präg­ten Spät­go­tik vor dem Ein­bruch der Re­nais­sance. In sei­ner Be­bil­de­rung bün­dig, über­zeu­gend und no­bel, ver­kör­pert der Band eine gro­ße Tra­di­ti­on, die um die Wen­de zum 16. Jahr­hun­dert sehr sel­ten ge­wor­den war und neu­en Ten­den­zen Platz ma­chen muß­te. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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30 Ein Stun­den­buch vom Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon, also Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Schwarz, geschrieben in Textura. Paris, um 1480/90: François Le Barbier der Jüngere (Meister des Jacques de Besançon) 13 große Miniaturen über drei Zeilen Text mit dreizeiligen Initialen in Blau auf Ton in Ton und mit Gold dekoriertem roten Grund, in vierseitigen Kompartiment­Bordüren, drei davon mit goldenen Kompartimenten mit Blüten auf rotem Grund mit blau­golde­ nem Akanthus; die übrigen mit blau­goldenen Akanthusranken auf Pergamentgrund und Blumen auf dünnem Goldgrund, zahlreichen Vögeln und Grotesken; dazu Bordürenstrei­ fen in Höhe des Textspiegels gleicher Art auf allen Textseiten. Kleinere Initialen in flüssigem unkonturierten Gold auf roten und blauen Flächen: zweizeilig zu Psalmen, einzeilig zu Psalmenversen, Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 156 Blatt Pergament, festesVorsatz als Doublüre mit Rahmenvergoldung, zusammen mit dem fliegenden Vorsatz aus Papier mit brauner Seide bezogen, weiterhin vorn ein fliegendes Vorsatz aus Papier, hinten aus altem Pergament. Die unregelmäßige Lagenordnung kann aufgrund der engen Bindung nicht bestimmt werden. Rot regliert zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen; die erste und letzte Zeile der Textblätter über die ganze Breite des Blattes regliert. Oktav (163 x 120 mm, Textspiegel: 88 x 64 mm), vereinzelt horizontale Reklamanten in unregelmäßiger Schrift. Komplett, farbstark und auch in den Randmalereien unbeschadet erhalten. Schwarzer Samtband über Holzdeckeln mit einer Schließe, Goldschnitt. Der frühere, völlig zerstörte und deshalb hier ersetzte Einband wurde wohl zwischen 17801820 für die Sammlung der Earls of Harewood angefertigt, womöglich für Henry Lascelles, 2nd Earl of Harewood (1767-1841); allerdings enthält das Manuskript keine Besitzeinträge. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache; nicht jeder Tag besetzt: einfache Heiligentage in Braun, Feste in zwei unterschiedlichen Rottönen. Die Heiligenauswahl nicht leicht zu bestimmen, aber selbst wenn Genovefa unerwähnt bleibt, mit Pariser Patronen wie Marcellus, Opportuna und Dionysius; die Orthographie stark dialektal gefärbt; am 16.12. „O sapientia“. fol. 13: Marienofzium für den Gebrauch von Paris, mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 13), Laudes (fol. 24), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 35v) und Heilig Geist (fol. 37), Marien-Prim (fol. 38v), Terz (fol. 45), Sext (fol. 49v), Non (fol. 54), Vesper (fol. 58), Komplet (fol. 62).

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fol. 69: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 81), von Pariser Prägung mit den Heiligen Gervasius und Prothasius sowie Dionysius. fol. 87: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris. fol. 118: Johannesperikope als Sufragium. fol. 120: Mariengebet Obsecro te, für einen Mann redigiert. fol. 125: Französisches Gebet: Doulce dame, gefolgt von weiteren Perikopen: Lukas (fol. 130v) zur Marienverkündigung, ohne Rubrik, Matthäus (fol. 132), ohne Rubrik, Markus (fol. 133v), ohne Rubrik. fol. 134v: Passio Christi nach Johannes. fol. 136v: Herrengebete, mit französischen Rubriken: Domine Ihesu xpe qui hanc sacratissimam carnem… (fol. 136v), Anima xpi sancissima sancifica me (fol. 137), O bone ihesu (fol. 138). fol. 139v: Suffragien: Michael (fol. 139v), Johannes der Täufer (fol. 140), Petrus und Paulus (fol. 140v), Andreas (fol. 141), Katharina (fol. 141v), Margarete (fol. 142), Magdalena (fol. 142v). fol. 143: verschiedene Mariengebete: Gaude virgo (fol. 143), Deus qui beatissimam virginem mariam (fol. 143v), Salve regina (fol. 144); O intemerata (fol. 144v). fol. 148: Herrengebete: Doulx dieu, gefolgt vom kurzen Gebet Sainte vraye crois aouree qui du corps dieu fus aournee. Et de la sueur arousee… (fol. 151v). fol. 152: Gebet an den heiligen Franziskus: Salve p(ate)r patrie lux forma minorum…, gefolgt von einem Mariengebet Tres certaine esperance et defenderesse et dame de tous ceulx qui attendent… (fol. 152v). Vorsatz hinten (fol. 153): im 16. Jahrhundert nachgetragenes Gebet Vexilla Regis. Schrift und Schriftdekor Die eng gesetzten, recht steilen Buchstaben stehen in guter Tradition der Textura, die sich noch eine Weile für Stundenbücher und nicht nur für Liturgica wie unsere Nr. 29 behauptet hat. Während der Schreiber der gotischen Grundkonzeption dieser Schrift treu bleibt, sind die Initialen sehr viel fortschrittlicher als in unserer Nr. 31; denn der Flächen- und Akanthusdekor wird nicht mit Blattgold und harten Tintenkonturen, sondern flüssig mit dem Pinsel herausgearbeitet. Damit löst man sich von einer Tradition, die bis in die Anfangsjahre des 15. Jahrhunderts in Frankreich zurückreicht. Der von schlichten roten Linien konturierte Randdekor mit Kompartimenten auf Pergament- oder der mit schwarzen Konturen umrissene Goldgrund ist fast überall im Manuskript einheitlich. Er kennt nur die Vollbordüre für Bildseiten und den Randstreifen in Höhe des Textspiegels im normalen Textverlauf; doch sind drei Incipits, die Marien-

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Matutin, die Bußpsalmen und – ungewöhnlicher Weise – auch das Toten-Ofzium mit roten und goldenen Kompartimenten umgeben. Sonst sorgt der Umstand, daß Akanthus grundsätzlich blau-golden ist, dafür, daß Akanthus auf Pergamentgrund, Blumen aber auf mattem Pinselgoldgrund liegen. Tiere dienen der Belebung. Es gibt keine kleinen Miniaturen im Textspiegel oder in Bordüren. Bei den großen Miniaturen genügen einfache rote Grenzlinien; Interieurs erhalten recht breite Goldränder nur in der Senkrechte, die unterhalb des Bogens mit kleineren Bögen und Maßwerkformen spielen. Unter ihnen gibt es besagte hierarchische Stafelung, die wie gewohnt die Marien-Matutin und den Beginn der Bußpsalmen sowie die Toten-Vesper hervorhebt. Bildfolge fol. 13: Das Marien-Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen stehen in der Tradition der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier; sie sind im kühleren Kolorit des Sohnes gehalten: Die Matutin eröfnet mit der Verkündigung (fol. 13): Von goldenen Säulen gerahmt, die einen Bogen tragen, findet die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel in einem Palastraum statt; ein rotes Ehrentuch und ein runder Baldachin, außen rot, innen grün, wie er über Altären zu finden ist, zeichnen die Jungfrau aus. Fensterlos ist die recht schmale bildparallele Rückwand mit einem hellgrünen vertieften Steinspiegel gegliedert; rechts ist die Wand, durch die der Engel gekommen sein müßte, geschlossen; darüber zeigt sich der greise Gottvater vor Himmelblau. Marias hölzernes Betpult, das mit Maßwerk verziert ist, setzt mit der Schmalseite an der vorderen Bildfläche an. Maria blickt von ihrem geöfneten Buch zum Erzengel, dessen Haupt niedriger als ihres erscheint. Gabriel, der in der Linken ein dünnes Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung hinter sich; in großer goldener Textura steigt das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes aber schwebt winzig dem Ave voraus. Maria ist ganz in Blau gekleidet, der Engel als Diakon in eine violette Dalmatika; nur sie ist mit Gold gehöht; senfgelb sind seine Flügel. In der bis zum Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 24) vor einer nach rechts abfallenden Hügellinie. Von hier ist Maria mit dem greisen Joseph, der zum Gruß seinen Hut zieht, übers Gebirge gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen. Meist tritt sie aus dem stattlichen Haus des Zacharias, hier aber sieht es so aus, als habe sie ein Stadttor verlassen. Die betagte Frau streckt beide Hände zum Leib der Jungfrau aus. In Violett und ein leicht bräunliches Rot sind der Ziehvater und die Base gekleidet; diese mit Gold gehöhten Farben rahmen das reine Blau Marias. Ein kräftigeres Rot für Beinkleider und Hut kommt bei Joseph hinzu, während Elisabeth eine schwarze Haube und schwarze Schuhe trägt. fol. 35v: Die Erkennungsbilder zu den Horen unterbrechen den Kindheitszyklus: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 35v) setzt das Kreuz geradezu in einen Weg, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt; an Jerusalem ist nicht gedacht;

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denn links oben bekrönt eine Burg die Landschaft. Die oberen Ecken des Querbalkens berühren fast den Bogenabschluß der Miniatur. Maria, Johannes und eine von beiden fast ganz verdeckte zweite Frau stehen links; ohne erkennbaren Zenturio drängen links die Soldaten, durchweg jüngeren Alters; einer von ihnen hat seinen plastisch als Fratze modellierten gelben Schild neben sich auf den Boden gestellt. Das Pfingstwunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 37) spielt nahezu in demselben Interieur wie die Verkündigung: Links kniet die Muttergottes mit verhüllten Haaren vor dem Ehrentuch unter dem runden Baldachin und vor ihrem Betpult. Doch ist das Holzgewölbe um 90 Grad gedreht, so daß die Wand mit der Bogenöfnung zum Himmel nun in die Bildtiefe gerückt ist. Wie der Erzengel Gabriel bewegt sich der Lieblingsjünger Johannes von rechts auf Maria zu, sinkt ins Knie und führt die Schar der, wie an den Nimben abzulesen, elf Apostel an, die mit Petrus als zweitem Anführer der Jungfrau Maria gegenübergestellt sind. Statt die Taube erscheinen zu lassen, begnügt sich der Buchmaler mit Flammen, die durch das Fenster in den Raum strahlen, nicht aber über den einzelnen Köpfen aufflammen. Wie bei den Le Barbier gewohnt, ist das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 38v) eingerichtet: Vor dem Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einem bildparallelen Flechtzaun, diesmal aber nicht zu einer niedrigen Mauer führt, kniet Maria. Den ganz unbewegten nackten Knaben hat sie auf ein rechteckiges weißes Tuch gelegt; dieses Motiv läßt an Altartücher denken, auf die der Leib Christi in Form der Hostie abgelegt wird. Joseph kniet in ähnlicher Haltung wie Maria, parallel zu ihr, die Hände zum Gebet gefügt. Der Ochse hockt links neben der Muttergottes, der Esel hingegen zwischen ihr und dem Ziehvater. Der Ausblick nach rechts hinten führt hinter einem runden Hügel zu einer Stadt. Von jugendlicher Heiterkeit zeugt die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 45): Nur junge Leute lauschen dem Engel, der aus einer tief blauen Wolke eine ofenbar sehr ausführliche Botschaft verkündet, die unlesbar auf zwei Zeilen eines langen Spruchbandes steht. Mit kräftig roten Flügeln und gelbem Gewand vor dem Blau bringt die Erscheinung einen starken Farbakkord ins Bild, der in blauen Hirtentaschen und rotem Beinkleid nachklingt, auch wenn die Hirten in zurückhaltend gefärbte Kleider gehüllt sind. Hauptfigur ist eine junge Frau, die einen Blütenkranz flicht. Die Herde verteilt sich in zwei Ebenen hinter ihnen, wobei die meisten Schafe entfernt auf einer Anhöhe grasen. Rechts liegt eine sehr diferenziert dargestellte Stadt. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 49v) wird der Stall aus dem Weihnachtsbild ebenso wie der Blick auf die Stadt rechts hinten wiederholt; doch ist der Flechtzaun nun durch eine solide Mauer ersetzt. Joseph und die beiden Tiere fehlen. Maria sitzt mit dem nackten Knaben auf dem Schoß, der sich von ihr wegdreht, um in die vom ältesten König dargebotene Schatzkiste zu greifen. Hinter diesem steht der mittlere, mit einer Art Monstranz in der Rechten; sehr elegant wirkt der bartlose jüngste König. Goldene Strahlen gehen vom Stern aus, der unter dem Bogen erstrahlt.

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Wie in der Marienverkündigung und im Pfingstbild schmückt ein runder Baldachin den Raum der Darbringung zur Non (fol. 54), nun über dem Altar links. Simeon, durch einen Nimbus als Heiliger kenntlich, hält den nackten Jesusknaben auf einem Tuch in den Händen. Rechts kniet Maria vor dem Altar, gefolgt von einer Frau mit dem Taubenopfer; wegen deren modischer Haube könnte man meinen, eine junge Dame, für die das Buch bestimmt war, sei in die Rolle dieser Dienerin der Muttergottes geschlüpft. Im Gegensinn zur Landschaft der Heimsuchung steigt bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 58) das Gelände nach rechts an; die turmreiche Stadt liegt nun links hinten. Von einer goldenen Säule stürzt in der Bildmitte ein heidnisches Götzenbild herab. Gefolgt von einer Magd mit weißer Schürze, die einen Korb mit Essen auf dem Kopf mit der Rechten festhält und eine Flasche in Flechtwerk mit der Linken trägt, reitet Maria auf dem Esel. Sie hält den betenden, in einen rotgoldenen Rock gekleideten Jesusknaben auf dem Schoß in den Armen, während Joseph, auf einen Stock gestützt, mühsam voranschreitet. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 62) steht Gottes Thron links vor einem Bogen, der an das Interieur der Verkündigung erinnert. Mit Christi Zügen thront vor einem grünen Ehrentuch Gott als Papst in Chormantel und der Tiara auf dem Haupt. Maria kniet rechts über silbern modellierten hellblauen Wolken. Ein von rechts hereinschwebender Engel bringt die Krone. Bildparallel wartet eine Bank mit einem Kissen auf die jugendlich gezeig te Muttergottes. Über deren mit Maßwerk dekorierter Rückenlehne drängen feurige Seraphim und geben dem Bild den entscheidenden Farbakzent, zu dem die vielen warmen Töne des Holzes und der Gewandung der Gottheit passen. fol. 69: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße im mit Bücherregal und Drehpult ausgestatteten Arbeitszimmer des auch als Autor berühmten Königs gezeigt; es ist ähnlich gestaltet wie die bereits beschriebenen Interieurs. Besonders eng verwandt ist der Tempelraum der Darbringung: Gerahmt ist das Bild von Säulen und einem Bogen in Gold. Statt des Altars steht links ein nackter Holzkasten, ebenso von der Schmalseite her gesehen. Darauf hat David seine Harfe neben einer roten Tafel abgestellt, die an die Gesetzestafeln gemahnt. Davor kniet David, mit einem Pelzhut auf dem Haupt, und betet zu einer Erscheinung Christi in einem Fenster, die sehr viel sprechender wirkt als der greise Gott in der Marienverkündigung. fol. 87: Totengedenken auf dem Friedhof zur Toten-Vesper: Vor einem aus zwei Flügeln eines Karners gebildeten Raumeckmotiv stehen rote Friedhofskreuze und Grabtumben. Ein Franziskaner und hinter ihm ein Dominikaner knien neben einem mit einem Gisant versehenen Grab eines Bischofs. Ihnen schließt sich ein junger Laie an, während eine Frau weiter hinten zu einem Friedhofskreuz gewendet ist. Aus den Laubengängen des Karners blicken Leute herüber. fol. 148: Die VII Klagen des Herrn eröfnen mit der von Psalm 109 geprägten Darstellung der Trinität: Vor feurigen Seraphim, die den ganzen Fond bilden, steht der mit Maßwerk dekorierte steinerne Thron, auf dem Sohn und Vater, beide mit Jesu Gesichts-

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zü­gen, in wei­ßen Ge­wän­dern, von ei­nem ro­sa­far­be­nem Man­tel um­schlos­sen sit­zen und das ge­öff­ne­te Buch des Le­bens hal­ten; zwi­schen ih­nen hat sich die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes auf dem Man­tel nie­der­ge­las­sen. Chri­stus hat sein Kreuz auf­ge­rich­tet in der Rech­ ten, die zwei­te Got­tes­ge­stalt hält eine Spha­ira in der Lin­ken. fol. 152: Ei­nem aus der all­ge­mei­nen Ikon­ographie ge­läu­fi­gen Sche­ma folgt die Stig­ma­ tisat­ion des hei­li­gen Fran­zis­kus zu dem ver­mut­lich als Nach­trag zu ver­ste­hen­den Fran­ zis­kus­ge­bet: Vorn sinkt der Hei­li­ge ins Knie, weil ihm von links oben das mit drei Se­ra­ phim ver­bun­de­ne Kreuz (ohne eine Dar­stel­lung Jesu) er­scheint und die blut­ro­ten Li­ni­en zur Stig­ma­tisat­ion aus­sen­det. Am Fuß des Hü­gels, der nach rechts oben zu ei­ner Ein­ sie­de­lei an­steigt, hockt der Fran­zis­ka­ner­bru­der, den die Be­rich­te von dem Er­eig­nis er­ wäh­nen und schaut, ohne et­was zu be­mer­ken, ins Lee­re. Zum Stil Der Ge­samt­cha­rak­ter der Hand­schrift mit ih­ren Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren ver­rät den Stil je­nes Ma­lers, von dem aus Paul Dur­rieu 1896 eine Stil­grup­pe um Ja­cques de Be­san­ çon be­stimmt hat. Den Stand der Kennt­nis ha­ben Avril und Reynaud 1993, S. 256-262, schlüs­sig do­ku­men­tiert. Ster­ling (II , 1990, S. 216-217) ist auf den Ei­gen­na­men Ja­cques de Be­san­çon zu­rück­ge­kom­men. Doch kön­nen wir seit Deldicque 2014 si­cher sein, daß Fran­çois Le Bar­bier der Jün­ge­re je­ner Ma­ler war, der in der Nach­fol­ge des Buch­ma­lers, den man bis­her als Maître Fran­çois kann­te, eine hohe Kul­tur spät­go­ti­scher For­men in Pa­ris le­ben­dig ge­hal­ten hat. Alle Mi­nia­tu­ren in un­se­rem Stun­den­buch fol­gen dem Vor­ la­gen­schatz, den die­ser be­reits von sei­nem Va­ter ge­erbt hat­te. Ko­lo­rit und Mal­wei­se las­ sen an der Zu­schrei­bung kei­nen Zwei­fel. Kom­plett er­hal­ten, bie­tet das Ma­nu­skript ein sehr ein­heit­li­ches Bild von der noch ent­schie­den spät­go­ti­schen Pa­ri­ser Buch­kul­tur des spä­ten 15. Jahr­hun­derts, für die Maître Fran­çois und der Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon, als Va­ter und Sohn Fran­ çois Le Bar­bier, ste­hen: Wäh­rend die Schrift noch ganz der Pa­ri­ser Tra­di­ti­on ver­ pflich­tet ist, wird der Schrift­de­kor fort­schritt­li­cher ge­stal­tet. Mit Bil­dern, die noch ein­mal die Prä­zi­si­on und Zart­heit des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters ver­kör­pern und je­ nen eher kon­ser­va­ti­ven Trend be­haup­ten, der in der Pa­ri­ser Buch­kul­tur im­mer wie­ der er­staunt, ist die­ser Ko­dex wun­der­voll evi­dent aus­ge­stat­tet. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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31 Ein Stun­den­buch von Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren mit Mi­nia­tu­ren im Stil des Go­thaStun­den­buchs und ei­nem Ka­len­der im Stil der Chronique Scandaleuse aus den Samm­lun­gen Duc de la Vallière Le Noir und W. Sneyd


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Blau, Festtage in Gold, in Textura, mit beigebundenen gedruckten Texten der Mitte des 16. Jahrhunderts. Paris, um 1480: François Le Barbier der Jüngere (Meister des Jacques de Besançon), als Hauptmaler, mit Kleinbildern im Stil des Gotha­Stundenbuchs und einem Ka­ lender im Stil der Chronique Scandaleuse Insgesamt 56 Bilder: 15 große Kopf bilder über vier Zeilen Text mit dreizeiligen Dorn­ blatt­Initialen in Vollbordüren mit Kompartimenten, belebt von Grotesken, Vögeln und Insekten: auf Pinselgold Blumen, auf Pergamentgrund blau­goldener Akanthus; der ge­ samte übrige Randschmuck ebenfalls in dieser Art. 17 quadratische Miniaturen von sie­ ben Zeilen Höhe im Textspiegel mit dreiseitigen Bordürenklammern von außen. 24 Ka­ lenderbilder, sieben Zeilen hoch, in Bordürenstreifen außen. Bordürenstreifen auf jeder Textseite. Psalmenanfänge mit zweizeiligen Dornblatt-Initialen. Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 184 Blatt Pergament und 38 Blatt Papier, vorne 5 und hinten 6 fliegende Vorsätze sowie feste Vorsätze vorn und hinten aus Papier. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend der Kalender; eine Kollationierung des Textblocks ist nicht möglich. Vollständig erhalten. Rot regliert zu 17 Zeilen im Text und im Kalender. Oktav (165 x 108 mm, Textspiegel: 95 x 67 mm). Dunkelolivgrüner Maroquinband des 16. Jahrhunderts auf flachen Rücken, dieser in doppeltem Filetenrahmen mit Lorbeerzweigen, Deckel in ebensolcher Bordüre, im Zentrum großes Rautenornament aus Lorbeerzweigen und floralen Stempeln, Goldschnitt. Provenienz: Eintragung im Innendeckel: „2. 84“ 7 chez le Duc de la Valière / achetté par moi / Le noir“. Das Manuskript wurde als Nr. 322 der berühmten Sammlung des Duc de la Vallière am 7.2.1784 für 19 livres 19 sous an Herrn Le Noir verkauft. Dieser ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Jean-Charles-Pierre Le Noir (1732-1807), Staatsrat und „Lieutenant de police de Paris“, ein bedeutender Büchersammler seiner Zeit, vgl. Guigard II, Sp. 309-311. Später bei Sir Walter Sneyd, siehe die Auktion Sotheby’s 18.5.1902, Nr. 587 (Sammellot). Zuletzt europäischer Privatbesitz. Text fol. 1: Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Blau, Festtage in Gold, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe A als Kompartiment-Initiale in Gold, S in der Farbe des Heiligennamens.

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Die Schreibweise dialektal gefärbt; die Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa (3.1.), Leonus und Ägidius (1.9.), Dionysius (9.10.), Marcellus (3.11.). fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 17v). fol. 18v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 18v), O intemerata (fol. 22v). fol. 26: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 26), Laudes (fol. 49), Prim (fol. 60), Terz (fol. 66), Sext (fol. 71), Non (fol. 75), Vesper (fol. 79), Komplet (fol. 86). fol. 91: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 103), darunter für Paris charakteristisch Gervasius und Prothasius und Genovefa, aber auch mit Leobin von Chartres. fol. 109: Horen: von Heilig Kreuz (fol. 109) und Heilig Geist (fol. 116). fol. 127: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris. fol. 167: Französische Gebete: XV Freuden Mariä: Doulce dame, gefolgt von VII Klagen des Herrn: Doulx dieu (fol. 173). fol. 176v: Suffragien: Michael (fol. 176v), Johannes der Täufer (fol. 177), Jakobus der Ältere (fol. 177v), Christophorus (fol. 178), Laurentius (fol. 179), Sebastian (fol. 179v), Nikolaus (fol. 180), Antonius (fol. 180v), Katharina (fol. 181v), Barbara (fol. 182), Margarete (fol. 182v), Apollonia (fol. 183). fol. 183v: Textende des Manuskripts. fol. aai-Biiii (Bl. 185 im gesamten Buchblock): spätere Hinzufügung der gedruckten Commendationes defuncorum ofcium singulare et devotum, die dem Totengedenken dienen, sowie ab Bl. Ai Gebete zur Vorbereitung auf den Empfang des Sakraments (Kolophon: Imprimé à Paris par Joland Bonhomme demourant en la rue Saint Jacques à la licorne M.D.lvij), 1557. Danach ein weiterer gedruckter Text: fol. Ai-Biiii (Bl. 211 im gesamten Buchblock): Les quinze oraisons S. Brigide. La premiere oraison: O tresdoulx Jesus eternelle doulceur de ceulx qui ayment iubilation… (ohne Kolophon), dazu auf Bl. A(v) zu Oraison de saince Barbe eine kleine Graphik mit der Enthauptung der hl. Barbara vom Meister der Apokalypsenrose. Schrift und Schriftdekor Textura behauptet sich in der Entstehungszeit außer in echten Liturgica wie unserer Nr. 29 noch für Stundenbücher. In dem hier beschriebenen Manuskript wirken ihre Buchstaben gedrungen, nicht sehr stark stilisiert, und lassen somit die gotische Grundkonzeption dieser Schrift zunehmend außer Acht. Die Initialen in Flächen- und Dornblattdekor stellen den Text in eine gute Tradition, die bis in die Anfangsjahre des 15. Jahrhunderts in Frankreich zurückreicht.

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Der von schlichten roten Linien konturierte Randdekor mit Kompartimenten auf Pergament- oder mit schwarzen Konturen umrissenem Goldgrund ist überall im Manuskript einheitlich und nur von seiner Ausdehnung her der Hierarchie der Incipits verpflichtet. Der Umstand, daß Akanthus grundsätzlich blau-golden ist, führt dazu, daß Akanthus auf Pergamentgrund, Blumen aber auf mattem Pinselgoldgrund liegen. Die Kompartimente folgen auf Recto und Verso desselben Blatts in der Regel einem einheitlichen Entwurf. Tiere sorgen für Belebung, besonders aufällig ist der mit einer goldenen Leine festgehaltene Bär im Randschmuck der Darbringung, wo die goldfarbenen Kompartimente als Herzen geformt sind. Die Eule bei der Hirtenverkündigung mag darauf verweisen, daß das Ereignis bei Nacht stattgefunden hat. Die kleinen Miniaturen im Textspiegel sind mit sehr schmalen roten Rahmen umgeben, die mittig mit Gold gehöht werden. Bei den großen Miniaturen genügen hingegen einfache rote Grenzlinien; Interieurs erhalten recht breite Goldränder nur in der Senkrechte, die unterhalb des Bogens mit kleineren Bögen und Maßwerkformen spielen. Unter ihnen gibt es keine hierarchische Stafelung, die beispielsweise die Marien-Matutin und den Beginn der Bußpsalmen hervorhöbe. Bildfolge fol. 1: Sieben Zeilen hohe Bilder sind in den Bordürenstreifen auf dem äußeren Rand untergebracht; so kann man auf den Recto-Seiten die Monatsbilder und auf den VersoSeiten die Tierkreiszeichen im Jahreslauf verfolgen: Besonders reizvoll ist der Bildausschnitt im Januar: Man blickt dem wohlhabenden Mann beim Speisen geradezu über die Schulter auf den Eßtisch und die im Kamin lodernde Flamme. Der Wassermann ist ein nackter Knabe in der Landschaft. Ein Reicher am Kamin bezeichnet den Februar. Zwei Fische tummeln sich über dem Wasser und unter dem Himmel. Beschneiden der Weinstöcke gehört zum März. Der schneeweiße Widder wird brillant ausgeleuchtet und schattiert. Ein Mädchen mit ofenem Haar flicht einen Blumenkranz im April. Der Stier tritt am Waldesrand ins Freie. Zum Liebespaar im Mai gehört das Mädchen aus dem April. Als nacktes Liebespaar tauchen die Zwillinge auf. Juni ist Heumonat; also beugt sich ein Schnitter über das hohe Gras. Rot liegt der Krebs auf blauem Wasser. Bei der Kornmahd im Juli stehen die hohen Garben schon. Der Löwe wirkt vor dunkler Mauer wie ein heraldisches Bild. Zum Dreschen im August liegen die Garben in der Scheune. Die Jung frau vor einer Mauer hält einen Palmzweig. Die Weinkelter gehört zum September. Eine Magd mit weißer Schürze, gleichsam eine heilige Martha, hält die Waage. Der Sämann im Oktober wirkt, als wolle er auf einen Feldweg seine Saat streuen. Der Skorpion ist ein schwarzes Krustentier auf der Wiese. Der Schweinehirt im November schlägt Eicheln für seine Herde ab. Als Kentauren hat man oft den Schützen dargestellt. Schweineschlachten ist für den Dezember charakteristisch. Aus einem roten Ammonshorn tauchen Kopf und Vorderteil vom Steinbock auf. fol. 13: Alle vier Perikopen erhalten ein sogenanntes Evangelistenporträt; nur Johannes auf Patmos (fol. 13) gesteht man eine große Miniatur zu: Auf dem runden Eiland, das

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sich mit Felsrand über dem Wasser erhebt, sitzt der jugendliche Autor und wendet sich nach links, wo der Adler, sein Attributswesen, das Schreibzeug hält. Die Miniatur beweist die Landschaftskunst der Le Barbier. Quadratische Kleinbilder von 7 Zeilen Höhe nehmen die anderen Evangelisten auf: Lukas mit dem Stier (fol. 14v), Matthäus mit dem Engel, zu dem er sich umdreht (fol. 16), und Markus mit dem Löwen (fol. 17v). fol. 18v: Auch die beiden Mariengebete sind durch entsprechend bemessene Kleinbilder aufndbar gemacht; dabei folgt man einem bewährten Schema: Zum Obsecro te zeigt man thronend Maria mit Kind (fol. 18v), zum O intemerata hingegen die Beweinung un­ ter dem Kreuz (fol. 22v). fol. 26: Das Marien­Ofzium wird nach Pariser Brauch bebildert; die Miniaturen stehen in der Tradition der bisher unter Maître François verhandelten Werkstatt der beiden François Le Barbier; sie sind im kühleren Kolorit des Sohnes gehalten: Die Matutin eröfnet mit der Verkündigung (fol. 26): Von einem Goldrand gerahmt, der im oberen Abschluß zu einem doppelten Bogen mit Maßwerk wird, findet die Begegnung von Maria und dem von rechts gekommenen Engel in einem Palastraum statt; ein rotes Ehrentuch zeichnet die Jungfrau aus. In einem Fenster in der bildparallelen Wand vor dem blauen Himmel erscheint Gott in Jesu Gestalt. Von seinem Leib oder sogar von der Sphaira gehen goldene Strahlen aus, auf denen die Taube ins Gemach schwebt. Im Raumeckmotiv wird auf die Wand rechts, durch die der Engel gekommen sein müßte, verzichtet. Marias hölzernes Betpult, das mit Maßwerk verziert ist, setzt mit der Schmalseite an der vorderen Bildfläche an. Maria kniet und blickt mit fassungslos erhobenen Händen von ihrem geöfneten Buch zum Erzengel, dessen Haupt niedriger als ihres erscheint. Gabriel, der in der Linken ein Zepter hält, weist mit der Rechten in die Höhe zur Gotteserscheinung über sich; in weißer Textura steigt das Incipit seines Grußes in der Luft; die Taube des Heiligen Geistes schwebt dem Ave voraus. Maria ist ganz in Blau gekleidet, der Engel als Diakon in eine violette Dalmatika; beide sind mit Gold gehöht; mit Rot modelliert sind seine goldenen Flügel. In der auf den Meister des Jean Rolin zurückgehenden Tradition spielt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 49) vor einem Hügel. Maria ist mit dem greisen Joseph, der barhäuptig ist und die Hände verbirgt, gekommen; ihr schreitet Elisabeth entgegen, mit dem stattlichen Haus des Zacharias hinter sich. Die betagte Frau streckt beide Hände betend aus. In Rosa und Violett ist der Ziehvater gekleidet, in einen Goldton die Base; beider mit Gold gehöhten Farben rahmen das reine Blau Marias. Wie bei den Le Barbier gewohnt, ist das Weihnachtsbild mit der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 60) eingerichtet: Vor dem Stall von Bethlehem, dessen Giebel schräg nach rechts in die Bildtiefe hin zu einer rissigen bildparallelen Mauer führt, kniet Maria links. Den nackten Knaben, der mit dem rechten Zeigefinger auf seinen Mund zeigt, hat sie auf ein rechteckiges weißes Tuch gelegt; dieses Motiv läßt an Altartücher denken, auf die der Leib Christi in Form der Hostie abgelegt wird. Joseph kniet ein Stück im Raum zurückgesetzt, mit zum Gebet gefalteten Händen. Der Ochse hockt links hinter der

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Muttergottes und schaut nach links, der Esel hingegen rechts und blickt zu Maria und Joseph. Der Ausblick nach rechts hinten führt auf eine schlichte Wiese. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 66) ist nahräumiger konzipiert: Zwei junge Männer, dieselben wie in Nr. 30, nun ohne die Hirtin, lauschen dem Engel, der aus einer hellen Wolke das gut lesbare Gloria mit einem Spruchband verkündet. Auf starke Farben ist verzichtet, weil die Hirten in zurückhaltend gefärbte Kleider gehüllt sind. Die Herde drängt sich hinter ihnen. Nur eine weit entfernte Burg zeugt von Behausung. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 71) wird der Stall aus dem Weihnachtsbild ebenso wie der Blick auf Wiesen rechts hinten wiederholt. Joseph und die beiden Tiere fehlen. Maria sitzt mit dem nackten Knaben auf dem Schoß, der auf ihren Knien steht, um in die vom ältesten König dargebotene Schatzkiste zu greifen. Hinter diesem steht der mittlere; eleganter wirkt der bartlose jüngste König. Goldene Strahlen gehen vom Stern aus, der unter dem Bogen erstrahlt. Wie in der Marienverkündigung wird der Raum der Darbringung zur Non (fol. 75) von goldenen Leisten, die sich zu Bögen fügen, gerahmt; diesmal mit gestafelter dreiteiliger Form. Hinter dem Altar links steht Simeon ohne Nimbus; mit bloßen Händen faßt er den nackten Jesusknaben, der zu dem Tuch strebt, das die Mutter hält. Rechts kniet Maria vor dem Altar, gefolgt von einer recht jungen Frau mit einer sehr hohen brennenden Kerze und dem Taubenopfer. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 79) steigt das Gelände nach rechts an; eine turmreiche Stadt liegt links hinten. Von einer dicken weißen Säule in der Bildmitte stürzt der braungoldene Götze herab, als sei er lebendig. Maria auf dem Esel hält den mit ihr sprechenden, in einen rotgoldenen Rock gekleideten Jesusknaben auf dem Schoß, während Joseph auf einen Stock gestützt, rüstig voranschreitet. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 86) steht Gottes Thron links vor einem rosafarbenen Ehrentuch, dessen rechteckige Rahmung an das Interieur der Verkündigung erinnert. Mit Christi Zügen und in dessen Rock, ohne Krone, thront Gott. Maria kniet rechts über silbern modellierten hellblauen Wolken. Bildparallel wartet eine Bank mit einem Kissen auf die jugendlich gezeigte Muttergottes. Ein Engel beugt sich von rechts darüber und bringt die Krone. Über der mit Maßwerk dekorierten Rückenlehne drängen feurige Seraphim und geben dem Bild den entscheidenden Farbakzent, zu dem die vielen warmen Töne des Holzes und des violetten Rocks Jesu passen. fol. 91: Zu den Bußpsalmen wird Davids Buße in einem Raum gezeigt, der engstens mit dem Tempel der Darbringung verwandt ist und ebenfalls von einem gestafelt dreiteiligen Bogen bekrönt ist. Links steht wie ein Altar eine Holztruhe mit einem rundbogigen Bild von Moses mit den Gesetzestafeln. Seine Harfe hat der König in einem Futteral an der bildparallelen Seitenwand abgestellt. So kniet David, der die Krone auf dem Haupt trägt, aber seinen mit Hermelin gefütterten Kronhut neben dem Mosesbild abgelegt

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hat, und betet zu einer Erscheinung Christi in einem Fenster, die genauso wirkt wie in der Marienverkündigung. fol. 109: Die gewohnten Erkennungsbilder eröfnen die Horen: Die Kreuzigung zu den Heilig-Kreuz-Horen (fol. 109) setzt das Kreuz geradezu in einen Weg, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt; an Jerusalem ist in der reinen Landschaft nicht gedacht. Die oberen Ecken des Querbalkens sind vom Bogenabschluß der Miniatur leicht beschnitten. Maria, Johannes und mehrere von beiden fast ganz verdeckte Frauen stehen links; ohne erkennbaren Zenturio drängen rechts die Soldaten, durchweg jüngeren Alters; einer von ihnen hat seinen modellierten roten Schild neben sich auf den Boden gestellt. Das Pfingstwunder zu den Heilig-Geist-Horen (fol. 116) spielt nahezu in demselben Interieur wie die Verkündigung: Links kniet die Muttergottes mit verhüllten Haaren vor dem Ehrentuch vor ihrem Betpult. Die Wände sind geschlossen. Wie der Erzengel Gabriel bewegt sich der Lieblingsjünger Johannes von rechts auf Maria zu, sinkt ins Knie und führt die Schar der Apostel an, die mit Petrus als zweitem Anführer der Jungfrau Maria gegenübergestellt sind. Statt die Taube erscheinen zu lassen, begnügt sich der Buchmaler mit Flammen, die sich im Raum verteilen, nicht aber über den einzelnen Köpfen aufleuchten. fol. 127: Das Begräbnis auf dem Friedhof zur Toten-Vesper spielt vor der Abschlußmauer auf einer Wiese, die durch ein rotes Kreuz als Friedhof bezeichnet ist und von einem zentralen Baum bestimmt ist: Der für das Bild ausgewählte Moment wird sonst kaum, aber auch in unserer Nr. 27, dort sogar sehr ähnlich, dargestellt: Vorn ist ein Grab ausgehoben; der in weißes Leinen eingenähte Leichnam liegt bereits darin; während ein Totengräber Erde über ihn schaufelt, sprengt ein Priester Weihwasser; er führt die Geistlichen an, die ofenbar aus der Kapelle rechts hinten getreten sind. fol. 167: Wie gewohnt sind die französischen Gebetsfolgen mit jeweils einem Bild ausgestattet: Die XV Freuden eröfnen mit einer Darstellung der thronenden Madonna mit musizierendem Engel: Schauplatz ist der schon von der Verkündigung vertraute Raum mit dem doppelten Bogen. Das Betpult ist weggeräumt; nun sitzt Maria vor dem Ehrentuch; auf ihren Knien steht der in den rotgoldenen Rock gekleidete Jesusknabe; ein Engel in Dalmatika bläst eine sehr lange Posaune. fol. 173: Die VII Klagen des Herrn eröfnen mit der von Psalm 109 geprägten Darstellung der Trinität: Über einer Wolkenbank und vor feurigen Seraphim, die den ganzen Fond bilden, steht der mit Tuch verhängte Thron, auf dem Sohn und Vater, beide mit Jesu Gesichtszügen, in weißen Gewändern, von einem rosafarbenem Mantel umschlossen, sitzen und das geöfnete Buch des Lebens halten; zwischen ihnen hat sich die Taube des Heiligen Geistes auf dem Mantel niedergelassen. Christus hat kein Kreuz, die zweite Gottesgestalt hält eine Sphaira in der Linken; sie sind einander im Gespräch zugewandt.

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fol 176v: Kleinbilder eröfnen die Sufragien: Michaels Drachenkampf (fol. 176v) findet vor recht niedrigem Horizont in flacher Wiesenlandschaft statt, erstaunlich bewegt in brillanter Farbigkeit, ofenbar eine gute Miniatur von François Le Barbier dem Jüngeren. Johannes der Täufer (fol. 177) steht vor einem Wäldchen und weist mit der Rechten auf das Lamm, das auf seinem Buch Platz genommen hat. Jakobus (fol. 177v) steht vor Wegen und Gewässern mit Stab, Hut und Tasche als Pilger mit einem geöfneten Buch in der Linken. Christophorus (fol. 178) trägt den Christusknaben in einer wunderbaren Bewegung, die anschaulich macht, wie ihn das unerhörte Gewicht des Knaben erstaunt. Laurentius (fol. 179) steht als Diakon mit seinem Attribut, dem Rost, in der Landschaft. Sebastians Pfeilmarter (fol. 179v) kommt ohne den Baum aus, an den der Heilige sonst gebunden ist; vor einer bildparallelen Mauer in der Landschaft zielen zwei Bogenschützen von links auf den bereits von beiden Seiten gespickten Märtyrer. Niko­ laus (fol. 180) rettet die drei Knaben aus dem Pökelfaß. Antonius Abbas (fol. 180v) steht mit seinem Tau-Kreuz und dem Schwein vor der Einsiedelei. Katharina (fol. 181v) als gekrönte Königstochter hält das Schwert in der Nabe des zerschlagenen Rades. Barbara (fol. 182) steht mit Buch und Märtyrerpalme vor ihrem Turm, in den die drei Fenster als Zeichen der Trinität eingelassen sind. Margarete (fol. 182v) taucht im tiefen Kerker aus dem Rücken des Drachens auf. Apollonia (fol. 183) steht mit einem Zahn in der Zange in der Landschaft. Zum Stil Der Gesamtcharakter der Handschrift mit ihren Kompartiment-Bordüren verrät den Stil jenes Malers, von dem aus Paul Durrieu 1896 eine Stilgruppe um Jacques de Besançon bestimmt hat. Dieser Illuminator hat 1485 der Pariser Bruderschaft Johannes’ des Evangelisten ein Lektionar gestiftet, dessen zwei Miniaturen jedoch nicht von einer Hand sind (Paris, Bibl. Mazarine, ms. 461: Sterling II , 1990, S. 216 f.). Deshalb wurde der Stil unter einem nach Jacques de Besançon benannten anonymen Meister behandelt, hinter dem sich, wie man seit Deldicque 2014 sicher sein kann, François Le Barbier der Jüngere verbirgt. Alle Miniaturen größeren Formats folgen dem Vorlagenschatz, den dieser bereits von seinem Vater, dem lange als Maître François geführten François Le Barbier dem Älteren, geerbt hatte. Kolorit und Malweise lassen an der Zuschreibung keinen Zweifel. Von den Kleinbildern hingegen gehört ihm nur das Michaelsbild. Die meisten der kleineren Miniaturen im Textspiegel kommen hingegen für den Maler in Frage, der zu sichtlich späterem Zeitpunkt ein Stundenbuch ausgemalt hat, das aus der Gothaer Bibliothek in der Nazizeit ausgeschieden wurde und über uns dorthin zurückgekehrt ist: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. II 70 (Nettekoven 2007). Farbgestaltung und Physiognomien verraten die enge Verwandtschaft der drei kleinen Evangelistenbilder, der Miniaturen zu den beiden Mariengebeten und schließlich der Sufragienbilder. Im Kalender kommt jedoch noch ein weiterer Maler hinzu: Er setzt die Farbe viel lebendiger ein, wählt zuweilen ungewöhnliche Blicke, so im Januar, aber auch in den Bildern

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mit Liebespaaren. Die Physiognomien lassen an die Chronique Scandaleuse, eine Handschrift der Pariser Nationalbibliothek (Clair. 481), und an Morgan 219 denken, von dem aus Plummer 1982 den Stil definiert hat. Ein Blick auf die sehr viel freier gemalte kleine Miniatur im Johannes-Lektionar der Mazarine könnte dazu ermuntern, in diesen famosen Bildchen den wahren Jacques de Besançon zu erkennen. Als charakteristische Arbeit vom Meister des Jacques de Besançon, in dem wir François Le Barbier den Jüngeren erkennen dürfen, erweist sich dieses Manuskript: Schrift und Schriftdekor sind noch ganz der Pariser Tradition verpflichtet, die im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts fortschrittlicheren Formen weicht. Doch sind an diesem Buch zwei Künstler beteiligt gewesen, die eine jüngere Generation vertreten: Gediegen und sorgfältig arbeitet der Gotha­Meister in den Kleinbildern am Anfang und Ende des Textblocks, stärker überraschen hingegen die Kalenderbilder aus dem Stilkreis der Chronique Scandaleuse, die vielleicht von jenem Illuminator stammen, der wirk lich Jacques de Besançon hieß und um 1485 in Paris lebte. Komplett erhal­ ten, bietet das Manuskript ein bemerkenswert reiches Bild der Pariser Buchkultur des späten 15. Jahrhunderts und ihrer Einbindung in ältere Traditionen. LI TE RATUR:

Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.

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32 Ein un­ge­mein an­spruchs­vol­les Stun­den­buch vom Mei­ster der Traités théologiques und Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment in Braun, Ru­bri­ken in Wein­rot und Blau, ge­schrie­ben in Fere-Hu­ma­nist­ica. Pa­ris, um 1490: Mei­ster der Traités théologiques und Fran­çois Le Bar­bier der Jün­ge­re (Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon) 54 Mi­nia­tu­ren: 13 ganz­sei­tig be­mal­te Bild­fel­der ohne her­kömm­li­chen Rand­schmuck, mit den In­cipits ohne In­itia­len in Gold­schrift auf pupurn be­mal­ten Sockeln der rah­men­den Re­nais­sance-Ar­chi­tek­tu­ren, die in Gold-Ca­maïeu ge­hal­ten sind und meist eine Pro­phe­ ten-Sta­tu­et­te ber­gen; 5 gro­ße Kopf­bil­der über 3 Zei­len Text mit dreiz­ei­li­gen In­itia­len, um­ge­ben von Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren; 12 Klein­bil­der mit drei­sei­ti­ger Klam­mer von Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren au­ßen, 24 Ka­len­der­bil­der in ent­spre­chend drei­sei­tig an­ge­leg­ten Bor­dü­ren. Jede Text­sei­te mit ei­nem Bor­dü­ren­strei­fen der­sel­ben Art au­ßen; Psal­men­an­fän­ge und ähn­li­che Tex­te mit zweiz­ei­li­gen Akanthus-In­itia­len mit Vö­geln, Flie­gen und Gro­tes­ken; Psal­men­ver­se mit ein­zei­li­gen Pin­sel­gold­in­itia­len auf bräun­li­chem Rot, Um­bra und Blau; zahl­ rei­che Zei­len­fül­ler als Kno­ten­stöcke oder Flä­chen in glei­cher Art wie die ein­zei­li­gen In­itia­len. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 160 Blatt Per­ga­ment, dazu neue­re Per­ga­ment­blät­ter als flie­gen­des und fe­stes Vor­satz vorn und hin­ten; ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (6), 2(8+1) so­wie die La­gen 3 (4) und 4 (8-1, ohne Text­ver­lust). Rot reg­liert zu 20, im Ka­len­der zu 33 Zei­len. Ok­tav (168 x 118 mm, Text­spie­gel: 102 x 61 mm). Kom­plett er­hal­ten; in den spä­te­ren Hin­zu­fü­gun­gen am Schluß Fehl­stel­len. We­ni­ge Ab­pl­at­zun­ gen durch feh­ler­haf­te Fa­rb­zu­sam­men­set­zung in den Haupt­mi­nia­tu­ren sind leicht re­tu­schiert. Der Rah­men des Jo­han­nes­bil­des leicht ge­trimmt. Mo­dern ge­bun­den in vio­let­ten ge­mu­ster­ten Samt über Holz­deckeln. Pro­ve­ni­enz: Auf leer ge­blie­be­nen Ver­so-Sei­ten oder un­ter dem Texten­de auf Ver­so zahl­rei­che präch­tig ge­schmück­te Wap­pen des 16. Jahr­hun­derts; die in der klas­si­schen fran­zö­si­schen Form ge­ge­be­nen Schil­de sen­den auf far­bi­gem Fond Gold­strah­len aus; die ma­nie­ri­stisch kon­tu­rier­ten ver­zich­ten dar­auf. Alle Wap­pen sind in kreis­run­den Zier­for­men, oft in pracht­vol­len Lor­beer­ krän­zen oder ge­schlos­se­nen Fes­t ons ein­ge­schlos­sen. Die­se Wap­pen va­ri­ie­ren ei­nen Grund­be­ stand, der in den vier­tei­li­gen Schil­den von p. 94 und p. 132 un­ter­schied­lich zu­sam­men­ge­stellt ist. Die sil­ber­nen Rau­ten auf Rot (p. 132) las­sen an die bre­to­ni­sche Fa­mi­lie Rohan den­ken, die je­doch vor­zugs­wei­se gol­de­ne Rau­ten trug; dort fin­det man auch den bre­to­ni­schen Her­me­lin. Auf Schwarz ein sil­ber­nes Kreuz mit ge­well­ten Rän­dern (p. 38). Auf Gold schräg ge­kreuz­te rote Bän­der (p. 68). Ein ma­nie­ri­stisch kon­tu­rier­ter vier­tei­li­ger Schild (p. 94): auf Schwarz das sil­ber­ne Kreuz; auf Gold ein ro­ter Hirsch­kopf mit dem schwar­zen Dop­pel­ad­ler zwi­schen den Ge­weih­stan­gen; auf Schwarz drei gol­de­ne fle­urs-de-lis und ein sil­ber­ner Win­kel (Che­vron); auf Gold ein schwar­zes An­ker­kreuz. Die bei­den im obe­ren Re­gi­ster von p. 94 ge­zeig­ten Schil­de, je­

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weils hal­biert (p. 102). Die bei­den Kreuz­wap­pen, je­weils hal­biert (p. 110). Vier­ge­teilt (p. 132): auf Rot drei sil­ber­ne Rau­ten; auf Schwarz die drei gol­de­nen fle­urs-de-lis mit dem sil­ber­nen Win­kel; auf Sil­ber schwar­zer Her­me­lin (Bre­ta­gne); auf Gold der schwar­ze Dop­pel­ad­ler. Auf Schwarz das sil­ber­ne Kreuz (p. 156). Ge­teilt und auf Schwarz vier gol­de­ne For­men mit acht gol­de­nen Ku­geln (p. 192). Vier­ge­teilt (p. 206): auf Rot die drei sil­ber­nen Rau­ten; auf Schwarz das sil­ber­ne Kreuz, auf Schwarz die drei gol­de­nen fle­urs-de-lis mit dem sil­ber­nen Win­kel; auf Gold das schwar­ze An­ker­kreuz. p. 218: Vor der To­ten-Ves­per eine lee­re Sei­te ohne Wap­pen, viel­leicht aus aber­gläu­bi­scher Furcht; denn in Frank­reich hat man an­ders als in Flan­dern bei To­ten­bil­dern meist auf Wap­ pen ver­zich­tet. Text p. 1: Ka­len­der, in la­tei­ni­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, ab­wech­selnd in Wein­rot und Blau, die Gol­de­ne Zahl, der Sonn­tags­buch­sta­be A und die Fe­ste in Gold, die Sonn­tags­ buch­sta­ben b-g in Braun, die An­ga­ben zu den rö­mi­schen Kalend­erzählungen ab­wech­ selnd in Wein­rot und Blau. Die Hei­li­gen­aus­wahl schwer zu deu­ten: mit ei­nem Fest der vor al­lem nörd­lich von Pa­ris ge­fei­er­ten Trans­latio des hei­li­gen Eligius von Noyon (25.6.), dazu Ägidius mit Lu­pus von Orlé­ans (1.9.), aber auch Dio­ny­si­us (9.10.). p. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (p. 13), Lu­kas (p. 17), Mat­thä­us (p. 20), Mar­kus (p. 24). p. 25: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro te (p. 27), O in­teme­rata (p. 34). p. 39: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom: Matutin (p. 39), Lau­des (p. 69), Prim (p. 87), Terz (p. 95), Sext (p. 103), Non (p. 111), Ves­per (p. 119), Komplet (p. 133), Ad­ vents-Of­fi­zi­um mit be­son­ders aus­führ­li­cher Ru­brik (p. 142). p. 157: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (p. 177); die Hei­li­gen­aus­wahl ohne Pa­ri­ser Pa­tro­ne weist in zen­tra­le Ge­bie­te süd­lich der Haupt­stadt mit Ani­anus von Orlé­ans, Marti­alis von Li­ mo­ges, Ge­rald­us von Au­rillac, Rad­egun­dis von Poi­tiers; p. 192 leer. p. 193: Horen: des Hei­li­gen Kreu­zes (p. 193); p. 206 leer; des Hei­li­gen Gei­stes (p. 207); p. 218 leer. p. 219: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Rom. p. 291: Suff­ragien: Mi­cha­el (p. 291), Jo­han­nes der Täu­fer (p. 292), Pe­trus und Pau­lus (p. 293), Ja­co­bus (p. 294), Chri­stoph­orus (p. 295), Se­ba­sti­an (p. 297), Steph­anus (p. 299), An­ to­ni­us Ab­bas (p. 300), Ni­ko­laus (p. 301), Clau­di­us (p. 302), Ka­tha­ri­na (p. 304), Mar­ga­re­te (p. 305); Texten­de ur­sprüng­lich auf p. 306. Hin­zu­ge­füg­te Blät­ter: p. 307 leer, p. 308: Das Maß der Sei­ten­wun­de Chri­sti nach der Vi­si­on des Hei­li­gen Dio­ny­si­us von Nar­bonne, dazu ein la­tei­ni­sches Ge­bet mit fran­zö­ si­schen Ru­bri­ken (p. 310); p. 311 leer. Aus an­de­rem Zu­sam­men­hang, Be­ginn fehlt: Suff­ragien­tex­te: ein nicht mehr zu iden­ti­fi­ zie­ren­der Be­ken­ner, so­wie Hie­ro­ny­mus (p. 312!?!); p. 313-316 leer.

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Schrift und Schrift­de­kor Erst um 1490 setz­te sich die im Main­zer Buch­druck schon seit 1462 be­nutz­te Gotico-An­ ti­qua oder Fere-Hu­ma­nist­ica durch, in der die­ses Ma­nu­skript an­ge­legt ist; doch noch ist sie nicht sehr flüs­sig aus­ge­schrie­ben. Die neu­ar­ti­gen grö­ße­ren In­itia­len (von zwei Zei­len an) sind aus zier­li­chem hell­far­bi­gen Akanthus ge­bil­det; im Wech­sel von Blau und Rosa he­ben sie sich vom braun­ro­ten Fond ab; ihre in Pin­sel­gold aus­ge­führ­ten Bin­nen­fel­der wer­den mit In­sek­ten, Schnecken und gro­tes­ken Tier­köp­fen be­lebt. Zum fort­schritt­li­ chen Cha­rak­ter ge­hö­ren auch die Ru­bri­ken, de­ren Blau, wenn wie im Ad­vents­of ­fi­zi­um meh­re­re Zei­len für eine ein­zel­ne Ru­brik nö­tig sind, mit Wein­rot wech­selt. Der De­kor der ele­gan­ten ein­zei­li­gen In­itia­len, die am Zei­len­be­ginn ste­hen und zahl­rei­che Zei­len­ fül­ler er­for­dern, war be­reits in Nr. 30 zu fin­den: Sie sind mit dem Pin­sel mit dün­nen Gold­buch­sta­ben ab­wech­selnd auf Flä­chen in Blau, Rot und ei­nem Um­bra­ton ge­malt. Der glei­che Rand­schmuck, der die re­gel­mä­ßi­gen Rand­strei­fen auf rei­nen Text­sei­ten füllt, wird bei den Klein­bil­dern im Text­feld zur Klam­mer, die von au­ßen um den Text greift, bei Kopf­mi­nia­tu­ren über drei Zei­len Text aber zur Voll­bor­dü­re. Wie in un­se­ren Nrn. 30 und 31 wech­seln blau-gol­de­ner Akanthus auf Per­ga­ment­grund und Blu­men auf Pin­sel­gold-Flä­chen ab, die ih­rer­seits kräf­tig kon­tu­riert sind. Im Ka­len­der wird auf die Kompartim­en­te ver­zich­tet; denn die Bild­fel­der glie­dern dort die Rand­strei­fen noch in­ten­si­ver; die­sel­be Art von Akanthus steht nun kon­tur­los ne­ben Flä­chen mit Blu­men. Wahr­schein­lich soll­te das Buch auch bei den wich­tig­sten In­cipits ent­spre­chen­de Kopf­ bil­der über drei Zei­len Text er­hal­ten. Da­von aber hat sich der Ma­ler des Jo­han­nes­bil­des so­wie der Mi­nia­tu­ren zum Mari­en-Of ­fi­zi­um, zu den Horen, den Buß­psal­men und dem To­ten-Of ­fi­zi­um ge­löst. In die Sockel sei­ner raf ­fi­nier­ten Ar­chi­tek­tu­ren hat er pur­pur­ro­ te Fel­der ein­ge­las­sen, um dort in gol­de­nen Ma­jus­keln aus epi­graphischer Tra­di­ti­on die an ih­rem ur­sprüng­li­chen Platz ge­tilg­ten Tex­te ein­zu­tra­gen. Die­ses Vor­ge­hen er­in­nert an Jean Fouquets Ge­stal­tung vie­ler Bild­sei­ten im Stun­den­buch für Étienne Che­va­lier (da­ von 40 Blät­ter im Mus­ée Co­ndé, Chan­tilly). Auch wenn die­se Ar­chi­tek­tu­ren breit an­ge­legt sind, wer­den sie doch mit spät­go­ti­scher Zier ver­se­hen, Fi­alen, Wim­per­gen und mit Sta­tu­et­ten be­setz­ten Ni­schen. Zu­wei­len wer­den auch Ju­we­len und Per­len als Schmuck ein­ge­setzt; das er­in­nert an Ar­bei­ten wie je­nes von uns 1990 vor­ge­stell­te Stun­den­buch, das Ge­org­es Tru­bert in Zu­sam­men­ar­beit mit ei­nem Pa­ri­ser Buch­ma­ler um 1490 il­lu­mi­niert hat (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter II , Nr. 51, S. 609). Zwei Ar­ten von gro­ßen Mi­nia­tu­ren, die zu­gleich den bei­den hier wir­ken­den Ma­ler­hän­ den zu­ge­hö­ren, wer­den hier­ar­chisch un­ter­schie­den: Schlan­ke Kopf ­bil­der sind durch Säu­len ge­rahmt, de­ren Schäf­te gern links grün, rechts blau mit Gold mar­mo­riert sind und die je­weils ei­nen gol­de­nen Dop­pel­bo­gen mit Maß­werk tra­gen. Wäh­rend die­se Mi­ nia­tu­ren im Text­spie­gel an­ge­sie­delt und mit Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren um­ge­ben sind, ver­ra­ten die ei­gent­li­chen Haupt­mi­nia­tu­ren – Jo­han­nes auf Patmos, der ge­sam­te Ma­ rien­zy­klus so­wie die Er­öff­nung von Buß­psal­men, Horen und To­ten-Of ­fi­zi­um – ei­nen

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ganz an­de­ren An­spruch: Gold­lei­sten rah­men die sehr breit an­ge­leg­ten, von ei­nem fla­chen ein­ge­zo­ge­nen Bo­gen bekrön­ten Bild­fel­der. Vor in Gold-Ca­maïeu aus­ge­führ­ten Ar­chi­ tek­tu­ren sind sie ein we­nig zum Falz hin nach links ge­rückt. Die­se Mi­nia­tu­ren sind von un­ter­schied­li­cher Grö­ße, in kei­nem Fal­le wird je­doch der sehr viel klei­ne­re Text­spie­gel als Maß re­spek­tiert. Daß aus­ge­rech­net die Mari­en-Ver­kün­di­gung am klein­sten ist, läßt schlie­ßen, daß sie viel­leicht als er­ste ge­stal­tet wur­de. Zu­dem ist sie als ein­zi­ge mit zwei Ni­schen für Sta­tu­et­ten ge­rahmt, was dann auf­ge­ge­ben wur­de. Zum Ge­stal­tungs­p rin­zip des Ma­nu­skripts ge­hör­te die Ent­schei­dung, die­se wich­tig­sten In­cipits auf Recto be­gin­nen zu las­sen. Des­halb bot das Buch im 16. Jahr­hun­dert ei­ni­ge ganz leer ge­blie­be­ne Ver­so-Sei­ten so­wie grö­ße­re am Texten­de leer ge­blie­be­ne Flä­chen, die mit ma­nie­ri­stisch ver­zier­ten Wap­pen­ma­le­rei­en ver­se­hen wer­den konn­ten. Bild­fol­ge p. 1: Da im Ka­len­der den ein­zel­nen Mo­na­ten nur je­weils eine Sei­te zu­ge­stan­den wird, müs­sen die Tier­kreis­zei­chen und die Mo­nats­bil­der je­weils ge­mein­sam un­ter­kom­men: Mit ei­ner Bild­hö­he von min­de­stens zwölf der 33 Zei­len des ex­trem stei­len Lay­outs nimmt der Zodiak die Mit­te der Au­ßen­sei­te ein, wäh­rend die Mo­nats­bil­der in der Brei­te des Text­ spie­gels wie ein Bas-de-page den Rand­strei­fen un­ten be­set­zen: Der Was­ser­mann ist ein Jüng­ling mit ge­stepp­tem Wams, der sei­ne me­tal­le­ne Kan­ne über ei­nem Fluß aus­schüt­ tet; vor dem Ka­min sitzt im Ja­nu­ar­bild ein Herr am Tisch und läßt sich von ei­nem Die­ ner Spei­se auf­tra­gen; wie durch ein Pan­ora­ma­fen­ster öff­net sich die Wand nach rechts und gibt ei­nen Blick in die Land­schaft, de­ren grü­ne Ve­ge­ta­ti­on nichts mit Ja­nu­ar zu tun hat. Zwei Fi­sche lie­gen auf ei­ner saf­tig grü­nen Wie­se un­ter ei­nem Baum; im Fe­bru­ar­bild wärmt sich ein Herr am Ka­min die nack­ten Füße; der Tisch mit viel mehr Spei­sen steht nun bild­par­al­lel an der Rück­wand. Der Wid­der steht in Land­schaft; ob im März das Be­ schnei­den von Wein­stöcken oder Obst­bäu­men ge­meint ist, bleibt un­klar. Der Stier hat ein wun­der­ba­res rost­ro­tes Fell; zum Bin­den ei­nes Blü­ten­kran­zes im April sitzt eine Frau vor ei­ner Ra­sen­bank; ein Mäd­chen bringt ihr ei­nen Blü­ten­zweig. Die Zwil­lin­ge er­wei­sen sich als nack­tes Paar, das sei­ne Nackt­heit hin­ter ei­nem gol­de­nen Schild ver­steckt; zwei jun­ge Leu­te sind dann beim Her­an­schlep­pen von Mai­bäu­men ge­zeigt. Der Krebs ist ein schwärz­li­ches Scha­len­tier, wie­der­um auf ei­ner Wie­se un­ter ei­nem Baum; vor drei ke­gel­ för­mi­gen Heu­hau­fen sind zwei jun­ge Män­ner bei der Heu­mahd im Juni, links mit dem Re­chen, rechts mit der Sen­se. Der Löwe sitzt wie in Lu­kas­bil­dern mit auf­ge­rich­te­tem Kopf im Frei­en; bei der Korn­mahd im Juli ist das Bin­den der Gar­ben links Män­ner­sa­ che, das Schnei­den des Korns mit der Si­chel rechts Frau­en­sa­che. Das Stern­zei­chen der Jung­frau wird auf ir­ri­tie­ren­de Wei­se durch eine Frau ver­kör­pert, die ne­ben ei­ner sehr ho­hen Korn­gar­be steht; zwei jun­ge Män­ner sind mit dem Dre­schen im Au­gust be­schäf­ tigt. Ein Mäd­chen mit of­fe­nem Haar hält in ei­nem Raum die Waa­ge; ne­ben drei Fäs­sern steht der gro­ße Bot­tich für die Wein­kel­ter im Sep­tem­ber. Der Skor­pi­on ist ein lan­ges grau­es Kru­sten­tier; vor den Ka­ten ei­nes Dor­fes schrei­tet der Sä­mann im Ok­to­ber übers Feld. Als ju­gend­li­cher Zen­taur steigt der ju­gend­li­che Schüt­ze im Bild auf; zwei Schwei­ ne­hir­ten beim Ab­schla­gen der Ei­cheln im No­vem­ber. Der Stein­bock ist ein Misch­we­sen

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mit spitzem Hinterteil; beim Schweineschlachten im Dezember kniet der Mann auf dem Tier, während die Frau das Blut in einer Kasserolle aufängt. p. 13: Von den Perikopen wird nur Johannes auf Patmos (p. 13) wie ein Vollbild in einen Architekturrahmen gefaßt: Das kleine Eiland ist durch eine mit Türmen bewehrt Brükke mit Ephesus verbunden, das als befestigte Stadt mit einer großen Kirche verstanden ist, die den Dianatempel darstellen soll; der Adler hält das Schreibzeug für den am Boden sitzenden jungen Mann. Die drei anderen Evangelisten hat François Le Barbier der Jüngere gemalt und in ihren Schreibzimmern dargestellt: Lukas mit dem Löwen (p. 17) sitzt hinter einem Schreibpult en-face und prüft die Feder. Matthäus mit dem Engel (p. 20) sitzt links unter einem Baldachin; der Engel kniet neben ihm und hält ein Buch. Markus mit dem geflügelten Löwen (p. 24) sitzt rechts vor einem Drehpult und schreibt. p. 25: Die beiden Marienbilder werden wie so oft unterschieden in Freud und Leid: Zum Obsecro te Madonna mit Kind (p. 27) auf einem Thron wie Lukas, mit einem Engel, der ein Blasinstrument, und einem zweiten, der eine Laute spielt; in einen goldenen Rock gekleidet sitzt der Jesusknabe auf Mutters Schoß. Unter dem Kreuz, über dem Sonne und Mond erscheinen, wird die Muttergottes bei der Pietà zum O intemerata (p. 34) von zwei Vertrauten begleitet: Johannes hält links das Haupt des toten Heilands; Magdalena mit dem Salbfaß kniet rechts. Symmetrisch lehnen zwei Leitern am Kreuzbalken; zu den Seiten blickt man auf eine befestigte Stadt in der Ferne mit links und rechts derselben Turmanlage. p. 39: Das Marienofzium kennt nur große Bilder in Architekturrahmen; sie geben die herkömmlichen Szenen wieder, sind jedoch schon angesichts des verfügbaren Platzes besonders phantasievoll ausgestaltet und lösen sich von Vorlagen, die sonst im Hause Le Barbier benutzt wurden: Die Komposition der Marienverkündigung zur Matutin (p. 39) läßt an Miniaturen des Meisters der Apokalypsenrose ebenso wie an dessen Entwürfe für den Buchdruck denken und mag eine Vorstufe dafür sein: In einem Palastraum, der im vorderen Bereich ein rechteckiges Fenster mit Fensterkreuz hat, nach rechts hinten aber wie eine Kapelle ohne Altar abgeschlossen ist, kniet Maria links vorn vor ihrem Betpult und wendet sich sacht zum Engel um, der von links gekommen ist und niederkniet. Für die Heimsuchung zu den Laudes (p. 69) ist Maria von links gekommen; sie raf t mit der Rechten ihren Mantel und legt die Linke auf den Leib Elisabeths, die ebenfalls ihre Linke auf den Leib der Jungfrau legt. Der Weg führt rechts zum stattlichen Haus des Zacharias, der mit einem Hund vor dem mit Zinnen bewehrten Tor sitzt. Bei der Anbetung des Kindes zur Prim (p. 87) nimmt der Stall fast die ganze Bildfläche ein. Maria, die den nackten Knaben auf ihren Mantelsaum gelegt hat, rückt mit Joseph nach vorn. Der greise Ziehvater hält eine Kerze, um in das helle Bild der Weihnacht zugleich Weihe und Nacht einzubringen.

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Vom Temperament des Malers zeugt besonders gut die Hirtenverkündigung zur Terz (p. 95): Vor nächtlichem Himmel schwebt ein in Weiß gekleideter Engel mit dem Gloria auf einem Schriftband, über einer famosen Fernsicht auf eine Stadt und Berge im Blau der Ferne. Vorne, an einem Fluß lauschen drei Hirten der Botschaft: einer als Rückenfigur aufgerichtet, ein zweiter mit seiner Sackpfeife sitzend und auf blickend und ein dritter zu diesem gewendet und auf den Engel weisend. Große Hände spielen dabei eine besondere Rolle; so hält der ältere links vorn seinen Hund zurück, der an ihm hochspringt, setzt der Musiker an, sein Gesicht zu schützen, während sein Gesprächspartner mit dem Zeigefinger nach oben weist. Für die Anbetung der Könige zur Sext (p. 103) rückt der Stall ein wenig von der vorderen Bildebene weg; der Ausblick rechts erhält mehr Platz; denn dort taucht der Troß der Könige als ein behelmtes Reiterheer auf. Zwar ist für Joseph kein Platz, wohl aber für Ochs und Esel, links neben der Muttergottes, die den nackten Knaben mit einem Tuch um Bauch und Beinchen verhüllt hat. Zu ihm beugt sich der älteste König kniend, während der mittlere den wie gewohnt modisch herausgeputzten jüngeren auf den Stern hinweist. Bei der Darbringung im Tempel zur Non (p. 111) verläuft der mit Juwelen geschmückte Abschlußbogen tiefer als in den anderen großen Miniaturen; denn darüber werden vor tief blauem Fond, der nach oben unkonturiert bleibt, zwei Engel in Gold-Camaïeu gezeigt. Schauplatz ist nicht wie in Frankreich üblich der Altarraum, sondern wie bei flämischen Buchmalern vom Meister der Maria von Burgund bis Bening ein Eingangsbereich vor einem Maßwerkfenster. Von links ist Maria mit der Magd gekommen, die das Taubenkörbchen und die Kerze hält; ihr folgen Joseph und eine zweite Frau. Maria kniet nieder, um den nackten Knaben vom greisen Simeon zu erhalten, der nicht als Priester kenntlich ist und rechts mit einem zweiten Mann hinter einer Schranke hervortritt und Jesus mit verhüllten Händen der Mutter reicht. Anders als bei den Le Barbier üblich schreitet der Esel bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (p. 119) nach rechts. Joseph führt das Lasttier, auf dem Maria mit dem weißen Wickelkind sitzt; ihnen folgen zwei Engel, von denen einer einen Ballen Tuch, der andere eine Kinderwiege trägt. Über ihnen stürzt ein Götze von seiner Säule. Der Blick auf die Stadt in der Ferne ist grandios. Die Marienkrönung zur Komplet (p. 133) spielt über Wolken, aus denen viele Köpfe von Heiligen herausschauen – erkennbar sind Johannes der Evangelist mit dem Kelch und Petrus mit seiner charakteristischen Physiognomie. Mit Maßwerk geschmückt ist die Architektur, die links einen kleineren Sitz für Maria und rechts den großen Thron für den als Papst gekrönten greisen Gott bereitstellt. Zwei kleine Engel halten die Schleppe der Muttergottes; ein dritter taucht hinter der bildparallelen Bank mit der Krone auf. Der Fond ist mit feurigen Seraphim gefüllt. p. 157: Zu den Bußpsalmen wird der Kampf zwischen David und Goliath geschildert: Schauplatz ist ein steiniger Weg, der um einen nach links ansteigenden Hügel in die Tiefe führt, wo Zelte mit den Philistern vor einer mittelalterlichen Stadt auftauchen. Vorn

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bricht der Riese Goliath in sonderbarer Verrenkung zusammen; er ist von einem Stein an der Stirn getrofen; das hat der Hirtenjunge David, der von rechts aus dem Mittelgrund nach vorn schaut, mit seiner Schleuder bewirkt, die sich noch in der Luft dreht. p. 193: Die Horen erhalten die üblichen Erkennungsbilder, die breit angelegt und von Architekturen gerahmt sind: Wie bei den Le Barbier üblich, steigen hinter der Kreuzigung (p. 193) zu beiden Seiten Hügel an, zwischen denen der Blick auf eine Stadt ohne besonderen Hinweis auf Jerusalem fällt. Der Himmel ist nachtblau, mit Sonne und Mond unter dem Querbalken des Kreuzes. Maria steht mit Johannes und zwei Frauen links; rechts reitet der Zenturio mit seinem Schimmel auf das Kreuz zu und weist ohne einen echten Gesprächspartner auf das Kreuz; hinter ihm drängt sich behelmtes Fußvolk. Durch die beiden Gruppen sonderbar eingeengt sind die drei Soldaten, die am Kreuzfuß über den violetten Rock die Würfel werfen. Ein weißer Totenschädel bezeichnet Golgatha. In einer hohen Apsis, ohne Altar, sitzt die hier ofenbar betagte Muttergottes bei der Ausgießung des Heiligen Geistes (p. 207): Sie betet, mit einem Buch auf dem Schoß, während die asymmetrisch auf Holztruhen sitzenden Apostel, von Petrus und Johannes angeführt, zur prächtigen Erscheinung der Taube aufschauen, von der goldene Strahlen und rote Flämmchen ausgehen. p. 219: Von ganz besonderem Charakter ist die Bildseite mit Tod und Jüngling zur Toten-Vesper; sie wird von weißgrauer Architektur mit zwei übereinander gestellten Statuetten gerahmt. Schauplatz ist ein Friedhof, der durch ein eindrucksvolles Raumeckmotiv begrenzt wird; denn dort steht links eine Kapelle, an die sich im rechten Winkel ein Karner anschließt, aus dessen Öfnungen Totenköpfe blicken. Auf der mit Schädeln und Knochen besetzten Wiese vorn mit ihren Grabsteinen und Kreuzen erscheint der ledrige Tod, mit einem Leichentuch über der linken Schulter; er greift mit der Linken nach einem vornehmen Jüngling, dem der Pelzhut vom Kopf gefallen ist und der nun voller Schrecken ins Knie bricht; der Tod richtet einen roten Pfeil auf dessen Herz. Die Darstellung wirkt wie das männliche Gegenstück zum Totenbild mit einer Dame, das der Meister Karls VIII . in unserer Nr. 36 gemalt hat. p. 291: Die Suffragien sind mit zierlichen und sehr lebendigen Ganzfiguren bebildert: Der Teufel, der sich am Boden windet, gibt Michaels Drachenkampf (p. 291) erstaunlichen Schwung. Nicht nur Johannes der Täufer (p. 292) tritt uns mit dem Lamm aus einer durch die Einöde führenden Allee entgegen; auch ein kleiner Löwe läßt sich blicken. Pau­ lus und Petrus (p. 293) stehen mit Schwert und Schlüssel in einem Kirchenchor. Jakobus (p. 294) steht in Pilgermontur in einem kahlen Raum, der nach links in die Landschaft geöfnet ist. Christophorus (p. 295) schreitet mit dem Christuskind durch das Wasser, rechts zeigt sich der Eremit mit Lampe und Rosenkranz über einem steilen Felsabbruch. Auf einer nach links und hinten ummauerten Wiese ist Sebastian bei der Pfeilmarter (p. 297) an einen Baum gebunden und wird von einem Bogenschützen rechts gequält. Die Steinigung des Stephanus (p. 299) vollziehen zwei junge Burschen, die den knienden

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Diakon umgeben. Ungewohnt in französischer Buchmalerei ist die Versuchung des An­ tonius Abbas (p. 300) durch zwei Teufel (wir kennen sie durch das Guémadeuc-Stundenbuch); hier sitzt der Heilige nicht im gewohnten Schwarz, sondern in Blau mit rosafarbenem Mantel und wird von zwei Teufeln geschlagen wie Jesus bei der Verspottung. Zu den drei Knaben im Bottich spricht Bischof Nikolaus (p. 301). Eine Mutter mit ihrem Wickelkind kniet vor Claudius (p. 302), der als Patron der Mutterschaft verehrt wurde. Katharinas Enthauptung (p. 304) findet neben ihrem Rad statt; die Heilige wendet sich kniend nach links; ihr Henker nimmt die Bildmitte ein. Margarete (p. 305) taucht aus dem Rücken des Drachen auf und blickt nach links durch das vergitterte Fenster ihres Kerkers ins Freie. p. 308: Zu den eigentümlichsten Phänomenen der frommen Ikonographie am Übergang zur Neuzeit gehören Darstellungen, die behaupten, genaue Maße von Christi Leib zu dokumentieren (siehe beispielsweise: Adolf Jacoby: Heilige Längenmaße. Eine Untersuchung zur Geschichte der Amulette, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 29, 1929, S. 181-216; sowie die Berliner Dissertation von Anna Borof ka: Die „Länge Christi“ in der Malerei. Codifizierung von Authentizität im intermedialen Diskurs. Vestigia Bibliae, 35. Bern u.a. 2017). Im Stundenbuch ist kein Platz für seine volle Körpergröße, wohl aber für die Maße der Seitenwunde Christi, die vor Kreuz und Dornenkrone gezeigt werden, umgeben von den anderen Passionswerkzeugen, vor einem mit Blutstropfen besäten Pergamentgrund. Solche Bilder wurden nachgetragen und haben keine künstlerische Ambition. Die beiden beteiligten Maler Angelegt wurde das Manuskript in der Pariser Werkstatt der Le Barbier: François Le Barbier der Jüngere hat die Kalenderbilder, dann die großen Miniaturen zu drei Perikopen und den beiden Mariengebeten sowie die kleinen Bildfelder in den Sufragien gestaltet. Ein verwandter Künstler, der nirgendwo so ambitioniert wie in unserem Buch aufgetreten ist, hat hingegen die Hauptminiaturen geschafen, die den Eindruck von textlosen Vollbildern erwecken sollen: Wer wie wir kontinuierlich darum bemüht ist, historische Kenntnis zu mehren, hat auch ein Recht, kritisch auf das zurückzublicken, was er selbst einmal über eine der Handschriften geschrieben hat, die nach Jahrzehnten wieder diskutiert werden müssen: 1990, im zweiten Band der Serie Leuchtendes Mittelalter wurde das hier beschriebene Stundenbuch redlich, aber durchaus irreführend behandelt. Umso erfreulicher ist die Mehrung unseres Wissens, zumal sie auch entschieden vom Antiquariat Tenschert gefördert wurde, in dem die hier erneut zu diskutierende Handschrift zugänglich war. So wurde denn das, was wir heute mitteilen können, im wesentlichen von unserer lang jährigen Mitarbeiterin Ina Nettekoven in ihrer Berliner Dissertation 2007, S. 56f., entwickelt. Von einer Pariser Handschrift mit diversen Traités théologiques, fr. 9606 der BnF (Ausst.Kat. 1993, Nr. 145) aus bestimmt Nettekoven diesen Maler. Nicole Reynaud war noch

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unentschieden, ob die Miniaturen vom Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle (den sie nach den Très Petites Heures der Anne de Bretagne nennt) oder von einem eigenständigen Künstler aus dessen engem Umfeld stammen. In der Tat stehen die Miniaturen in Paris der Apokalypsenrose und verwandten Werken sehr viel näher als die hier besprochenen Bilder. Das Œuvre des Künstlers besteht aus wenigen Manuskripten: neben einem Stundenbuch für Chartres im Kunsthandel (Sotheby’s London, 10. Dezember 1980, lot 110) ist das vor allem ein Stundenbuch in Privatbesitz, dessen Miniaturen James H. Marrow zugänglich gemacht hat (Nettekoven 2016, S. 229-230 unter „Privatbesitz anonym“ und Abb. 140, 179 und 180): Die Ausstattung dieses Manuskripts ist offenbar ähnlich zwischen dem Meister der Traités théologiques und einem zweiten Pariser Buchmaler aufgeteilt worden; denn der Kalender, die Perikopen und die Sufragien sind dort vom Meister Karls VIII . (siehe hier Nr. 35 und 36) gestaltet worden. Die Heimsuchung (Nettekoven 2016, Abb. 180 mit Gegenüberstellung mit der Miniatur aus unserem Manuskript) zeigt dieselben Hauptfiguren in ähnlicher Landschaft; gerahmt ist das diesmal rechteckige Vollbild, in dem das Incipit wie in unseren Hauptminiaturen in den Sockel der Architektur versetzt ist, von spätgotischen Strebepfeilern. Da der Maler im hier beschriebenen Stundenbuch für Rom sehr viel deutlicher mit eigenem Charakter hervortritt, müßte man ihn nach diesem Manuskript nennen, doch ist die Bezeichnung nach den Traités théologiques bereits durch Reynaud angelegt. Stilistisch gehört der Künstler zum Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle. Die bemerkenswertesten Miniaturen seiner Hand, die in unserem Stundenbuch zu finden sind, stehen jedoch zwischen dessen Werk und den Arbeiten der Le Barbier. Der unerhörte Schritt zu einem eigenen Layout zeichnet unser Stundenbuch am stärksten aus. Damit zeigt der Maler seinen Ehrgeiz, wie Jean Fouquet im Stundenbuch des Étienne Chevalier die ganze Buchseite für seine Kunst zu beanspruchen. Näher steht jedoch Jean Colombe mit dem Stundenbuch für Louis de Laval, latin 920 der Pariser Nationalbibliothek, weil auch dort Texte in Felder geschrieben sind, die in die durchweg noch spätgotische Architektur eingelassen sind; wie der Maler zu Colombe in Bourges steht, müßte noch genauer untersucht werden. Dieses vollständig erhaltene Stundenbuch für den Gebrauch von Rom, das in der Heiligenauswahl nicht eindeutig für Paris, sondern eher für südlichere Regionen bestimmt ist, läßt sich von Schrift und Schriftdekor her ebenso wie durch die Kom­ partiment­Bordüren und die Beiträge von François Le Barbier dem Jüngeren in Paris verorten. Doch gewinnt der Kodex seine überraschende Qualität durch einen Künst­ ler aus dem engsten Umfeld des Meisters der Apokalypsenrose. Von hohem Ansehen in Paris zeugt der Umstand, daß diesem Buchmaler, der inzwischen als Meister der Traités théologiques bezeichnet wird, in unserem Stundenbuch wie auch in einem zweiten gewichtigen Werk seiner Hand (in Privatbesitz) Hauptminiaturen anver­ traut werden, während bedeutende hauptstädtische Kollegen hierarchisch nachge­ ordnete Arbeiten erledigen. Von der Freiheit, die er sich dann als Hauptverantwort­

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licher nimmt, zeugt die Art, wie er die Vorarbeit des Schreibers revidiert: Er arbeitet mit einem einzigartigen Layout, das an Spitzenleistungen der Buchkunst von Tours und Bourges anknüpft und den intelligent interpretierten Bildszenen neue Größe gibt. Wie Jean Fouquet versetzt der Maler die Incipits in gemalte Felder unter dem Bild; da er wie Jean Colombe seine Miniaturen architektonisch rahmt, findet er da­ für im Sockel Platz. LI TE RATUR:

LM II , Nr. 52. Nettekoven 2007, S. 56-57, Abb. 43-44; Nettekoven 2016, Abb. 180.

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33 Ein kom­plet­tes Stun­den­buch von einem Mitarbeiter von Fran­çois Le Bar­bier dem Älteren: Meister des Jean Budé III . aus den Samm­lun­gen Huth und Dreyfus


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, in schwar­zer Bast­arda, mit ro­ten Ru­bri­ken. Pa­ris, um 1480: Mitarbeiter von Fran­çois Le Bar­bier dem Älteren: Meister von Jean Budé III.? Vier­zig Bil­der, dar­un­ter vier gro­ße Mi­nia­tu­ren über drei bis sechs Zei­len Text mit dreiz­ ei­li­gen In­itia­len, in Voll­bor­dü­ren; zwölf klei­ne Bil­der im Text­feld von meist acht bis neun Zei­len Höhe; ins­ge­samt 24 Bil­der in den äu­ße­ren Bor­dü­ren der Recto-Sei­ten des Ka­len­ ders; durch­weg mit Kom­par­ti­ment­bor­dü­ren au­ßen. Klei­ne­re In­itia­len in Pin­sel­gold auf ro­ ten, brau­nen, sel­te­ner blau­en Flä­chen, bei Psal­men­an­fän­gen zweiz­ei­lig, bei Psal­men­ver­sen, die am Zei­len­an­fang ste­hen, ein­zei­lig; vie­le Zei­len­fül­ler der­sel­ben Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 80 Blatt Per­ga­ment; 1853 mit je zwei lee­ren Per­ga­ment­vor­sät­zen so­wie je ei­nem beid­sei­tig mar­ mo­rier­tem Vor­satz aus­ge­stat­tet. Ge­bun­den er­staun­li­cher­wei­se fast aus­schließ­lich in La­gen zu sechs Blatt, da­von ab­wei­chend nur die La­gen 2 (8) und 4 (8). Eine Reklam­an­te auf fol. 14v. Zu­fäl­li­ge Zä­su­ren vor Buß­psal­men und To­ten-Of­fi­zi­um. Auf dem letz­ten Blatt des Ma­rien­of­fi­ zi­ums und dem zwei­ten der Buß­psal­men, fol. 46 und 48, im un­te­ren Rand Ein­sti­che, die er­ken­ nen las­sen, daß dort ein­mal etwa qua­dra­ti­sche Ob­jek­te, wohl Pil­ger­zei­chen, an­ge­näht wa­ren. Zu 23, im Ka­len­der zu 32 Zei­len, rot reg­liert. Ok­tav (175 x 116 mm; Text­spie­gel: 111 x 57 mm). Voll­stän­dig und in bril­lan­tem Zu­stand. In ei­nem Pa­ri­ser Lu­xus-Ma­ro­quin­band, 1853 da­tiert und im Vor­der­deckel vom Buch­bin­der Duru und im hin­te­ren Deckel vom Ver­gol­der Ma­ri­us Mi­chel (père) si­gniert: Zi­tro­nen­far­be­nes Ma­ro­quin mit rei­cher Ver­gol­dung und Band­werk-Mo­sa­ik in Rot und Dun­kel­grün im Stil des 16. Jahr­hun­derts, der Rücken un­ter­teilt in fünf Kompartim­en­te, eben­falls in­tar­sie­rt. Doublü­ ren aus ro­tem Ma­ro­quin mit rei­cher Dent­el­le-Ver­gol­dung. Gold­schnitt. Im ro­ten Ma­ro­quinSteck­schu­ber. Pro­ve­ni­enz: Aus der be­rühm­ten Bi­blio­thek, die Hen­ry Huth (1815-1878) be­grün­det und des­ sen Sohn Al­fred Huth (1850-1910) er­folg­reich wei­ter­ge­führt hat; da­von zeugt de­ren ver­gol­de­ tes Ex­li­bris in schwar­zem Ma­ro­quin ex mvsÆo hvthII; be­schrie­ben wur­de das Ma­nu­skript im Ka­ta­log von 1880, S. 728. In der drit­ten Huth-Auk­ti­on Sot­heby’s Lon­don, 2. Juli 1913, als lot 3806, an Trega­skis. Da­nach an Legh Tolson, der das Buch wohl schon kurz nach der Auk­ti­on kauf­te; von G. H. Tolson bei Sot­heby’s Lon­don, 11. Juli 1960, lot 119, ver­kauft an Ge­org­es Dreyfus. Von da an in der be­deu­ten­den fran­zö­si­schen Ban­kiers­fa­mi­lie Dreyfus.

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Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, ein­fa­che Tage ab­wech­selnd braun und rot, Fe­ste und Gol­de­ne Zahl blau; Sonn­tags­buch­sta­ben a rot, b-g braun. Die Hei­li­gen­aus­wahl u. a. mit Dio­ny­si­us als Fest am 9.10. weist auf den Ge­brauch von Pa­ris. fol. 7: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom: Matutin (fol. 7), Lau­des (fol. 14), Prim (fol. 21v), Terz (fol. 24), Sext (fol. 26v), Non (fol. 28v), Ves­p er (fol. 30v), Komplet (fol. 34), Sal­ve re­gi­na (fol. 36), Psal­men­grup­pen der Matutin für die Wo­chen­ta­ge (fol. ­fi­zi­um (ohne Ru­brik, fol. 42v). 36v und 39v), Ad­vents-Of fol. 47: Buß­psal­men mit Li­ta­nei (fol. 59v); die Hei­li­gen­aus­wahl mit Gen­ovefa am Schluß auf Pa­ris aus­ge­rich­tet. fol. 59: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um. fol. 78v: Suff­ragien: Tri­ni­tät (fol. 78v), Mi­cha­el (fol. 78v), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 79), Jo­han­nes der Evan­ge­list (fol. 79v), Pe­ter und Paul (fol. 79v), Ja­co­bus der Äl­te­re (fol. 80), Chri­stoph­orus (fol. 80v), Ni­ko­laus (fol. 81), Anna (fol. 81), Ma­ria Mag­da­le­na (fol. 81v), Ka­tha­ri­na (fol. 82). fol. 82v: leer. Schrift und Schrift­de­kor Die­ses Stun­den­buch hat be­reits eine gan­ze Men­ge von Cha­rak­te­ri­sti­ka, die ei­gent­lich erst um die Wen­de zum 16. Jahr­hun­dert ak­tu­ell wer­den soll­ten: Nur zwei La­gen, 2 und 4, fol­gen der sonst in Pa­ris und auch im üb­ri­gen Frank­reich gül­ti­gen Norm der Qua­ter­ nio­nen; die an­de­ren sind Tern­io­nen. In die sechs Blät­ter ei­nes sol­chen Ternios paßt der gan­ze Ka­len­der, wenn man ge­gen den Brauch dem ein­zel­nen Mo­nat nur eine Sei­te wid­ met; da­für sind ent­we­der zwei Ko­lum­nen oder ein ex­trem stei­ler Text­spie­gel von im­mer­ hin 32 Zei­len er­for­der­lich. Hier ent­schied man sich für das ex­tre­me Hoch­for­mat; dem ent­spricht auch der lau­fen­de Text, der mit im­mer­hin 23 Zei­len ähn­lich vom Ge­wohn­ ten ab­weicht. Da­mit er­reicht man, daß der Band schlank und schmal wer­den kann: 80 Blatt Per­ga­ment rei­chen für ein kom­plet­tes Stun­den­buch! Als Schrift ist eine nied­ri­ge Bast­arda mit kräf­ti­gen Senk­rech­ten ge­wählt; sie ist schwarz, mit ro­ten Ru­bri­ken. Be­son­ders deut­lich fällt die Un­ter­schei­dung der Buch­sta­ben­grö­ßen von An­ti­phonen und grö­ßer ge­schrie­be­nen Psal­men aus. Die klei­ne­ren In­itia­len in Pin­ sel­gold auf ro­ten, brau­nen, sel­te­ner blau­en Flä­chen sind, wie man es kennt, bei Psal­men­ an­fän­gen zweiz­ei­lig, bei Psal­men­ver­sen ein­zei­lig. Daß die Psal­men­ver­se am Zei­len­an­fang ein­set­zen, sorgt für eine gro­ße Zahl von Zei­len­fül­lern der­sel­ben Art. Die Mo­na­te im Ka­len­der set­zen mit ein­zei­li­gem kl ein; die we­ni­gen gro­ßen Mi­nia­tu­ren er­hal­ten dreiz­ ei­li­ge In­itia­len in den­sel­ben Far­ben, die auch als Fond ver­wen­det sind; hier dient Gold nur zu kräf­ti­ger Höhung.

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Rand­schmuck be­schränkt sich auf die Sei­ten mit Bil­dern: Drei­sei­tig sind sie bei den Klein­bil­dern, drei­sei­tig mit ei­nem Gold­stab zum Falz hin beim Ka­len­der. Voll­bor­dü­ren sind den vier gro­ßen Mi­nia­tu­ren vor­be­hal­ten: Sie ge­hö­ren zu der in Pa­ris und Rouen ent­ wickel­ten Art, die Lero­quais als bord­ures à co­mpartiments be­zeich­ne­te. Mu­schel­gold und Per­ga­ment­grund wech­seln ab. Akanthus, durch­weg in Blau und Gold, er­scheint – auch das ist weit­hin ge­läu­fig ge­we­sen – aus­schließ­lich auf Weiß, weil das fah­le Mu­schel­gold sonst mit dem Grund ver­schmol­zen wäre. Re­ste der Dorn­blat­tran­ken mit ih­ren schwar­ zen Tin­ten­li­ni­en sind über­all prä­sent. Bild­fol­ge fol. 1: Im Ka­len­der wech­seln Mo­nats­bil­der mit für die Jah­res­zeit ty­pi­schen Be­schäf­ ti­gun­gen und Dar­stel­lun­gen der Tier­kreis­zei­chen in In­te­rieurs und Land­schaf­ten ab: Ein Mann am Spei­se­tisch am Ka­min­feu­er und der Was­ser­mann zum Ja­nu­ar. Ein ähn­ li­ches Mo­nats­bild mit Mann am Spei­se­tisch und die Fi­sche zum Fe­bru­ar. Be­schnei­den der Wein­stöcke und der Wid­der zum März. Lie­bes­p aar im Ro­sen­gar­ten und der Stier zum April. Rei­ter mit ei­nem Blü­ten­zweig und die Zwil­lin­ge als nack­tes Paar hin­ter ei­ nem Flecht­zaun zum Mai. Heu­mahd mit der Sen­se und der Krebs zum Juni. Korn­mahd mit der Si­chel und der Löwe zum Juli. Korn­dre­schen und die Jung­frau als ein Mäd­chen, das in ei­nem Buch liest, zum Au­gust. Wein­kel­ter und die Waa­ge in der Hand ei­ner jun­ gen Frau zum Sep­tem­ber. Sä­mann im ge­pflüg­ten Feld und der Skor­pi­on zum Ok­to­ber. Schwei­ne­hirt beim Ab­schla­gen von Ei­cheln und Schüt­ze als Ken­taur zum No­vem­ber. Schwei­ne­schlach­ten und Stein­bock im Am­mons­horn zum De­zem­ber. fol. 7: Das Mari­en-Of ­fi­zi­um mit dem ge­wohn­ten Zy­klus von Kind­heits­ge­schich­te und Ma­rien­krö­nung, in zwei gro­ßen Mi­nia­tu­ren zu Matutin und Lau­des und sechs Klein­ bil­dern: Bei der Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 7) wird der stei­le Bild­raum mit dem Bo­gen­ab­schluß durch Maß­werk ge­rahmt, das oben drei ge­staf­felt hohe Bö­gen aus­ bil­det, de­ren mitt­le­rer als Esels­rücken aus­ge­bil­det ist, wäh­rend die an­de­ren rund­bo­gig un­ter asym­me­tri­schem Maß­werk sind: Im gro­ßen Bo­gen fin­det der mit Tia­ra ge­krön­ te Gott­va­ter Platz; er seg­net, wäh­rend die Tau­be durch eine Öff­nung be­reits in Ma­ri­as Ge­mach ein­ge­drun­gen ist und nun zum Haupt der Jung­frau schwebt. Der En­gel ist von rechts her­zu­ge­tre­ten; er trägt eine sehr schlich­te Dal­ma­tika über der Albe und hebt sei­ ne Rech­te, um da­mit das Spruch­band zu ent­rol­len, das sei­nen Gruß Ave ma­ria gracia ple­na domi­nus tecum trägt. Ma­ria, ganz nahe zum vor­de­ren Bild­rand ge­rückt, schaut von ih­rem Bet­pult auf und dreht sich zu Ga­bri­el um, eine Hand wie ab­weh­rend er­ho­ben. Ihr Eh­ren­tuch ist mit gol­de­nen Ster­nen besät; das Tuch über dem Pult mit gol­de­nen Krei­ sen, wäh­rend sich hin­ter dem En­gel ein Tuch spannt, das den po­ly­go­na­len Ka­pel­len­raum nach hin­ten ab­schließt. Als zwei­tes gro­ßes Bild zum Mari­en-Of ­fi­zi­um er­öff­net die Heim­su­chung die Lau­des (fol. 14): Ge­ra­de­zu wört­lich wird die Vor­stel­lung um­ge­setzt, Ma­ria sei übers Gebirg ge­ kom­men; denn hin­ter ihr schlän­gelt sich ein Weg zwi­schen Wie­sen aus ei­ner Höhe her­ ab, wäh­rend Eli­sa­beth ih­rer Base aus ei­nem rund­bo­gi­gen Burg­tor ent­ge­gen­ge­tre­ten ist.

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Das Verhältnis der beiden Frauen wird allein durch ihre Größe ausgedrückt: Die Jungfrau, die ganz in Blau gekleidet ist, überragt die ältere Frau um Kopfeslänge. Elisabeth, in Violett und Altrosa, betastet (stehend und nicht ins Knie gebeugt) mit der Rechten den gesegneten Leib. Kleinbilder mit ganzfigurigen Szenen genügen für die übrigen Marienstunden: Bei der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 21v) knien Maria links und der greise Joseph rechts vor dem Knaben, der nackt auf ein weißes Tuch am Boden gelegt ist und sich munter zur Mutter wendet. Bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 24) stehen zwei Hirten mit ihren dicht gedrängten Schafen ohne einen Hund am Boden; einer richtet sich auf zur Himmelserscheinung, in der eher ein bartloser Gott als ein Engel zu sehen ist – denn Flügel sind nicht zu erkennen; erstaunlich viel Platz ist im kleinen Format der Landschaft links und hinten zugestanden. Für die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 26v) hat Maria einen prächtigen zinnoberroten Bettsack erhalten, auf dem sie vor purpurnem Ehrentuch gleichsam thront, den nackten Knaben mit einer Art Lendentuch auf dem Schoß; der greift zum Gold, das der älteste König darbietet; die beiden jüngeren drängen von links unter dem goldenen Stern ins Bild; der mittlere und der älteste tragen breite Hermelinkragen. Maria ist mit ihrer Magd für die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 28v) gekommen; Joseph steht greisenhaft an der Schmalseite des Altars hinten, während Simeon, der wie Maria einen goldenen Nimbus trägt, das nackte Kind in verhüllten Händen hält; Simeons Krone wirkt aufällig wie eine päpstliche Tiara. Eine jugendliche Magd begleitet die Heilige Familie auch bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 30v); hier sind die Beine vom unteren Bildrand abgeschnitten; ein goldener Schein im Himmel zeigt Gottes Beistand. Von links ist die Jungfrau für die Aufnahme Mari­ as in den Himmel zur Komplet (fol. 34) vor Gottes Thron getreten; der greise Gottvater trägt hier eine genau gemalte Tiara; das sonst übliche Motiv der Marienkrönung ist hier nicht formuliert; zwei feurig rote Engelsköpfe füllen den Hintergrund über dem Ehrentuch, das bildparallel gespannt ist. fol. 47: Eine große Miniatur zeigt Bathseba im Bade zu den Bußpsalmen. Die beiden Protagonisten, die nackte Schöne und der greise König, sind eigentümlich nahe zueinander gerückt; denn das rechteckige Becken, in das Bathseba mit gelösten Locken und nur einem leicht durchsichtigen Tuch in den Händen getreten ist, steht, gespeist von einer Art Dusche, im Garten direkt unter einer Loggia, aus der David blickt. Zum Hintergrund, in dem blaue Ferne gezeigt wird, grenzt ein Spalier den Ort ab. Mit Kronhut und Zepter erscheint der König als Halbfigur über einem blauen Brokattuch, das in eine Art Fensterbank gelegt ist. Der Tendenz solcher Bilder, einen Akt möglichst angenehm zu gestalten, kommt entgegen, daß Bathseba ganz von vorn und mit unbedeckten Brüsten gezeigt wird, die mit ihren roten Knöspchen freilich einer spätgotischen Tendenz folgend etwas zu hoch gerückt sind. fol. 59: Die Darstellung der Drei Lebenden und Drei Toten zum Totenofzium ist wohl die bemerkenswerteste Miniatur in diesem Manuskript: Der beschränkte Platz zwingt zu einer gestalterischen Entscheidung: Statt den drei Lebenden und drei Toten gleiches

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Recht zuzugestehen, wird eine Konfrontation zwischen einem Jüngling vorn und einem der Toten hervorgehoben. Der Barhäuptige ist wohl der jüngste der drei Reiter, durch den Schimmel zugleich als der Vornehmste bezeichnet. Mit seinen beiden Gefährten scheint er aus der Ebene links zum Rand des Waldes rechts geritten zu sein. Aus dem Dunkel sind die Toten hervorgekommen, haben die Reiter aufgeschreckt, die nach links auszuweichen versuchen. Der Schimmel bäumt sich auf; sein Reiter wird vom Pfeil des Toten bedroht. Ein zweiter Reiter hat links das Weite gesucht, während ein dritter noch ganz zum Wald und damit auch zu den beiden anderen Toten gewendet ist. Entfernt erinnert die hier entstandene Unordnung, die älteren Darstellungen des Themas fremd ist, an die berühmte Miniatur im Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund, wo sich das dramatische Geschehen ganz auf die junge Reiterin konzentriert, deren Zaumzeug sie als die Herzogin selbst erkennen läßt. (Kupferstichkabinett, Ms. 78 B 12, fol. 220 v). fol. 78v: Kleinbilder mit rostroten Bögen als Binnenrahmung zeigen nicht alle der in den Sufragien Angerufenen; der untere Bildrand schneidet immer etwas ab, so daß die meisten Gestalten als Kniestücke gezeigt sind: Die Trinität (fol. 78v) wird in der aus der Illustration zum 109. Psalm Dixit dominus domino meo bekannten Formel gezeigt, in der Christus zur Rechten und der wieder als Papst gezeigte greise Vater von einem gemeinsamen rosafarbenen Mantel umhüllt sind, die Taube zwischen ihren Mündern. Johannes der Täufer (fol. 79) steht vor einem Wald, mit der Rechten weist er auf das Lamm Gottes, das auf seinem Buch sitzt. Peter und Paul (fol. 79v), an Schlüssel und Schwert sowie durch ihre Physiognomien erkennbar, stehen in einem Kirchenraum, durch goldene Rundbögen so getrennt, daß ihnen zwei Bildfelder gegeben sind; in einer an Buchmalerei um 1300 erinnernden Weise wechselt die Farbe des Ehrentuchs hinter ihnen von Rot zu Blau. Christophorus (fol. 80v) wird in heftiger Aktion gezeigt, wie er nach links zum steilen Felsufer strebt, auf dem ihm der Einsiedler die Laterne hält, während ein Windstoß das rote Tuch der Mäntel des Heiligen und des Christuskindes auf seiner Schulter nach rechts weht. Anna lehrt Maria lesen (fol. 81v): Dazu sitzt die Mutter vor einem blauen Ehrentuch; die Tochter, in einem mit Hermelin besetzten Kleid und mit einer goldenen Krone auf dem Haupt steht mit einem Buch neben ihr. Im letzten Bild wird Katharina (fol. 82v) gezeigt, in ähnlichem Kleid mit Hermelin wie die Jungfrau Maria zuvor, ebenfalls mit einer Krone auf dem Haupt, in einem Buch lesend, die Linke auf das Schwert gestützt, ihr geborstenes Rad neben sich, vor Ehrentuch und zwei rundbogigen Fenstern. Zum Maler Der für dieses Stundenbuch verantwortliche Illuminator gehört in den Kreis von Maître François, also jenem Meister, den Robert Gaguin als „egregius magister Franciscus“ bezeichnet hat und der seit Deldicque 2014 als François Le Barbier der Ältere identifiziert werden kann. Von ihm hat er wesentliche Eigenarten übernommen, das Kolorit mit der Goldauflage als Lichthöhung ebenso wie die Grundzüge der Gesichter oder die Statur der Gestalten mit den hart gebrochenen Draperien. Innerhalb dieses künstlerischen Idioms hat der Maler aber seine unverwechselbaren Eigenheiten. Man kann ihn an Eigenheiten der Physiognomie ebenso wiedererkennen wie an einer gewissen Unge-

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schicklichkeit im Umgang mit Raum und Proportion. So drängt er die Hauptfiguren in der Verkündigung ganz in den Vordergrund, als habe er Scheu, sie von der Tiefe Besitz ergreifen zu lassen. Das wird beim Bild der Drei Lebenden und Drei Toten jedoch zum Vorteil, selbst wenn dort gewisse Defizite gegenüber dem stilprägenden Meister nicht zu übersehen sind: Der Schimmel ist einer überlegenen Vorlage entlehnt, eigentlich gut ins Bild eingepaßt, dann aber doch viel zu klein für die mächtige Hauptfigur. In der Konzentration auf solche Hauptfiguren, auf die Konfrontation von nur einem Paar aus Lebenden und Toten liegt dann die eigentliche Stärke unseres Malers, dem hier kein Name gegeben wird, der aber sehr wohl der in unserem Katalog von 1997, Boccaccio und Petrarca in Paris, nach Jean Budé III genannte Meister sein könnte. Ein vollständiges, bilderreiches Pariser Stundenbuch aus der Zeit um 1480 mit hier­ archisch gegliederter Bebilderung, die einen umfangreichen Kalenderzyklus und ei­ nige Heiligenbilder mit den zur Entstehungszeit üblichen Hauptminiaturen sowie dem bekannten Marienzyklus verbindet und in einer dramatisch aufgeladenen Dar­ stellung der Drei Lebenden und Drei Toten kulminiert. In dieser eindrucksvollen Miniatur wird die Eigenart des Malers am besten deutlich: Er gehört zur Gruppe von Maître François, also François Le Barbier dem Älteren und ist in Paris angesie­ delt; in seine Bebilderung von Stundenbüchern dringen, wie man hier sieht, wesent­ liche Elemente aus profaner Illustration ein.

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34 Das Braguelongne-Montholon-Stun­den­buch aus dem Be­sitz von C(harles) P(er­drier): ei­nes der am reich­sten il­lu­strier­ten Stun­den­bü­cher der Zeit mit weit über 200 Mi­nia­tu­ren


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, fran­zö­si­sche Ru­bri­ken in Blau, mit ei­nem Ka­len­der in Rot und Blau, in dun­kel­brau­ner Tex­tura. Pa­ris, c. 1480-90: Ein be­mer­kens­wer­ter Buch­ma­ler zwi­schen Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren und dem Mei­ster Karls VIII: Mei­ster von C. P.? 288 Bilder: davon 217 ge­rahm­t, so­wie zahl­rei­che, in­halt­lich auf das Haupt­bild be­zo­ge­ne Ne­ben­szenen und Fi­gu­ren im Rand­schmuck der Bild­sei­ten: zwei ganz­sei­ti­ge Mi­nia­tu­ren, 39 gro­ße Kopf­bil­der über vier oder fünf Zei­len In­cipit mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­ len mit Dorn­blatt-Zier­lei­sten um den Text­spie­gel und Voll­bor­dü­ren, die sechs wich­tig­sten in gol­de­nen Ar­chi­tek­tu­ren mit drei bis fünf Sze­nen, die üb­ri­gen in Voll­bor­dü­ren vor­wie­ gend mit ro­tem und blau­em Akanthus mit nur we­ni­gen Blü­ten­zwei­gen, dazu Vö­geln und auf die Haupt­bil­der be­zo­ge­nen Fi­gu­ren oder Sze­nen in Voll­far­be auf Pin­sel­gold­grund; 145 Bil­der im Ka­len­der, des­sen Rän­der als Gefa­che mit gol­de­nen Rän­dern be­g rif­fen sind. Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren mit gold-blau­en Akanthus­ran­ken und Vö­geln am äu­ße­ ren Rand je­der Text­sei­te. Zweiz­ei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen, Psal­men­ver­se am Zei­len­be­ginn mit ein­zei­li­gen Gold­buch­sta­ben auf ro­ten und blau­en Flä­chen; Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 191 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten je 1 flie­gen­des Vor­satz aus Per­ga­ment. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend Lage 2 (6), Lage 3 (4), Lage 4 (2), die letz­te Lage 13 des Ma­rien­of­fi­zi­ums (6+1, 7), Lage 19 (4+1, 5), Lage 20 (8+1, 9), Lage 21 (4) und die un­ re­gel­mä­ßi­gen End­la­gen, de­ren Kol­la­ti­on­ierung un­klar bleibt. Rot reg­liert zu 18, im Ka­len­der zu 17 Zei­len; kei­ne Reklam­an­ten. Ok­tav (160 x 108 mm, Text­spie­gel: 93 x 53 mm) Wein­ro­ter Samt­band über Holz­deckeln mit Mes­sing­schlie­ße, Gold­schnitt. Die Deckel des al­ ten Kalb­le­der­ein­bands aus dem 16. Jahr­hun­dert für C. P. als Doublü­ren ein­mon­tiert. Pro­ve­ni­enz: Die­se stellt sich an­hand der Ein­tra­gun­gen auf dem Vor­satz hin­ten und des Mo­ no­gramms C. P. auf dem Ein­band fol­gen­der­ma­ßen dar: Das Ma­nu­skript be­fand sich spä­te­ stens um 1565 (wahr­schein­lich aber noch viel frü­her), zum Zeit­punkt der Hei­rat von Jérôme de Montholon, Co­nse­il­ler en la Cour des Ai­des, In­ten­dant d’Orlé­ans, Co­nse­il­ler dÈtat und Made­leine de Bragelongne am 5. Mai 1565 in de­ren Be­sitz. Über ei­nen hier nicht im ein­zel­ nen nach­ver­folg­ba­ren Erb­gang („Esc­hange de Mestre Mon­sieur(?) de / montholon & bragelongne“, No­tiz auf dem er­sten wei­ßen Per­ga­ment­blatt am Ende) ge­lang­te es an eine Anne de Montholon, die mit Charles de Per­drier, Che­va­lier, ba­ron de la Trompaudière, sei­gneur de Robigny, um 1590 - 1600 ver­hei­ra­tet war. Al­les spricht da­für, daß die­ser Charles de Per­drier der C. P. des Mono­gramms auf dem Ein­band war. Die­se bei­den hat­ten eine Toch­ter, Anne de Per­drier, die 1634 Charles de Béthisy hei­ra­te­te. Da­nach ver­liert sich die Spur der Hand­schrift, die erst kürz­lich aus fran­zö­si­schen Pri­vat­be­sitz wie­der auf­tauch­te (vgl. zu die­sen Aus­füh­run­ gen Dictionna­ire de la No­bles­se 14, 305f. und de Co­ur­cel­les, Histo­ire … des Pairs de France I, 1822, art. de Béthisy, S. 7).

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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache: Jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Feste in Gold, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstabe A in Gold, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun. Die Heiligenauswahl spricht ebenso für Paris wie die dialektale Färbung der Orthographie: geneuiefue (3.1.) als Fest, La typhaine (6.1.). fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 15), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 19). fol. 20v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 22v), O intemerata (fol. 24v), das letzte Blatt der Lage (fol. 27) von anderer Hand geschrieben. fol. 29: Marienofzium für den Gebrauch von Paris, mit sechs Lesungen: Matutin (fol. 29), Laudes (fol. 51), Prim (fol. 62), Terz (fol. 68), Sext (fol. 72v), Non (fol. 76v), Vesper (fol. 80v), Komplet (fol. 86). fol. 92: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 104), darunter die Pariser Gervasius und Prothasius, Medardus, Ludwig und Genovefa. fol. 109v: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 109v), des Heiligen Geistes (fol. 117v). fol. 123v: Totenofzium, für einen nicht bestimmbaren Gebrauch: Vesper (fol. 123v), Matutin (fol. 131v) ebenso bebildert wie die neun Lesungen aus dem Buch Hiob. fol. 174: Französische Gebete: Douce dame (fol. 174); Doux diu (fol. 179v). fol. 179v: Sufragien: Michael (fol. 183), Johannes der Täufer (fol. 184), Christophorus (fol. 185), Sebastian (fol. 187), Nikolaus (fol. 188v), Margarete (fol. 189v), Barbara (fol. 190v). Schrift und Schriftdekor Die recht steile Textura und der Schriftdekor, der bei einzeiligen Initialen und Zeilenfüllern noch mit Blattgold und den Flächen in Rot und Blau arbeitet und bei den größeren Zierbuchstaben auf ein recht konventionelles Dornblatt umschaltet, wirken ebenso wie die breiten Dornblattzierleisten um den Textspiegel, die bis zum Ansatz des Bogenabschlusses reichen, als sei das Buch spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts geschrieben worden und dann liegen geblieben. Gegen die Annahme, dieser Schriftdekor stamme aus früherer Zeit, spricht jedoch der Umstand, daß Initialen und Zierleisten derartig unverbunden neben einander stehen, als habe man vergessen, wie entschieden gerade diese Dekorationsfamilie darauf angelegt war, die im Zierbuchstaben entwickelten vegetabilen Formen in die Ränder sprießen zu lassen. So wirkt das Dornblatt in unserem Manuskript wie eine Referenz auf ältere Formen; und da für derartig viele Initialen und Zierleisten recht viel Blattgold nötig war, verrät es auch einen damit gepaarten Anspruch auf alte Üppigkeit. Dazu paßt der Einsatz von echtem Gold im Pinselgold der Bordüren, so daß zur traditionellen Ausrichtung ein er-

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staunlicher Auf wand an teurem Material kommt. Keine andere Handschrift in diesem Katalog ist ähnlich kostbar gestaltet worden. Am fortschrittlichsten sind die Kompartiment-Bordüren mit ihrem schlichten Wechsel von Pergamentgrund und Flächen, die mit kaum glänzendem Muschelgold gefüllt sind. Im Kalender beschränkt man sich auf die schlichte Einteilung in Bildfelder ohne Randdekor. Auf den Bildseiten wird statt der Kompartimente durchweg glänzender Pinselgoldgrund eingesetzt und mit mindestens einem Vogel im oberen Bereich des Außenrands geschmückt. Fliegen können im unteren Bereich hinzukommen. Grotesken gibt es nirgendwo, wohl aber eine große Anzahl von Figuren, die sich auf das Hauptbild beziehen. Hierarchisch an der Spitze stehen sechs Bildseiten, deren Ränder mit goldenen Architekturen gegliedert sind, um mit Bögen bekrönte Bildfelder zu schaffen; sie finden sich am Beginn der Perikopen, der Ofzien, der Horen und der Bußpsalmen. Bildfolge fol. 1: Im Kalender wird die gewohnte Abfolge von unter den Text gestellten Monatsbildern auf Recto und Tierkreiszeichen auf Verso mit jeweils fünf kleinen von Bögen abgeschlossenen Bildfeldern ergänzt: zwei oben, die nur Büsten erlauben, drei, in der zweiten Dezemberhälfte vier, außen, in deren Hochformat Ganzfiguren Platz finden. Thematisch beziehen sie sich auf das Kirchenjahr, nicht immer treffend: Zum Januar: Ein Mann am Speisetisch, der am Kaminfeuer von einem Jüngling bedient wird; dazu Simeon und Maurus als Büsten oben, die Beschneidung, Genovefas Kerzenwunden und die Epiphanie. Auf Verso der Wassermann als geflügelter nackter Knabe, der einen Krug in einen Fluß ausgießt; dazu ein Bischof, wohl Marcellus und Antonius Abbas als Büsten, Sebastians Pfeilmarter, Vinzenz als Diakon, Paulus mit Buch und Schwert. Zum Februar: Ein Ehepaar am Kamin bei offener Tür zum Feuer gewendet sitzend; dazu ein nicht definierter Bischof und Bischof Blasius mit dem Wollkamm, die Darbringung im Tempel und zweimal nur farblich unterschieden Apollonia mit der Zange. Auf Verso die Fische in einer Flußlandschaft; dazu ein Bischof und ein Ritter (Julian und Victor?), eine Heilige mit Buch (eher Honorina als Susanne), Petrus als thronender Papst und Matthias. Zum März: Gartenarbeit vor einer Mauer mit Weinstöcken oder Obstbäumchen; dazu ein Mönch und ein Bischof oben, ein weiterer Bischof sowie die Päpste Gregor und Leon. Auf Verso der Widder vor einer befestig ten Stadt; dazu nicht identifizierte Bischöfe: zwei oben, einer über und einer unter dem zentralen Bild der Marienverkündigung. Zum April: Ein Liebespaar im Garten, dazu Maria Aegyptiaca oben links, Hieronymus mit dem Löwen als erstes Bild am äußeren Rand sowie drei nicht identifizierte Bischöfe. Auf Verso der Stier in weiter Landschaft; dazu nicht identifiziert ein Bischof und

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ein Mönch oben, ein weiterer Bischof als erstes Bild außen, Georgs Drachenkampf und Markus mit dem Löwen. Zum Mai: Ein reitendes Paar auf einem Schimmel mit Falken und Hund; dazu ein Bischof und Nikolaus mit den drei Knaben in den kleinen Bildfeldern oben sowie Jakobus und Philippus in einem Bild, die Aufndung des Kreuzes mit Helena im Hintergrund sowie die Ölmarter des Johannes. Auf Verso die Zwillinge als nackte Putten, tanzend oder balgend in der Landschaft; dazu Honorina oder Petronilla und Papst Felix oben, Yvo als Gelehrter mit dem bretonischen Hermelin als Mantel, Wandrillus als Benediktiner, ein Bischof, entweder Germanus oder Augustinus. Zum Juni: Heumahd mit der Sense vor einer Stadt mit hohen Türmen; dazu nicht definiert ein Bischof und ein Diakon oben sowie ein Diakon und ein Bischof außen, darunter Barnabas als Apostel mit Buch und Marterinstrument. Auf Verso der Krebs in einem Fluß, dazu nicht identifiziert ein Bischof und ein Benediktiner oben sowie ein Diakon mit Märtyrerpalme als erster außen, danach die Geburt des Täufers sowie Peter und Paul in einem gemeinsamen Bild. Zum Juli: Kornmahd mit der Sichel vor einem Block sehr hohen Korns; dazu nicht definiert ein Diakon und ein Bischof oben, der heilige Martin als Bischof (?), Thomas von Aquin und Benedikt. Auf Verso der Löwe als ein großes Tier in der Landschaft; dazu vielleicht Alexis und der Diakon Leonhard oben; Magdalena mit Salbtopf, Jakobus als Pilger und Anna bei der Erziehung der Jungfrau. Zum August: Korndreschen in der Scheune; dazu Bischof Stephan und der Erzdiakon Stephan oben, Petrus, Lorenz mit einem kuriosen Rost und die Himmelfahrt Mariens. Auf Verso Jung frau zwischen zwei dicken Korngarben; dazu ein Benediktiner und ein Bischof oben sowie Bartholomäus, König Ludwig der Heilige und die Enthauptung des Täufers. Zum September: Weinkelter; dazu nicht definierte Bischöfe oben und rechts unten sowie die Geburt Mariens und die Kreuzerhöhung durch Kaiser Heraklius (14.9.). Auf Verso die Waage in der Hand einer Magd im Interieur; dazu Diakon und Bischof oben, Matthäus mit dem Engel, Cosmas mit dem Uringlas und Michaels Sieg über den Satan. Zum Oktober: Sämann im gepflügten Feld; dazu nicht definiert eine Jungfrau und ein Bischof oben sowie Remigius mit dem Salbtopf, Stigmatisation des heiligen Franziskus, Dionysius mit seinem abgeschlagenen Kopf in der Hand. Auf Verso der Skorpion als schwarzes Krustentier in der Landschaft; dazu ein Bischof und dicht gedrängt einige der 11.000 Jungfrauen oben sowie Lukas mit dem Stier, Crispin und Crispinian als Schuhmacher-Meister und Lehrling und schließlich Simon und Juda in einem gemeinsamen Bild. Zum November: Ein Schweinehirt beim Abschlagen von Eicheln; dazu undefinierte Bischöfe oben sowie Allerheiligen, Allerseelen im Fegefeuer und schließlich Martins Mantelspende. Auf Verso der Schütze als Kentaur; dazu zwei nicht definierte Bischöfe oben

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sowie Papst Clemens, Katharina mit dem Schwert und Andreas mit dem X-förmigen Kreuz. Zum Dezember: Schweineschlachten mit Mann und Frau; dazu ein nicht definierter Papst, Eligius von Noyon als Bischof mit dem Hammer des Goldschmieds oben sowie Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich, der Kuß an der Goldenen Pforte und die heilige Lucia mit dem Teller für ihre Augen. Auf Verso der Steinbock im Ammonshorn; dazu eine Märtyrerin mit Buch und ein Bischof oben sowie Thomas mit seinem Marterinstrument, Christi Geburt, Stephanus mit drei Steinen und der Kindermord von Bethlehem. fol. 13: Der Bilderreichtum setzt sich bei der Eröffnung des Textblocks fort: Hauptszene ist wie gewohnt Johannes auf Patmos, einer Insel, die nach links einen steilen Felsen hat und nur rechts von Wasser umspielt wird, mit einem Blick auf Ephesus in der Ferne; der Evangelist wendet sich nach rechts und schreibt, während ihm der Adler das Schreibzeug hält. Die goldglänzende Architekturbordüre enthält vier Felder mit nicht ganz kanonischen Szenen aus der Johannes-Legende: Unter dem Text, nach links bis zum Rand der Malerei ausgedehnt, die Auferweckung der Drusiana, deren hölzerner Sarg hier bereits in die Friedhofswiese eingelassen ist; da sitzt die Verstorbene im Leichentuch auf, den nackten Körper sichtbar und betet. Rechts oben ein Verhör vor Kaiser Diokletian, darunter das Ölmartyrium und schließlich wie[?] ein zweites Verhör vor demselben Kaiser, neben dem nun ein Priester mit Mitra steht, mit dem Kelchwunder; die beiden, die bereits vom Gift getötet sind, liegen hier wie Kinder vor dem kaiserlichen Thron. fol. 15: Die übrigen Evangelisten sind in Interieurs gezeigt, die teilweise wie bei François Le Barbier dem Jüngeren (so in Nr. 32) mit grünen und blauen Säulenschäften gerahmt und einem doppelten Maßwerkbogen bekrönt sind: Lukas malt das Haupt der Schmerzensmutter (fol. 15) in einem luftigen zur Landschaft offenen Palastraum; in der Bordüre die Verkündigung an Maria, auf die Ecken verteilt: Gabriel kniet links unten, Maria mit einem Buch in der Hand rechts, während Gottvater rechts oben als Büste in einem Himmelsoval erscheint. Genial werden die Gestalten von einem Schriftband verbunden, das sich mit seiner blauen Innenseite um einen grünen Knotenstock windet, während das Ave auf die rosafarbene Außenseite in Goldlettern geschrieben ist. In einem Raum, der an so manche Pariser Bilder der Marienverkündigung erinnert, sitzt Matthäus mit dem Engel (fol. 16) rechts unter einem Baldachin, mit der maßwerkverzierten Holzkiste, die Maria oft als Betpult dient, während der Engel einen offenen Folianten hält. In der Bordüre sind die Heiligen Drei Könige zu Pferde so verteilt, als machten sie sich auf den Weg nach Bethlehem, der jüngste rechts in bemerkenswerter Vorderansicht. Markus mit dem Löwen (fol. 19), der vor dem hölzernen Windfang einer offen stehenden Tür verharrt, als sei er gerade hereingekommen. Auf die Randstreifen verteilt ist die in der Perikope geschilderte Erscheinung Christi bei den Aposteln, zugleich eine Art Apostelabschied. fol. 20v: Zu den beiden Mariengebeten die zu jener Zeit gewohnte Folge von Freude und Schmerz: Zum Obsecro te die gekrönte Maria mit Kind (fol. 20v), en face auf einem nach vorn weit geöffneten Thron, wie er um 1400 gemalt wurde; dazu in der Bordüre vier erstaunlicherweise nackte musizierende Engel, nicht Putten, die Harfe, ein Streichinstru-

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ment, eine Portativ-Orgel und Laute spielen. Zum O intemerata die Beweinung unter dem Kreuz (fol. 24v) nach der schon in Nr. 32 von François Le Barbier dem Jüngeren benutzten Bildidee mit Johannes, der links das Haupt des Toten stützt, und Magdalena rechts, vor einer Stadtkulisse; in der Bordüre als Diakone in Dalmatiken gekleidete Engel mit den Marterwerkzeugen und in der Mitte unten dem Schweißtuch der Heiligen Veronika. fol. 28: Im Marienofzium wird der vertraute Zyklus durch zwei ganzseitige Miniaturen ergänzt, die auf dem leer gebliebenen Endblatt der vorausgehenden Lage Platz fanden, nachdem die Hauptbilder schon in den Bordüren durch weitere Episoden bereichert wurden. Beide Vollbilder haben Parallelen im gedruckten Stundenbuch: Die synchrone Darstellung von Adam und Eva findet sich in der Folge für Dupré, die in Horae B. M. V. als „Dupré-Meister, Säulenrahmen, ca. 1488“ bezeichnet wird (Horae B. M. V. IX , S. 3922, Abb.2). Die Wurzel Jesse kommt um 1489 zum ersten Mal in den Metallschnitten des Meisters der Apokalypsenrose, ebenfalls für Dupré vor: „MdA für Dupré, ca. 1489“ (ebenda S. 3993, Abb. 2). In beiden Fällen halten sich formale Ähnlichkeiten in Grenzen. Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (fol. 28) rücken in der Miniatur eng nebeneinander: Schauplatz ist eine von hohen Mauern und mächtigen Türmen umgebene Blumenwiese mit dem Baum der Erkenntnis, der viele dicke Früchte trägt. Um den Stamm schlängelt sich Satan, mit weiblichem Oberkörper, und bietet noch eine Frucht an, zur Rechten greift Adam verzweifelt an seinen Adamsapfel, zur Linken steht Eva und hält gleichsam triumphierend einen Apfel in der Hand. Da schaltet sich der feurig rote Erzengel Gabriel ein und verjagt die beiden mit erhobenem Schwert. Die zweite ganzseitige Miniatur mit der Wurzel Jesse (fol. 28v) soll mit der Marienverkündigung gegenüber angeschaut werden, auch wenn die Malfläche größer und das Layout ein ganz anderes ist: Auf seinem fast wie ein Bas-de-page wirkenden Bett liegt der Stammvater, ein wohlhabender Greis mit goldener Kleidung und einer Hermelinkrempe am Hut. Aus seiner Brust wächst ein grüner Weinstock mit großen dunklen Reben, der in die Höhe steigt, sich verzweigt und auf Blattknospen zwölf Könige als Halbfiguren, darunter den Harfner David, hervorbringt. Die ebenfalls gekrönte Maria mit dem Kind steht wie das Apokalyptische Weib vor einer goldenen Sonnen-Mandorla; sie schwebt, von den Ästen der Wurzel Jesse umgeben, entspringt ihr aber nicht. Die Verkündigung mit dem Incipit der Marien-Matutin (fol. 29) wird mit Säulen und Doppelbogen gerahmt; Schauplatz ist ein Sakralraum mit einem Maßwerkfenster. Links kniet Maria unter einem Baldachin; die Truhe mit ihrem Betpult ist ein wenig in die Bildtiefe gerückt. Halbwüchsig wirkt Gabriel, wie er in seiner goldenen Dalmatika rechts mit Zepter, aber ohne Spruchband vor ihr kniet und nach oben weist. In einem zum Himmel offenen Bogen zeigen sich zwei Personen der Trinität: Christus und Gottvater mit Tiara, während die Taube in den Raum eingedrungen ist, gefolgt vom Jesusknaben, der sein Kreuz geschultert hat. Vom Kuß an der Goldenen Pforte rechts oben über die Mariengeburt und den Tempelgang setzen sich in der Architekturbordüre Szenen aus dem Marienleben unten fort: Recht ungewohnt ist ein Bildchen mit der Jungfrau, der ein Engel einen Folianten zur Lektüre hält; seltsam wirkt auch der Umstand, daß der Priester,

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der die Vermählung mit Joseph vollzieht, wie die Jungfrau Maria durch einen Nimbus ausgezeichnet ist. Weiß sind die Statuetten von Propheten im Randstreifen zum Falz hin und im Bogen über dem Verkündigungsbild. Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 51), in der Joseph und eine Magd Maria begleiten und die greise Elisabeth von rechts aus einem stolzen Torbau tritt, wird, wie es zuweilen geschieht, in der Bordüre durch die Johannesgeburt ergänzt, für die sogar zwei Szenen vorgesehen sind: Unten hat Maria den Johannesknaben in den Arm genommen, rechts außen hält sie ihn, während Zacharias, der nun am Wochenbett Platz genommen hat, den Namen aufschreibt. In der Tradition der Le Barbier steht das Bild der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 62): Unter dem Dach des Stalls und vor einem Flechtzaun kniet Maria links, Joseph rechts; der nackte Knabe liegt auf einem mit Weidengeflecht umgebenen Rund, zu dem sich hinter Maria und Joseph Ochs und Esel wenden; über der Szene schweben zwei Engel und stimmen das Gloria an, während zwei Hirten, ganz in Grau, hinter dem Zaun stehen, vor einer Stadtansicht rechts hinten. Die Heiligen Drei Könige sind ähnlich wie in der Bordüre bei Lukas verteilt. Bemerkenswert komponiert ist die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 68): Unter einem zentralen Baum, der wie ein Schirm beschnitten wirkt und über dem der Engel mit dem Gloria erscheint, scharen sich zwei Hirten und eine Hirtin, die mit einem Rocken in der Hand am Boden hockt. Die beiden Männer ziehen gerade den Hut, während die Frau sie erstaunt anblickt. Die Herde grast rechts im Mittelgrund vor einer Stadtkulisse. Ein Hirte mit seinem Hund schaut aus dem rechten Randstreifen zum Engel; unten sind zwei Paare zum Hirtentanz angetreten, zur Musik einer Sackpfeife. Die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 72v) behält das Ambiente des Weihnachtsbildes bei; doch fehlt Joseph ebenso wie die Tiere. Daß in jener Zeit dieses Thema auch mit Maria en face vorkommt, spielt bei der Gestaltung ebenso eine Rolle wie die Nähe zur Pietà: Die Muttergottes hat ebenso wenig Kontakt zu den Königen wie der auf ihrem Schoß liegende nackte Knabe. Während der älteste kniet, wartet der mittlere unter dem Stern; der jüngste tritt herzu vor der Stadtkulisse. Im Randstreifen links reiten die Könige weiter, nachdem sie offenbar vorher ihren Besuch bei Herodes gemacht haben, für den in der unteren Bordüre ein eigenes kleines Bildfeld dient. Die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 76v) versammelt um Maria und Simeon, der den nackten Knaben auf den Altartisch gestellt hat, die Magd mit Kerze und Joseph mit den Tauben sowie einen vornehmen jungen Mann. Überraschend sind die Motive am Rand: Die Magd mit der Kerze wird in größerem Maßstab wiederholt; und dann wird unten eine Schilderung der christlichen Lichtmeß mit Frauen und Priestern ausgebreitet. Die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 80v) folgt im Grundmuster den vertrauten Vorlagen: Vor einem Fernblick links steigt rechts das Gelände an; dort steht die Säule, von der ein Götze stürzt. Maria sitzt mit dem Kind, das einen goldenen Rock trägt, auf dem Esel, der nach rechts geführt wird. Hier nun wird im Mittelgrund links das Kornwunder

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eingefügt: Ein Sämann, der das Heer des Herodes nicht auf die Fährte der Heiligen Familie schickt, erhält dafür eine volle Ernte. Auf gleicher Höhe etwa treten in den Randstreifen einzelne Soldaten auf: der links hat ein Kind auf sein Schwert gespießt; unten wird weiter vom Kindermord vor dem Thron des Herodes gehandelt. Den Endpunkt des Zyklus bildet die Marienkrönung zur Komplet (fol. 87): Über blauen Wolken und vor einem Fond aus feurigen Seraphim wartet seitlich zu Gottes Thron eine Bank auf die Muttergottes, die auf einer grünlich schimmernden Fläche kniet, von einem Engel begleitet, während zwei kleinere Engel mit der Krone über ihr schweben; Gottvater mit Tiara segnet. Voraus ging der Marientod im Beisein aller Apostel in der Bordüre unten und Marias Himmelfahrt im rechten Randstreifen, wo ein Engel dem Ungläubigen Thomas den Gürtel der Jungfrau aus der Höhe herabgibt. fol. 92: Im Layout der Marienverkündigung wird Davids Buße zu den Bußpsalmen von Szenen aus dem Leben des Königs umgeben: Mit seiner Krone auf dem Kopf betet David in einer Kapelle vor einem Altar; seine Harfe ist hinten links abgestellt; rechts erscheint Gottes feuriger Racheengel mit einem Schwert in einer Bogenöffnung über dem Altartisch. Chronologisch setzen die drei Randbilder unten mit Davids Kampf gegen Goliath ein: Der Hirtenknabe steht links, rechts sinkt der Riese getroffen in die Knie, über David erscheint, in verfehlter Raumdarstellung die Schlacht gegen die Philister. Darüber wird Davids Triumph gezeigt, nachdem er Goliaths Kopf abgeschlagen hat; rechts oben schließlich wird, passender zu den Bußpsalmen, Bathsebas Bad geschildert. fol. 109v: Dem Layout mit Bildfolge in Architekturbordüren folgen auch die Bilder zur Matutin von Kreuz und Geist: Die Kreuzigung (fol. 109v) ist volkreich, aber nur mit Leuten zu Fuß geschildert: Christi Kreuz steht zwischen den Kreuzen der Schächer; den Kreuzesstamm umklammert Magdalena, zwischen Maria, Johannes und den Frauen links und dem Zenturio, dessen Wort als Spruchband aufsteigt, in goldener Rüstung mit einem großen Schild, das der Doppeladler ziert. Fünf Stationen aus der Passion Christi werden in der Architekturbordüre geschildert: Gefangennahme, Verhör vor dem Hohenpriester, Geißelung, Handwaschung des Pilatus und Kreuztragung. Dieser Zyklus wird auf eine uns sonst völlig unbekannte Weise mit fünf weiteren Passionsbildern, der Beweinung, Grablegung und Auferstehung Christi, danach erst dem Gang in die Vorhölle und schließlich Christus als Gärtner, also Noli me tangere, in der Architekturbordüre des nächsten Bildes fortgesetzt, das die Geist-Matutin eröffnet und das Pfingstwunder schildert (fol. 117v): In einer halbrunden Apsis thront Maria im Kreis der Apostel, über ihr erscheint die Taube und sendet auf Strahlen die Flämmchen aus. fol. 123v: Die erstaunlichste Leistung der Buchmalerei in diesem Stundenbuch ist die unerhört reiche Bebilderung des Toten-Ofziums, die nur von unserer Nr. 47 übertroffen wird, freilich noch bildreicher ist: Zunächst hat man den Eindruck, es solle bei nur einem Bild, der Auferweckung des Lazarus in einem Kirchenchor zur Toten-Vesper (fol. 123v) bleiben; denn die fünf Bilder in der Architekturbordüre bieten bereits einen Hiobszyklus, dessen Stationen bis auf die erste dann im Verlauf des Ofziums wiederholt werden: Auf Gottes Pakt mit dem Teufel folgt die Vernichtung des Viehs, der Einsturz

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des Hauses; Hiob erfährt durch drei Boten vom Tod der Familie, ehe er dann auf dem Dung von seiner Frau bedrängt wird. fol. 131v: Zur Matutin die Geschichte vom Reichen und dem armen Lazarus mit dem Gastmahl des Reichen und dem Tod des Lazarus in der Bordüre, den Höllenqualen des Reichen in voller Bordürenbreite unten und Abrahams Schoß im Hauptbild, wo unter einem Baldachin zwei Engel den Vorhang zurückziehen, so daß Abraham erscheint, der die Seele des Lazarus freudig in Empfang nimmt, während zwei weitere Engel musizieren. Die neun Lesungen werden dann nach ein und demselben Muster bebildert: Alle Bilder beziehen sich auf Hiob, jedoch nicht wie in unserer Nr. 47 auf eine neue Lektüre der Lesungen, sondern auf die Geschichte des Dulders, die in jener Serie von kleinen halbfigurigen Graphiken des Meisters der Grandes Heures, die in unserem Katalog Horae B. M. V. als „nahsichtige Kleinbilder für Dupré ca. 1488“ bezeichnet werden (vor allem Gamma, also Jean Dupré, um 1488: Horae B. M. V. IV, S. 1492, mit Abb. auf S. 15051510), thematisch gleich geordnet sind. Jeweils eine Gestalt in der Außenbordüre wirkt wie ein Echo auf etwa in gleicher Höhe im Hauptbild gezeigte Figuren oder schließt sich dem Geschehen dort an; im unteren Randstreifen werden Begegnungen des Todes mit je zwei Menschen gezeigt, meist als „Tanz-Paare“: Zur ersten Lesung, die um Schonung bittet (Parce michi) im Hauptbild Hiob mit seiner Familie (fol. 137), Frau, erwachsenem Sohn und Enkeln; dazu Hiob im Gebet zu Gott mit demselben Incipit sowie unten aus dem Totentanz die Begegnung mit dem Papst und dem Kaiser. Zur zweiten Lesung (Tedet animam meam) Hiob auf dem Dung liegend, unter Gottes Angesicht von Teufeln gequält (fol. 138v); der Dulder in der Bordüre noch einmal wiederholt, unten aus dem Totentanz der Tod zwischen Kardinal und König. Zur dritten Lesung (Manus tue) Hiobs Herde vernichtet und sein Vieh geraubt (fol. 140) in zwei Bildschichten über und hintereinander, in der Bordüre außen ein Soldat aus der Gruppe der Räuber; unten aus dem Totentanz Ritter und Bischof. Zur vierten Lesung (Quantas habeo iniquitates) Hiobs Haus stürzt ein (fol. 146v); ein Diener flieht in der Bordüre; unten aus dem Totentanz zwei Prälaten mit Mitren. Zur fünften Lesung (Homo natus de muliere) Hiob erfährt vom Tod seiner Familie (fol. 148) mit drei Boten; ein vierter Bote in der Bordüre; unten aus dem Totentanz Ritter und Kaufmann. Zur sechsten Lesung (Quis michi hoc tribuat) Hiob auf dem Dung mit den Freunden (fol. 149v) vor einem eindrucksvollen Stadttor; in der Bordüre außen ein fünfter Besucher; unten aus dem Totentanz ein Reicher und ein Gelehrter.

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Zur siebten Lesung (Spiritus meus attenuabitur) Hiob auf dem Dung mit drei Musikanten (fol. 156v), ein vierter mit Portativorgel in der Bordüre; unten aus dem Totentanz reicher Jüngling und Beicht-Priester. Zur achten Lesung, die in irriger Rubrik als die neunte bezeichnet wird (Pelli mee consumptis) Hiob auf dem Dung mit seiner Frau (fol. 158), mit dem Teufel in der Bordüre; unten aus dem Totentanz ein Zisterzienser und ein Benediktiner. Zur neunten Lesung (Quare de vulva eduxisti) Hiob betend mit seiner ihm wieder gegebenen Familie (fol. 159v), dahinter das Vieh und in der Bordüre ein weiteres Dromedar, das jedoch zwei Höcker hat und nicht wie ein Trampeltier aussieht; unten aus dem Totentanz ein Mann mit Schwert und Befehlsstab und ein Arzt mit Uringlas. fol. 174: Zu den beiden französischen Gebeten der XV Freuden und VII Klagen ein Madonnenbild und eine Darstellung der Trinität: Douce dame als halbfiguriges Bild der Madonna mit Kind (fol. 174) in einem mit Juwelen besetzten Rahmen, musizierende nackte Engel, nicht Putten in der Bordüre. Zu Doux diu die Trinität (fol. 179v) in der für Psalm 109 entwickelten Formel: Christus als Schmerzensmann mit dem Kreuz, der greise Vater mit Tiara in gemeinsamem rosafarbenen Mantel mit der Taube und dem Buch des Lebens, vor einem hohen Blendmaßwerk, das vom Fond aus feurigen Seraphim gerahmt wird. In helle Tuniken gekleidete musizierende Engel in der Bordüre. fol. 183: Zu den Suffragien Hauptbilder, die am Rand mit Szenen ohne eigene Bildfelder ergänzt werden: Michaels Sieg über den Teufel (fol. 183) vor einem Felsen rechts, der bereits den Mont Saint-Michel meinen dürfte; dazu Pilgerschaft zum Mont Saint-Michel in der Bordüre, die unten links beginnt, in der rechten unteren Ecke ein Banner mit dem siegreichen Erzengel zeigt und dann aufsteigt zu einer Ansicht vom Tor hinauf zur Klosterkirche. Enthauptung des Täufers (fol. 184) vor der Kulisse des Kerkers; noch kniet Johannes mit verbundenen Augen (!) aufrecht, während Salome mit der Schale wartet. In der Bordüre sieht es dann aus, als habe sich Salome nach Erhalt des Hauptes mit ihrer Schale gedreht; schließlich steht sie an der Tafel ihres Vaters, auf der die Johannes-Schüssel zur Freude der Herodias und zum Entsetzen des Herodes steht. Christophorus mit dem Christusknaben (fol. 185) in einem Fluß, in dem eine Nixe mit einem Spiegel ihr Haar kämmt, rechts oben der Einsiedler mit der Lampe. Zu beiden Seiten die Episode, bei der Christophorus als Reiter (rechts) unter einem Wegkreuz merkt, wie der Teufel (links) flieht. Unten das irrtümlich wie die Sebastiansmarter dargestellte Pfeilmartyrium des Heiligen vor dem wesentlichen Moment, daß der Pfeil, der noch nicht getroffen hat, im Flug umdreht [unklarer Satzbau] und das Auge des heidnischen Königs triff t; deshalb dürfte der Heilige nicht mit Pfeilen gespickt sein. Pfeilmarter des heiligen Sebastian (fol. 187) mit zwei Bogenschützen vor einer niedrigen Mauer. Szenen seines sehr viel später erlittenen Martyriums in der Bordüre: Er wird in einen Ofen geworfen und auf einem Brett mit Stangen mißhandelt.

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Nikolaus erweckt die drei Jünglinge (fol. 188v), die im Bottich gepökelt werden sollten. Links der Teufel, der einen Mann stranguliert. Unten die Taufe des Juden, dem ein Christ die Rückzahlung eines Kredits verweigert hatte, worauf der Jude der Legenda aurea zufolge durch das Eingreifen des Heiligen sein Geld zurückbekam, weshalb er dann konvertierte und sich taufen ließ. Margarete steigt aus dem Drachen (fol. 189v); Peinigung der halbnackten Jungfrau unten und Enthauptung links neben dem Hauptbild. Enthauptung der heiligen Barbara (fol. 190v) durch denselben König, der links neben dem Hauptbild vom Teufel geholt wird; im unteren Randstreifen eine ähnliche Martyriumsszene wie bei Margarete. Der verantwortliche Maler Alles Figürliche in diesem Stundenbuch scheint von einer Hand gemalt zu sein; das triff t wohl auch für die beiden ganzseitigen Bilder zu, auch wenn deren etwas größere Gestalten leicht vom Rest abweichen mögen. Für die Zusammengehörigkeit dieser Malereien spricht der dünne Farbauftrag, der diese Miniaturen mit den anderen Bildern verbindet: Der Maler arbeitet in erster Linie graphisch und koloriert so, daß die Reglierung beispielsweise unter dem Johannesbild genauso präsent bleibt wie unter der Darstellung des Paradieses. Eine besondere Qualität liegt im Einsatz heller Töne und des vielen dünnen Pinselgolds für Architekturen und Möbelstücke; daraus entsteht ein sehr lichter Gesamteindruck. Die Einbindung des Malers in die hauptstädtische Produktion ist ebenso offensichtlich wie der grundsätzlich pariserische Charakter des Stundenbuchs, dessen Marienofzium ebenso wie die Heiligenauswahl in Kalender und Litanei diesen Bezug unterstreichen. Doch ist das Totenofzium für einen nicht näher bestimmbaren Brauch eingerichtet. Die Nähe zum frühesten Pariser Buchdruck, insbesondere den Stundenbüchern von Dupré von 1488 und 1489 ist ein weiteres Argument, den Künstler, dessen Miniaturen an Vorgaben der Le Barbier orientiert sind, in Paris tätig zu sehen. Zugleich treten inhaltliche und stilistische Bezüge zum Meister Karls VIII . zu Tage, der die beiden hier folgenden Stundenbücher gestaltet hat und dessen Stuttgarter Stundenbuch cod. Brev. 5 der Württembergischen Landesbibliothek durch den lichteren Farbauftrag unserem Manuskript nahe steht. Umso irritierender ist der Umstand, daß wir kein zweites Manuskript derselben Hand kennen. Die Bildphantasie des Künstlers sorgt innerhalb der Miniaturen für eine Fülle an Details; sie richtet sich aber noch entschiedener auf die Ergänzung durch Beifiguren und weitere Bilder, mit denen die Hauptminiaturen ergänzt werden können. Auf die Menge kommt es an, wenn es den Maler nicht kümmert, beispielsweise im Februar die Gestalt der heiligen Apollonia zweimal in den Rand zu setzen.

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Ei­nen Na­men kön­nen wir dem Ma­ler nicht ge­ben; denn wenn wir schlank­weg vom Mei­ ster des C. P.-Stun­den­buchs sprä­chen, wür­de dies auch un­ter­stri­chen, daß es nicht ge­ lin­gen will, das Mo­no­gramm schlüs­sig auf­zu­lö­sen. Ein voll­stän­dig er­hal­te­nes, über­bord­end dicht und ein­falls­reich il­lu­mi­nier­tes Pa­ri­ ser Stun­den­buch, das vor al­lem durch sei­nen gran­dio­sen Hi­obs­zy­klus auf­f ällt, aber auch auf je­der Bild­sei­te Über­ra­schun­gen bie­tet. Von Schrift und Schrift­de­kor noch ent­schie­den äl­te­ren Tra­di­tio­nen ver­pflich­tet, mit für die Ent­ste­hungs­zeit un­ge­wöhn­ lich üp­pi­gem Ein­satz von Gold, das in Fo­lie eben­so wie mit dem Pin­sel auf­ge­tra­gen wird, er­weist sich das Buch als ein be­son­ders kost­ba­rer und kost­spie­li­ger Auf­trag an ei­nen Künst­ler, des­sen Iden­ti­tät noch zu klä­ren ist. Na­men­los, wenn nicht als Mei­ ster des C. P.-Stun­den­buchs, bleibt er zu­nächst und nimmt eine mar­kant ei­gen­wil­li­ge Stel­lung zwi­schen Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren und dem Mei­ster Karls VIII . ein. Mit dem Buch­druck ver­bin­det die­sen Ma­ler viel, doch wei­chen selbst die bei­ den ganz­sei­ti­gen Mi­nia­tu­ren, die eng­ste Par­al­le­len bei Du­pré ha­ben, in der Bild­an­ la­ge der­ma­ßen von den Gra­phi­ken ab, daß schließ­lich nur die Son­der­stel­lung ­die­ses Buch­ma­lers un­ter­stri­chen wird, dem es auf die hohe Zahl von Bil­dern und Fi­gu­ren an­kam. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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35 Ein herr­li­ches Stun­den­buch mit vie­len schwarz­grundi­gen Bor­dü­ren: ei­nes der schön­sten Wer­ke vom Mei­ster Karls VIII.


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken auf Fran­zö­sisch in Blau, mit ei­nem fran­zö­ si­schen Ka­len­der in Rot und Blau, Fest­ta­ge in Gold, ge­schrie­ben in schwar­zer Tex­tura. Pa­ris, um 1480/90: Mei­ster Karls VIII. 97 Bil­der in 55 Mi­nia­tu­ren: vier ganz­sei­ti­ge Mi­nia­tu­ren, die er­ste mit brei­tem Schmuck­ rand; 14 gro­ße Kopf­mi­nia­tu­ren mit Voll­bor­dü­ren über drei Zei­len Text im Mari­en-Of­ fi­zi­um, sonst über vier Zei­len Text, durch­weg mit dreiz­ei­li­gen In­itia­len; so­wie 12 Klein­ bil­der für die Suff­ragien mit drei­sei­ti­gem Rand­schmuck von au­ßen; 24 Ka­len­der­bil­der, zu de­nen dort 43 Hei­li­gen­fi­gu­ren in den Voll­bor­dü­ren hin­zu­kom­men; jede Text­sei­te mit ei­nem Bor­dü­ren­strei­fen glei­cher Art am äu­ße­ren Rand. Die un­ter­schieds­los bunt­grundi­ gen Bor­dü­ren, teils in Kompartim­en­ten ge­glie­dert, in Schwarz, Rot, Blau, Braun oder Hell­grün von er­staun­li­cher Viel­falt und Va­ria­nz, be­lebt mit Akanthus­ran­ken, Blü­ten, Vö­ geln und Gro­tes­ken. Wei­ße, meist mit Rosa mo­del­lier­te Akanthus-In­itia­len auf Rot­braun, mit Bin­nen­fel­dern in Pin­sel­gold, mit flora­lem De­kor, nur auf fol. 108v eine rot-blaue Akanthus­ in­itia­le mit Gold­höhung; ein­zei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen in Pin­sel­gold auf blau­en, ro­ten und brau­nen Flä­chen; Zei­len­fül­ler in glei­cher Art oder als gol­de­ne Kno­ten­stöcke. Ver­ sa­li­en gelb la­viert. 213 Blatt Per­ga­ment, 1 fe­stes und 3 flie­gen­de Vor­sät­ze vor­ne und 1 fe­stes und 2 flie­gen­de Vor­ sät­ze hin­ten aus Pa­pier mit Be­sitz­ein­trä­gen, dazu 1 flie­gen­des Vor­satz vorn und 2 flie­gen­de Vor­sät­ze hin­ten aus Per­ga­ment; Mar­mor­pa­pier vor­ne und hin­ten als fe­stes und auf dem er­ sten flie­gen­den Vor­satz. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­ la­ge 1 (12) und die Lage 4 (2); ho­ri­zon­ta­le Reklam­an­ten in Bast­arda. Rot reg­liert zu 16, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Ok­tav (160 x 108 mm, Text­spie­gel: 86 x 50 mm). Fa­rb­stark und blen­dend er­hal­ten, je­doch vom Buch­bin­der au­ßen und un­ten mi­ni­mal ge­trimmt. Schwar­zer Ma­ro­quin­ein­band des 17. Jahr­hun­derts auf fünf er­ha­be­ne Bünde, Gold­fileten auf Rücken und Deckeln, Mar­mor­pa­pier­vor­sät­ze, zwei klei­ne Schlie­ßen; Gold­schnitt. Provenienz: Nicolas Joseph de Nettancourt, Vicaire général d’Orléans (28.7.1711 – 28.10.1743), Erzdiakon von Sologne, Kanonikus von Sainte Croix in Orléans, später „conseiller aumônier ordinaire du Roi“: Eintrag, datiert 1745, mit Hinweis auf N. J. de Nettancourt als Erblasser („frère“): da er zwei Brüder und drei Schwestern hatte, ist eine genauere Bestimmung des Erben nicht möglich. Zuletzt Verkaufskatalog VI, Manuscrits enluminés et livres précieux, Chartres 1989, Nr. 5: 1,5M Francs.

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Text fol. 1: Fran­zö­si­scher Ka­len­der, je­der Tag be­setzt, Hei­li­gen­na­men in Rot und Blau, Gol­ de­ne Zahl in Gold, Sonn­tags­buch­sta­be A in Gold auf Rot oder Blau, Sonn­tags­buch­sta­ ben b-g in Braun, Iden und No­nen ab­wech­selnd in Rot und Blau, S des Hei­li­gen­na­mens in Gold auf Rot, Blau oder Braun, Fest­ta­ge in Gold, Pa­ri­ser Ka­len­der. fol. 13: Per­ik­open, be­gin­nend mit Jo­han­nes als Suff­ragium (fol. 13), Lu­kas (fol. 15v), Mat­ thä­us (fol. 17v) und Mar­kus (fol. 19v). fol. 21: Ma­rien­ge­be­te: Ob­secro te (fol. 21), re­di­giert für ei­nen Mann, O in­teme­rata (25v). fol. 31: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matutin, mit drei vol­len Nok­tur­nen (fol. 31), Lau­des (fol. 57v), Prim (fol. 71), Terz (fol. 78), Sext (fol. 83), Non (fol. 89), Ves­per (fol. 95), Komplet (fol. 103). fol. 110: Horen: von Hei­lig Kreuz (fol. 110) und Hei­lig Geist (fol. 119). fol. 126: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 139), dar­un­ter die Hei­li­gen Simphoriane, Lam­bert, Gen­ulphus, Mau­ri­ti­us, Yvo, Alb­inus, Clau­di­us, Al­bert­us, Medericus, Lubinus, Gem­ma. fol. 147: Die sie­ben Ver­se des hei­li­gen Bern­hard: Il­lu­mi­na ocu­los meos. fol. 149: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 149), Matutin (fol. 158, mit ei­ner Ru­brik her­vor­ge­ho­ben), Lau­des (fol. 186v, nicht her­vor­ge­ho­ben). fol. 203: Suff­ragien: Se­ba­sti­an (fol. 203), Bla­si­us (fol. 204v), La­za­rus (fol. 205v), Adri­an (fol. 206), Clau­di­us (fol. 207), Fran­zis­kus (fol. 208), Ni­ko­laus (fol. 208v), Mag­da­le­na (fol. 209), Ka­tha­ri­na (fol. 210), Apol­lo­nia (fol. 210v), Bar­ba­ra (fol. 211v), Gen­ovefa (fol. 212v). fol. 212v Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Ge­schrie­ben ist das Ma­nu­skript noch in rei­ner Tex­tura. Die ein­zei­li­gen In­itia­len, die auch die Suff­ragien er­öff­nen, sind rasch mit dün­nem Pin­sel­gold auf blau­en und braun­ ro­ten Flä­chen aus­ge­führt. Psal­men­ver­se set­zen wie ge­wohnt in ei­ner neu­en Zei­le an; des­halb sind vie­le Zei­len­fül­ler nö­tig, die, wenn nicht in glei­cher Art, als Kno­ten­stock mit Pin­sel­goldhöhung aus­ge­bil­det sind. Zweiz­ei­li­ge In­itia­len zu Psal­men­an­fän­gen sind eben­so wie die nur auf Bild­sei­ten ein­ge­setz­ten dreiz­ei­li­gen Zier­buch­sta­ben durch­weg in Akanthus ge­bil­det, der mit Rosa, sel­te­ner Vio­lett mo­del­liert ist; sie ste­hen auf brau­nen Grün­den; ihre Bin­nen­fel­der sind in der Re­gel mit Pin­sel­gold aus­ge­malt und vor­wie­gend mit Blü­ten, gern Hunds­veil­chen, also pen­sées, ge­schmückt. Rand­schmuck ziert alle Text­sei­ten in Höhe des Text­spie­gels, bil­det bei den Klein­bil­dern der Suff­ragien Klam­mern, die von au­ßen um den Text­spie­gel ge­legt sind. In ein­zel­nen Par­ti­en des Ma­nu­skripts herrscht das Prin­zip der Kom­par­ti­ment-Bor­dü­re mit Blu­men auf Gold und bun­tem Akanthus auf far­bi­gen Fel­dern. Zu­wei­len aber wird der­sel­be kraft­ vol­le Farb­ton, so das Pur­pur­rot in den Suff­ragien über län­ge­re Strecken durch­ge­hal­ten.

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Im Kalender hätte die Aufteilung der Ränder in Kompartimente nur für Verwirrung gesorgt; deshalb bleibt es dort bei einfarbigen Bordüren, die durch ihre erstaunliche Farbkraft überzeugen. Schwarz erhält in der Illumination großes, geradezu entscheidendes Gewicht. Vier Bildseiten verzichten auf solchen Randschmuck; sie sind von unterschiedlich dicken goldenen Leisten gerahmt und verbannen das Incipit auf einen mit Pinselgold ausgemalten Streifen unten; dabei erhält die Toten-Vesper denselben Status in der Hierarchie wie Marien-Matutin und Bußpsalmen. Johannes hingegen wird durch seinen Schmuckrahmen wie ein Frontispiz für den ganzen Textblock behandelt. Die Bildseiten müssen ebenso wie die Bordüren in der Entstehungszeit geradezu sensationell gewirkt haben. Bildfolge fol. 1: Der Kalender dieses Stundenbuchs schlägt Betrachter durch die unerhört kräftigen Farben des Fonds in den Bann; das beginnt wohl aus Gründen der Hierarchie mit Pinselgold, entwickelt dann aber in tiefen Rottönen und Schwarz beeindruckende Effekte für die Blüten, den meist blau-goldenen Akanthus und vor allem die Figuren und Szenen, die in die Randstreifen gestreut sind: Auf den Recto-Seiten werden die Monatsbilder in kreisrunden Medaillons unter dem Text und die Tierkreiszeichen rechts daneben in Feldern gezeigt, die mit flachen Bögen geschlossen sind. Bei den Monatsbildern, die teilweise eng mit denen in Nr. 34 zusammenhängen, sorgt die Begrenzung auf die Kreisform der Medaillons dafür, daß wichtige Elemente der Vorlage abgeschnitten sind. Dazu werden in unterschiedlicher Dichte Bildmotive aus dem Festzyklus in die buntgrundigen Randstreifen eingefügt: Zum Januar: Herr am Speisetisch, von einem Jüngling bedient; Wassermann, als nackter Knabe, der einen Krug in einen Fluß leert. Dazu im linken Rand Genovefa mit dem Kerzenwunder und Maurus als junger Benediktiner; im Außenrand die Beschneidung über einem Altar und die Epiphanie mit der Anbetungsgruppe in der Mitte der Bordüre und den beiden jüngeren Königen weiter unten eingestreut. Auf Verso: Antonius Abbas hokkend mit einem Buch; Vinzenz als Diakon; Bekehrung Pauli in dramatischer Drehung. Zum Februar: Junges Paar am Kamin, dahinter der Speisetisch; Fische in einem Fluß. Dazu Darbringung im Tempel. Auf Verso: Petrus als Papst thronend; Matthias. Zum März: Gartenarbeit vor einer Mauer mit Weinstöcken oder Obstbäumchen; der Widder in der Landschaft. Apostel Thomas mit seinem Passionsinstrument (irrig für Thomas von Aquin, der am 7.3. erwähnt ist). Auf Verso: ein Benediktinerabt und Maria mit dem Jesuskind in einem Laufstall, offenbar zum Verkündigungstag, also in erstaunlicher Voraussicht! Zum April: Ein junges Paar im Garten; der Stier. Ein Papst, wohl Leo. Auf Verso: Georg als Sieger über dem Drachen; Markus an den Löwen gelehnt, schreibend.

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Zum Mai: Ein rei­ten­des Paar auf ei­nem Schim­mel; die Zwil­lin­ge als nack­te Put­ten, tan­ zend oder bal­gend. Apo­stel mit Keu­le (Ja­kob­us der Jün­ge­re?). Auf Ver­so: Zwei Bi­schö­ fe, viel­leicht Am­bro­si­us und Au­gu­stin­us. Zum Juni: Heu­mahd; der Krebs, feu­er­rot auf ei­ner Wie­se. Bar­nabas mit ei­nem Buch. Auf Ver­so: Jo­han­nes der Täu­fer mit dem Lamm auf sei­nem Buch; un­ten Pe­trus und Pau­lus. Zum Juli: Korn­mahd, bei der ein Mann die Si­chel führt und eine Frau die Gar­ben bin­ det; der Löwe. Ein Bi­schof, viel­leicht Mar­tin, zum 4.7. Auf Ver­so: Mag­da­le­na mit dem Salb­topf; Ja­kob­us der Äl­te­re als Pil­ger. Zum Au­gust: Dre­schen mit ei­nem Greis, der mit dem Fle­gel aus­holt; ne­ben ihm ein ir­ ri­tie­ren­der ku­gel­för­mi­ger Sack, hin­ter ihm die Gar­ben; die Jung­frau mit Palm­zweig in ei­nem Burg­gar­ten. Lo­renz mit dem Rost. Auf Ver­so: Apol­lo­nia mit der Zahn­zan­ge (si­ cher ir­rig für den Ein­trag Apol­li­na­ire am 23.8.); Lud­wig IX . in fle­urs-de-lis. Zum Sep­tem­ber: Wein­kel­ter mit ei­ner Lei­ter am Bot­tich und ei­nem Mann mit Büt­te; die Waa­ge in der Hand ei­ner jun­gen Frau. Ste­hen­de Ma­don­na mit Je­sus­kind (nicht sehr tref­fend für die Ma­rien­ge­burt am 8.9.). Auf Ver­so: Mat­thä­us mit dem En­gel; Mi­cha­els Sieg über den Teu­fel. Zum Ok­to­ber: Sä­mann auf ge­pflüg­tem Acker; der Skor­pi­on auf ei­ner Wie­se. Dio­ny­si­ us mit dem ab­ge­schla­ge­nen Kopf in den Hän­den. Auf Ver­so: Lu­kas mit dem Stier; un­ ten Si­mon und Juda. Zum No­vem­ber: Schwei­ne­hirt beim Ab­schla­gen der Ei­cheln; der Schüt­ze als Ken­taur. Al­ler­hei­li­gen­bild mit ei­ner Halb­fi­gur Jesu über ei­ner Wol­ke, dar­un­ter, auch als Halb­fi­ gu­ren, die Hei­li­gen auf ei­ner brei­te­ren Wol­ke. Auf Ver­so: Ka­tha­ri­na mit dem Schwert; An­dre­as mit dem An­dre­as­kreuz. Zum De­zem­ber: Schwei­ne­schlach­ten mit Mann und Frau; der Stein­bock aus ei­nem Am­ mons­horn. Ni­ko­laus mit den Jun­gen im Bot­tich; Kuß an der Gol­de­nen Pfor­te. Auf Ver­ so: Apo­stel Tho­mas mit sei­nem Mar­ter­in­stru­ment; Sol­dat mit Kind vom Kin­der­mord; un­ten mit dem Stall von Beth­le­hem die An­be­tung des Kin­des, da­bei Jo­seph hin­ter der Mau­er von der Haupt­sze­ne ge­trennt. fol. 13: Jo­han­nes auf Patmos als ganz­sei­ti­ge Mi­nia­tur mit kost­bar per­len-ge­schmück­tem brei­ten Gold­rand so­wie der Ru­brik und dem In­cipit in zwei kal­li­gra­phisch ge­stal­te­ten Zei­len un­ten: Der ju­gend­li­che Jo­han­nes sitzt als Halb­fi­gur nach rechts ge­wen­det vor ei­ nem Hü­gel; der Ad­ler hält das Schreib­zeug. Rechts ein Aus­blick auf Was­ser mit ei­nem Se­gel­schiff und Stadt. Auch die drei an­de­ren Evan­ge­li­sten sind als Halb­fi­gu­ren ge­zeigt, je­doch als Kopf­mi­nia­ tu­ren in ih­ren Schreib­stu­ben ge­ra­de­zu be­engt: Lu­kas (fol. 15v) kon­zen­triert schrei­bend mit Fe­der und Fe­der­mes­ser; der Stier sehr klein in der rech­ten un­te­ren Bil­decke. Mat­ thä­us (fol. 17v) vor ei­nem Maß­werk­fen­ster in ein klei­ne­res Buch ver­tieft, wäh­rend ihm der En­gel, links im Bild, ei­nen Fo­li­an­ten hält, des­sen Zei­len der Evan­ge­list mit den Fin­

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gern ver­folgt. Mar­kus (fol. 19v) mit dem Lö­wen in der lin­ken un­te­ren Bil­decke, mit ei­nem Buch auf dem Pult, ei­nem Schrift­band auf den Knien, spitzt of­fen­bar ge­ra­de sei­ne Fe­der. fol. 21: Zum Ma­rien­ge­bet Ob­secro te die Ma­don­na mit Kind (fol. 21) un­ter ei­nem Bal­ da­chin; der nack­te Kna­be dreht sich nach links und blickt so aus dem Bild hin­aus, als ­rea­gie­re er auf Be­ter im lin­ken Flü­gel ei­nes Diptychons; doch ist fol. 20v ge­gen­über leer. Im Rand rechts ein Pfau, der sein Rad schlägt. Die Schmer­zens­mut­ter zum O in­ teme­rata vor ro­tem Grund (25v) läßt eben­so an ein Diptychon den­ken, bei dem auf dem lin­ken ­Flü­gel der Schmer­zens­mann oder wie in Tours um 1500 üb­lich ein seg­nen­der Chri­stus ge­zeigt wür­de (das wich­tig­ste Bei­spiel vom Mei­ster des Münch­ner Boccaccio im Mu­se­um von Tours: Aus­st.-Kat. Tours 2012, Nr. 31 mit ir­ri­ger Zu­schrei­bung an Bourdichon). Zum Ma­rien­of ­fi­zi­um der üb­li­che Zy­klus: Von der er­staun­li­chen Ge­stal­tungs­kraft des Künst­lers zeugt die Ma­rien­ver­kün­di­gung als ganz­sei­ti­ge Mi­nia­tur (fol. 31): Das In­cipit ist in Blau auf ei­nen gol­de­nen Strei­fen am un­te­ren Rand ge­malt. Die Bild­flä­che wird mit dün­nen gol­de­nen Lei­sten ge­rahmt, die in den Ecken und der Mit­te oben mit fi­li­gra­nem Maß­werk ver­ziert sind. Den In­nen­raum be­stimmt die nach links hin­ten lau­fen­de Per­spek­ti­ve der Flie­sen, die zur bild­par­al­le­ len Rück­wand mit ei­nem Maß­werk­fen­ster füh­ren. Den Ein­druck ei­nes Rau­me­ck­mo­ tivs schafft eine Holz­bank, die den Raum nach rechts be­grenzt und nicht ganz lo­gisch zu ei­nem run­den zelt­ar­ti­gen Bal­da­chin führt, un­ter dem ein Eh­ren­tuch in schwar­zem Gold­bro­kat hängt. Grün ge­füt­tert ist die­ser Bal­da­chin und au­ßen mit Gold aus­ge­schla­ gen, das sich wun­der­bar mit Ga­bri­els Dal­ma­tika ver­bin­det, die eben­so wie sei­ne Flü­ gel in­nen je­nes Blau zei­gen, das Ma­ri­as Man­tel be­stimmt, wäh­rend ihr Kleid in ei­nem hel­le­ren Blau­ton ge­hal­ten ist, der ohne Gold­höhung aus­kommt. An­ders als die mei­sten Zeit­ge­nos­sen läßt un­ser Ma­ler den Erz­en­gel von links ein­tre­ten. Im Be­griff nie­der­zu­ knien, spricht Ga­bri­el die vor ih­rem Bet­pult knien­de Jung­frau an, die sich sacht zu ihm um­dreht, wäh­rend links oben in Gold­strah­len die Tau­be in das fei­er­li­che, aber nicht sa­ kra­le Ge­mach ein­dringt. Kopf­mi­nia­tu­ren in Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren auf far­bi­gen Grün­den er­öff­nen die üb­ri­gen Ma­rien­stun­den; da­bei wech­seln ganz­fig­uri­ge und halb­fig­uri­ge Sze­nen in un­ge­wohn­ter Wei­se; denn of­f en­bar lo­tet der Ma­ler die Mög­lich­kei­ten des so­ge­nann­ten Clo­se-Up aus und rückt recht un­ter­schied­lich nah an sei­ne Fi­gu­ren her­an: Auf den Hü­gel links und den Aus­blick, der rechts über ein brei­tes Ge­wäs­ser zu Tür­ men im Blau der Fer­ne führt, ist das Am­bi­en­te der Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 57v) mit ih­ren Voll­fi­gu­ren be­schränkt. Ma­ria ist von links ge­kom­men, nun in ein­heit­li­ ches und durch­weg mit Gold geh­öhtes Blau ge­klei­det; ihr tritt die grei­se Eli­sa­beth ent­ ge­gen, grö­ßer als die Jung­frau und neigt sich, um mit der Rech­ten de­ren schwan­ge­ren Leib zu füh­len. Ei­nen Aus­schnitt des in Pa­ris ge­wohn­ten Blicks auf den Stall links mit Aus­blick rechts bie­tet die An­be­tung des Kin­des zur Prim (fol. 71): Ma­ria, de­ren Leib ganz im Bild ist,

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rückt nach vorn; ihr schließt sich Jo­seph an, doch drän­gen sich Ochs und Esel zwi­schen bei­de; denn in ihre Krip­pe ist der nack­te Kna­be auf ein wei­ßes Tuch ge­legt. Er schaut zur Mut­ter auf, die mit ge­senk­tem Blick be­tet, wäh­rend Jo­seph sei­nen Hut ge­zo­gen hat und still den Kopf senkt. Ganz­fig­urig, aber von den Bild­rän­dern en­er­gisch be­schnit­ten, sind die drei Män­ner bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 78): Zwi­schen ih­nen öff­net sich der Blick auf eine Land­schaft, die je­ner der Heim­su­chung ähn­lich ist; doch könn­te man nun von ei­nem See von Scha­fen spre­chen. Der En­gel er­scheint in blau­em Ca­maïeu über Gold­strah­len, mit ei­nem nicht les­ba­ren Spruch­band. Ähn­lich nah wie beim Weih­nachts­bild rückt der Ma­ler bei der An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 83) an die Fi­gu­ren her­an. Un­ge­ach­tet der Tat­sa­che, daß das Stall­dach von links ins Bild ragt, tre­ten auch die Kö­ni­ge von links her­bei, so daß Ma­ria au­ßen sitzt, mit dem nack­ten Kna­ben auf dem Schoß. Der wen­det sich vom äl­te­sten Kö­nig ab; kei­ ner der drei bringt eine Gabe. Kon­ven­tio­nell ganz­fig­urig und im zu­rück­hal­ten­den Ko­lo­rit der Ver­kün­di­gung ähn­lich wird die Dar­brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 89) ge­zeigt mit Ma­ria, die links vor dem un­be­deck­ten Al­tar kniet, wäh­rend Simeon, nim­biert, aber nicht als Prie­ster ge­kenn­ zeich­net, den Je­sus­kna­ben auf ei­nem Tuch hält, um ihn zu­rück­zu­rei­chen. Eine Magd mit Tau­ben­körb­chen und ho­her Ker­ze hat die Jung­frau eben­so wie der Zieh­va­ter Jo­ seph be­glei­tet. Das Clo­se-Up bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 95) ist be­son­ders un­ge­wöhn­ lich; denn der Ma­ler hat sich of­fen­bar am Esel ori­en­tiert, setzt den Aus­schnitt mit dem Bauch­kon­tur des Tiers an, des­sen Hin­ter­teil eben­so wie der hal­be Kopf hin­ter der Bild­ gren­ze ver­schwin­det. Vor der ge­wohn­ten Land­schaft mit dem nach rechts an­stei­gen­ den Hü­gel, wo ein Göt­ze von ei­ner Säu­le fällt, er­scheint Ma­ria en face mit dem wei­ßen Wickel­kind, ge­folgt von Jo­seph. En­ger wirkt der Raum bei der Ma­rien­krö­nung zur Komplet (fol. 103): Vor braun­schwar­ zer Wand, die sich links oben zu ei­nem Him­mel vol­ler blau­er Che­rub­im öff­net, kniet Ma­ria links, be­reits ge­krönt, ge­ra­de­zu vor Got­tes Schoß, wäh­rend Gott­va­ter mit der Tia­ra sehr viel hö­her im Bild auf­ra­gend sie seg­net. fol. 110: Ent­we­der war der Ma­ler mit Pa­ri­ser Ge­pflo­gen­hei­ten nicht all­zu eng ver­traut oder er sah sei­ne Chan­ce dar­in, zu­wei­len mit ei­ge­nen ikono­gra­phi­schen Ent­schei­dun­ gen her­vor­zu­ste­chen. So zeigt er zur Matutin von Hei­lig Kreuz statt der Kreu­zi­gung den Kreuz­tra­gen­den Chri­stus als Halb­fi­gur (fol. 110): Im en­gen Bild­feld trägt Je­sus das Kreuz mit dem Stamm vor­aus; ein Scher­ge zerrt ihn mit ei­nem Seil, wäh­rend sich ein zwei­ter in et­was zu klei­ner Pro­por­ti­on noch vor den Quer­bal­ken drängt, um auf Chri­ stus ein­zu­schla­gen. Zur Matutin von Hei­lig Geist wird das tra­di­tio­nel­le Pfingst­bild (fol. 119) ähn­lich vom Bild­rand be­schnit­ten, wie das schon bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung ge­sche­hen war: Die

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streng sym­me­tri­sche Kom­po­si­ti­on setzt mit Pe­trus und Jo­han­nes ein und führt über ei­ nen Mar­mor­bo­den zum mit ro­sa­far­be­nem Tuch ver­häng­ten Sockel von Ma­ri­as Sitz. Sie nimmt mit der Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes über ih­rem Kopf die Mit­tel­ach­se ein. Um ein we­nig mehr Platz für sei­ne Dar­stel­lung zu ge­win­nen, hat der Ma­ler das In­cipit des Schrei­bers durch eng ne­ben­ein­an­der ge­mal­te Gold­buch­sta­ben er­setzt, die auf ein tief­ blau­es Schrift­band ge­malt sind, das mit ei­nem lo­sen Ende rechts vor die Sze­ne ge­klebt zu sein scheint. fol. 126: Auch das In­cipit der Buß­psal­men wird auf ei­nen Strei­fen un­ter dem Bild ver­ setzt; dort ste­hen dann wie bei der Ver­kün­di­gung blaue Buch­sta­ben auf Gold; denn die Hier­ar­chie ver­langt wie­der eine ganz­sei­ti­ge Dar­stel­lung: Vor der Pa­last­mau­er, die von links vorn nach rechts hin­ten ver­läuft, steht der zier­li­che go­ti­sche Brun­nen und sorgt für ei­nen Teich im Grü­nen; dort, ne­ben ei­nem win­zi­gen Schwan, sieht man Bat­hseba im Bade (fol. 126), mit zwei sehr viel klei­ne­ren Die­ne­rin­nen, die vor nied­ri­gen Bäum­ chen auf der Wie­se sit­zen; sie ist züch­tig in ein wei­ßes Hemd ge­hüllt, was Net­te­koven 2016, S. 229, als „eine Art Mar­ken­zei­chen des Ma­lers“ an­spricht. Kö­nig Da­vid blickt, von ­ei­nem jün­ge­ren Mann be­glei­tet, aus ei­nem Fen­ster her­ab, mit sei­nem Zep­ter in der Hand. fol. 149: Das er­staun­li­che Tem­pe­ra­ment des Ma­lers tritt am hef­tig­sten in der eben­falls ganz­sei­ti­gen Mi­nia­tur zur To­ten-Ves­p er zu Tage. In­dem er Urias Tod auf dem Schlacht­ feld (fol. 149) dar­stellt, setzt er sich über Kon­ven­tio­nen bei der Wahl des The­mas hin­ weg; denn die­se Sze­ne ge­hört, wie wir in Nr. 36 und Nr. 44 se­hen, zu den Bil­dern der Buß­psal­men; auch in ge­druck­ten Stun­den­bü­chern, wo das The­ma wohl zum er­sten Male bei Du­pré um 1488 in ei­ner recht ähn­li­chen, aber kei­nes­wegs iden­ti­schen Kom­po­si­ti­on (Horae B. M. V. IX , S. 3924, Nr. 14) vor­kommt und di­rekt ne­ben Bat­hsebas Bad steht, sucht man Urias Tod im To­ten­of ­fi­zi­um ver­geb­lich; im­mer­hin kennt Net­te­koven 2016, Abb. 140, eine Par­al­le­le vom Mei­ster der Traités théologiques, eben­falls zur To­ten-Ves­ per. So vor­nehm Bat­hseba ge­zeigt wur­de, so ent­schie­den be­greift man ih­ren Ge­mahl Uria als ei­nen Heer­füh­rer in Da­vids Dien­sten. Des­halb kommt es ihm zu, auf dem ein­zi­gen Schim­mel zu rei­ten; so stirbt er, von der Lan­ze ei­nes ganz in Gold ge­rü­ste­ten Fein­des durch­bohrt (im eben ge­nann­ten Par­al­lel­bei­spiel siegt der Rei­ter auf dem Schim­mel). Un­ ter der Rei­ter­schlacht kämp­fen noch ein­zel­ne Leu­te vom Fuß­volk; die idyl­li­sche Land­ schaft steht in kras­sem Ge­gen­satz zur Hef­tig­keit des Gesch­ehens; in an­de­rem Kon­text wäre die Mi­nia­tur als be­lie­bi­ge Hi­sto­ri­en­dar­stel­lung zu nut­zen. fol. 203: Die Suff­ragien er­öff­nen Klein­bil­der mit Halb­fi­gu­ren, meist ohne wei­te­re Ge­stal­ ten: Nackt ist Se­ba­sti­an (fol. 203) an ei­nen Baum ge­bun­den, mit Pfei­len be­spickt, al­lein. Bi­schof Bla­si­us (fol. 204v) steht mit Woll­kamm und Buch vor ei­ner Kir­chen­wand. Je­ sus er­weckt den nack­ten La­za­rus (fol. 205v) in ei­ner Land­schaft. Adri­an (fol. 206) sieht man im Pro­fil nach rechts ge­wen­det; links taucht der Löwe auf, rechts der Am­boß; der Hei­li­ge trägt ein Män­tel­chen über der gol­de­nen Rü­stung und ei­nen blau­en Hut. Bi­schof Clau­di­us (fol. 207) mit loth­rin­gi­schem Dop­pel­kreuz. Eng be­grenzt ist das Bild­feld der Stig­ma­tisat­ion des hei­li­gen Fran­zis­kus (fol. 208). Ni­ko­laus (fol. 208v) seg­net als Bi­schof

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die drei nack­ten Kna­ben in ei­ner Kir­che. Bei den weib­li­chen Hei­li­gen er­lahmt die Bild­ phan­ta­sie des Ma­lers, der sie ein­zeln in die Land­schaft stellt und ge­ra­de noch ein we­nig von ih­ren At­tri­bu­ten zeigt: Mag­da­le­na (fol. 209) mit Salb­faß. Ka­tha­ri­na (fol. 210) mit Schwert. Apol­lo­nia (fol. 210v) mit Zahn­zan­ge. Bar­ba­ra (fol. 212v) mit Turm. Gen­ovefa (fol. 213v) mit Ker­ze, die aber ge­nau­so wie der Kampf von En­gel und Teu­fel vom obe­ren Bild­rand ab­ge­schnit­ten ist. Zu­schrei­bung Die­ses Stun­den­buch ist trotz der bril­lan­ten und kom­plet­ten Er­hal­tung zwar hi­sto­risch nicht so be­deu­tend wie das na­men­ge­ben­de Werk, das An­thoine Vér­ard für Karl VIII . an­fer­ti­gen ließ; doch die fa­rb­star­ke Ma­le­rei und das raf ­fi­nier­te Spiel mit dem Clo­se-Up macht aus die­sem Werk ei­nes der ein­drucks­voll­sten Ma­nu­skrip­te des Ma­lers, der auch die nun fol­gen­de Hand­schrift Nr. 36 ge­stal­tet hat. Den Künst­ler hat Ina Net­te­koven in der Bi­ber­müh­le ken­nen und schät­zen ge­lernt; in­zwi­schen hat sie ihm eine reich be­bil­ der­te Mo­no­gra­phie ge­wid­met, die ne­ben zwei in Schwei­zer Pri­vat­be­sitz lie­gen­den Stun­ den­bü­chern aus un­se­ren frü­he­ren Be­stän­den ein Œuvre zu­sam­men­stellt (Net­te­koven 2016, S. 225-230), zu dem drei Stun­den­bü­cher in der Pa­ri­ser Ar­se­nal­bi­blio­thek (Ms. 414, 1176 und 1181) und das Stun­den­buch cod. Brev. 5 der Würt­tem­ber­gi­schen Staats­bi­blio­ thek in Stutt­gart, eine Mi­nia­tur im Bre­vier lat. 1289 der BnF so­wie die hier be­schrie­ be­ne Hand­schrift ge­hö­ren. Hin­zu kom­men zwei Stun­den­bü­cher bei Sot­heby’s Lon­don und ein nicht be­mer­kens­wer­tes Bei­spiel in un­be­kann­tem Pri­vat­be­sitz, das Jim Marrow zu­gäng­lich ge­macht hat und eine Zu­sam­men­ar­beit un­se­res Ma­lers mit dem Mei­ster der Traités théologiques do­ku­men­tiert (zu ihm sie­he hier Nr. 32). In der Re­gel scheint der Ma­ler auch sehr um­fang­rei­che Ma­nu­skrip­te durch­weg ei­gen­ hän­dig il­lu­mi­niert zu ha­ben. Ne­ben der ge­nann­ten Zu­sam­men­ar­beit mit dem Mei­ster der Traités weist Net­te­koven auf Ka­len­der­bil­der des Mei­sters der Mett­ler-Pèleri­na­ge in Ar­se­nal 414 hin (2016, S. 225). Trotz ih­rer Be­mü­hun­gen blei­ben Bil­der­hand­schrif­ten die­ses Künst­lers rar; sie selbst er­wägt so­gar, ihn mit dem be­rühm­ten Pa­ri­ser Ver­le­ger An­thoine Vér­ard zu iden­ti­fi­zie­ren (zu­letzt eben­da, S. 233). Sti­li­stisch steht der Ma­ler den Gra­phi­ken des Mei­sters der Gran­des Heu­res für Vér­ard nahe, teilt mit ih­nen aber kaum eine ein­zel­ne Bild­idee. Be­mer­kens­wert ist wie in al­len Hand­schrif­ten des Mei­sters von Karl VIII . der freie Um­ gang mit ikono­gra­phi­schen Kon­ven­tio­nen. Ein über­quel­lend reich be­bil­der­tes, voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch ei­ nes Künst­lers, der bei der Ent­wick­lung des durch un­ge­mei­nen Bil­der­reich­tum ex­ zellier­en­den Buch­drucks in Pa­ris eine be­deu­ten­de Rol­le ge­spielt hat und den sei­ne Hi­sto­rio­graph­in so­gar ver­suchs­wei­se mit An­thoine Vér­ard iden­ti­fi­zie­ren möch­te. Fa­rb­frisch und ein­drucks­voll, mit für den Künst­ler ty­pi­schen ikono­gra­phi­schen Frei­ hei­ten, führt die­ses Ma­nu­skript ein in die Welt ei­nes Buch­ma­lers, des­sen Bild­phan­ ta­sie im Ka­len­der eben­so tri­um­phiert wie sein Sinn für sonst kaum er­prob­te Fa­rb­

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wir­kun­gen, ins­be­son­de­re mit schwar­zen Grün­den. In kei­nem an­de­ren Werk zeigt er sich zu­dem so von den Mög­lich­kei­ten fas­zi­niert, ge­läu­fi­ge Sze­nen in un­ter­schied­ li­cher Nähe zu ge­stal­ten. LI­T E­R A­T UR : Net­te­koven 2016, S. 229: in der Über­schrift „Pri­vat­be­sitz Schweiz“, in Anm. 146 und in ei­ni­gen Abb.-Un­ter­schrif­ten dann doch „Bi­ber­müh­le“.

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36 Das Stun­den­buch der Je­han­ne Hen­ne­quin vom Mei­ster Karls VIII.


S. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift mit einem Kalender in französischer Sprache auf Pergament, Rubriken in Rot, geschrieben in schwarzer Bastarda. Paris, ca. 1490: Meister Karls VIII. 16 Bilder: vier große Bildseiten aus Hauptbild und Bas-de-page in eindrucksvollen goldenen Architekturrahmen, davon eines noch mit einer Kombination aus Bild-Initiale und zweitem Bildfeld, mit drei Zeilen Incipit und dreizeiligen Initialen in weißem Akanthus auf Pinselgold; vier schmale Bildfelder im Textspiegel, sechs, sieben oder acht Zeilen hoch; drei achtzeilige mit Bogenabschluß versehene Randbilder in Kompartiment-Bordüren, die nur die Höhe des Textspiegels einnehmen; solche Bordürenstreifen zu allen Incipits, die mit größeren Initialen eröffnen: acht Textanfänge mit drei- bis vierzeiligen AkanthusInitialen. Die kleineren Zierbuchstaben in Pinselgold auf abwechselnd braunrotem und blauem Grund: zu Psalmenanfängen zweizeilig, zu Psalmenversen im Textverlauf einzeilig; nur wenige Zeilenfüller, die dann in gleicher Art oder als Knotenstock mit Pinselgoldhöhung ausgeführt sind. Versalien gelb laviert. 154 Blatt Pergament, vorne und hinten je vier Blatt Papier als ein festes und drei fliegende Vorsätze. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 1 (12), 2 (6), 7 (8-1: das Endblatt fehlt ohne Textverlust), 18 (6) und die Endlage 20 (8-3: das zweite und die beiden Endblätter entfernt). Rot regliert zu 18 Zeilen; Reklamanten in der Textschrift, teils abgeschnitten. Klein-Oktav (144 x 98 mm, Textspiegel: 79 x 47 mm). Vollständig, breitrandig und frisch erhalten (eine Miniatur unten unmerklich ergänzt). Weinroter Samteinband mit Eckbeschlägen und zwei Schließen in Silber; die obere Schließe defekt. Goldschnitt. Provenienz: Ein Eintrag aus dem mittleren 16. Jahrhundert in schwarzer Tinte auf fol. 154v: „Ce presan livre a este / faict po(ur) Jehanne Hennequin / grandmere de Anne Le / Conte ma mere“. Diese Jehanne H. gehörte wie die Liboron, Mauroy, Le Peley oder Molé zu der führenden patrizischen Schicht von Troyes. Sie war mit Nicolas Mauroy („lieutenant général du bailliage & siège présidiale de Troyes“) verheiratet und starb 1495, also kurz nach Verfertigung unseres Manuskripts. Ihr Bruder François hatte eine Tochter, ebenfalls mit Namen Jehanne, die Guillaume Le Conte („bourgeois de Paris“) heiratete. Anne Le Conte muss deren Tochter gewesen sein. Ein Wappenschild unter dem Verkündigungsbild auf fol. 19 zeigt einen steigenden schwarzen Löwen, allerdings eher mit Bärenkopf vor einem horizontal geteilten Schild, Rot über Gold. Jean L. Deuffic vermutet, dass es sich hierbei um das Wappen des Duc de la Vallière handelt (evtl. seine erste Auktion 1767, Nr. 273: „…relié en velours cramoisy.“).

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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, fast jeder Tag besetzt: Vielleicht sollten einzelne Feste in Gold eingetragen werden. Die Goldene Zahl und die Kürzel der römischen Tageszählung sowie die Heiligenfeste in Rot, die Sonntagsbuchstaben A als goldene Initialen abwechselnd auf Blau und Rot, die übrigen Sonntagsbuchstaben und die einfachen Heiligentage in Schwarz. Die dialektale Färbung und die Heiligenauswahl deuten auf Paris: als Fest Germain 28.4. und 28.5., Leu und Gilles 1.9., Denis 9.10., Ladre 17.12. fol. 13: Perikopen: Johannes, als Suffragium (fol.13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 17v). fol. 19: Marienofzium für den Gebrauch von Paris (die Antiphon zur Prim abweichend: Tota pulchra), mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Marien-Matutin (fol. 19 mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 40v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 50v), Matutin von Heilig Geist (fol. 51v), Marien-Prim (fol. 52), Terz (fol. 57v), Sext (fol. 61), Non (fol. 64), Vesper (fol. 68), Komplet (fol. 73). fol. 79: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 88v), darunter auffällig viele Patrone von Pariser Kirchen: Gervasius, Marcellus, Germanus, Sulpicius, Severinus, Maglorius, Medericus, dazu Landicus, Regulus, Arnulfus, Lupus, Symphorianus, Bricius, Oportuna – jedoch ohne Genovefa, die im Kalender vielleicht in Gold eingetragen werden sollte: der 3.1. blieb leer. fol. 96: Totenofzium, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 96), die anderen Stunden nicht bezeichnet: Matutin (fol. 102), Laudes (fol. 115v). fol. 120: Passion nach Johannes, mit Schlußgebet: Domine ihesu Xpe respicere digneris (fol. 130v). fol. 131: Sufragien: Maria, mit dem Salve regina als Antiphon (fol. 131); Michael (fol. 131v); Johannes der Täufer (fol. 132); Petrus und Paulus (fol. 132v); Jakobus (fol. 133); Johannes der Evangelist, danach Andreas (fol. 133v); Lorenz (fol. 134); Sebastian (fol. 134v); Christophorus (fol. 135); Nikolaus, danach Martin (fol. 136); Bartholomäus (fol. 136v); Stephanus (fol. 137); Dionysius (fol. 137v); Anna (fol. 138v); Katharina (fol. 139); De scta Genoveva (fol. 139v); Arragonda (dialektale Sonderform für Radegundis: fol. 140); Margareta, danach Magdalena (fol. 140v); Barbara (fol. 141); Petrus Martyr (fol. 142); De omnibus sanctis (fol. 144); De sancta cruce (fol. 145); Martha (fol. 145v); Lazarus (fol. 146). fol. 147: O bone ihesu. fol. 148v: Sufragium Christophorus. fol. 150: Mariengebet: O intemerata, für einen Mann redigiert: miserrimo peccatori mit einer Textlücke von einem Blatt vor fol. 151.

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Schrift und Schriftdekor Geschrieben ist das Manuskript in einer Übergangsform zwischen Bastarda und moderneren Schrif ten, die man am besten als fere-humanistica bezeichnet. Die Versalien gelb laviert. Die Psalmenverse setzen nicht in einer neuen Zeile an; deshalb sind nur wenige Zeilenfüller nötig, die, wenn nicht in gleicher Art, als Knotenstock mit Pinselgoldhöhung ausgebildet sind. Die kleineren Initialen sind rasch mit dünnem Pinselgold und auch in dürren Formen ausgeführt. Auch die vier Perikopen eröffnen mit solchen Initialen, obwohl für Evangelistenbilder Platz im Textspiegel gelassen ist. Recht plastischer weißer Akanthus setzt dagegen die drei- bis vierzeiligen Zierbuchstaben ab, die beispielsweise für die weitgehend unbebilderten Marienstunden und die Matutin von Heilig Kreuz und Heilig Geist eingesetzt sind. Randschmuck bleibt auf Texte mit zweizeiligen und größeren Initialen beschränkt; durchweg herrscht das Prinzip der Kompartiment-Bordüre mit Blumen auf Gold und buntem Akanthus auf farbigen Feldern. Auch bei den Perikopen genügen dazu Streifen in Höhe des Textspiegels. Die vier großen Bildseiten verzichten auf solchen Randschmuck; sie sind von goldenen Architekturen gerahmt. Damit bewegen sich Schrift und Schriftdekor ganz auf der Höhe der Jahrzehnte um 1500. Bildfolge fol. 13: Die vier Perikopen sind mit Evangelistenporträts bebildert: Johannes auf Patmos als Kniestück, jugendlich, mit dem Adler rechts und einem Blick auf einen Hügel links, ohne Hinweis auf das Wasser (fol.13); die zwei folgenden als Halbfiguren mit ihren Attributswesen in dunklen Räumen: Lukas (fol. 14v) mit dem Stier links wendet sich nach rechts und schneidet seine Feder; Matthäus (fol. 16) sitzt leicht nach links gewendet mit einem Buch und dreht sich um zum Engel, der ihm ein zweites Buch vorhält; Markus (fol. 17v) wieder als Kniestück und jugendlich bartlos, über ein Schriftband geneigt, links neben ihm der Löwe in ähnlichem en face wie der Stier. fol. 19: Im Textblock aus dem Marienofzium und den eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist erhält nur die Marien-Matutin eine große Bildseite, sonst sind nur die Matutin der Horen und die Marien-Terz im Randfeld bebildert: Die Marienverkündigung (fol. 19) spielt in einem durch ein Maßwerkfenster erhellten Sakralraum unter einer Renaissance-Kuppel, mit inkonsequent durch die winklig zueinander stehenden Wände begrenztem grünen Fliesenboden. Maria, in grauem Kleid und blauem Mantel kniet links vor einem gotisch geschmückten Betschemel, hat ihr Buch an der berühmten Jesajas-Stelle (7,14) aufgeschlagen; fragmentarisch ist noch ecce (virg) o/ con(cip) zu lesen. Ein runder Baldachin hängt über ihrem Kopf so niedrig herab, daß sie sich kaum erheben könnte. Mit fassungslos ausgestreckten Händen wendet sie sich zum Engel um, der weniger raumgreifend, sehr jugendlich als Diakon in goldener Dalmatika über der Albe und mit außen blauen, innen weißen Flügeln erscheint. Er ist

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von rechts eingetreten, im Begriff niederzuknien, und weist mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Taube, die auf goldenen Strahlen aus dem Couronnement des leuchtend hellen Maßwerkfensters eingedrungen ist. Das Incipit wird nach rechts durch ein blindes Maßwerkfenster begrenzt. Darunter öffnet sich der Blick in eine wenig differenzierte Landschaft: Von zwei Säulen wird das Bas-de-page geteilt: Um das zentral gestellte Wappenschild mit steigendem Löwen vor Gold und Rot sind zwei Propheten ganzfigurig gestellt; sie blicken zu den Seiten, als sprächen sie ein großes Publikum an, und weisen mit Zeigefingern nach oben zum Hauptbild. Zur Matutin von Heilig Kreuz (fol. 50v) ist in die Bordüre neben die vierzeilige AkanthusInitiale ein rechteckiges Bild von acht Zeilen Höhe gesetzt, dessen goldene Rahmen in der Senkrechten über das Randfeld hinausreichen. Vor einem wie in anderen Miniaturen unserer Handschrift nach links ansteigenden Hügel erscheint der Kreuztragende Christus, nach rechts gewendet, in einem eindrucksvollen Bildausschnitt, der im Blau der Ferne rechts hinten Türme einer Phantasie von Jerusalem erblicken läßt. Nur drei Zeilen hoch ist die Akanthus-Initiale zur Matutin von Heilig Geist (fol. 51v), wieder in der Bordüre von einem acht Zeilen hohen Bild begleitet, das einen Bogenabschluß erhält. Dargestellt ist das Pfingstwunder mit den eng gedrängten Halbfiguren der Apostel, die von Petrus und Maria angeführt werden und in deren Mitte der jugendliche Johannes erkennbar wird; er schaut innig auf zur Taube des Heiligen Geistes, die in einer goldenen Gloriole den Bogen füllt. Während die Prim (fol. 52) nur mit einem zweizeiligen Buchstaben eröffnet, erhalten die weiteren Marienstunden dreizeilige Akanthus-Initialen. Nur die Terz (fol. 57v) wird von einem nun etwas schmaleren Bildfeld in der Bordüre begleitet, das wiederum mit einem Bogen abschließt; in dem erscheint in blauem Camaïeu der Engel über einer ähnlich wie bei der Kreuztragung gestalteten Landschaft mit Blick auf Türme. Vorn links sitzt ein jugendlicher, bartloser Hirte in Rot, Blau und Weiß, er schützt seine Augen, während ein Bärtiger von rechts im Profil zum Engel aufschaut. fol. 79: Die Bußpsalmen eröffnen mit einer besonders auf wendig geschmückten Bildseite, die den Textanfang am gewohnten Platz beläßt; David als Harfner erscheint in der Initiale und blickt hinüber zu einem Bogen, in dem sich eine Frau mit nackten Brüsten zeigt; beide Bildfelder ergeben also eine Darstellung von David und Bathseba, deren Ehebruch direkt auf die Bußpsalmen bezogen wurde. Die Hauptminiatur zeigt die in Stundenbüchern sehr selten dargestellte erste Salbung Davids, der unter den Augen seines Vaters Jesse (Isai) und eines seiner Brüder kniend vom greisen Samuel gesalbt wird. Ein Weg führt in eine Stadt, die im Hintergrund – ganz gegen die biblische Erzählung – mit der Doppelturmfassade eines Sakralbaus erstaunt, der mit den Zwiebelkuppeln auf den Türmen irritierend an Bilder des Tempels von Jerusalem in Jean Fouquets Stundenbuch des Étienne Chevalier denken läßt. Im Bas-de-page wird die Erzählung aus dem Hauptbild weitergeführt: Dort sind David und Goliath gezeigt. Links vorn ist der Riese in bunter Rüstung bereits vom Stein getroffen und zu Boden gesunken; David, dessen Schleuder noch in der Luft steht, schaut mit dem Hirtenstab in der Hand von rechts auf

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sein Op­fer. Zwei Sta­tu­en im Gold­camaïeu der Ar­chi­tek­tur mö­gen auf Da­vid und den Pro­phe­ten Na­than an­spie­len, der nach dem Ehe­bruch mit Bat­hseba und der schlau­en Er­mor­dung des Uria Da­vids Ver­bre­chen ent­hüllt. fol. 96: Die To­ten­ves­p er er­öff­net mit der Er­weckung des La­za­rus als Haupt­bild: Die räum­li­che Dis­p o­si­ti­on läßt an die gro­ße Ta­fel des­sel­ben Su­jets im Lou­vre den­ken, die der Co­ëtivy-Mei­ster ge­schaf­fen hat: Den Vor­der­grund nimmt ein mit ei­ner Mau­er nach hin­ten ab­ge­grenz­ter Fried­hof ein; im Hoch­for­mat un­se­rer Mi­nia­tur ist auf die Apo­stel­ schar eben­so wie auf die vie­len Zu­schau­er ver­zich­tet. Chri­stus ist von links aus dem Tor her­aus­ge­tre­ten, ge­folgt von ei­ner nimbierten Ge­stalt, eher Mar­tha als Jo­han­nes; rechts ne­ben ihm kniet Mag­da­le­na. De­ren Bru­der La­za­rus, der nicht nim­biert ist, an den aber im Buch eben­so wie an Mar­tha und Mag­da­le­na ein Suff­ragium ge­rich­tet ist, sitzt im of­ fe­nen Grab, noch in sei­ne Lei­chen­tü­cher ge­hüllt. Wie beim Co­ëtivy-Mei­ster löst Pe­trus die Fes­seln des To­des von den Hand­ge­len­ken; ei­ner der bei­den Be­trach­ter rechts hält sich an­ge­sichts des Lei­chen­ge­ruchs ein Tuch vor die Nase. Zu die­ser Sze­ne rich­tet sich das Ge­bet ei­ner Sta­tu­et­te in Gold­camaïeu rechts. Das Bas-de-page war­tet mit ei­ner Sze­ne von Frau und Tod auf: Aus dem Zu­sam­men­ hang des To­ten­tan­zes ge­löst wird dort ge­zeigt, wie eine Frau nach links zu flie­hen ver­ sucht, aber be­reits vom led­ri­gen Tod am Ober­arm ge­faßt ist, da­mit sie des­sen ge­gen sie ge­rich­te­tem Speer nicht ent­kommt. Ni­cole Reynaud hat die­sel­be Sze­ne in ei­nem Stun­ den­buch für Chartres (Pa­ris, BnF, latin 1421, fol. 93v) in der Fas­sung vom Mei­ster der Traités théologiques als eine der un­ge­wöhn­lich­sten Er­fin­dun­gen be­zeich­net (Avril und Reynaud 1993, Nr. 146, S. 268 mit Abb.). fol. 120: Die Jo­han­nes-Pas­si­on, de­ren Text hier mit dem Gang zum Öl­berg be­ginnt, er­ öff­net mit zwei Sze­nen aus dem Gar­ten Geths­emane: Das Ge­bet am Öl­berg wird un­ter tief­blau­em Him­mel, aber mit voll­far­bi­gen Ge­wän­dern in ei­ner Land­schaft ge­zeigt, die wie­der ge­nau­so auf­ge­baut ist wie in be­schei­de­ne­ren Mi­nia­tu­ren die­ses Buchs: Zum gol­ de­nen Kelch links oben be­tet Je­sus im Pro­fil, un­ten schla­fen Pe­trus, Ja­kob­us und Jo­han­ nes. Ein Holz­steg führt rechts über den Bach Kidron zu ei­nem höl­zer­nen Tor­ge­bäu­de. Im Bas-de-page wird der Ju­das­kuß als eine dicht ge­dräng­te Sze­ne von Halb­fi­gu­ren dar­ ge­stellt, die auch von der obe­ren Bild­gren­ze ab­ge­schnit­ten wer­den. Die Sze­ne wird nicht nach dem ge­wohn­ten Kom­po­si­ti­ons­sche­ma in­sze­niert: Links hat Pe­trus mit Mal­chus recht viel Raum, so daß so­gar noch Blick auf Land­schaft und dunk­len Him­mel ge­währt wird. Je­sus greift nach dem Ohr des Kriegs­knechts und wen­det sich wie im Ge­spräch zu Ju­das um, der im Pro­fil die ei­gent­li­che Zen­tral­fi­gur der Kom­po­si­ti­on ist. fol. 131: Die Suff­ragien sind be­schei­den ge­stal­tet: Bis auf das mit ein­zei­li­ger In­itia­le er­ öff­ne­te Sal­ve re­gi­na er­öff­nen sie mit ei­ner ein­fa­chen Vers­alie; nur ihr Ab­schluß­ge­bet er­ hält eine zweiz­ei­li­ge In­itia­le. Dem in ihre Fol­ge ein­ge­füg­ten Ge­bet O bone ihesu (fol. 147) ist in­des eine dreiz­ei­li­ge Akanthus-In­itia­le ge­ge­ben. fol. 150: Als letz­ter Text wird das Ma­rien­ge­bet O in­teme­rata mit ei­ner am Sei­ten­en­de nur sie­ben Zei­len ho­hen Mi­nia­tur ver­se­hen: Ge­gen die sonst gül­ti­ge Seh­rich­tung ragt der

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Hü­gel hin­ter Ma­ria mit­tig auf, mit ei­nem Blick in die Fer­ne links. Zur Pi­età hockt die Mut­ter­got­tes vor dem Hü­gel; man hat ihr den to­ten Sohn auf den Schoß ge­legt; sie faßt mit ih­ren Hän­den des­sen rech­ten Arm und sei­nen Leib. Die Be­schnei­dung der Köp­fe gibt der Dar­stel­lung eine ge­wis­se Dra­ma­tik. Zu­schrei­bung Noch ein­mal tritt mit die­sem Stun­den­buch der­sel­be Ma­ler in un­ser Blick­feld, der auch die vor­aus­ge­gan­ge­ne Hand­schrift Nr. 35 ge­stal­tet hat: Den recht be­schei­de­nen Auf­trag, bei dem man sich viel­leicht nicht schlüs­sig über die Be­bil­de­rung ge­ei­nigt hat­te, er­füllt er mit der für sein gan­zes Werk cha­rak­te­ri­sti­schen Über­zeu­gungs­kraft. Bil­der­hand­schrif­ ten die­ses Künst­lers sind rar; und man soll­te nicht ver­ges­sen, daß der be­rühm­te Pa­ri­ser Ver­le­ger An­thoine Vér­ard viel­leicht selbst für die Iden­ti­fik­ a­ti­on in Fra­ge kommt (zu­letzt Net­te­koven 2016, S. 233). Be­mer­kens­wert ist wie in al­len Hand­schrif­ten des Mei­sters von Karl VIII . der freie Um­ gang mit ikono­gra­phi­schen Kon­ven­tio­nen. So zeigt er zu den Buß­psal­men, die in Ge­bet­ bü­chern un­ge­mein sel­te­ne er­ste Sal­bung Da­vids durch Sa­mu­el, die we­nig spä­ter an pro­ mi­nen­te­ster Stel­le, zu Be­ginn des Tex­tes im Breviarium Gri­mani, in ei­nem gro­ßen Bild der Benings vor Au­gen ge­führt wer­den soll­te. Ein spar­sam be­bil­der­tes, voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch ei­nes Künst­ lers, der bei der Ent­wick­lung des un­ge­mein bil­der­rei­chen Buch­drucks in Pa­ris eine be­deu­ten­de Rol­le ge­spielt hat, fa­rb­frisch und ein­drucks­voll, breit­ran­dig und mit für den Künst­ler ty­pi­schen ikono­gra­phi­schen Frei­hei­ten, dazu ausgezeichnet durch dein Eintrag zu den ersten Besitzerinnen Jehanne Hennequin und Anne Le Conte. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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37 Das Stun­den­buch der Je­an­ne Ro­bert vom Gag­uinMei­ster


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Reims. Lateinische Handschrift Braun und Rot auf Pergament, in Bastarda. Paris, um 1495: Meister des Robert Gaguin 15 Bilder; davon neun große über sechs Zeilen Text mit Akanthus-Initialen und Vollbordüre sowie sechs Kleinbilder im Textspiegel mit Bordürenstreifen außen: zwei neunzeilig, zwei achtzeilig sowie eines sieben- und eines sechszeilig; der gesamte Randschmuck ist auf Kompartiment-Bordüren mit farbigen und goldenen Gründen eingestellt; die hierarchisch höher gestellten Incipits, Bußpsalmen, Matutin von Kreuz und Geist sowie Toten-Vesper haben Randschmuck auf ungeteilten Fonds in Pinselgold. Die größeren Zierbuchstaben in stilisiertem Akanthus: zwei vierzeilig und sieben dreizeilig; zweizeilig bei Psalmenanfängen und entsprechenden Texten, der Buchstabenkörper abwechselnd weiß und blau – nur diese Seiten sind mit Randstreifen außen hervorgehoben; bei Psalmenversen, die im Zeilenverlauf stehen, einzeilige Pinselgoldbuchstaben abwechselnd auf braunen, blauen und roten Flächen. Versalien gelb laviert. 89 Blatt Pergament, dazu feste Vorsätze und Endblatt hinten ebenfalls aus Pergament; ein weiteres Doppelblatt Pergament vorn, davor noch ein Blatt Papier der Zeit um 1713. Gebunden in Lagen vorwiegend zu acht Blatt; davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), die um ein Blatt vor fol. 27 beraubte Lage 4 (8-1), die um ihr Endblatt beraubte Lage 5 (8-1), die um ein Blatt vor fol. 56 beraubte Lage 8 (8-1) und Lage 11 (6). Keine Reklamanten. Lückenhafte moderne Bleistiftfoliierung rechts oben. Oktav (164 x 112 mm; Textspiegel: 91x 63 mm). Zu 25, im Kalender zu 31 Zeilen Text; rot regliert. Die Textanfänge von Marien-Prim und -Vesper sowie der Toten-Vesper fehlen, sonst völlig makellos erhalten. Einband des 17. Jahrhunderts: schwarzes Maroquin über Holzdeckeln „à la janséniste“ auf fünf erhabene Bünde, ohne Prägung. Provenienz: Monogramm mit J und C, durch Liebesknoten verbunden, in Gold auf einem rotgrundigen Schild auf fol. 14 und in Blau in der Bordüre von fol. 43. Unter dem Beginn des Kalenders auf fol. 1 ein Eintrag: „Jehanne Robert 1611“; darunter zwei Bemerkungen eines Coquebert de Mutry aus dem frühen 18. Jahrhundert, „Coquebert De Mutry Con(seill)er au Parlement“(?) und in dunklerer Tinte: „à Reims“. Die Angaben von fol. 1 werden auf dem Verso des gegenüberliegenden Vorsatzblatts, auf dessen Vorderseite dieselbe Hand noch eine Genealogie der Familie seit 1611 gibt, im Jahre 1713 präzisiert: „Ce Manuscrit m’a été donné le 3e Fevrier 1713. par Madame Perrette Le Jeûne, Veuve de Mr. Jacques Baron, ayeule de mon epouse. Il vient de Jeanne Robert epouse de Mr. Charles Baron, Pere et Mere dudit Sieur Jacques Baron; De la quelle Jeanne Robert, Le Nom en 1611. est ecrit au premier feuillet de ce manuscrit qui par son Caractere paroit avoir eté peint

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longtems avant l’art d’imprimer qui fut inventé depuis 1440. jusqu’en 1450. Ainsi en 1713. il ya environ Trois a quatre cent ans que ce Manuscrit est fait. Coquebert De Mutry Con(seill)er.“ Die Angaben von 1713 legen nahe, ebenjene Jeanne Robert von 1611 und ihren Ehemann Charles Baron in den in die Bordüren gemalten Monogrammen zu erkennen. Ob der Schild auf fol. 14 und vor allem die Buchstaben auf fol. 43 wirklich so viel später als die Bordüren gemalt sind, mag jedoch bezweifelt werden. Text fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt; die Goldene Zahl, der Sonntagsbuchstabe A und die Heiligenfeste in Rot; die einfachen Heiligentage in Braun; die ungemein sorgfältig redigierte Heiligenauswahl zeigt, daß man mit dem Formular nicht vertraut war; übereinstimmend mit dem Gebrauch der Ofzien weist alles auf Reims: Rigoberti archepi. (4.1. mit Translatio 14.6.), Remigii et Hylarii (13.1. als Fest), Machre virg. et mart. (2.3.), Bone et Dode mart. (24.4), Translatio Eligii conf. (25.6.), Nicasii (Fest, eigentlich Translatio 23.7., ebenso 14.12.) Arnulphi (von Metz: 18.7. und 16.8., ohne Spezifizierung), Translatio Remigii (Fest 1.10.); dazu zahlreiche Angaben zu Jahresabschnitten, zur Indiktion usw. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 7v), Matthäus (fol. 8v), Markus (fol. 9). fol. 10: Mariengebete: Obsecro te (fol. 10), O intemerata (fol. 11). fol. 14: Marien-Ofzium für den Gebrauch von Reims: Matutin (fol. 14), Laudes (fol. 23), Prim (Anfang fehlt vor fol. 27), Terz (fol. 30v), Sext (fol. 33), Non (fol. 35), Vesper (Anfang fehlt vor fol. 37), Komplet (fol. 40); fol. 40v leer. fol. 43: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 43), des Heiligen Geistes (fol. 45). fol. 47: Bußpsalmen mit Litanei (fol. 53), deren äußerst reichhaltige Heiligenauswahl, oft mit bis zu drei Namen pro Zeile bei 75 Zeilen insgesamt, weist wiederum auf Reims: Nicasius am Ende der Märtyrer, Remigius, Alpinus (von Lyon), Mennius (Châlons-surMarne) unter den Jungfrauen die Reimser Bona und Doda. fol. 56: Totenofzium für den Gebrauch von Reims: Vesper (Anfang fehlt vor fol. 56), die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 57v), Laudes (fol. 69v). fol. 76: Sufragien ohne Verweis auf Reims, aber mit der Pariser Patronin Genovefa: Trinität (fol. 76), Michael (fol. 76), Johannes der Täufer (fol. 76), Peter und Paul (fol. 76v), Alle Heiligen (fol. 76v), Christophorus (fol. 77), Sebastian (fol. 77v), Adrian (fol. 78), Antonius Abbas (fol. 78v), Nikolaus (fol. 78v), Hubertus (fol. 79), Eligius (fol. 79), Claudius (fol. 79), Anna (fol. 80), Maria Magdalena (fol. 80), Barbara (fol. 80v), Katharina (fol. 80v), Genovefa (fol. 81), Apollonia (fol. 81); fol. 82r leer. fol. 82v: Herrengebet: Domine sancte pater. fol. 83: Johannes-Passion.

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fol. 88: Mariengebet: Stabat mater als Suffragium. fol. 89: Textende; fol. 89v leer. Schrift­ und Schriftdekor: So sorgfältig dieses Stundenbuch auch für den Gebrauch der Erzdiözese Reims konzipiert wurde, so verrät es durch seine äußere Gestalt doch auf den ersten Blick die Herkunft aus Paris, wo derartig steil angelegte Textspiegel mit der gleichen deutlichen Bastarda in den Jahren um 1500 entstanden sind. Wie in den etwa gleichzeitigen gedruckten Stundenbüchern bemüht man sich, recht viel Text auf einer Seite unterzubringen; dazu dient die hohe Zeilenzahl 25 und die dichte Buchstabenfolge der niedrigen Bastarda. In dasselbe Bild passen die leicht hingestrichenen einzeiligen Pinselbuchstaben auf ihren einfarbigen Grundflächen, deren Folge zwischen Blau und Braun jeweils Rot setzt, so daß die bräunlich warmen Töne dominieren. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum dieser Buchkunst bieten die größeren Zierbuchstaben, die aus weißlichem oder blauem, jeweils stark stilisiertem und damit hoch elegantem Akanthus gebildet sind, mit Binnenfeldern in Pinselgold und braunen umgebenden Gründen. Trotz unüberbrückbarer Fremdheit zwischen diesen Initialen und den seit der Jahrhundertmitte verbreiteten Kompartiment-Bordüren besteht hier ein enger Konnex zwischen Randleisten und Buchstabendekor; denn nur die Textseiten mit zweizeiligen Initialen erhalten Außenbordüren, sicher dem alten Prinzip der Hervorhebung der Incipits gemäß, nun ohne vegetabilischen Zusammenhang. Bildfolge fol. 7: Kleinbilder eröffnen die Perikopen: Nah an den Betrachter herangerückt sitzt Johannes auf Patmos; der Adler hält das Tintenfaß im Schnabel und blickt mit leicht schräg gehaltenem Kopf auf die Schriftrollen, auf die sich der Evangelist anschickt zu schreiben. Die Insel, auf der das Johannesevangelium in der Verbannung geschrieben worden sein soll, ist auf dem Bild eine weitläufige Landschaft, ein Steg verbindet mit dem Gelände links, so daß der Eindruck eines Flußlaufs entsteht. Der Evangelist Lukas (fol. 7v) hält sein Schreibwerkzeug, Feder und Federmesser, selbst in Händen. Er schreibt auf eine Schriftrolle, der ihm zugeordnete Stier sitzt wie ein Hund treu neben ihm. Ein an seinem Stuhl angebrachtes Pult dient Matthäus (fol. 8v) als Schreibunterlage für sein an den Seiten regliertes Blatt. Der Engel hält das Tintenfaß, dabei hat es den Maler besonders interessiert zu zeigen, daß Faß und Federköcher mit einem Band verbunden sind. Eher unbequem muß sich Markus (fol. 9) daran machen, sein Evangelium auf eine Rolle zu schreiben, weder Stuhl noch Tisch möblieren sein Studio. Wohl in Anlehnung an die zinnoberfarbenen Flügel des Engels auf der gegenüberliegenden Seite, erhält auch sein Attributstier, der Löwe, Flügel in dieser Farbe.

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fol. 10: Auch die beiden Mariengebete werden mit Kleinbildern eröffnet, dem Brauch gemäß mit einem Bild der Freude und einem der Klage: Die Madonna im Kreise der Seraphim zum Obsecro te (fol. 10), als Kniestück, in blauem Kleid und Umhang, hält den in einen goldenen Rock gekleideten Christusknaben so, daß ihm ihre Hand als Sitzfläche dient. Feurig rote Seraphim bilden den Fond. Bei der Pietà zum O intemerata (fol. 11v) sitzt Maria vor dem Berg Golgatha. Zwei Leitern sind an den Querbalken des Kreuzes angelegt, mit dem das Bild oben abschließt; offenbar ist die Kreuzabnahme gerade erfolgt. Nun liegt der tote Christus auf dem Schoß seiner Mutter. fol. 14: Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 14) spielt in einer Kapelle. Gerade blickt die Jungfrau von ihrem Gebetbuch auf, um sich zu dem von rechts nahenden Engel umzudrehen. Beide werfen Schatten auf den grünen Fliesenboden, der die gesamte mit Kreuzrippen gewölbte Architektur durchzieht. Die halbrund geschlossene Miniatur ist oben mit einem Maßwerkschleier versehen. In der reichen Blumenbordüre auf Pinselgold tummeln sich unten zwei Mischwesen zwischen dem rotgrundigen Schild von 1611, das die Initialen J und C mit Liebesknoten für Jeanne Robert und Charles Baron trägt. fol. 23: Zur Heimsuchung trifft die Jungfrau Maria mit Joseph die greise Elisabeth, die ihr aus der Stadt hinten rechts entgegengekommen ist. Mit der Linken betastet die Jungfrau den Leib der zukünftigen Mutter Johannes’ des Täufers, deren Hände, zur Anbetung gefaltet, Mariens Bauch berühren. Joseph, ein bärtiger Greis mit Stock, hebt grüßend die Hand an seine rote Kopf bedeckung. Die Gesichter sollen das Alter ausdrücken: in kräftigen Farben erscheint der greise Joseph, mit scharfen Faltengraten die betagte Elisabeth und in zarten Weißtönen die jungfräuliche Maria. Durch den mächtigen Hügel im Mittelgrund, auf dem winzige Bäume wachsen, und die Stadt in abgetönten Pastellfarben entsteht große atmosphärische Wirkung. fol. 30v: Zur Verkündigung an die Hirten bringt ein Engel den Hirten die frohe Botschaft: puer natus est nobis aus der Weihnachtsmesse, wie auf dem Schriftband deutlich geschrieben steht. Das ländliche Genre schildert der Maler, indem er die Kleidung mit Freude am Detail charakterisiert; aufgerissene Hosenbeine werden ebenso mit aufgenommen wie an Schnüren befestigte Hüte, die von der Schulter hängen. Der Durst hält einen Hirten davon ab, den Engel wahrzunehmen. Die Tiere sitzen alle in nächtlicher Ruhe. Die Landschaft öffnet sich einladend mit einem Steg über einen Bach; hintereinander gestaffelte Berge, die im Blau des Himmels aufgehen, geben den Eindruck großer Tiefe. fol. 33: Bei der Anbetung der Könige sitzt Maria mit dem Kind auf dem Schoß links vor einer verfallenen Hütte. Der älteste König offeriert dem Christuskind einen Pokal, den es neugierig betastet. Der mittlere König präsentiert zudem seine Krone. Der jüngste König ist als Mohr aufgefaßt, in seinem Ohr blinkt ein goldener Ohrring. In diesem Bild fallen besonders die schön gemalten Faltenwürfe in Mariens Kleidung auf und die Neigung des Malers, die Wangen rot zu betonen, was im dunklen Inkarnat des jüngsten Königs zu reizvollen Effekten führt.

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fol. 35: In der Darbringung im Tempel hält Simeon den Jesusknaben bereits auf den verdeckten Händen, Maria und Joseph knien betend vor dem Altar. Die Magd folgt mit der Opfergabe der zwei Tauben und der Kerze. Wie schon bei den Le Barbier ergänzt den Abschlußbogen der Miniatur ein Maßwerkverhang. Aus der rechten Bordüre blickt ein Drache ins Bild; unten stapft ein Äffchen wie ein Wanderer durch die Akanthuszier. fol. 40: Die Vorstellung der Madonna in der Mondsichel speist sich aus der Apokalypse des Johannes. In himmlischen Höhen über den Wolken halten Engel eine Krone über Mariens Haupt, sie umfängt eine Gloriole aus strahlenden Farbtönen. Maria nährt das nackte Christuskind an ihrer Brust. fol. 43: Bei der Kreuzigung hängt der tote Menschensohn mit schrägen Armen am Kreuz, links sind seine Anhänger mit Johannes und Maria betend niedergesunken, während sie in den meisten Pariser Miniaturen der Zeit stehen. Der bekehrte Hauptmann steht rechts in goldener Rüstung, hinter ihm silbern gepanzerte Soldaten. Der Mittelgrund wird durch Baumreihen auf einem nach links ansteigenden Hügel geschickt überbrückt, hinten schließt bildparallel eine Stadtmauer an, hinter der viele Dächer eine Stadt andeuten, bevor Berge im Blau der Ferne zum Himmel verbinden. In Blau sind rechts in der Bordüre die Initialen „I“ und „C“ mit zinnoberrotem Liebesknoten auszumachen. fol. 45: Als handele es sich bei der Ausgießung des Heiligen Geists um eine Gabe, die den Aposteln durch das Gebet allein Mariens zuteil wird, blicken sie auf den Knien betend zur Muttergottes hin. Der Lieblingsjünger Johannes, vorn als Rückenfigur, und Maria tragen als einzige mit Weiß und Blau klare Farben, während die anderen Apostel in den gedeckten Tönen der Architektur gekleidet sind. Die Taube des Heiligen Geists muß dem herabhängenden Maßwerkschleier nach rechts ausweichen; sie behauptet aber ihre Bedeutung durch ihre Stellung über der Muttergottes. fol. 47: Bathseba im Bade sitzt am Rand eines kleinen Gewässers, das durch einen runden Brunnen gespeist wird, um dann als Bach nach links hinten zu fließen. Kostbare Kleidung liegt neben ihr am Boden. Ungewöhnlich deutlich sind die erotischen Reize Bathsebas dargestellt; Entsprechendes findet sich nur beim selben Maler und zwar im Stundenbuch des Morin d’Arfeuille in Chantilly, ms. 79. Für den zuschauenden David ist ein Turmhaus errichtet, aus dem er und zwei Berater blicken; sie sind nicht die einzigen; denn am linken Rand gaffen noch zwei andere Gestalten aus Fenstern herab, während die Soldaten, deren Helme und Speere daneben unter einem Bogen auftauchen, nicht über die Zinnenmauer schauen können, die sie von der Badeszene trennt. Zum Stil: Den verantwortlichen Maler, der alle Miniaturen dieses hochattraktiven Stundenbuchs ausgeführt hat, kennt die Kunstgeschichtsschreibung erst seit kurzem. François Avril (Ausst.-Kat. 1993, Nr. 141 f., S. 262-264) hat den Meister nach einem Kodex benannt, den wir in Leuchtendes Mittelalter VI als Nr. 35 vorstellen konnten, und zum Ausgangs-

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punkt des Œuvres ge­nom­men: das il­lu­strier­te De­di­ka­ti­ons­ex­em­plar von Ro­bert Gagu­ ins fran­zö­si­scher Über­set­zung des Gal­li­schen Krie­ges für Karl VIII . Un­ser Stun­den­buch ist ein be­son­ders über­zeu­gen­des Bei­spiel der Kunst die­ses be­mer­ kens­wer­ten Pa­ri­ser Zeit­ge­nos­sen von Ma­lern wie Jean Pi­chore oder den Le Bar­bier oder dem Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se. Der Mei­ster des Ro­bert Gag­uin ge­hört auch we­gen sei­nes En­ga­ge­ments für den Buch­druck zu den be­mer­kens­wer­te­sten Pa­ri­ser Buch­ma­lern um 1500. In Horae B. M. V. I, konn­ten wir bei Nr. 31, ei­ner Va­ri­an­te von Thiel­mann Ker­vers Druck für Guillaume Eustace vom 20. Juni 1500, der dort als Nr. 30 be­schrie­ ben wird, zei­gen, mit wel­cher künst­le­ri­schen Frei­heit un­ser Ma­ler die nach Ent­wür­fen des Mei­sters der Apo­ka­lyp­sen­ro­se ge­stal­te­ten Drucke um­in­ter­pre­tiert und im Wort­sin­ ne ins 16. Jahr­hun­dert hin­über­führt. Mit Pi­chore zu­sam­men ge­stal­te­te der Künst­ler das schon zi­tier­te Stun­den­buch des Mo­rin d’Ar­feuille (Chan­tilly, Mus­ée Co­ndé, ms. 79). Be­son­ders auf­schluß­reich ist der Ver­gleich der Bat­hseba-Bil­der, die in bei­den Ko­di­zes der­sel­ben Vor­la­ge fol­gen, wo­bei un­se­re Mi­nia­ tur sub­ti­ler wirkt in ih­rem ero­ti­schen Reiz. Wel­che Grö­ße der Mei­ster des Ro­bert Gag­ uin er­rei­chen konn­te, zeigt ins­be­son­de­re die Mond­si­chel­ma­don­na auf fol. 40: Mit gro­ßer künst­le­ri­scher Kraft ist die Fi­gur als Knie­stück ge­stal­tet; da­bei kommt Fouquets Ant­ wer­pen­er Ma­don­na aus dem Diptychon von Melun für Et­ienne Che­va­lier in den Sinn. Gro­ßen äs­t he­ti­schen Reiz hat die­ses schlan­ke, schlüs­sig ge­stal­te­te und edle Pa­ri­ser Stun­den­buch aus der Zeit ge­gen 1500, das mit sei­nen leuch­tend schö­nen Mi­nia­tu­ ren ganz ei­gen­hän­dig aus­ge­malt wur­de vom erst 1993 de­fi­nier­ten Mei­ster des Ro­ bert Gag­uin, der für das Pa­ri­ser Hand­schrif­ten­we­sen eben­so wich­tig war wie für den Buch­druck der Me­tro­po­le; dazu ver­fügt die­ser Ko­dex über ei­ni­ge ein­drucks­vol­le Son­der­lei­stun­gen, dar­un­ter eine un­er­hört ex­pli­zi­te Akt­fi­gur von Bat­hseba und ein be­son­ders ma­je­stä­ti­sches Ma­don­nen­bild, das den Kon­flikt der spät­go­ti­schen Tra­ di­ti­on Frank­reichs mit an Ita­li­en ori­en­tier­ten An­sprü­chen zeigt, die von der Kunst eine neue Mo­nu­men­ta­li­tät ver­lang­ten. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript wur­de als Nr. 22 in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge III , 2000 ver­öf­fent­licht (und nun zu­rück­er­wor­ben); zum na­men­ge­ben­den Werk sie­he: Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter VI , Nr. 35.

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38 Ein über­strö­mend rei­ches Stun­den­buch vom Gag­uin-Mei­ster mit Minia­tu­ren vom Mei­ster der Chronique Scandaleuse


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Rot und Blau für die Suff­ragien, mit ei­nem Ka­len­der in Blau, Rot und Gold, in Tex­tura. Pa­ris, ca. 1490-1495: Mei­ster des Ro­bert Gag­uin und der Mei­ster der Chronique Scandaleuse 65 Bil­der auf 38 Sei­ten: vier Bild­sei­ten mit drei bis sechs Bild­fel­dern für Ne­ben­sze­nen, da­von zwei text­los, die bei­den an­de­ren mit in Gold auf Pur­pur ge­mal­ten In­cipits. Die üb­ ri­gen Bil­der mit Rand­schmuck: sechs Kopf­mi­nia­tu­ren über vier Zei­len Text mit dreiz­ ei­li­gen In­itia­len, eine über sechs Zei­len in Voll­bor­dü­ren; ein Kopf­bild über acht Zei­ len Text eben­so wie die vier Klein­bil­der zu drei Per­ik­open und ei­nem Ma­rien­ge­bet mit Ran­ken­klam­mer von au­ßen, zwölf Rand­bil­der zu Ge­be­ten und Suff­ragien, da­von elf mit Ran­ken­klam­mer von au­ßen, beim O in­teme­rata je­doch nur mit Au­ßen­bor­dü­re und ei­ner Pin­sel­gold-Lei­ste um den Text­spie­gel und aus­nahms­wei­se dreiz­ei­li­ger In­itia­le; 16 Ka­len­ der­bil­der (rund­bo­gi­ge Mo­nats­bil­der oben und Tier­kreis­zei­chen in der un­te­ren Bor­dü­re) mit Voll­bor­dü­ren. Die Bor­dü­ren sind mit ei­nem Fond in Pin­sel­gold oder Kompartim­en­ten aus Per­ga­ment- und Pin­sel­gold­grund ver­se­hen; nur im Ka­len­der sind die Kompartim­en­ te in Rot und Blau ge­hal­ten und mit wei­ßem Akanthus ge­schmückt. Jede Text­sei­te mit ei­ nem ein­sei­ti­gen Bor­dü­ren­strei­fen au­ßen, vie­le mit Gro­tes­ken auf Bo­den­strei­fen. Die In­itia­len für die gro­ßen In­cipits eben­so wie die zweiz­ei­li­gen für Psal­men­an­fän­ge ha­ben rote oder blaue Buch­sta­ben­kör­per auf Blatt­gold aus der Dorn­blatt-Tra­di­ti­on, de­ren Fond in Pin­sel­gold je­doch meist mit klei­nen Blü­ten­stie­len ge­schmückt ist. Ein­zei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen am Zei­len­be­ginn in Blatt­gold auf ro­ten und blau­en Grün­den, Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­ li­en gelb la­viert. 124 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten je 1 flie­gen­des und 1 fe­stes Vor­satz aus Per­ga­ment. Un­ re­gel­mä­ßi­ge Kol­la­ti­on, 22 La­gen, ge­bun­den vor­wie­gend zu sechs Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (6-2, das in­ne­re Dop­pel­blatt mit Mai bis Au­gust ent­fernt), die La­gen 2 (4), 3 (8-1, 7. Blatt mit dem Be­ginn der Mari­en-Matutin ent­fernt), 4 (4), 10 (6-1, 1. Blatt mit dem Be­ ginn der Mari­en-Komplet ent­fernt), 13 (4-1, 2. Blatt mit dem Be­ginn der Hei­lig-Geist-Horen ent­fernt), 14 (6-1+1, 2. Blatt mit dem Be­ginn der Buß­psal­men ent­fernt); mo­der­ne Blei­stift­fo­ li­ie­rung rechts oben, zählt ent­fern­te Blät­ter mit und en­det bei 131 Blatt. Kei­ne Reklam­an­ten. Groß-Ok­tav (205 x 135 mm; Text­spie­gel: 120 x 69 mm). Zu 21, im Ka­len­der zwei­spal­tig zu 16 Zei­len. Rot reg­liert. Ge­bun­den in al­ten ro­ten Samt auf Holz­deckeln; eine zen­tra­le Schlie­ße; ge­punz­ter Gold­schnitt. Pro­ve­ni­enz: Noch kom­plett mit voll­stän­di­gem Ka­len­der, elf Bild­sei­ten mit Rand­il­lu­stra­tio­nen und acht Kopf­mi­nia­tu­ren wur­de die Hand­schrift als lot 194 bei Sot­heby’s Lon­don am 21. März 1929 aus dem Be­sitz des Ba­rons van Zu­ylen an Mag­gs ver­kauft; in der Ab­bil­dung war die To­ten-Ves­p er noch mit ei­ner Dop­pel­sei­te be­bil­dert; seit­her, daß Gott er­barm, um elf Blät­ter mit sie­ben Mi­nia­tu­ren be­raubt (ex­oriare ali­quis nostris ex ossi­bus ul­tor).

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Text Die Angaben folgen der tatsächlichen Blattzählung. fol. 1: Kalender, in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf roten und blauen Flächen, die Festtage in Gold; nach römischem Formular ohne spezifisch regionale Ausrichtung. fol. 5v: Perikopen, nach textlosem Bild auf Recto beginnend mit Johannes (fol. 5v), Lukas (fol. 6v), Matthäus (fol. 7v) und Markus (fol. 9). fol. 10: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 10); O intemerata, an Maria und Johannes gerichtet (fol. 13). fol. 15: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (Anfang fehlt vor fol. 15), Laudes (fol. 22v), Prim (fol. 31v), Terz (fol. 35), Sext (fol. 38v), Non (fol. 42), Vesper (fol. 45), Komplet (fol. 51, Anfang fehlt); Antiphone für das Marienofzium zum Dienstag und Freitag (fol. 53v), und zum Mittwoch und Samstag (fol. 56v), Adventsofzium (fol. 60). fol. 65: Horen von Heilig Kreuz (fol. 65) und Heilig Geist (Anfang fehlt vor fol. 69). fol. 71: Bußpsalmen (ein vorgeschaltetes Vollbild auf fol. 70v, Textanfang fehlt auf fol. 71), mit Litanei (fol. 80v), mit Pariser Heiligen wie Gervasius und Prothasius am Ende der Märtyrer, Marcellus, Germanus, Medardus sowie am Ende der Bekenner Ludwig, Genovefa als dritte der weiblichen Heiligen, darunter auch Heilige des Römischen Kalenders: Crispin und Crispinian und Leodegar, der als Bischof von Autun verehrt wird. Domitian von Saint-Rambert-en-Bugey im Dép. Ain. fol. 84v: Totenofzium (mit einem Vollbild auf fol. 84), für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 84v), Matutin (fol. 89v, von einer Rubrik eingeleitet), Laudes nicht markiert (fol. 104v). fol. 116: Sufragien: Trinität (fol. 116), Michael (fol. 116v), Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist (fol. 117), Petrus und Paulus (fol. 117v), Sebastian (fol. 118), Stephanus (fol. 118v), Nikolaus (fol. 119), Anna (fol. 119v), Magdalena (fol. 120), Barbara und Katharina (fol. 120v), Margareta (fol. 121). Textende auf fol. 121v. Schrift und Schriftdekor Durch die Textura mit den roten Rubriken und den Farbwechsel von Rot und Blau im Kalender ebenso wie durch die einzeiligen Blattgold-Initialen auf roten und blauen Gründen zu den Psalmenversen mit entsprechenden Zeilenfüllern schreibt sich die Schrift in ältere Tradition ein. Dazu passen auch die roten oder blauen Buchstabenkörper auf Blattgold, die mit ihrem weißen Dekor der Dornblatt-Tradition entstammen,

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auch wenn die Binnenfelder in Pinselgold ausgemalt und meist mit kleinen Blütenstielen geschmückt sind. Der Randschmuck hingegen ist konsequent auf die in der Entstehungszeit üblichen Kompartiment-Bordüren eingestellt: Pergamentgrund mit blau-goldenem Akanthus steht in der Regel neben mit Blumen gefüllten Flächen in Pinselgold, die ihrerseits kräftig mit schwarzer Tinte konturiert sind, während die gesamten Felder nur mit einer roten Linie umgrenzt werden. Hierarchische Staffelung sorgt für Randstreifen in Textspiegelhöhe zu jeder Textseite, von außen um den Textspiegel gelegten Bordürenklammern und Vollbordüren, die vom Bogenabschluß der Miniatur durchbrochen werden. Grotesken auf Bodenstreifen bevölkern viele Randstreifen. In der auch anderswo (siehe vor allem Nr. 35) zu erkennenden Tendenz, dem Kalender auch im Randdekor eine Sonderrolle zuzugestehen, bilden die Kompartimente dort blaue und rote Fonds. Der Maler setzt sich beim Mariengebet O intemerata und dann in den Suffragien über die Vorgaben des Schreibers hinweg; dort waren keine Bildfelder freigehalten, so daß nur Randbilder möglich blieben. Im ersten Fall bleibt es bei dem Randstreifen, in den ein Bild eingefügt wird; zur Betonung der Seite wird aber eine Leiste aus Pinselgold um das Textfeld herumgeführt; in den Suffragien hingegen kommen Rankenklammern zum Einsatz; das gilt auch für das einzige in den Textverlauf eingeschaltete Kopf bild zum Annen-Suffragium. Der erstaunliche Bilderreichtum hat noch im 20. Jahrhundert dazu verführt, die eine oder andere Bildseite aus dem Buch herauszumetzgern. Doch bleibt erstaunliche Pracht, die jedoch ergänzt werden muß durch das heute Verlorene: Der Verlust des Textanfangs der Bußpsalmen und eine Photographie der Toten-Vesper im Auktions-Kat. von 1929 belegen, daß diese beiden Incipits mit Doppelseiten voller Bilder eröffnet waren. Man wird Ähnliches für die Marien-Matutin annehmen müssen. Hingegen standen die mit Nebenszenen versehenen Bilder zur Johannes-Perikope ebenso wie zur Matutin des Heiligen Kreuzes und der heute geräuberten Matutin des Heiligen Geistes allein. Ihnen nachgeordnet waren die Marienstunden und die Eröffnung der Suffragien mit den Kopf bildern in Vollbordüren; eine Sonderrolle nahm das Annen-Suffragium ein. In der Hierarchie hatte der Schreiber dann noch die drei weiteren Perikopen und das Mariengebet Obsecro te durch Bilder im Textspiegel und das O intemerata durch eine dreizeilige Initiale hervorgehoben; nur der Maler sorgte dann für weitere Differenzierung durch Randbilder. Wie gewohnt wurde der Kalender getrennt gestaltet. Bildfolge Breit angelegt sind die Kalenderbilder bei zweispaltigem Text: Unten sind die Felder etwa acht Zeilen hoch, oben wölbt sich über entsprechend bemessenem Rechteck noch ein im Scheitel drei Zeilen hoher Bogen. Dieses größere Feld nimmt das Monatsbild ein, während die Tierkreiszeichen unten Platz finden. Die Themen entsprechen der Konvention; ihre Ausgestaltung aber ist reich und zuweilen erstaunlich:

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Zum Januar werden Speisetisch und Kamin verbunden: Am runden Tisch mit der fast bis zum Boden reichenden weißen Decke sitzt die Frau des Hauses. Der älter wirkende Herr hingegen mit einer Kappe auf dem Kopf ist in einen doppelten Mantel gehüllt, tritt zum Kamin und öffnet seine Gewänder, um die Beine zu wärmen. Unten schreitet der Wassermann, ein nackter Jüngling mit weitem Schritt aus, um zwei Metallkrüge zu leeren, ohne seine violetten Flügel zu benetzen. Zum Februar wird ein jüngeres Paar zwischen Kamin und Speisetisch gezeigt: In einer langstieligen Pfanne bereitet die Frau Speise zu. Der Mann weist sie an, während Getränk und Teller auf dem Tisch warten; dasselbe Paar, jedoch mit einer Art Waffeleisen, kam beim Meister Karls VIII . in Nr. 35 vor. Sonderbar ornamental wirken die beiden mit Silber bemalten Fische im Wasser; gemeint sind vielleicht Hechte, von denen der eine mit dem Kopf nach links, der andere nach rechts weist. Es wirkt, als stünde ihre Darstellung auf dem Kopf; dabei ist die Landschaft mit Hügeln und Burgen vortrefflich konzipiert. Zum März wird das Beschneiden von Weinstöcken oder Obstbüschen in einem ummauerten Garten gezeigt. Die einzelnen Pflanzen sind wie beim Meister Karls VIII . (siehe wiederum Nr. 35) in runde Töpfe gepflanzt, die ihrerseits in die Erde eingegraben sind; wie im Medaillon von Nr. 35 beschreibt die Mauer einen Bogen. Unten schreitet der Widder nach links. Im April sitzt ein Liebespaar im Garten von zwei Spalieren mit Rosen, rot und weiß, umgeben; der junge Mann versucht, die Frau zu küssen. Der Stier schreitet mit hochauf wedelndem Schwanz einher. Im September wird der Wein gekeltert; dazu ist ein Jüngling mit blitzblanker Unterhose in den Bottich gestiegen; ein zweiter bringt eine neue Bütte. Die Jung frau (!) sitzt mit einem Palmzweig auf einem Hügel über weiter Landschaft. Im Oktober tritt fast der gleiche Sämann wie in Nr. 35 auf, freilich in einer Dorflandschaft mit niedrigen Häusern und mit dem Sack voll Saatgut wie in Nr. 39. Der gut charakterisierte Skorpion schwebt wie ein Motiv aus einem Naturkundebuch vor Landschaft und Himmel. Zum November kehrt derselbe Schweinehirt wieder, der in Nr. 35 auftrat, nun mit mehr Platz am Waldrand. Der Schütze ist hier ein rothaariger Kentaur. Im Dezember arbeiten Mann und Frau gemeinsam beim Schweineschlachten in einem Burghof. Wie in Nr. 39 ist der Steinbock nicht verfremdet, hier spaziert er durch die Landschaft mit vom unteren Bildrand abgeschnittenen Füßen. fol. 5: Textlos ist das Bild zur Johannes-Perikope: Wie eigentlich erst in den frühen Drukken von Pariser Stundenbüchern erscheint die Ölmarter des Johannes von fünf Randbildern begleitet: Der nackte Jüngling steht betend in einem runden Bottich, der durch Holzfeuer erhitzt wird, während zwei Männer ausholen, um auf ihn einzuschlagen. Von der Porta Latina in Rom, vor der das Martyrium vollzogen wurde, hat der Maler keinen Begriff; so zeigt er im Hintergrund eine Stadtmauer mit einem Tor und einer Ziehbrücke über einen Wassergraben. Vertraut aus der Johannes-Ikonographie sind zwei Szenen aus der Apokalypse, die in der Außenbordüre übereinander geschaltet sind: Oben erscheint dem auf einer Wiese Hockenden das siebenköpfige Ungeheuer im Himmel, darunter das Apokalyptische Weib in der Gestalt der Madonna mit Kind als Mulier amicta sole. Ebenso geläufig ist die Erweckung der Drusiana, die schon in Leichentücher gehüllt sich bei ihrem Leichenzug aufrichtet, weil Johannes sie segnet. Schwieriger zu beurteilen sind die

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schmaleren Bilder links: Hätte Johannes den Giftkelch in der Hand, wäre die Deutung nicht weiter schwierig; hier aber liegen zwei offenbar tote Jünglinge im unteren Bildfeld; vielleicht schildert dann die Szene darüber deren Dankbarkeit nach der Erweckung, mit der Johannes einem Herrscher seine Macht beweist. Die Malerei steht den Kalenderbildern nahe; doch zeigen vor allem die Gesichter, daß hier eine andere Hand tätig war. Kleinbilder von neun Zeilen Höhe eröffnen die übrigen Perikopen; darin sind die Evangelisten jeweils vollfigurig in Interieurs gezeigt: Lukas mit dem Stier (fol. 6v); Matthäus mit dem Engel (fol. 7v); Markus mit dem Löwen (fol. 9). fol. 10: Das erste Mariengebet, Obsecro te, erhält ein Kleinbild im Textfeld, mit der Halbfigur der betenden Mater dolorosa (fol. 10) in einer an Touroner Gemälde vom Meister des Münchner Boccaccio und von Jean Bourdichon gemahnenden Art von Bildnis. Das O intemerata hingegen ist vom Schreiber nur mit einer dreizeiligen Initiale ausgestattet worden; derselbe Maler, der den Kalender und das Marienbildnis gestaltet hat, zeigt die Assunta gekrönt in der Bordüre (fol. 13). Im Marienofzium fehlt die Matutin, so daß vorerst unklar bleibt, welcher der beiden Maler diese herausragende Aufgabe übernehmen durfte. Die Kopfminiaturen der folgenden Stunden sind mit Säulen gerahmt und von einem goldenen Bogen überfangen, der in den Pinselgoldgrund der Bordüren übergeht. Bei der Themenwahl erstaunt der Kindermord zur Vesper; er ist in Pariser Buchmalerei selten zu finden, wohl aber im frühen Stundenbuch-Druck. Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 22v) berühren sich die Frauen nicht; Maria wird nach links von einem Bäumchen hinterfangen, Elisabeth erscheint vor Felsen, auf denen das Haus des Zacharias durch Bäume und Büsche weitgehend verdeckt ist; die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 31v) folgt der von den Le Barbiers vertretenen Tradition: Der Stall ragt von links ins Bild, ein Gatter grenzt den Raum zur Landschaft ab. Links kniet die Jungfrau, die den nackten Knaben auf den Saum ihres blauen Mantels gelegt hat, rechts kniet Joseph mit der brennenden Kerze, die wie in Nr. 32 Weihe und Nacht zugleich bedeutet; Esel und Ochs zeigen sich zwischen den beiden. An einem kleinen Wasser, also am typischen locus amoenus, spielt die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 35): Ein Engel in weißem Gewand mit roten Flügeln verkündet die nicht lesbare Botschaft; zu ihm richtet sich der linke Hirte auf, während sich der rechte noch nicht von den Knien erhoben hat. Die Schafe drängen sich im Mittelgrund der knappen aber treffsicher gemalten Landschaft. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 38v) wird der Stall seitenverkehrt und ohne die niedrige Absperrung gezeigt: Maria sitzt rechts mit dem aufrecht sitzenden nackten Knaben auf dem Schoß. Der älteste König kniet vor ihr ohne eine Gabe; die beiden jüngeren, erheblich kleiner als er, stehen mit zylindrisch geformten goldenen Gefäßen. Bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 42) kniet Maria, von der Magd mit drei Tauben im Körbchen ebenso begleitet wie von Joseph, der sichtlich das Gespräch mit dem greisen Simeon sucht, der, die Mitra auf dem Haupt, sich vorbeugt und den nackten Knaben mit bloßen Händen hält. Ungewohnt ist dessen vorwärts ziehende Haltung, in der er die Mutter zu erreichen sucht. Herodes be-

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fiehlt den Kindermord zur Vesper (fol. 45) mit einer vor ihm knienden Frau, die um das Leben ihres in Rot gewickelten Knaben bittet, während im Ausblick aus dem Palast hinten ein nackter Knabe durch einen Soldaten mit dem Schwert getötet wird. fol. 65: Als reine Bildseite ist die Kreuzigung mit Szenen der Passion zur Matutin von Heilig Kreuz konzipiert; das Incipit ist in Goldlettern einer Capitalis auf ein purpurnes Feld unter dem Hauptbild gemalt. In zwei steilen Bildfeldern, die wie das Hauptbild von Bögen abgeschlossen werden, werden rechts das Gebet im Garten Gethsemane mit den schlafenden Jüngern vorn, links der Judaskuß mit Malchus am Boden gezeigt, während die ganze Breite der Malfläche im Bas-de-page unten der Kreuztragung vorbehalten ist. Aus dem Stadttor rechts bewegt sich der Zug gegen die Leserichtung; ihn führen die beiden Schächer in weißen Büßerhemden an; Schergen treiben sie vorwärts; Christus trägt als einziger ein Kreuz, mit dem Stamm voraus und von einem Mann bedrängt, während sich Johannes zur Muttergottes am Ende des Zuges umdreht. Kurios ist das Auftauchen von Helmen und Speeren über den Köpfen der Gestalten vorn; diese Soldaten scheinen körperlos zu sein. fol. 76v: David und Goliath mit weiteren Szenen aus der Davidgeschichte zu den Bußpsalmen, in etwas wirrer Reihenfolge: Das Hauptbild rückt die Schlacht gegen die Philister in den Mittelgrund, zeigt weit vorn den Riesen Goliath, der von Davids Schleuder mit einem Stein an der Stirn getroffen ist und zusammenbricht. Diese Miniatur nimmt eine Komposition auf, die uns von Nr. 32 geläufig ist und die seitengleich in den Metallschnitten des Meisters der Apokalypsenrose für Dupré ca. 1489 vorkommt (Horae B. M. V. IX , S. 3937, Nr. 13). Direkt damit verbunden sind die beiden Szenen rechts: David schlägt Goliaths Kopf ab und wird dann mit diesem Kopf von den Mädchen Israels gefeiert. Links oben spielt er als Knabe Harfe vor Saul. Im Bildfeld darunter wird er von Samuel gesalbt; doch paßt weder sein Alter, noch die würdige Kleidung und noch weniger der Soldat als Begleiter zu der Szene aus Davids Jugend; mithin müßte die Erhebung zum König in Hebron gemeint sein. Das Bas-de-page, das zu beiden Seiten noch einen Auszug nach oben hat, wird durch eine Säule in der Mitte in zwei Szenen geteilt: Links wird David von Micha auf seiner Flucht vor Saul abgeseilt; rechts hält Saul Kriegsrat eigentlich mit David, wenn der Kleidung zu trauen ist (fol. 70v). Der Textverlust auf der folgenden Seite zeigt an, daß der erhaltenen Szene eine weitere Bildseite mit dem Incipit gegenüberstand. fol. 84: Ursprünglich standen sich auch zu Beginn der Toten-Vesper zwei textlose Bilder gegenüber: Auf dem heute fehlenden Verso war die Hauptminiatur mit den Drei Lebenden und den drei Toten von fünf Szenen mit Hiob auf dem Dung gerahmt: Gespräch mit dem Teufel, Peinigung durch den Teufel, Besuch eines Freundes, Besuch der Frau und im Bas-de-page Besuch der Frau und zweier Freunde. Im Manuskript verblieben sind sechs Bildfelder, in denen die Geschichte vom Gastmahl des Reichen und dem armen Lazarus geschildert wird: Die Abfolge zeigt als erstes rechts oben das Gastmahl mit einem Diener, der den Hund zur Tür schickt; darunter Lazarus vor der Tür mit der Klapper der Aussätzigen, links im unteren Feld der tote Lazarus, im oberen seine Seele in En-

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gels­hand. Die Schluß­sze­ne wird dann aus dem Haupt­bild und dem Bas-de-page kom­bi­ niert: Als nack­ter Kna­be sitzt die See­le des ar­men La­za­rus auf Abra­hams Schoß, un­ten bit­tet der Rei­che bei Höl­len­qua­len um ei­nen Trop­fen Was­ser. fol. 116: Zum Suff­ragium der Tri­ni­tät, die in An­ti­phon und Ge­bet als Adres­sat ge­nannt wird, ein Kopf­bild: Je­sus und die Mut­ter­got­tes als Für­bit­ter un­ter Gott­va­ter. Je­sus kniet als Schmer­zens­mann mit dem Kreuz, Ma­ria ju­gend­lich, also nicht als Schmer­zens­mut­ ter, und weist auf ihre nack­te Brust, an der sie den Sohn ge­nährt hat­te, wäh­rend der Va­ ter im Him­mel als Halb­fi­gur er­scheint. Von der Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes ist nichts zu se­hen. Die­se be­mer­kens­wer­te Ikon­ographie fin­det sich auch in den flä­mi­schen Par­ti­ en des Tu­rin-Mai­län­der Stun­den­buchs. Für die üb­ri­gen Suff­ragien hat der Schrei­ber nur ein­mal, bei Anna, ei­nen Bild­raum vor­ ge­se­hen. Als man dann doch alle Tex­te be­bil­dern woll­te, muß­ten die Dar­stel­lun­gen als Rand­bil­der in den Bor­dü­ren Platz fin­den; das ge­schah mit zwei Aus­nah­men in der Au­ ßen­bor­dü­re: der Erz­en­gel Mi­cha­el im Kampf mit dem Teu­fel (fol. 116v); Jo­han­nes der Täu­fer mit dem Lamm, dazu im un­te­ren Rand­strei­fen Jo­han­nes der Evan­ge­list mit dem Gift­be­cher (fol. 117); Pe­trus und Pau­lus (fol. 117v); Se­ba­sti­ans Pfeil­mar­ter (fol. 118); Steph­anus als Dia­kon mit ei­nem Stein in der Hand (fol. 118v); Ni­ko­laus mit den drei Jüng­lin­gen im Bot­tich wohl in ei­nem Sa­kral­raum (fol. 119); Kopf­bild mit dop­pel­tem Maß­werk­bo­gen: Anna lehrt Ma­ria le­sen (fol. 119v), da­nach wie­der als Rand­bil­der Mag­ da­le­na mit dem Salb­ge­fäß (fol. 120), Bar­ba­ra vor ih­rem Turm; dazu im un­te­ren Rand­ strei­fen Ka­tha­ri­na mit Buch (fol. 120v), Mar­ga­re­ta, die aus dem Dra­chen steigt (fol. 121). Zum Stil Die Mehr­zahl der Mi­nia­tu­ren stammt von je­nem Ma­ler, den wir in Nr. 37 ken­nen und schät­zen ge­lernt ha­ben und der nicht nur von uns, son­dern auch von Avril (Aus­stel­lungsKa­ta­log 1993, Nr. 141 f., S. 262-264) nach ei­ner her­aus­ra­gen­den Hand­schrift be­nannt wird, die wir in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter VI als Nr. 35 vor­stel­len konn­ten: Es ist Ro­bert Gagu­ins Cä­sar-Über­set­zung; für den Gag­uin-Mei­ster cha­rak­te­ri­stisch bleibt sei­ne Ver­ bin­dung mit dem Buch­druck. Die Ka­len­der­bil­der be­wei­sen die be­mer­kens­wer­te Bild­ phan­ta­sie die­ses Ma­lers, der sich beim Bild­nis der Schmer­zens­mut­ter an mo­der­nen Iko­ nen aus Tours ori­en­tier­te. Sei­ne Ei­gen­art be­stimmt alle im Ma­nu­skript ver­blie­be­nen Bil­der zu den Ma­rien­stun­den und die Dar­stel­lun­gen in den Suff­ragien. Hin­ge­gen hat man ihm von den bil­der­reich er­gänz­ten Haupt-Mi­nia­tu­ren nur das In­cipit des To­tenOf ­fi­zi­ums an­ver­traut. Die an­de­ren gro­ßen Bild­sei­ten sind hin­ge­gen im klar­sten Stil der Chronique Scandaleuse ge­hal­ten. Ein Ver­gleich der ar­chi­tek­to­ni­schen Rah­mun­gen zeigt, daß der Gag­uinMei­ster of­f en­bar die Kon­zep­ti­on von den an­de­ren gro­ßen Bild­sei­ten über­nom­men und nicht ganz kon­se­quent um­ge­setzt hat. Ver­mut­lich war er also nicht in er­ster Li­nie für das Buch ver­ant­wort­lich; doch feh­len die Er­öff­nung der Mari­en-Matutin und der Text­ be­ginn der Buß­psal­men, die dar­über ge­naue Aus­kunft ge­ben kön­nen.

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Die Far­be ist sehr viel ma­le­ri­scher auf­ge­tra­gen; beim Ko­lo­rit do­mi­nie­ren wie in un­se­rer Nr. 39 ein tie­fes Blau und dunk­les Pur­pur­rot, üp­pig geh­öht mit Gold. An den Ge­sich­ tern be­wirkt die nicht so ent­schie­den zeich­ne­ri­sche Mal­wei­se ge­mein­sam mit dem Sinn für Rot­tö­ne cha­rak­te­ri­sti­sche For­men, an de­nen man den Stil vor­züg­lich er­ken­nen kann. Ob frei­lich über­all die Hand des Mei­sters selbst hier zu er­ken­nen ist, bleibt an­ge­sichts der über­wäl­ti­gen­den Qua­li­tät der hier an­schlie­ßen­den Nr. 39 zu klä­ren. Die Be­zü­ge auf den frü­hen Stun­den­buch­druck im Jo­han­nes­bild wie auch bei Da­vid und Go­li­ath le­gen eine Ent­ste­hung in den frü­hen 1490er Jah­ren nahe. Ein Stun­den­buch, des­sen Aus­ma­lung vom Mei­ster der Chronique Scandaleuse und des­sen As­si­sten­ten ge­lei­tet wur­de, das aber die Mehr­zahl sei­ner Mi­nia­tu­ren vom Gag­uin-Mei­ster er­hielt. Trotz schänd­li­cher Räu­be­rei mit 65 Bild­fel­dern auf 38 Sei­ ten im­mer noch au­ßer­or­dent­lich bil­der­reich, ist dies zu­dem ein vor­züg­li­ches Bei­ spiel für die Ein­rich­tung ei­nes sol­chen ge­gen 1495 ent­stan­de­nen Pa­ri­ser Stun­den­ buchs nach Grund­sät­zen der Hier­ar­chie. Über­dies ein Buch, das die Be­zie­hun­gen zum frü­he­sten Druck von Stun­den­bü­chern in Pa­ris und zu der Stil­grup­pe um den Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se er­hellt, zu der auch der Mei­ster der Traités théolo­ giques mit un­se­rer Nr. 32 ge­hört. Be­son­ders ein­drucks­voll durch die Ne­ben­sze­nen auf den gro­ßen Bild­sei­ten! LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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39 Das Stun­den­buch der Fran­çoise de Bel­le­combe mit 103 Bil­dern vom Mei­ster der Chronique Scandaleuse: Ma­nu­skript 40 aus der Sammlung Ed­mond de Roth­schild


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, Kalender in Blau, Weinrot und Gold, in braunschwarzer Textura. Paris, um 1485/90: Meister der Chronique Scandaleuse 103 Bildfelder auf 55 Seiten: ein Wappenbild; eine textlose ganzseitige Miniatur und vier große Bilder, die das Incipit umschließen, jeweils in mit Statuetten geschmückten Architekturen; zwölf Kopf bilder in Bildbordüren mit jeweils vier weiteren Bildfeldern und 13 Kleinbilder, in Textspiegelbreite acht Zeilen hoch, zu den Gebeten und Sufragien am Schluß des Bandes, sowie 24 Kalenderbilder im unteren Randstreifen mit Bordürenstreifen außen in voller Höhe von Bild und Text. Die großen Miniaturen mit zweizeiligen Incipits und hellen Akanthus-Initialen auf Pinselgold; entsprechende dreizeilige Initialen zu den 13 Kleinbildern. Wie alle Textseiten sind diese Kleinbilder von einem doppelten Zierstab außen und Kompartiment-Randstreifen mit Grotesken und Figuren, teilweise auf Bodenstreifen, begleitet Ein Incipit mit dreizeiliger, Psalmenanfänge durchweg mit zweizeiliger Akanthus-Initiale in äußerst vielfältiger Gestalt und Farbe: weiß auf Pinselgold, braun auf Blau, blau auf Purpurrot. Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Initialen in unregelmäßigem Wechsel von weißem Akanthus auf Pinselgold, goldenem Akanthus auf Blau, blauem Akanthus auf Weinrot oder schlichtem Pinselgold auf blauen oder weinroten Flächen; Zeilenfüller in der gleichen Art oder als goldene Knotenstöcke. Auf fol. 43v-44 altertümliche zweizeilige Dornblatt-Initialen und einzeilige Buchstaben in Gold auf Blau, auf fol. 49/49v zweizeilige Dornblatt-Initialen in Blau, einzeilige in Gold auf roten und blauen Flächen. Versalien gelb laviert. 221 Blatt Pergament, je 2 fliegende Vorsätze aus Pergament vorn und hinten; gebunden vorwiegend zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage mit je einem vorgeschalteten und einem nachgeschalteten Blatt 1 (12+2), eine Lage mit nachgeschaltetem Blatt 10 (8+1) und die Endlage des Totenofziums 23 (6); keine Reklamanten. Rot regliert zu 16, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (198 x 137 mm; Textspiegel: 127 x 78 mm). Brillant, komplett und einzigartig gut erhalten. Dunkelbrauner Maroquinband à la janséniste eines bedeutenden Pariser Ateliers des Zweiten Kaiserreichs, signiert Thibaron-Joly, auf fünf erhabene Bünde; Goldschnitt. Provenienz: Auf fol. 1v zwei Allianzwappen: in jedem der beiden, links à sénestre, rechts à dextre, dasselbe Wappen: auf demselben Rot, das die Beterin auf fol. 22v trägt, mittig ein goldenes Band mit je drei blauen fleurs-de-lis und darüber ein steigender Löwe in Silber. Die Auflösung verdanken wir Jean-Luc Deufc, dem zufolge es sich um die Wappen von Tochter und Mutter handelt:

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Links: De Nan­ton (De sinople à la croix d’or) und Bel­le­combe (De gueu­les à la fa­sce d’or chargée de trois fle­urs-de-lis d’azur et accompagné en chef d’un lion na­issant d’ar­gent mou­vant de la fa­sce): Wap­pen der Fran­çoise de Bel­le­combe, die mit Lou­is de Nan­ton ver­hei­ra­tet war. Rechts: De Bel­le­combe mit De Germ­ol­les (De gueu­les, à trois be­sans d’ar­gent): Wap­pen der Mut­ter von Fran­çoise de Bel­le­combe: Marguerite de Germ­ol­les, die mit Ja­cques de Bel­le­ combe ver­hei­ra­tet war. Die Fa­mi­lie war an­säs­sig im bur­gun­di­schen Mâconnais. Lou­is de Nan­ton war Mit­eig­ner von Nan­ton und Sei­gneur von Cru­zil­les. Chro­no­lo­gi­sche Pro­ble­me ent­ste­hen durch die An­ga­be in der Histo­ire de la no­bles­se du Co­mté-Venaissin, d’Avi­gnon, et de la principauté d’Oran­ge, Bd. II, Pa­ris, 1743, S. 291, der zu­fol­ge die Ehe von Fran­çoise de Bel­le­combe be­reits 1455 ge­schlos­ sen wur­de. Stil­ge­schicht­lich tref­fen­der ist die An­ga­be: Lou­is de Nan­ton sei 1503 Sei­gneur von Cru­zil­les, d’Ar­cenis, Ma­cher­on und No­bles ge­we­sen. Zu­dem be­rich­tet Abbé Claude Bar­raud in sei­nen Not­ices hi­storiques sur la co­mmune de Chas­se­las-en-Mâconnais, 1921, S. 6, über die Rol­le von Ja­cques de Bel­le­combe in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen des bur­gun­di­schen Adels mit Lud­wig XI., die mit der Un­ter­wer­fung auch von Ja­cques de Bel­le­combe en­den; da­nach heißt es: „Ce Ja­cques de Bel­le­combe eût de son ma­ria­ge avec Marguerite de Ger­mo­les deux fi­ lles, l’une appelée Fran­çoise fut femme de Lou­is de Nan­ton, seig­ne­urs de Cru­zil­les, d’Ar­cenis, Ma­cher­on et No­bles que l’on voit en 1587 (Tipp­feh­ler für 1487) fai­re un don de mil­le livres à Fran­çoise sa femme.“: Wa­ren die tau­send Livres der An­laß, die­ses ohne Zwei­fel sehr teu­re Ma­nu­skript zu be­zah­len? Fran­çoise de Bel­le­combe als recht jun­ge Be­te­rin mit schwar­zer Hau­ be und leuch­tend ro­tem Kleid mit schwar­zen Man­schet­ten wird mit dem hei­li­gen Fran­zis­kus ge­zeigt, des­sen Suff­ragium im Buch weit nach vorn ge­setzt ist, für des­sen Stig­ma­ta dann al­ler­ dings noch ein zwei­tes Suff­ragium auf fol. 14 nach­träg­lich ein­ge­fügt wur­de. Ei­nes der ganz we­ni­gen Ma­nu­skrip­te aus Roth­schild-Be­sitz, die noch in Pri­vat­hand sind, wie die von Ed­mond de Roth­schild ein­ge­tra­ge­ne Nr. 40 im Vor­der­deckel be­weist: James Mayer de Roth­schild er­warb den Band, der in der Auk­ti­on Riva 1856 als lot 65 an­ge­bo­ten wur­de. Nach des­sen Tod im Be­sitz sei­ner Gat­tin Bet­ty, ge­lang­te er Mit­te der 80er Jah­re in die welt­ be­rühm­te Samm­lung Ed­mond de Roth­schild und be­fand sich als Nr. 40 dort bis zu sei­nem Tod 1934, nach dem es über Erb­gang an Ed­monds Toch­ter Alex­an­drine de Roth­schild kam. In de­ren Auk­ti­on Haus der Bü­cher 38, Ba­sel 1964, die Nr. 52 (sfr. 65.000,-). Spä­ter eu­ro­päi­ scher Pri­vat­be­sitz. Text fol. 1: text­los. fol. 2: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt; Gol­de­ne Zahl in Gold, Sonn­tags­buch­sta­be A in Pin­sel­gold auf Rot, Blau oder Braun, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g in Schwarz, S des Hei­li­gen­na­mens in Gold auf Rot, Blau oder Braun, Hei­li­gen­na­men al­ter­nie­rend in Rot und Blau, Fest­ta­ge in Gold; Pa­ri­ser Hei­li­gen­aus­wahl mit Fe­sten von Gen­ovefa und Dio­ny­si­us; je­doch auch mit ei­nem Fest des hei­li­gen Hu­ber­tus von Lüt­ tich (3.11.).

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fol. 14 (ergänzter Text in einer Fraktur des 16. Jahrhunderts, die Räume für Zierbuchstaben leer): Sufragium der Stigmata des heiligen Franziskus: De stimatibus beati francisci. fol. 15: Perikopen: Johannes, als Suffragium (fol. 15), Lukas (fol. 17), Matthäus (fol. 19), Markus (fol. 21). fol. 23 (nach einer ganzseitigen Miniatur auf Verso): Sufragium des heiligen Franziskus: Franciscus vir catholicus … fol. 24: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 24); fol. 46v leer, Laudes (fol. 47), Prim (fol. 62), Terz (fol. 69), Sext (fol. 75), Non (fol. 81), Vesper (fol. 87), Komplet (fol. 97). fol. 104: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 104), des Heiligen Geistes (fol. 114); fol. 121v leer. fol. 122: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 135v). fol. 145: Totenofzium für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 145), Matutin (fol. 153v, mit einer Rubrik eingeleitet), Laudes (fol. 181); fol. 196-197v leer. fol. 198: Gebete: Salve sancta facies …, Mariengebete: Obsecro te (fol. 199v), für einen Mann redigiert, O intemerata (fol. 203v), Stabat mater dolorosa … (fol. 206); Ave cuius conceptio (fol. 209); Gaude virgo virginali (fol. 210v). fol. 213: Sufragien: Johannes der Täufer (fol. 213), Petrus und Paulus (fol. 214), Sebastian (fol. 215), Claudius (fol. 216v), Magdalena (fol. 218v), Barbara (fol. 219v), Katharina (fol. 221). Textende auf fol. 221v. Schrift und Schriftdekor In einer traditionellen, energischen Textura ist dieses Buch geschrieben, so daß man fast den Eindruck haben könnte, es handele sich um eine ältere Handschrift. Doch schon die Tatsache, daß den Gebeten und Suffragien am Ende des Bandes Bildfelder in voller Breite des Textspiegels und den Antiphonen dreizeilige Buchstabenfelder vorbehalten wurden, verrät die recht späte Entstehung des in sich sehr konsequent gestalteten Buchs, das fast ohne Zäsuren auskommt, zumal das Marien-Ofzium nach dem FranziskusSuffragium auf dem zweiten Blatt der dritten Lage einsetzt. Der Schriftdekor erstaunt besonders: Nachdem auf fol. 43v-44 altertümliche zweizeilige Dornblatt-Initialen und einzeilige Buchstaben in Gold auf Blau und auf fol. 49/49v zweizeilige Dornblatt-Initialen in Blau, einzeilige in Gold auf roten und blauen Flächen eingesetzt waren, wechseln verschiedene Dekorationsarten bei den einzeiligen Initialen unregelmäßig. Der für die größeren Initialen der zweizeiligen Psalmenanfänge und der dreizeiligen unter den Bildern benutzte weiße Akanthus auf Pinselgold, goldene Akanthus auf Blau oder blaue Akanthus auf Weinrot steht bei den einzeiligen Initialen neben

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Zierbuchstaben in schlichtem Pinselgold auf blauen oder weinroten Flächen. Alle Textseiten sind ebenso wie die Kleinbilder zu Gebeten und Suffragien von einem Doppelstab außen begleitet, der mit Blattgold zum Text und mit Blau zur Bordüre gefüllt ist, sowie auffälligerweise oben und unten offen bleibt. Dazu kommen Kompartiment-Randstreifen mit Grotesken und Figuren, die teilweise auf Bodenstreifen stehen. Daß viele Zeilenfüller in der gleichen Art gehalten sind, erstaunt nicht, wohl aber die plastische Durchbildung der daneben eingesetzten goldenen Knotenstöcke. Die Bildhierarchie ist bemerkenswert: Die vier Evangelistenbilder arbeiten mit dem von Jean Fouquet für Étienne Chevalier erfundenen und von Jean Colombe weiter entwickelten Layout, bei dem die Incipits am vom Schreiber vorgesehenen Ort bleiben, aber von Malerei umgeben sind. Eigentlich machen die prächtigen Architektur-Rahmen, in die kleine Statuetten eingesetzt sind, den Eindruck, man habe es hier und bei dem Bild der Beterin mit dem heiligen Franz auf fol. 22v mit der höchsten Dekorationsstufe zu tun. Sie wird jedoch übertroffen durch die zwölf Bildseiten mit insgesamt sechzig Bildfeldern zu den Marienstunden, den Matutinen von Kreuz und Geist, den Bußpsalmen und der Toten-Vesper. Bildfolge fol. 1v: Textloses Bild mit einem Engel, dessen Albe antikisch wie ein Peplos mit zwei Gürteln, einem unsichtbaren und einem sichtbaren, gebunden ist und der im Chormantel erscheint. Mit beiden Händen trägt er die oben beschriebenen Wappen. Im Kalender wechseln Monatsbilder mit für die Jahreszeit typischen Beschäftigungen auf Recto und Darstellungen der Tierkreiszeichen auf Verso im großzügigen Bas-de-page ab. Schriftbänder am Ende der äußeren Randstreifen bezeichnen die Monate mit ihren französischen Namen, den Zodiak aber in Latein: Zum Januar ein Mann am Kaminfeuer mit dem Speisetisch an der Rückwand unter zwei Fenstern und der Wassermann als geflügelter nackter Genius, der eine bauchige Vase auf den trockenen Boden ausgießt. Zum Februar ein Mann am Speisetisch und die Fische in einem Fluß zwischen felsigen Ufern mit grandiosem Weitblick. Zum März das Beschneiden der Weinstöcke und der Widder in der Landschaft. Zum April Jüngling vor einer Rosenhecke sitzend mit zwei Blumensträußen in den Händen und der Stier in der Landschaft. Zum Mai ein Paar auf einem Braunen [??] und die Zwillinge als nacktes Paar in (verfänglicher!) Umarmung hinter einem Flechtzaun im Gebüsch. Zum Juni Heumahd mit einem jungen Mann, dessen Schuhe ebenso wie sein Wasserkrug im hohen Gras verschwinden, während er mit der Sense über das Gras fährt, und der Krebs zinnoberrot im blauen Wasser eines Flusses zwischen Felsen. Zum Juli Kornmahd mit der Sichel, wobei der Schnitter sich so beugt, daß das hohe Korn seinen Hut überspielt, und der Löwe wie ein englischer „Leopard“, jedoch den Kopf im Profil. Zum August Backen von kleinen runden Brötchen in einem Burghof und die Jung frau als ein Mädchen, das in langem roten Kleid mit Palmzweig spazieren geht. Zum September Weinkelter und die Waage in der Hand einer jungen Frau, die in einem stattlichen Steinhaus sitzt. Zum Oktober ein Sämann im gepflüg-

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ten Feld, das ebenso wie er en face gesehen ist, mit eindrucksvoller Perspektive an Katen vorbei, dazu auffällig vielen Steinbrocken im Feld, das rechts zum Teil noch nicht gepflügt ist, bemerkenswert auch der Sack mit dem Saatgut rechts, und in irriger Abfolge der Schütze als Kentaur. Zum November ein Schweinehirt beim Schweinefüttern zwischen Holzställen und wieder irrtümlich der Skorpion vor einer geradezu unerhörten Stadtansicht, die sich in einem blauen Gewässer spiegelt. Zum Dezember ein Mann beim Schweineschlachten in einer Burg und der Steinbock vor einem Felsen ruhend, ohne die in dieser Zeit übliche Verfremdung des Hinterteils. fol. 15: Grandiose Evangelistenporträts eröffnen die Perikopen: Die zwei Zeilen des Incipits verbleiben an der vom Schreiber vorgesehenen Stelle, sind wie Schriftbänder von den zweizeiligen Initialen gleichsam auf die Malfläche geheftet. Renaissance-Architekturen in Gold-Camaïeu mit blauen Spiegeln, mit niedrigem Sockel und geradem Fries sowie schmaleren Pilastern zum Falz und mit je zwei weißen Prophetenstatuetten besetzten Pilastern außen sorgen für prachtvolle Rahmung. Die Beschriftung der nicht weiter charakterisierten Gestalten ist teilweise gestört; dargestellt sind bei Johannes David und Salomon ohne Hinweise auf das Königtum, bei Lukas Elias und vielleicht Ezechiel, bei Matthäus Jesajas und Jeremias, bei Markus vielleicht Joel und sicher Daniel. Erstaunliche Wirkungen erzielt der Maler mit den Farben: Die Evangelisten tragen tiefes Purpurrot, das in großartigem Kontrast zu blauen Flächen steht, dazu Violett und Grün. Nur Bücher und Schriftbänder bringen Weiß in die Bilder. Stier, Engel und Löwe sind recht klein. Die Attributswesen von Lukas und Markus halten Schriftbänder mit französischen Namen: s. luc, s. marc. Aus dem tief blauen Meer vor einer mit Silber gehöhten Ferne tauchen felsige Eilande mit Grasnarbe auf; das größte trägt Johannes auf Patmos (fol. 15): Dort sitzt der Heilige rechts gewendet, blickt auf ein Buch, das er auf die Knie gelegt hat, und hält sinnend mit der Feder inne, während der Adler auf einem höheren Felsen in seinem Rücken mit den Flügeln schlägt. Eindrucksvoll erhebt sich das mädchenhafte Haupt Johannes’ über den Horizont. Die anderen drei Evangelisten werden vor eindrucksvoll gegliederten Renaissance-Wänden gezeigt, die durchweg bildparallel angelegt sind. Lukas (fol. 17) sitzt en face auf einem Thron, dessen rechteckige Form der Renaissance zugehört, der aber mit Maßwerk verziert ist; der Stier mit seinen violetten Flügeln hockt unter dem Incipit. Im Profil sitzt Matthäus (fol. 19) an einem massiven Holztisch, dessen Seite im Relief einen Engel zeigt. Er hebt seine Feder über den Kopf, schaut aber eher zu einem im Bild nicht gezeigten Fenster, während der Engel, wiederum mit violetten Flügeln, raumlos hinter dem Tisch und vor einem grünen Ehrentuch steht und mit untergeschlagenen Armen zum Evangelisten blickt. Im Profil nach rechts sitzt hingegen Markus (fol. 21), mit gesenktem Blick, weil er gerade in sein Buch schreibt. Die mit Maßwerk verzierte Bank und das Pult stehen schräg im Bild und unterstreichen durch ihre mangelnde Raumlogik, daß die Konzeptionen der Renaissance für den Maler etwas Neues und Ungewohntes sind; der Löwe mit seinen roten Flügeln sitzt unter dem Incipit.

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fol. 22v: In einer gotischen Kapelle vor Maßwerkfenstern kniet eine Beterin vor Franziskus: Ihr leuchtend rotes Kleid hebt sich famos von dem blauen Goldbrokat ab, der als Ehrentuch hinter beide Gestalten gespannt ist. Wichtiger aber noch ist die Korrespondenz zum Seraphen, der über der Frau schwebt und durch rote Linien mit den Wundmalen des Heiligen verbunden ist. Somit ist im Bild eher die Anbetung der Stigmata des Heiligen gemeint, der in einer wunderbar von Gold gehöhten brauen Kutte dasteht, leicht vom rechten Pilaster der Rahmung abgeschnitten. Vier nicht identifizierte Statuetten sind in die rein goldene Architektur gesetzt. fol. 24: Das Marienofzium begleitet ein besonders auf wendiger Bilderzyklus, der zu den gewohnten Bildthemen noch jeweils vier ergänzende Bildfelder setzt. Die Tatsache, daß am Ende der Matutin fol. 46v leer blieb, zeigt, daß man bewußt dafür sorgte, daß alle Miniaturen dieses Zyklus auf Recto stehen. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 24) findet abweichend von allen anderen Stundenbüchern dieses Bandes im Gemach der Jungfrau vor ihrem roten Bett statt, das in Bildern von Rogier van der Weyden (z. B. im Louvre) vorkommt, dort jedoch nicht so beherrschend in den Raum gestellt ist, während der Meister der Apokalypsenrose in seinen Miniaturen wie Graphiken (so MdA für Vostre 1495-98, Horae B. M. V. IX , S. 3966, Abb. 4) das Schlafgemach weit in den Hintergrund rückt. In unserer Miniatur sitzt die Jungfrau vorn neben ihrem Betpult mit dem aufgeschlagenen Buch. Sie schaut sinnend auf ihre fassungslos erhobenen Hände, während der Engel im violetten Chormantel mit gekreuzten Bändern über der Albe und blauen Flügeln von rechts hinzutritt und auf sie einredet. Die Randszenen gehen rechts oben zunächst auf Maria als zweite Eva ein; denn dort ist der Sündenfall gezeigt. Mariä Tempelgang und Maria am Webstuhl im Tempel schließen sich an, ehe im Bas-de-page Mariä Verlöbnis mit dem greisen Joseph Platz findet zwischen einem jungen Mann, der nach dem Stabwunder seinen Stab zerbricht, und der Mutter Anna. Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 47) löst sich energisch von dem sonst in Paris gewohnten Bildschema: Maria, die einen weißen Schleier um den Nacken trägt, ist aus dem Tal links gekommen, während die greise Elisabeth vom Haus des Zacharias rechts den steilen Felsen herunter gestiegen ist und nun mit besonderer Zartheit den Leib der Jungfrau berührt. In Stundenbüchern nutzt man, wo Nebenszenen zur Heimsuchung vorgesehen sind, diese Gelegenheit gern für Darstellungen aus der Geschichte des Täufers. Doch nicht dessen Geburt, sondern die Geburt der Jung frau Maria wird im Basde-page mit drei helfenden Frauen um das Bett der greisen Anna gezeigt, wie man an den langen goldenen Haaren des neugeborenen Kindes im Bade erkennen kann. Parallel zu den Randszenen der vorausgegangenen Miniatur wird die Erziehung der Jung frau, Marias Frömmigkeit im Tempel und Marias Speisung durch den Engel in einer Bildfolge von unten nach oben geschildert. Schwierigkeiten angesichts der Aufgabe, einen ergänzenden Zyklus zu den Kindheitsszenen zu konzipieren, zeigen die Randbilder der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 62): Während die Hauptminiatur das bekannte Bildschema dahingehend steigert, daß

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der niedrige Stall Maria und Joseph zu extrem demütigem Knien vor der Krippe zwingt, wird rechts oben schon einmal von einem Engel das gloria in eXcelsis der Hirtenverkündigung gezeigt, die erst Thema zur Terz sein sollte. Schwerwiegender aber ist der Umstand, daß nicht nur in der Randszene darunter das gängige Motiv der Flucht nach Ägypten, die erst nach der Königsanbetung folgen dürfte, geschildert zu sein scheint, sondern auch im Bas-de-page die Reise mit dem Kind geschildert wird, obwohl es dort offenbar um die Suche nach einer Herberge in Bethlehem geht: Im untersten Bildfeld der Bordüre verweigert ein reicher Jüngling Maria und Joseph Obdach in seiner Herberge, nachdem Maria vom Esel abgestiegen ist, um mit Joseph, gefolgt von Ochs und Esel, nach einer Unterkunft zu fragen; dazu paßt aber der in einen roten Rock gekleidete Knabe nicht; denn der war bei der Szene noch gar nicht geboren. In pastoralen Motiven, die den Malern leicht von der Hand gingen, schwelgt das Blatt mit der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 69): Unserem Maler sind Rot und Blau viel zu lieb, als daß er sich wie viele seiner französischen Zeitgenossen angesichts der Armut der Hirten mit den unansehnlichen Farben der Wirklichkeit zufrieden gäbe. Die fröhliche Buntheit verbindet seine Pastoralen mit flämischer Buchmalerei, beispielsweise der Familie Bening. Der Stall von Bethlehem wirkt bei der recht konventionell gestalteten Anbetung der Könige zur Sext (fol. 75) sehr viel höher und geräumiger: Ein roter Baldachin ist über Maria an den Deckenbalken befestigt. Sie sitzt mit dem Schleier über dem Haupt und dem in eine weiße Windel gehüllten Knaben, während der älteste König eine Goldkassette darbietet. Der mittlere neigt sich mit einem goldenen Ziborium, während der jüngste als Schwarzer Afrika vertritt. Kurioserweise ist dieser bemerkenswerte und in unserem Material seltene Umstand in den Randbildern vergessen: Dort gehören alle drei Könige zu den Weißen: Wie auf der vorausgehenden Bildseite wird das Bas-de-page mit dem unteren Feld außen kombiniert: Im breit gelagerten Feld reiten die Könige nach rechts, wo Herodes in seinem Palast ihnen entgegenblickt; ganz stimmig wird der Besuch der Könige bei Herodes damit zwar nicht; aber sicher ist er gemeint. Eine nicht genauer definierte Episode von der Reise der drei Könige ist oben gezeigt, darunter vielleicht der mittlere und der jüngere König als Rückenfiguren zu Pferde. Die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 81) löst sich von Pariser Konventionen; denn es wird kein Altar gezeigt. An einem Platz im Tempel, der mit einem runden Baldachin hervorgehoben wird und deshalb wie der leere Thron Gottes wirkt, steht links Simeon, mit Nimbus, und hält die verdeckten Hände in Erwartung des in eine Windel gewickelten Knaben, den Maria kniend darbringt; sie wird von der Magd mit dem Taubenkörbchen begleitet, während zwei junge christliche Geistliche mit Buch und Kerze im Mittelgrund verharren. Nicht einfach zu deuten ist die Darbringungsszene unter dem Incipit: Ein Priester mit Mitra hält ein ähnlich in eine Windel gewickeltes Kind über einem Altar; ein Mann steht in der Tür, zwei Frauen, keine von ihnen Maria, haben das Kind gebracht. Die anderen drei Bildfelder widmen sich der Kindheit Christi: Maria lehrt den Jesusknaben lesen; Maria und Joseph sind dann gezeigt, wie sie sich aufmachen, den

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zwölfjährigen Jesus zu suchen, der im Bild darüber im Kreise der Schriftgelehrten im Tempel lehrt. Die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 87) kommt in der recht nahen Landschaft ohne den Götzen aus, der von seiner Säule stürzt. Die etwas derbere Malweise, bei der Marias Schleier sein sattes Weiß verliert, mag einen Gehilfen des Meisters verraten, dem allerdings Joseph im Profil besonders lebendig, geradezu fesch gelingt. In den Randfeldern werden Episoden vom Kindermord ausgebreitet: Im Bas-de-page der Befehl des Herodes zum Kindermord; im untersten Bildfeld außen eine Mutter mit ihrem toten Knaben vor Herodes; darauf folgt der Kindermord im Dorf und schließlich das Kornwunder mit dem Sämann, der den Soldaten falsche Auskunft gibt und deshalb schon mit der Sichel im hohen Korn steht. Daß die Marienkrönung zur Komplet (fol. 97) die Muttergottes als Himmelkönigin über die Engel setzt, ist der Hauptgedanke der Bildseite: Maria kniet vor der mit Gold bedeckten breiten Thronbank, von der Jesus barfüßig zu ihr herabschwebt. Hinter dem grünen Tuch über der Thronlehne ist der Fond mit Engeln geradezu gemustert: ganz vorn sind sie golden, dahinter als Cherubim blau und in der letzten Schicht als Seraphim glühend rot. Die Bildfelder in der Bordüre zeigen einzelne Engelsgruppen vor hellblauem Himmel: Das beginnt unten mit drei jugendlichen Gestalten, in weiße, aber mit Rosa beziehungsweise Grün zart schattierte Alben gehüllt. Rechts hingegen gibt es nur sechsflügelige Engel; in Violett leuchten die ersten unten, feurig rot die Seraphim und tief blau die Cherubim. fol. 104: Zu den Horen die gewohnten Erkennungsbilder, ergänzt durch Beiszenen: Bei der Kreuzigung zur Matutin des Heiligen Kreuzes (fol. 104) sorgt die eigentümliche Verkleinerung von Gestalten, die höher im Bild erscheinen, für die reduzierte Gestalt des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes, die links vor dem Kreuz stehen und auch zu dem ein Stück weit hinter dem Kreuz stehenden Hauptmann, dessen goldene Rüstung mit dem roten Wams und dem blauen Schild vor der violett-grauen Masse der Soldaten kräftige Farbakzente setzt. Violett ist auch Christi Rock, wie er im Bas-de-page beim Verhör des Pilatus erscheint; von unten nach oben schließen sich an die Geißelung, ein kühnes Bild des Ecce homo mit zwei großen Rückenfiguren aus dem jüdischen Volk und die Kreuztragung, bei der Jesu violetter Rock vor dem dumpfen Dunkel von Rüstungen mit feiner Goldhöhung aufleuchtet. Auf goldenem Thron betet die Muttergottes als Verkörperung der Kirche in der Ausgießung des Heiligen Geistes zur Geist-Matutin (fol. 114); die Apostel, von Johannes und Petrus angeführt, knien um sie und blicken auf zur Taube, die in der Mitte oben goldene Strahlen und rote Flämmchen aussendet. Statt sich mit dem komplexen Text der Horen auseinander zu setzen, genügt dem Maler als Thema für die vier Bildfelder am Rand die Ausbreitung des Glaubens durch die Apostel: Unten ist eine Predigt dargestellt, in den Randfeldern rechts schreitet ein Apostel als Rückenfigur ins Land, Jakobus und ein zweiter wenden sich nach links, drei schließlich nach rechts; und jedes Mal triumphiert das Farbenpaar aus Rot und Blau mit Grün, das auch die Hauptminiatur bestimmt.

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fol. 122: Daß die Bußpsalmen mit der Geschichte von David und Bathseba verbunden sind, sorgte bereits um 1400 für die vielen Bilder der Buße in der Einöde; um 1500 tritt dann Bathsebas Bad schon wegen der Begeisterung für die Aktfigur ins Zentrum des Interesses. Unser Maler zeigt beides, aber ordnet die Szenen auf ungewohnte Weise, um den Uriasbrief zur Hauptsache machen zu können: Die Geschichte nimmt im Bas-depage mit Bathseba im Bade den Ausgangspunkt. In einem Steinbecken vor einer runden Fontäne steht die Nackte mit ihrem vollen Haar; eine Dienerin weicht nach links aus. Schauplatz ist ein Garten mit einer Burg in weitem Abstand; doch rückt David nahe heran, weil ihn der Maler in das untere Bildfeld am Außenrand versetzt hat, wo der König, von zwei Männern begleitet, auf Bathseba blickt. Hier schließt die Hauptminiatur an; denn dort kniet ein Soldat vor dem thronenden David, der ihm unter den Blicken von zwei Ratsherren den Brief übergibt, mit dem der Heerführer aufgefordert wird, den Hethiter Urias beim nächsten Kampf so aufzustellen, daß er fallen muß. Statt den König dann vom Propheten zurechtweisen zu lassen, zeigt der Maler in der Mitte außen den Tod vor David: die ledrige Gestalt drängt sich vor die Ratsherren und zwingt den König zur Buße. Davids Gebet in der Einöde mit seiner Burg im Hintergrund und dem feurig glühenden Engel des Herrn in den Wolken schließt den Zyklus rechts oben ab. fol. 145: Auch bei den Hiobsszenen zur Toten-Vesper spielt der Maler frei mit der Abfolge der Szenen: Ausgangspunkt ist Gottes Pakt mit dem Teufel rechts unten: Als groteske schwarze, menschenähnliche Gestalt kniet der Teufel auf der Erde und blickt zur Gotteserscheinung in den Wolken auf. Daran schließt der Einsturz des Hauses und die Vernichtung von Hiobs Nachkommen im Bas-de-page an. Keine rechte Abfolge haben dann die drei weiteren Bilder mit Hiob auf dem Dung; sie zeigen rechts in der Mitte Hiob und seine Frau, darüber Hiobs Peinigung durch den Teufel und schließlich den Besuch der drei Freunde bei Hiob im räumlich eindrucksvollen Hauptbild vor den Mauern einer hochgelegenen Stadt. fol. 198: Die abschließenden Gebete und Suffragien werden durchweg mit acht Zeilen hohen Bildfeldern eröffnet, die über den nun dreizeiligen Initialen die ganze Breite des Textspiegels einnehmen. Wie bei Jean Poyer sorgt das breite Bildformat, in dem durchweg Ganzfiguren agieren, für viel Raum; das gibt den Landschaften besonderes Gewicht. Das Gebet: Salve sancta facies verlangt eine Darstellung der Vera Ikon, die hier wie gewohnt von der nur aus dem Anagramm gebildeten heiligen Veronika präsentiert wird. So steht in weiter Landschaft vor einem roten Ehrentuch die wie Maria in Blau gehüllte Frauengestalt und präsentiert auf dem weißen Schweißtuch ein ungewöhnlich großes Bild des heiligen Antlitzes, gegen allen zeitgenössischen Brauch in Schwarz, und damit gewissen Ikonen eng verwandt, wie sie beispielsweise auch in Berrys Brüsseler Stundenbuch zu finden sind. Die ersten beiden Mariengebete eröffnen Bilder der Maria mit Kind: Zum Obsecro te thront sie zwischen zwei Engeln (fol. 199v); beim O intemerata hingegen ist sie die Mulier amicta in sole der Apokalypse, also die Madonna im Strahlenkranz, vor einer goldenen Mandorla in den Himmel erhoben, freilich ohne Mondsichel unter den Füßen (fol.

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203v). Das Stabat mater verlangte gegen den Wortlaut Es stand die Schmerzensreiche Mutter in der Buchmalertradition die Pietà (fol. 206), also die Beweinung unter dem Kreuz, zwischen Johannes, der das Haupt des Toten hält, und der leicht zurückgesetzten knienden Magdalena. Beide sind uns als Begleiter der Muttergottes bereits mehrfach ähnlich begegnet, so in einer Miniatur von François Le Barbier dem Jüngeren in unserer Nr. 32. Episoden aus der Marienlegende werden den weiteren Mariengebeten zugeordnet: Das Ave cuius conceptio feiert die Empfängnis Mariä durch den Kuß an der Goldenen Pforte (fol. 209), die als massiver goldener Bau vor den grauen Mauern steht. Das Gaude virgo virginali hingegen eröffnet mit der Mariengeburt (fol. 210v): Ein zentral stehendes rotes Wochenbett, in dem die greise Anna mit der bereits bunt gewickelten und mit einem weißen Mützchen versehenen Neugeborenen liegt, während links eine an Maria gemahnende Frau ein Glas Wasser bringt und eine zweite Frau Wäsche wegträgt. fol. 209: Zu den Suffragien sind entsprechende Bilder geschaltet: Johannes der Täufer (fol. 213) kniet auf felsigem Grund in der Einöde und scheint zu dem Lamm zu sprechen, das am Boden ihm zugewandt sitzt. Petrus und Paulus (fol. 214) stehen vor einem grünen Ehrentuch in einem sakralen Raum mit ihren Attributen. Von links zielen Bogenschützen bei Sebastians Pfeilmarter (fol. 215) auf den an einen Baum gefesselten Jüngling. Vor einem blau ausgeschlagenen Thron steht in Rot Bischof Claudius (fol. 216v). Von je zwei Engeln in blauem Camaïeu flankiert steht Magdalena (fol. 218v) nackt, aber ganz in ihrem wallenden Haar geborgen auf einem Felsen; sie ist also anders als gewohnt nicht schwebend in den Himmel entrückt. Barbaras Enthauptung (fol. 219v) wird besonders derb gezeigt: Vom Bildformat angeregt, hat der Maler den Moment gewählt, in dem die Prinzessin enthauptet bereits am Boden liegt, während ihr königlicher Vater seinen orientalischen Säbel in die Scheide zurückstößt; links über dem abgeschlagenen Haupt steht der Turm mit den drei Fenstern. Katharinas Enthauptung (fol. 221) steht hingegen noch bevor: Von links schaut der greise Herrscher mit Gefolge zu, wie die gekrönte Heilige über einem Fragment des Rades kniet und das Schwert erwartet, das der Scherge bereits über ihrem Haupt schwingt. Der Maler Unsere eigene Geschichte mit dem Maler wird hier unter Nr. 40 erläutert. Mit diesem Manuskript stellen wir ein Buch vor, das zwar durch die Zugehörigkeit zu der eminenten Sammlung von James Mayer de Rothschild und seinen Erben, vor allem Edmond, dem wohl bedeutendsten Handschriftensammler der gesamten Zeit, theoretisch nicht ganz unbekannt war, von dem aber selbst Christopher de Hamel keine rechte Vorstellung hatte. Auf eindrucksvolle Weise reiht sich das Manuskript in die Serie der großen Bilderhandschriften der Pariser Rothschilds ein; und es nimmt auch im Œuvre seines Schöpfers einen großen Rang ein, wohl als das schönste Stundenbuch mit Miniaturen seiner Hand. Seit Avril und Reynaud 1993 vorgeschlagen haben, das mit zwölf Miniaturen geschmückte Exemplar von 1502 einer Chronik der Regierungszeit Ludwigs XI . von Jean de Va-

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lognes mit In­ter­po­la­tio­nen von Jean de Roye, die als Chronique Scandaleuse be­kannt ist (Pa­ris, BnF, Ms. Clairambault 481), zum „man­uscrit pi­lo­te“ der ge­sam­ten Stil­grup­pe zu ma­chen, spricht man nur noch vom Mei­ster der Chronique Scandaleuse. In un­se­rem Ka­ ta­log kommt die­ser ein­drucks­vol­le Buch­ma­ler an ei­ni­gen Stel­len vor, gern in Zu­sam­men­ ar­beit mit Pa­ri­ser Zeit­ge­nos­sen. Sei­ne viel­fäl­ti­gen Be­zü­ge zu haupt­städ­ti­schen Werk­ stät­ten be­stär­ken die Ge­wiß­heit, daß auch er in Pa­ris ge­ar­bei­tet hat. An­ders als die mei­sten Künst­ler, von de­nen hier die Rede ist, fügt sich die­ser Ma­ler aber nicht ein­fach in die Tra­di­ti­on der be­herr­schen­den Fa­mi­li­en, der Le Bar­bier und des Mei­ sters der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte Cha­pel­le und sei­ner Vor­gän­ger ein. Oft ver­stößt der Mei­ster der Chronique Scandaleuse ge­gen die ge­wohn­te Mo­tiv­wahl, und wo er ihr folgt, bie­tet er oft ikono­gra­phi­sche Än­de­run­gen. Da­bei ver­bin­det ihn vom Tem­pe­ra­ment man­ches vor al­lem mit dem Mei­ster Karls VIII . In­ner­halb der Stil­grup­pe und des Œuvres, das un­ter dem Na­men des Mei­sters der Chronique Scandaleuse ge­führt wird, nimmt un­ser Stun­den­buch durch den Bil­der­reich­tum eine be­deu­ten­de Rol­le ein. Zu­dem brilliert hier der un­ge­wöhn­li­che Fa­rb­sinn des Künst­ lers, der in er­ster Li­nie auf ein ge­ra­de­zu un­glaub­lich schö­nes Blau und ein Pur­pur­rot aus­ge­rich­tet ist, des­sen Kraft durch das Zu­sam­men­spiel mit hel­lem Grün, Vio­lett und fei­nen Grau­tö­nen, mehr noch durch Gold­höhung ge­stei­gert wird. Vom dif­fu­sen Fa­rb­ auf­trag her läßt der Mei­ster auch an Jean Poyer in Tours den­ken, so daß viel­leicht über­ legt wer­den soll­te, wie weit die Be­zie­hun­gen zur Fouquet-Nach­fol­ge die­se Buch­ma­le­rei ge­prägt ha­ben. Im Werk des Künst­lers wird es sich um eine re­la­tiv frü­he Ar­beit han­deln. Durch die Schen­kung ih­res Ehe­manns an Fran­çoise de Bel­le­combe im Jahr 1487 scheint uns ein glück­li­cher wie schlüs­si­ger Da­tie­rungs­hin­weis ge­ge­ben, der die­se An­nah­me per­fekt stützt. Ein ein­zig­ar­ti­ges Haupt­werk des Mei­sters der Chronique Scandaleuse, der erst 1993 de­fi­niert wur­de, bil­der­reich und bril­lant schön er­hal­ten. Das Tem­pe­ra­ment des Künst­lers be­wegt sich zwi­schen Jean Poyer in Tours und dem Mei­ster Karls VIII . in Pa­ris. Für haupt­städ­ti­sche Kon­ven­tio­nen hat er we­nig Re­spekt; sei­ne Bild­phan­ta­ sie ist er­staun­lich und wird durch die An­la­ge der Haupt­mi­nia­tu­ren mit je­weils vier er­gän­zen­den Rand­bil­dern be­son­ders her­aus­ge­for­dert. In un­se­rem an vor­züg­li­cher Ma­le­rei so rei­chen Ka­ta­log ge­hört die­ses Stun­den­buch auch durch sei­ne Pro­ve­ni­enz zu den ein­drucks­voll­sten Ma­nu­skrip­ten: Wap­pen, Bild­ nis und De­vo­ti­on zum hei­li­gen Franz be­wei­sen, daß das Buch für Fran­çoise de Bel­ le­combe ge­schaf­fen wur­de, eine Ad­li­ge aus dem bur­gun­di­schen Mâconnais, de­ren Fa­mi­lie zu­nächst der Bur­gun­der­her­zo­gin Ma­ria treu blieb, ehe sie sich mit der Über­ nah­me des bur­gun­di­schen Kern­ge­biets durch Lud­wig XI . ab­fand. Rüh­rend schön ist das Bild­nis der Dame eben­so wie das ih­res ju­gend­li­chen Na­mens­p a­trons.

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Ab 1856 ge­hör­te das Buch den Pa­ri­ser Roth­schilds, nun taucht es wie­der auf und be­stä­tigt auf sei­ne Art das er­staun­lich treff­si­che­re Ge­spür die­ser Fa­mi­lie für Bil­der­ hand­schrif­ten der al­ler­höch­sten Qua­li­tät! LI­T E­R A­T UR : De Hamel, Chri­sto­pher, The Roth­schilds and the­ir Co­llect­ions of Illu­min­ated Manuscripts, Lon­don 2005, er­wähnt die­ses Ma­nu­skript auf den Sei­ten 20, 36f., 49 und vor al­lem 54.

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40 Ein no­bles Pa­ri­ser Stun­den­buch un­ge­wöhn­li­chen For­mats mit ei­ner Mi­nia­tur vom Mei­ster der Chronique Scandaleuse und fa­rb­fro­her Aus­ma­lung durch den Mei­ster des Étienne Ponc­her in vor­züg­li­chem Fan­fa­reEin­band


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, Auszeichnungsschrift in Blau und Gold, in brauner Textura. Paris, um 1490: Verkündigung vom Meister der Chronique Scandaleuse, die Ausmalung sonst vom Meister des Étienne Poncher (alias Meister der Marie Charlot) 35 Miniaturen; davon sieben große in Renaissance-Rahmen über vier bis fünf Zeilen mit dreizeiligen Initialen, die übrigen 28 zehnzeilig in voller Breite des Textspiegels; alle in Vollbordüren aus Akanthus und Blumen auf Pinselgold. Horenanfänge von Hl. Kreuz und Hl. Geist mit dreizeiligen, Psalmenanfänge mit zweizeiligen Initialen derselben Art; Psalmenverse hingegen mit einzeiligen Buchstaben in Pinselgold im Wechsel von Blau-Weinrot-UmbraWeinrot; Zeilenfüller derselben Art im Wechsel mit Knotenstöcken. 132 Blatt Pergament, dazu vorn ein, hinten zwei Blätter Pergament als Vorsätze; gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Lagen 2-3 (6), 16 (4), 18 (49). Reklamanten in Bastarda. Zu 23 Zeilen, regliert in Rot. Hoch-Oktav, als Halfterbuch gedacht? (200 x 125 mm; Textspiegel: 115 x 54 mm). Komplett, breitrandig und glanzvoll erhalten. Herrlicher französischer Einband à la fanfare im klassischen Stil aus rotem Maroquin auf flachen Rücken, Deckel und Rücken gänzlich vom Muster bedeckt, vgl. den bei G. D. Hobson, Les Reliures à la fanfare, 1935, S. 14, unter Nr. 27 verzeichneten typischen Einband (ebenfalls zu einem Pariser Stundenbuch-Manuskript) aus der Sammlung La Roche-Lacarelle, Nr. 24 des Katalogs 1888, mit Abbildung auf Tafel, sowie das Stundenbuch Nédonchel – DescampsScrive (I, Nr. 25 mit Tafel) – G. E. Lang – Cortlandt Bishop (I, 1938, Nr. 1056): beide unserem Einband zum Verwechseln ähnlich. Vorsätze mit rotem Seidenmoiré bezogen, Goldschnitt. Provenienz: Aus dem Besitz des Jean Thomas Aubry, Priester und Doktor der Theologie an der Pariser Sorbonne, dessen von Martinet gestochenes Exlibris auf dem Verso des ersten Vorsatzes vorn: zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Baroness Lucas & Dingwall in Wrest Park (nicht in ihren beiden Auktionen Sotheby’s 1922 und 1954). Text fol. Ia: Gemalte Frontispizminiatur des 17. oder 18. Jahrhunderts mit Eintrag „Heures de Notre Dame à l’usage de Paris“. fol. 1: Perikopen: Johannes (fol. 1), Lukas (fol. 2v), Matthäus (fol. 4), Markus (fol. 5v), gefolgt von der Passion nach Johannes (fol. 6v). fol. 12v: Mariengebete, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 12v), O intemerata (fol. 15v); fol. 20v leer.

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fol. 21: Marien-Ofzium für den Gebrauch von Paris mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin mit drei vollen Nokturnen (fol. 21), Laudes (fol. 37v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 45), Matutin von Heilig Geist (fol. 46v), Marien-Prim (fol. 47v), Terz (fol. 53), Sext (fol. 57v), Non (fol. 62), Vesper (fol. 66), Komplet (fol. 72). fol. 77: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 85v); fol. 89 leer. fol. 90: Toten-Ofzium für den Gebrauch von Paris. fol. 121: Sufragien: Trinität (fol. 121), Michael (fol. 121v), Johannes der Täufer (fol. 122), Johannes der Evangelist (fol. 122v), Laurentius (fol. 123), Sebastian (fol. 123v), Claudius (fol. 124v), Nikolaus (fol. 125v), Anna (fol. 126), Magdalena (fol. 127), Martha (fol. 127v), Katharina (fol. 128), Barbara (fol. 128v), Potentiana (fol. 129v), Genovefa (fol. 130), Maria Aegyptiaca (fol. 130v); fol. 132 leer. Besonders auffällig ist das Suffragium der heiligen Potentiana; den Namen trugen mehrere Heilige: Die Patronin einer römischen Basilika, eigentlich Pudenziana, wird im Lateinischen zuweilen – eher irrig – so geschrieben; im Königreich Leon wurde eine Heilige dieses Namens verehrt. In unserem Fall wird die Lokalheilige von Châtillon-Coligny (früher Châtillon-sur-Loing) gemeint sein; der Ort, der Sitz der als Protestanten berühmten Famillie Coligny war, liegt im Loiret, südlich von Paris, nahe der Stadt Lorris. Zu der Heiligen siehe das Buch von J. Bourdon, Sainte Potentienne, vierge, deuxième patronne de Châtillon-sur-Loing, Paris 1856. Schrift und Schriftdekor Die niedrige Textura, in der dieses Manuskript geschrieben ist, wirkt wie eine Reverenz gegenüber älteren Stundenbüchern. Das steile Format erstaunt; es gemahnt durchaus an sogenannte Halfterbücher. Daß keine Rede davon sein kann, es handele sich um eine ältere Handschrift, die erst um 1500 ausgemalt wurde, zeigen die vorzüglichen hellen Akanthus-Initialen auf Pinselgold ebenso wie die in Pinselgold auf den regelmäßigen Wechsel von Flächen in Blau-Weinrot-Umbra-Weinrot gemalten einzeiligen Initialen; einen Hinweis auf die späte Entstehung geben auch die geradezu realistisch charakterisierten rauhen Knotenstöcke als Zeilenfüller. An italienischer Buchkunst orientiert ist der erstaunliche Wechsel von Gold und Blau bei den wichtigsten Incipits; dabei ist wohl an Auszeichnungsschrift gedacht. In Frankreich fremd ist auch die Art und Weise, wie die extrem steilen Kopfminiaturen mit ihren goldenen Rahmungen in die Bordüren eingesetzt sind: Statt mit dem Bogenabschluß des Bildes in den Randschmuck vorzudringen, beschränken sich die Bildfelder einschließlich ihrer Rahmungen auf den Schriftspiegel. Durch einen schmalen Streifen unbemalt belassenen Pergaments werden die Bordüren mit ihrem ganz anders gestalteten Pinselgold-Fond vom Bild getrennt. Die Einrichtung der kleinen Miniaturen in voller Breite des Textspiegels widerspricht Pariser Brauch, erweist sich aber in Nr. 39 als eine Eigenart des hier nur für die Verkündigung verantwortlichen Meisters der Chronique Scandaleuse. Seiner Extravaganz wird dieses Buch Einiges verdanken.

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Bild­fol­ge fol. 1: Jo­han­nes auf Patmos er­hält eine gro­ße Mi­nia­tur über fünf Zei­len In­cipit: Da sitzt er vor ei­nem stei­len Fel­sen in ei­ner was­ser­rei­chen Land­schaft, ohne daß die Struk­tur ei­ ner In­sel er­kenn­bar wäre. Im kräf­ti­gen Blau der Fer­ne hebt sich eine Wind­müh­le vom Him­mel ab. Der ju­gend­li­che Evan­ge­list, in blau­em Ge­wand mit ro­tem Man­tel über den Schul­tern, blickt ge­dan­ken­ver­lo­ren nach links und zieht auf sei­nem Schrift­band er­staun­ li­cher­wei­se nur eine lan­ge Li­nie, wäh­rend ihm der Ad­ler von rechts zu­schaut und das Schreib­zeug hält. fol. 2v: Die üb­ri­gen Evan­ge­li­sten wer­den in Klein­bil­dern dar­ge­stellt, die die gan­ze Brei­te des Text­spie­gels ein­neh­men: Lu­kas als Ma­ler (fol. 2v) mit ei­ner Iko­ne der Schmer­zens­ rei­chen Ma­ria auf der Staf­fe­lei, für die ihn die Mut­ter­got­tes al­lein be­sucht und sehr viel klei­ner als er im Bild steht. Dem Evan­ge­li­sten Mat­thä­us (fol. 4) hält der En­gel das Buch auf eine Wei­se, daß er da­hin­ter fast ver­schwin­det. Mar­kus (fol. 5v) sitzt hin­ge­gen ru­hig ne­ben sei­nem Lö­wen in sei­ner Stu­dier­stu­be. fol. 6v: Von den vier ge­wohn­ten Per­ik­open ge­trennt ist die Jo­han­nes-Pas­si­on; sie er­hält mit Chri­stus am Öl­berg ein gro­ßes Bild: Bei Ta­ges­an­bruch tre­ten aus der Bild­tie­fe durch die Gar­ten­pfor­te über die Brücke Ju­das und die Sol­da­ten her­zu, wäh­rend Je­sus vorn vor ei­nem Fel­sen kniet, der mit dem Kelch sei­nes Lei­dens bekrönt ist; der­weil schla­fen die drei Lieb­lings­jün­ger. fol. 12v: Zu den Ma­rien­ge­be­ten wie ge­wohnt Bil­der von Ma­ria mit ih­rem Sohn, ein­mal in Freu­de, ein­mal im Schmerz: Zum Ob­secro te eine Dar­stel­lung von Ma­ria mit Kind (fol. 12v) im Sin­ne des Apo­ka­lyp­ti­schen Wei­bes, also in der Son­ne. Beim O in­teme­rata die Pi­età (fol. 15v), wo Ma­ria bei der Be­wei­nung des to­ten Chri­stus vom Lieb­lings­jün­ger Jo­han­nes und Mag­da­le­na mit dem Salb­ge­fäß be­glei­tet wird. ­fi­zi­um er­hält nur die Matutin eine gro­ße Mi­nia­tur; der Zy­klus fol. 21: Zum Ma­rien­of rich­tet sich nach dem Pa­ri­ser Brauch: Die Ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 21) ge­hört zu den fas­zi­nie­rend­sten Bil­dern in un­ se­rem Ka­ta­log: Das In­te­rieur, das ganz in Grau­tö­nen ge­hal­ten, aber mit Gold be­lebt ist, wird von leuch­tend gol­de­nen Säu­len des Bild­rah­mens flan­kiert und nach oben durch ei­ nen Kiel­bo­gen ge­schlos­sen. Vor ei­nem Bal­da­chin, der an das Bett in Nr. 39 den­ken läßt, kniet die Jung­frau, in ei­nem vio­let­ten Kleid und ei­nem über und über mit Gold geh­öhten Man­tel; sie be­tet, wäh­rend im Raum zu­rück­ge­setzt ihr ge­öff­ne­tes Buch auf dem mit Maß­werk ver­zier­ten Pult liegt. Von rechts ist der Erz­en­gel ein­ge­tre­ten und ein Stück tie­ fer im Raum nie­der­ge­kniet; mit sei­ner Lin­ken weist er auf Ma­ria, in der Rech­ten hält er ein dün­nes gol­de­nes Zep­ter; das ave gracia führt in gol­de­nen Let­tern hoch zur Tau­ be, die in der Mit­te über den Häup­tern er­scheint. In Pur­pur­rot, der zwei­ten Lieb­lings­ far­be des Ma­lers, ist Ga­bri­els stoff­rei­che Dal­ma­tika ge­färbt. fol. 37v: Die klei­ne­ren Bil­der zu den Ma­rien­stun­den be­schrän­ken sich auf das We­sent­li­ che; sie wer­den un­ter­bro­chen von den gro­ßen Mi­nia­tu­ren zur Matutin von Hei­lig Kreuz

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und Heilig Geist: Wie in Nr. 39 ist Elisabeth bei der Heimsuchung zu den Marien-Laudes (fol. 37v) aus ihrem Haus rechts oben herabgestiegen. fol. 45: Die Kreuzigung zur Matutin des Heiligen Kreuzes bleibt auf drei Figuren beschränkt: Maria neigt betend ihr Haupt, Johannes weist mit der Rechten zum Gekreuzigten, der recht hoch und deshalb viel kleiner zwischen beiden am Kreuz hängt. Bäume hinterfangen die stehenden Gestalten, Büsche im Mittelgrund und der Blick auf eine Burg im Blau der Ferne lassen dieses Kreuzigungsbild im französischen Umfeld fremd und geradezu deutsch wirken. Vielleicht soll der mondähnliche Himmelskörper eine Sonnenfinsternis darstellen. fol. 46v: Das Pfingstwunder zur Matutin des Heiligen Geistes folgt dem in Paris ebenso wie in der zeitgenössischen flämischen Buchmalerei häufigen asymmetrischen Schema, bei dem Maria mit Johannes und Petrus die Schar der knienden Apostel anführt und sich zur Taube wendet, in diesem Fall nach rechts. Die nun folgenden Kleinbilder sind auf Hauptfiguren beschränkt: Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 47v); Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 53); Anbetung der Könige zur Sext (fol. 57v); Darbringung im Tempel zur Non (fol. 62); Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 66); Marienkrönung zur Komplet (fol. 72). Von besonderem Reiz ist die letzte Miniatur mit greisem Gott, der mit der päpstlichen Tiara gekrönt ist: Statt von starkfarbigen Engeln wie in Nr. 39 ist der dunkelblaue Himmel von grellem Gelb und Rot belebt. fol. 77: Bathseba im Bade war in der Entstehungszeit unseres Buches, wie unser Katalog schlagend zeigt, in Paris das beliebteste Thema zu den Bußpsalmen. Besonders kostbar ist die Ausstattung hier; denn zu ihrem Bad ist Bathseba in ein goldenes Becken gestiegen, das von einer goldenen Fontäne sein Wasser erhält – und zwar nicht, wie gewohnt aus dem Kopf eines Löwen, sondern aus dem eines Menschen; und eine kleine Statuette, offenbar eine Figur in Rüstung mit Lanze und Schild bekrönt zierlich diese Fontäne. Bathseba trägt ein kostbares Collier und bedeckt ihre Scham durch ein weißes Tuch, das sie über ihren rechten Arm gebreitet hat. Sie ist ebenso allein im Garten wie der noch recht junge König David im Fenster seines Palastes. Groß ist die Aktfigur, recht klein ihr Beschauer. fol. 90: Die Toten-Vesper eröffnet mit der letzten großen Miniatur; dargestellt ist wie so oft in dieser Zeit Hiob auf dem Dung mit vier Freunden, vor einer Kulisse aus Fachwerkhäusern und Landschaft. fol. 121: Kleinbilder mit Halbfiguren zu den Suffragien, wie in Nr. 39 jeweils über die ganze Breite des Textspiegels gespannt: Gnadenstuhl, also Gottvater thronend mit dem Kruzifix und der Taube des heiligen Geistes (fol. 121); Michaels Kampf mit dem Teufelsdrachen (fol. 121v); Johannes der Täufer mit dem Lamm in der Einöde (fol. 122); Johannes der Evangelist mit dem Giftkelch (fol. 122v); Laurentius mit Buch und Rost (fol. 123); Sebastian allein bei der Pfeilmarter

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(fol. 123v); Bi­schof Clau­di­us mit ei­nem Mann, den er auf­er­weckt hat und der sich be­ tend aus dem Gra­be er­hebt (fol. 124v); Bi­schof Ni­ko­laus mit den drei Kna­ben im Bot­ tich (fol. 125v); Anna, die Ma­ria le­sen lehrt (fol. 126); Mag­da­le­na mit dem Salb­ge­fäß als Ein­sied­le­rin vor ei­nem Fel­sen (fol. 127); Mar­tha mit der Ta­ra­sque, die sie durch Weih­ was­ser bän­digt (fol. 127v); Ka­tha­ri­na mit Kro­ne und Schwert (fol. 128); Bar­ba­ra mit dem Turm (fol. 128v); Po­tent­iana als Mär­ty­re­rin (fol. 129v); Gen­ovefa mit En­gel und Teu­fel (fol. 129v) Ma­ria Eg­yptiaca als Ein­sied­le­rin, nackt, je­doch ganz vom wal­len­den Haar ein­ge­hüllt (fol. 130v). Der Ma­ler Die Strecke, die wir selbst mit den gro­ßen Pro­jek­ten Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter und Horae B. M. V. zu­rück­ge­legt ha­ben, wird über­deut­lich im Rück­blick auf un­se­ren er­sten Ver­ such, den Künst­ler zu fas­sen, der für die Aus­ma­lung die­ses Ma­nu­skripts ins­ge­samt ver­ ant­wort­lich war. Das ge­schah 1990, also zwei Jah­re vor un­se­rem ei­ge­nen Ver­such, in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV die tra­di­tio­nell als „Schu­le von Rouen“ be­zeich­ne­ten Stilla­gen in Pa­ris an­zu­sie­deln, und deut­lich vor dem Pa­ri­ser Aus­stel­lungs-Ka­ta­log von Avril und Reynaud 1993, der vor al­lem für die da­nach gül­ti­ge No­men­kla­tur wich­tig wur­de. Im­ mer­hin ha­ben wir 1990 rich­tig ge­se­hen, daß der­sel­be Stil ein noch im­mer in An­ti­qua­ri­ at und Pri­vat­be­sitz be­find­li­ches Ex­em­plar von Ovids Her­oi­den in der Über­set­zung des Octovien de Saint-Gel­ais, wohl für Anne de Bre­ta­gne, prägt (spä­ter Ar­cana Co­llect­ion, Chri­stie’s Lon­don, 2010, Nr. 42). Die Be­zeich­nung hat sich je­doch eben­so we­nig durch­ge­setzt wie Plummers „Ma­ster of Mor­gan 219“; Avril und Reynaud be­vor­zug­ten das mit zwölf Mi­nia­tu­ren ge­schmück­te und 1502 da­tier­te Ex­em­plar ei­ner Chro­nik der Re­gie­rungs­zeit Lud­wigs XI . von Jean de Valognes mit In­ter­po­la­tio­nen von Jean de Roye, die als Chronique Scandaleuse be­kannt ist (Pa­ris, BnF, Ms. Clairambault 481). Avrils ho­hem An­se­hen ist zu ver­dan­ken, daß es da­bei blieb, ob­wohl die Hand­schrift für Be­nut­zung ge­sperrt und in der Li­te­ra­tur so gut wie nie ab­ge­bil­det ist (zu­gäng­lich sind im­mer­hin die Mi­nia­tu­ren bei­spiels­wei­se über die Banque d’images der BnF). Im Werk des Mei­sters der Chronique Scandaleuse nimmt das Ver­kün­di­gungs­bild hier ei­nen be­mer­kens­wer­ten Platz ein. Ein zwei­ter Ma­ler, der uns seit lan­gem ver­traut ist, hat of­fen­bar un­ter der Lei­tung des nur mit dem Haupt­bild zum Ma­rien­of ­fi­zi­um her­vor­tre­ten­den Mei­sters un­ser Stun­den­buch ge­ra­de­zu fröh­lich il­lu­mi­niert; es ist der Ma­ler, den wir lan­ge nach Ma­rie Char­lot nann­ ten und der in­zwi­schen mit dem Pa­ri­ser Bi­schof Étienne Ponc­her so­li­de ver­bun­den wird; wir wer­den ihm in den Stun­den­bü­chern Nr. 43-45 die­ses Ka­ta­logs wie­der be­geg­nen. Der Mei­ster der Chronique Scandaleuse ge­winnt seit sei­ner „Tau­fe“ 1993 im­mer mehr an Ge­wicht; er hat in die­ser Hand­schrift zwar nur das ein­drucks­vol­le Bild der ge­ra­de­zu ge­heim­nis­voll ko­lo­rier­ten Ma­rien­ver­kün­di­gung ge­malt, die in­des zu den er­staun­lich­sten Schöp­fun­gen in un­se­rem an vor­züg­li­cher Ma­le­rei so rei­chen Ka­ta­ log ge­hört. Das un­ge­wöhn­li­che For­mat mit den schlan­ken Bild­fel­dern, die durch gol­

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dene Architekturen gerahmt sind, mag mit seinem bemerkenswerten Temperament und seinem Sinn für kostbare Wirkungen zusammenhängen. Neben ihm steht der Meister des Étienne Poncher, den wir als Meister der Marie Charlot eingeführt hat­ ten; von ihm bleibt vor allem die schöne Darstellung von Bathseba im Bade im Ge­ dächtnis. LI TE RATUR :

LM II , Nr. 54.

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41 Ein Mu­ster­buch für die Zu­sam­men­ar­beit von Pa­ri­ser Künst­ler­ateliers: sechs ver­schie­de­ne Ma­ler un­ter der Lei­tung des Mei­sters der Chronique Scandaleuse


Stun­den­buch. Horae B.M.V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Blau und Rot, in schwar­zer Tex­tura. Pa­ris, um 1490: Mei­ster der Chronique Scandaleuse als Haupt­ver­ant­wort­li­cher, mit Mi­nia­tu­ren vom Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern, vom Mei­ster des Go­tha-Stun­ den­buchs, dem auch nach Étienne Ponc­her ge­nann­ten Mei­ster der Ma­rie Char­lot so­wie ei­nem über­le­ge­nen Künst­ler, dazu Ka­len­der­bil­der von Jean Co­ene 57 Mi­nia­tu­ren: 16 gro­ße Mi­nia­tu­ren über vier Zei­len Text in Voll­bor­dü­ren mit Gold­ grund mit bun­ten Akanthus­ran­ken, Gro­tes­ken auf Bo­den­strei­fen und Vö­geln, 16 Klein­ bil­der mit drei­sei­ti­gen Gold­g rund­bor­dü­ren; dazu eine halb­rund ab­ge­schlos­se­ne Kopf­ mi­nia­tur; 24 Ka­len­der­bil­der, je­weils paar­wei­se als sechs Zei­len hohe Fel­der über dem zwei­spal­ti­gen Text; alle Text­sei­ten mit ei­nem gold­grundi­gen Bor­dü­ren­strei­fen in Text­ spie­gel­hö­he au­ßen; zwei- bis vierz­ei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen mit al­ter­tüm­li­chem Dorn­blatt­de­kor; Psal­men­ver­se am Zei­len­be­ginn mit ein­zei­li­gen In­itia­len in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen; Zei­len­fül­ler der glei­chen Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 141 Blatt Per­ga­ment, vorn und hin­ten je­weils 2 flie­gen­de Vor­sät­ze aus Per­ga­ment, wei­ße Sei­ de auf dem fe­sten und er­sten flie­gen­den Vor­satz; ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (6) so­wie die La­gen 8-9 (6), 16 (8-1, text­lo­ses End­blatt ent­fernt), die er­gänz­ten End­la­gen 18 bis 20 (4). Rot reg­liert zu 21, im Ka­len­der zwei­spal­tig zu 17 Zei­len; ab fol. 134 zu 18 Zei­len. Ok­tav (175 x 120 mm; Text­spie­gel: 105 x 62 mm; ab fol. 124: 110 x 65,5 mm). Voll­stän­dig und ohne jeg­li­che Ge­brauchs­spu­ren ma­kel­los er­hal­ten. Ro­ter Samt­ein­band auf Holz­deckeln, auf fla­chen Rücken; ori­gi­na­ler Gold­schnitt mit schö­ner Dent­el­le-Punzierung. Pro­ve­ni­enz: Das Ma­nu­skript war, wie die Mi­nia­tur zu den XV Freu­den Mariä be­weist, für eine Dame be­stimmt, de­ren Iden­ti­tät un­ge­klärt ist. Auf dem Ver­so des er­sten flie­gen­den Vor­ sat­zes Wap­pen­ex­li­bris von Ro­bert Her­on. Zu­letzt ame­ri­ka­ni­scher Pri­vat­be­sitz. Text fol. 1: fran­zö­si­scher Ka­len­der, je­der Tag be­setzt, zwei­spal­tig an­ge­legt; Gol­de­ne Zahl in Gold, Sonn­tags­buch­sta­be A in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen, Sonn­tags­buch­sta­ ben b-g in Braun, Hei­li­gen­na­men ab­wech­selnd in Rot und Blau, Fest­ta­ge in Gold; Pa­ri­ ser Hei­li­gen­aus­wahl. fol. 7: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 7), Lu­kas (fol. 8), Mat­thä­us (fol. 9), Mar­kus (fol. 10v). fol. 11: Ma­rien­ge­be­te: Ob­secro te, re­di­giert für ei­nen Mann (fol. 11), O in­teme­rata (fol. 13v); fol. 15v leer.

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fol. 16: Marienofzium für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 16, mit drei Nokturnen), Laudes (fol. 31v), Prim (fol. 39), Terz (fol. 43), Sext (fol. 46), Non (fol. 49), Vesper (fol. 52), Text am Ende unvollständig, fol. 56v leer; Komplet (fol. 57). fol. 61: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 61), fol. 63v leer, des Heiligen Geistes (fol. 64). fol. 67: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 75v); deren Heiligenauswahl wohl pariserisch mit Gervasius und Prothasius, Dionysius, Marcellus, Sulpicius und Genovefa am Ende der weiblichen Heiligen. fol. 80: Toten-Ofzium für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 80), Matutin (fol. 85, nicht hervorgehoben), Laudes (fol. 100v). fol. 109: Gebete in französischer Sprache: XV Freuden Mariens: Doulce dame (fol. 109), VII Klagen des Herrn: Doulx dieu (fol. 113). fol. 115: Sufragien: Trinität (fol. 115v), Michael (fol. 116), Johannes der Täufer (fol. 116v), Johannes der Evangelist (fol. 117), Petrus und Paulus (fol. 117v), Sebastian (fol. 118), Nikolaus (fol. 118v), Anna (fol. 119), Magdalena (fol. 119v), Katharina (fol. 120), Margarete (fol. 120v), Genovefa (fol. 121); fol. 121v leer. Von anderem Schreiber und anderer Qualität: fol. 122: Passion Christi nach Johannes: Egressus est dominus, gefolgt von Sufragium des heiligen Martin (fol. 133). Von einer dritten Schreiberhand: fol. 134: Gebetsfolge zur Eucharistie, mit Rubriken in Französisch: Domine iesu xpriste adoro te in cruce pendentem …, A la levation du corps de nostre seigneur; Quant on lieve le calice; Quant on veult recepvoir le corps; Quant on la receu. fol. 138: Mariengebet: Stabat mater dolorosa …, gefolgt von dem Marienhymnus Salve regina misericordie, vita dulcedo … Schrift und Schriftdekor An zwei Stellen gibt es Brüche im Buch: Auf fol. 55, am Ende der Marienvesper, fehlen die letzten Zeilen des Gebets, während das darauffolgende Verso leer bleibt und die nächste Stunde auf Recto beginnt. Auch fol. 63v am Ende der Heilig-Geist-Horen bleibt leer, ohne daß hier das Ende einer Lage erreicht wurde. Offenbar war man bemüht, das gesamte Manuskript auf Recto-Miniaturen einzustellen und nahm dabei die zwei leer gebliebenen Seiten in Kauf. Ganz sicher war auch der „Termindruck“, für den die Aufteilung unter sechs verschiedene Künstler spricht, ein Grund für kleinere Anschlußprobleme. Die ergänzten Lagen mit dem Text der Passion Christi aus dem Johannesevangelium (ab fol. 122) erhalten alle ebenfalls Bordüren auf Goldgrund in gleicher Qualität, die Ergänzungen wurden also von anderer Schreiberhand recht früh geliefert und von den gleichen

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Bordürenmalern ausgestattet. Einzig in den letzten drei Lagen (ab fol. 134) mit den Gebeten zur Eucharistie werden die Bordürenstreifen etwas grob an allen vier Seiten mit Schwarz umrandet und nicht wie im Buchblock sonst nur an den Außenseiten. Auch der Initialdekor wird vereinfacht: Zweizeilige Initialen werden im Flächendekor, also in Gold auf Rot und Blau, gegeben und nicht mehr als Dornblattinitialen. Bildfolge fol. 1: Die zweispaltig angelegten Seiten des Kalenders werden von Paaren aus Monatsbildern und Tierkreiszeichen im Textspiegel eröffnet. Nur durch eine schmale schwarze Linie gerahmt, stellt sich häufig der Eindruck ein, als seien Menschen und Tierkreiszeichen kompositorisch aufeinander bezogen. Zum Januar sitzt ein reicher Mann zu Tisch, ihn bedient ein Page, und der Wassermann, ein junger Mann in modischer Kleidung, leert einen Wasserkrug (fol. 1). Zum Februar wärmt sich ein Herr am Feuer und zwei große Fische schwimmen in einem Bach (fol. 1v). Im März ein Bauer beim Trimmen von Weinreben, vermeintlich betrachtet vom Widder, der eher einem Schaf ähnelt (fol. 2). Im April ein Mädchen beim Blumenpflücken, während der Stier mit gesenktem Haupt auf sie zu zu marschieren scheint (fol. 2v). Im Mai spaziert ein junger König durch den Wald und scheint auf die Zwillinge zu blicken, die sich als nacktes Paar aus Mann und Frau im Gebüsch verstecken (fol. 3). Im Juni schreitet der Bauer mit seiner Sense zur Heumahd, während ein riesiger Krebs über den Feldweg krabbelt (fol. 3v). Im Juli begibt sich ein Bauer zu seinem Feld, zur Kornmahd, ein kleiner Löwe steht in einer Landschaft und reckt den Schwanz auf wunderliche Weise (fol. 4). Im August folgt auf das Dreschen das Kornsieben, die Jung frau sitzt als edles Mädchen mit Palmzweig vor einem Spalier (fol. 4v). Im September beginnt die Weinkelter, die Waage wird von einer jungen Frau gehalten (fol. 5). Im Oktober erst wird die Aussaat auf dem Feld gezeigt, der Skorpion rollt sich zusammen und ist nicht vom Krebs zu unterscheiden (fol. 5v). Im November schlägt man Eicheln für die Schweine ab; der Schütze wird, wie üblich, als Zentaur mit Pfeil und Bogen gezeigt (fol. 6). Im Dezember folgt das Brotbacken, der Steinbock ist wieder ein aus einem Schneckenhaus kriechender Ziegenbock (fol. 6v). fol. 7: In den Perikopen erhält nur Johannes auf Patmos eine große Miniatur (fol. 7). Vor einer lichtdurchfluteten Wasserlandschaft sitzt der Evangelist auf dem kleinen Eiland; sein Adler kommt mit ausgebreiteten Schwingen hinzu und hält das Tintenfaß. Für die folgenden Perikopen sind Kleinbilder vorgesehen: Lukas sitzt frontal zum Betrachter gewendet, neben ihm ruht der geflügelte Stier (fol. 8). Matthäus mit dem Engel ist als junger Mann beim Verfassen seines Evangeliums gezeigt (fol. 9), und Markus wendet sich zum Löwen, der mit aufgestellten Flügeln den Evangelisten beobachtet (fol. 10v). fol. 11: Auch die Mariengebete erhalten Kleinbilder: Zum Obsecro te wird thronend Maria mit Kind (fol. 11) gezeigt. Spielerisch zeigt sie dem Knaben eine Blume, nach der das Kind zu greifen versucht. Zum O intemerata erscheint die Beweinung unter dem Kreuz als innige Szene zwischen Mutter und Sohn (fol. 13v).

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fol. 16: Die Matutin des Marienofziums eröffnet wie gewohnt mit der Verkündigung (fol. 16). Vor einem prächtigen roten Bett mit einem zum Sack aufgezogenen Vorhang hat sich Maria an ihrem Betpult, vielleicht auf einem Hocker, niedergelassen. Von links tritt der Engel mit dem Lilienzepter ein, so sanft, als wolle er ihr soeben an die Schulter tippen. Mit einem Lächeln wendet sich die zukünftige Gottesmutter zu ihm und empfängt die Botschaft mit Freude. Zu den Laudes treffen Maria und Elisabeth zur Heimsuchung (fol. 31v) vor der Stadt aufeinander. Da der Horizont recht tief liegt, erhebt sich das Haupt der Jungfrau eindrucksvoll gegen den Himmel, während die Greisin gleichsam aus der Landschaft auftaucht. In einem rafnierten Wechsel von sattem Rot und Blau in den Gewändern der beiden Frauen erhält die Komposition einen besonderen Reiz. Nicht nur Elisabeth verdeckt als ältere verheiratete Frau mit einem weißen Kopfputz ihr Haar, auch Maria trägt einen weißen Schleier, um das grandiose Farbspiel zu komplettieren. Bei der Geburt des Kindes zur Prim (fol. 39), die von einem Maler aus dem Pichore-Umfeld gemalt wurde, den wir als den Gotha-Meister definiert haben (Nr. 58), dominiert ganz die elegant aufragende Marienfigur. Vor ihr liegt in einer Aureole der strahlende Knabe, hinter ihr kniet Joseph und in den Tiefen des Stalls blicken in einer rafnierten monochromen Malerei zwei Hirten durch das Fenster. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 43) stammt vom Meister des Étienne Poncher. In einen spielerischen Wechsel von Blau und Braun gekleidet drehen sich die beiden Hirten auf der Rast und recken ihre Hälse, um die strahlende Engelserscheinung am Himmel zu sehen. Dort präsentiert der Engel das Gloria in excelsis über eine ebenfalls aufgeschreckte Schafsherde, die in einem Gatter weidet. Der Gotha-Meister übernimmt die Miniatur der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 46). In einem engen Innenraum hat sich der älteste König vor die Gottesmutter mit dem Sohn gekniet, lebendig greift der Junge nach der Gabe. Der jüngste König wird als geradezu schwarzer Mohr gezeigt und ist ins Gespräch mit dem mittleren vertieft. In einer wunderbaren hellen Malerei auf dunklem Grund taucht der betende Joseph aus dem Hintergrund auf. Die lebendigen Pinselstriche, aufgeweckten Physiognomien, leuchtenden Farben und flirrenden Goldhöhungen zeigen, daß die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 49) wieder vom Meister der Chronique Scandaleuse gemalt wurde. Den winzigen und erschrocken dreinblickenden Knaben hat der gütige Simeon in einem Tuch über den Altar gehoben. Maria, die betend vor dem Altar kniet, wird nur von einer Frau begleitet, die die Täubchen in einem Korb präsentiert. Geduldig wartet ein Akolyth hinter dem Altar auf die Instruktionen des Priesters. Zur Vesper wird der Kindermord (fol. 52) gezeigt, der eigentlich eher in flämischen Handschriften als in französischen an dieser Stelle zu finden ist. Zentral und eigentümlich in die Tiefe entrückt thront unter einem hängenden Schlußstein des Bildrahmens Herodes stoisch in einer großen Halle. Vorn wird vor seinen Augen eine jammernde

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Frau von zwei Soldaten bedroht, die ihr sogleich das Kind entreißen werden. Kompositorisch ist dieses Konzept des gestaffelten Bilds, wenn auch weniger komplex, besonders eng mit dem Kindermord verwandt, der in der Pichore-Werkstatt für gedruckte Stundenbücher erstmals ab 1504-06 von Simon Vostre verwendet wurde (siehe Horae B. M. V. IX , Nr. 22, S. 3996, Abb. 9). Die Marienkrönung als Abschluß des Marienofziums zur Komplet (fol. 57) überrascht durch die Raumtiefe und die Farbwirkung: Jesus trägt einen roten Mantel über kräftig blauem Rock, Marias Gewand ist umgekehrt gefärbt; beides wird durch Gold belebt und hebt sich eindrucksvoll vom hellgrünen Tuch ab, mit dem der Gottesthron ausgeschlagen ist. Hinter dem Thron ist violetter Goldbrokat gespannt; darüber wird der von den Hauptfiguren bestimmte Hauptakzent noch einmal durch einen runden Baldachin in Rot vor dem tief blauen Fond wiederholt. Überraschenderweise folgt die Miniatur einem alten Vorbild, das auf Jean Fouquet aus Tours zurückgeht: Vor dem mit Tuch verhangenen großen Thron kniet Maria und hat soeben die Krone von ihrem Sohn empfangen, den ein Engel begleitet. Besonders nah, allerdings seitenverkehrt ist die von Fouquet im angevinischen Stundenbuch für den Gebrauch von Paris (BnF, Ms. lat. 1417) gestaltete Version (fol. 64v), die noch nicht den italienischen Dekor der großen Stundenbücher Fouquets einsetzt. fol. 61: Die Horen von Heilig Kreuz eröffnen traditionell mit einer Kreuzigung (fol. 61), die hier vielfigurig erscheint. Links trauern Maria und Johannes, während rechts der Zenturio auf den Gottessohn weist. Dahinter drängt sich ein Heer von Soldaten, deren Zahl sich an der Menge der erhobenen Speere ablesen ließe. Als Maler kam hier wieder der Meister des Étienne Poncher ins Spiel. Das Pfingstbild zu den Horen von Heilig Geist (fol. 64) zeigt eine fast verhüllte Maria. Sie führt die Apostel an, die von links in einen Kirchenraum drängen und in schillernde Farben gekleidet sind, Über dem jugendlichen Johannes, der am weitesten rechts kniet, erscheint die Taube des Heiligen Geistes, sendet Flammen aus und wird von den staunenden Aposteln angebetet. Die Bußpsalmen erhalten ebenfalls ungewöhnliches Bild: Der thronende König David mit der Harfe (fol. 67) ist allein in einem Palastraum unter einem Baldachin gezeigt. Zwar gibt es eine ähnliche Ikonographie schon einmal bei Jean Colombe aus Bourges, der den psalmodierenden David büßend vor der Bundeslade zeigt (Besançon, Bibliothèque municipale, Ms. 148, fol. 110v). Allerdings findet sich der näherliegende Vergleich auch hier in den Metallschnitten aus der Pichore-Werkstatt: In der Quart-Serie für Simon Vostre, zwischen 1504-08 entstanden, ist der thronende David mit der Harfe Hauptthema (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 24, S. 4011, Abb. 13). In einer eindrucksvollen Halbfigur wird wenig später David mit der Harfe vom Martainville-Meister gemalt werden in einem Stundenbuchbild, das den Deckel unseres Katalogs 21 schmückte. Auch die Auferweckung des Lazarus (fol. 80) zur Vesper des Totenofziums mag in diesem Bildumfeld ihre Wurzeln haben. In einem Kircheninneren erweckt Jesus den Toten,

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während sich die Umstehenden die Nasen zuhalten. In unserem Lomenie-Stundenbuch vom Meister der Marie Charlot (Nr. 43) findet sich das Thema in ähnlicher Weise gestaltet und auch dort könnte man meinen, daß das Interesse an dieser Ikonographie über die ab 1504 auftauchenden Metallschnitte der Pichore-Werkstatt entsteht (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 23, S. 4003, Abb. 13 [für Thielman Kerver ca. 1504-06] und Nr. 24, S. 4011, Abb. 14 [die Quart-Serie für Simon Vostre, ca. 1504-08]). Die Fünfzehn Freuden Mariens werden eingeleitet mit einem Bild der Beterin vor der thronenden Muttergottes mit Kind (fol. 109). Ganz in Rot, mit schwarzer Haube, kniet die Dame vor der Gottesmutter, die ein musizierender Engel begleitet. Das Christuskind streckt das Ärmchen aus, und hier, eigentlich absolut ungewöhnlich, blickt die Beterin direkt auf die Muttergottes mit dem Christuskind und nicht sinnend in die Ferne. Das folgende Herrengebet erhält die halbfigurige Darstellung des segnenden Christus (fol. 113), der riesenhaft mit Weltkugel vor einem blauen Ehrentuch erscheint, das vor einer steinvertäfelten Pilasterwand steht. So groß ist er dargestellt, daß das Bildfeld seine Schultern überschneidet. Die Suffragien erhalten Kleinbilder mit Heiligen, vorwiegend in Landschaft: Trinität nach dem für Psalm 119 entwickelten Schema (fol. 115v), Michaels Kampf mit dem Teufel (fol. 116), Johannes der Täufer mit dem Lamm (fol. 116v), Johannes der Evangelist mit dem vergifteten Kelch (fol. 117), Petrus und Paulus in Landschaft (fol. 117v), Sebastians Pfeilmarter mit einem modisch gekleideten Bogenschützen links (fol. 118), Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich (fol. 118v), Anna lehrt Maria lesen (fol. 119), Magdalena mit Salbgefäß (fol. 119v), Katharina mit dem zerschlagenen Rad neben sich (fol. 120), Margarete vor dem Dunkel des Verlieses aus dem Drachen ausbrechend (fol. 120v), Genovefa mit dem Streit von Engel und Teufel um ihre Kerze (fol. 121). Die nachträglich hinzugefügte Passion Christi nach Johannes erhält eine Kopfminiatur mit der Gefangennahme Christi (fol. 122): Die dicht gedrängten Figuren reichen mit ihren Köpfen so weit in den Bogenabschluß, daß sie zu beiden Seiten abgeschnitten werden. Verantwortlicher hier war der Gotha-Meister. Zuschreibung Die Händescheidung ist in diesem Buch eine besonders faszinierende Aufgabe, die eine gründliche Vertrautheit nicht nur mit dem einen Manuskript, sondern eigentlich jene Kenntnis der gesamten französischen Buchmalerei um 1500 verlangt, die in der Bibermühle seit den 1980er Jahren entwickelt wurde: Die klugen und in ihrer Kombination zuweilen geradezu amüsanten Kalenderbilder aus Monatsarbeit und Tierkreiszeichen werden einem Maler verdankt, den wir als Jean Coene kennen, weil wir um 2000 ein isoliertes Kreuzigungsbild erwerben konnten, das dieses Mitglied einer seit der Zeit um 1400 in Paris nachweisbaren Buchmalerfamilie mit weit entfernten Wurzeln in Brügge signiert hat (LM NF I, Nr. 2). Zu ihm siehe hier die Nrn. 56 und 57 in Band IV.

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Mit Jo­han­nes auf Patmos tritt der für das Ge­samt­pro­jekt ver­ant­wort­li­che Mei­ster her­ vor, den man seit der Pa­ri­ser Aus­stel­lung von 1993 als Mei­ster der Chronique Scandaleuse be­zeich­net, die lei­der in der Bibliothèque na­tio­na­le un­ter Ver­schluß ge­hal­ten wird und auch ver­dammt schlecht pu­bli­ziert ist. Er hat die Ver­kün­di­gung und den bril­lan­ten Da­vid als Harf­ner und da­mit die bei­den Haupt­mi­nia­tu­ren so­wie den Lö­wen­an­teil der gro­ßen Bil­der ge­schaf­f en. Im Lau­fe der Jah­re wur­den wir ver­traut mit dem Ma­ler, der die Kreu­zi­gung und die Hir­ ten­ver­kün­di­gung ge­stal­tet hat; wir ha­ben ihn nach dem Stun­den­buch der Ma­rie Char­lot be­nannt und wer­den bei den Nrn. 43 und 44 auf ihn zu­rück­kom­men, nicht ohne dar­ auf hin­zu­wei­sen, daß Isa­bel­le Delaunay in ih­rer är­ger­lich­er­wei­se nie pu­bli­zier­ten Dis­ ser­ta­ti­on die­sel­be Stil­grup­pe un­ter der Be­zeich­nung „Maître d’Étienne Ponc­her“ führt. Über un­ser Haus ist ein Stun­den­buch, das in der na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Zeit ver­äu­ßert wur­de, wie­der in die For­schungs­bi­blio­thek Go­tha zu­rück­ge­kehrt. Ina Net­te­koven hat die­ses Werk 2007 ver­öf­fent­licht und da­bei je­nen Ma­ler aus dem Um­feld von Jean Pi­ chore de­fi­niert, der in die­sem Ma­nu­skript die drei Bil­der mit dem Stall von Beth­le­hem, den drei Kö­ni­gen und der Ge­fan­gen­nah­me ge­malt hat. Schließ­lich hat man dem Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern die Bil­der zu den drei Evan­ge­li­sten und zu den Suff­ragien an­ ver­traut, so daß man in die­sem Stun­den­buch eine er­staun­li­che An­zahl von eng mit­ein­ an­der ver­wand­ten Buch­ma­lern auf eng­stem Raum in gleich­zei­tig ent­stan­de­nen Ar­bei­ten ver­glei­chen und be­wer­ten kann. Nicht so leicht ist die Be­ur­tei­lung des ge­wich­tig­sten Bil­des in die­sem Stun­den­buch: Es zeigt den Salva­tor seg­nend (fol. 113) und über­trifft mit der Halb­fi­gur al­les, was sonst hier ge­bo­ten wird. Der Rah­men der Mi­nia­tur schnei­det die Schul­tern ab, wohl auch des­halb, weil ein Tour­oner Ta­fel­bild als Vor­la­ge ge­dient ha­ben wird, das vom Mus­ée des BeauxArts in Tours er­wor­ben wur­de. Für Pasc­ale Charron und Pierre-Gilles Girault (im Aus­ st.-Kat. Tours 2012, Nr. 31) stammt es von Jean Bourdichon, wäh­rend Kö­nig im Aus­st.Kat. Pa­ris 2010-11, Nr. 128, für den Mei­ster des Münch­ner Boccaccio plä­dier­te und die Ma­le­rei da­mit sehr viel en­ger an Jean Fouquet in Tours band. Auch Buch­ma­le­rei­en aus der Loire-Re­gi­on die­ser Zeit zi­tie­ren ein ähn­li­ches Vor­bild; am eng­sten ver­wandt ist eine Mi­nia­tur aus Tours, vom Mei­ster der Missa­li­en del­la Rovere; sie fin­det sich im Stun­den­buch der Marguerite de Rohan (Prince­ton, UL , Gar­rett 55, fol. 114: Hof­mann 2003, S. 59) und schmückt den Deckel des von Hourihane 2014 pu­bli­ zier­ten Kol­lo­qui­ums­band (ohne dort nach­ge­wie­sen zu wer­den). Un­klar bleibt, wie weit viel­leicht der Mei­ster der Chronique Scandaleuse doch in der Lage war, ein sol­ches Stil­ phä­no­men ei­gen­hän­dig zu mei­stern. Die­ses wun­der­bar rei­che und eben­so er­hal­te­ne Stun­den­buch stammt aus Pa­ris; denn nur dort sind die fünf oder gar sechs Ma­ler zu fas­sen, die ge­mein­sam mit der Be­bil­ de­rung be­traut wa­ren. Es ent­stand un­ter der Lei­tung des Mei­sters der Chronique Scandaleuse, dem viel­leicht so­gar die be­ste Mi­nia­tur, der Salva­tor auf fol. 113, zu­

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zutrauen ist (ein ähnliches, aber bescheideneres Stundenbuch von ihm wurde bei Pierre Bergé am 21.11.2007 als lot 2 für nicht weniger als 200.000 Euro versteigert). Im Zusammenspiel der Maler erlaubt dieses zudem mit seinem ganzen Bildbestand erhaltene Stundenbuch einen geradezu einzigartigen Blick auf die eng miteinander verbundenen Pariser Buchmaler um 1500! LI TE RATUR :

Das Manuskript ist bisher nicht veröffentlicht.

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42 Das Stun­den­buch des Piero di Fi­lippo Fresco­baldi vom Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern mit ei­ner Mi­nia­tur vom Mei­ster des Go­tha­er Stun­den­buchs


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Le Mans. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, in schwar­zer Tex­tura, mit ro­ten Ru­bri­ken. Pa­ris, um 1500: Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern und der Mei­ster des Go­tha­er Stun­den­buchs Drei­zehn gro­ße Bil­der, da­von zwei ganz­sei­tig in Voll­bor­dü­re und elf als gro­ße Mi­nia­tu­ ren über vier Zei­len Text mit In­itia­len von drei, meist aber vier Zei­len Höhe in Rund­ bö­gen mit Säulchen und Krab­ben­be­satz, in Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren mit Blu­men und Akanthus, Schnecken und zu­wei­len auch Gro­tes­ken. Alle Text­sei­ten mit Bor­dü­ren­strei­ fen der­sel­ben Art au­ßen. Klei­ne­re In­itia­len mit Gold­buch­sta­ben auf rost­ro­ten, sel­te­ner blau­en Grün­den mit Gold­zier: Psal­men­an­fän­ge zweiz­ei­lig; Psal­men­ver­se, am Zei­len­be­ginn, ein­zei­lig; Zei­len­fül­ler der­sel­ben Art oder als gol­de­ne Zwei­ge. Ver­sa­li­en meist un­be­han­delt. 125 Blatt star­kes Per­ga­ment, das er­ste ein lee­res Vor­satz, reg­liert wie der Ka­len­der; dazu je ein Dop­pel­blatt neue­res Per­ga­ment als fe­stes und flie­gen­des Vor­satz. Ge­bun­den in 17 La­gen, vor­wie­gend zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die bei­den Kalend­erlagen 1 (8-1 – das lee­re er­ ste Blatt ent­fernt) und 2 (6) so­wie die End­la­ge des Mari­en-Of­fi­zi­ums 10 (4) und im wei­te­ren Text­ver­lauf die La­gen 11 (6) und 14 (6). Kei­ne Reklam­an­ten. Zu 15, im Ka­len­der zu 17 Zei­len, reg­liert in Rot. Ok­tav (195 x 130 mm; Text­spie­gel: 102 x 68 mm). Voll­stän­dig, breit­ran­dig, im Ka­len­der und in der letz­ten Lage et­was ge­bräunt, im ei­gent­li­chen Buch­block sehr gut er­hal­ten. Ge­bun­den in Bro­kat des 17. Jahr­hun­derts mit Gold- und Sil­ber­fä­den, über Holz­deckeln, zi­ se­lier­te Sil­ber­span­ge. Pro­ve­ni­enz: Auf dem lee­ren er­sten er­hal­te­nen Blatt der er­sten Lage ein wohl ei­gen­hän­di­ger Be­ sitz­ein­trag aus ei­ner be­deu­ten­den ita­lie­ni­schen Fa­mi­lie: „Di piero di fi­lippo fresco­baldi“ (wohl Piero Fresco­baldi, Bi­schof von San Mi­ni­ato 1654, vergl. Spreti III, S. 280). Im Vor­der­deckel zwei Kup­fer­sti­che mit den Wap­pen-Ex­li­bris von Hen­ry White (sale Sot­heby’s, Juni 1902, Nr. 1137) und Ed­ward Petre. Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, nicht je­der Tag be­setzt, ein­fa­che Tage in Schwarz, Fe­ste und Gol­de­ne Zahl in Rot, Sonn­tags­buch­sta­ben a-g in Schwarz. Die Hei­li­gen­aus­wahl mit Fest von Ju­li­an (27.1.), Ger­vasius und Pro­thasius (19.6.) so­wie ein­ fa­chen Hei­li­gen­ta­gen von Liphardus (3.6.) und Baud­omirus (3.11.) weist auf Le Mans; der Ka­len­der ent­hält dazu ei­ni­ge Hei­li­ge der an­gren­zen­den Di­öze­sen, so Rem­igius von Rouen (19.1.) und an­de­re von dort so­wie Jovinus von Poi­tiers (1.6.) und Be­ne­dikt (15.7.), der aus­drück­lich als Bi­schof von An­gers be­zeich­net wird.

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fol. 13: Ma­rien­ge­be­te, re­di­giert für ei­nen Mann: Ob­secro te (fol. 13 – die Er­war­tung, daß Ma­ria in der To­des­stun­de dem treu­en Be­ter er­schei­ne, auf fol. 16 von ei­nem In­qui­si­tor ge­tilgt), O in­teme­rata (fol. 16 – auf fol. 17v vier Zei­len ent­spre­chend ge­tilgt), Alma (ir­rig als Olma) re­de­mptoris ma­ter (fol. 19v), Ave re­gi­na (fol. 20), Re­gi­na celi letare (fol. 20v), In­ ter­veniat pro nobis (fol. 20v). ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Le Mans mit den ein­ge­schal­te­ten Horen fol. 21: Ma­rien­of von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist: Mari­en-Matutin (fol. 21), Lau­des (fol. 32), Kreuz-Matutin (fol. 42), Geist-Matutin (fol. 43v), Mari­en-Prim (fol. 45), Terz (fol. 51), Sext (fol. 55), Non (fol. 58v), Ves­per (fol. 62v), Komplet (fol. 68). fol. 73: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 83); die äu­ßerst un­ge­wöhn­li­che Hei­li­gen­aus­wahl mit Clarus un­ter den Mär­ty­rern so­wie Tu­ribius und Liborius un­ter den Be­ken­nern weist auf Le Mans; dazu ei­ni­ge sel­te­ne­re Hei­li­ge wie Al­dericus von Au­tun oder Sens, Bert­randus von St.-Bert­rand de Co­mm­in­ges in den Py­re­nä­en. ­fi­zi­um: Ves­per (fol. 89), Matutin (fol. 92v), Lau­des (fol. 112v). fol. 89: To­ten­of fol. 117: Suff­ragien in an­de­rer Schrift: Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 117), Jo­han­nes der Evan­ge­ list (fol. 117v), Pe­ter und Paul (fol. 117v), Ja­kob­us der Äl­te­re (fol. 118v), Steph­anus (fol. 119), Lau­ren­ti­us (fol. 119v), Se­ba­sti­an (fol. 120), Ni­ko­laus (fol. 121), Anna (fol. 121v), Mag­da­le­ na (fol. 122), Ka­tha­ri­na (fol. 122v), Mar­ga­re­ta (fol. 123), Bar­ba­ra (fol. 124). fol. 124v: Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Zwar stellt sich bei Tex­tura in Stun­den­buch-Hand­schrif­ten, die um 1500 il­lu­mi­niert wur­den, im­mer wie­der der Ver­dacht ein, sie sei­en mög­li­cher­wei­se frü­her ent­stan­den und lie­gen ge­blie­ben, ehe man zur Il­lu­mi­nie­rung schritt; hier aber paßt die Schrift zum recht spä­ten De­kor: Die For­men schei­nen dem Schrei­ber nicht mehr ganz selbst­ver­ständ­lich zu sein; sie wan­deln sich im Lau­fe der Ar­beit bis hin zu dem Punkt, wo man of­fen­bar von an­de­rer Hand eine in den Ma­ßen über­ein­stim­men­de Lage mit Suff­ragien an­füg­te, de­ren Zier­buch­sta­ben eben­so wie die Bor­dü­ren je­doch aus dem­sel­ben Guß sind wie der üb­ri­ge Buch­schmuck. Die Bor­dü­ren ste­hen in der Tra­di­ti­on der Pa­ri­ser und Rouenna­iser Buch­ma­le­rei des letz­ ten Drit­tels des 15. Jahr­hun­derts. Zwar wäre mög­lich, daß die Ver­ant­wort­li­chen ge­reist sind; doch scheint hier ähn­lich wie bei den zeit­glei­chen ge­druck­ten Stun­den­bü­chern eher ein Buch aus Pa­ris für den sel­te­nen Ge­brauch von Le Mans be­stellt wor­den zu sein. Die ge­sam­te Auf­ma­chung steht für so­li­de Ar­beit aus der Me­tro­po­le. Bild­fol­ge fol. 13: Für die Ma­rien­ge­be­te ge­nügt ein gro­ßes Bild, das die Thro­nen­de Ma­don­na mit Kind zeigt: Auf ei­nem Thron, von des­sen Bal­da­chin ein­ge­roll­tes Tuch wie von ei­nem Bett­him­mel zu bei­den Sei­ten her­ab­hängt und der des­halb viel­leicht zu­gleich als das wür­

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di­ge Bett der Jung­frau zu ver­ste­hen ist, zu­mal sie ja oft auf ei­nem sol­chen die An­be­tung der Kö­ni­ge ent­ge­gen­nimmt, sitzt die Jung­frau mit ei­ner gol­de­nen Kro­ne. Der Kna­be trägt ei­nen gol­de­nen Kit­tel und scheint ganz ver­son­nen mit der Hand der Mut­ter­got­tes zu spie­len. Mo­nu­men­tal­ar­chi­tek­tur mit gro­ßen far­bi­gen Stein­spie­geln bil­det die Rück­ wand des Thron­saals, des­sen Bo­den aus grü­nem Est­rich be­steht. ­fi­zi­um für die ge­wohn­ten Bil­ fol. 21: Un­ter­schied­lich gro­ße Bil­der die­nen im Mari­en-Of der; nur die Horen von Hei­lig Kreuz er­hal­ten dazu das Er­ken­nungs­bild, wäh­rend die von Hei­lig Geist bild­los ge­hal­ten sind. Die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 21) zeigt die Jung­frau un­ter ei­nem Bal­da­ chin kniend, ein Buch in der Lin­ken; zu ihr schrei­tet der En­gel von links in ro­sa­far­be­ nem Ge­wand, ohne Man­tel oder Dal­ma­tika. Mit der er­ho­be­nen Rech­ten weist Ga­bri­ el auf die gol­de­nen Strah­len aus der Höhe. Von der grau­en Stein­ar­chi­tek­tur sind kaum Ein­zel­hei­ten zu er­ken­nen. Die Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 32) läßt die mo­nu­men­ta­len Ge­stal­ten von Ma­ ria und Eli­sa­beth fast das gan­ze Bild­feld be­stim­men; denn Ma­ri­as Haupt ragt über den Kämp­fer des Säulchens, das als Rah­mung dient, hin­aus. Die bei­den Frau­en tref­fen ein­ an­der auf ei­nem Weg, Ma­ria von links, vor ei­nem Fels­ab­bruch mit be­grün­tem Hü­gel, Eli­sa­beth vor wei­ter ent­fern­ten Hü­geln. Das Haus des Za­cha­ri­as wird nicht ge­zeigt. Die Kreu­zi­gung zur Kreuz-Matutin (fol. 42) be­schränkt sich auf die Mut­ter­got­tes und den Lieb­lings­jün­ger zu Sei­ten des to­ten Ge­kreu­zig­ten, von des­sen Hän­den das Blut in Bö­gen nach un­ten spritzt, daß es die Ge­sich­ter und da­bei of­fen­bar im Zu­sam­men­hang der Eu­cha­ri­stie so­gar die Mün­der von Ma­ria und Jo­han­nes er­rei­chen soll. Die Fi­gu­ren sind mäch­tig, die Land­schaft recht nah­räumig und ohne je­den Blick auf die nahe Stadt. Die An­be­tung des Kin­des als das ge­wohn­te The­ma zur Mari­en-Prim ist im heu­ti­gen Zu­ stand des Ma­nu­skripts gleich zwei­mal dar­ge­stellt: auf fol. 44v als Voll­bild in ei­ner gold­ grundi­gen Bor­dü­re und auf fol. 45 als das hier ge­wohn­te Kopf­bild über vier Zei­len In­cipit mit vierz­ei­li­ger In­itia­le in ei­ner Kom­par­ti­ment-Bor­dü­re. Wahr­schein­lich sorg­ten schon die Be­stel­ler oder frü­hen Be­sit­zer da­für, daß die­se Dop­pel­sei­te ent­stand; denn die text­ lo­se Mi­nia­tur be­fin­det sich auf der Rück­sei­te vom Texten­de der Hei­lig-Geist-Matutin; zu­dem hat man, um die Bil­der ein­an­der an­zu­glei­chen, die bei­den Mi­nia­tu­ren in glei­cher Wei­se mit flan­kie­ren­den Säulchen und ei­nem Bo­gen ge­rahmt, der mit der­sel­ben Art von krau­ti­gen Krab­ben, je­weils zwei seit­lich und ei­nem Paar auf dem Schei­tel, be­setzt ist. Da­mit zeigt sich hier ein in­ter­es­san­ter Aspekt des Sam­melns. Die bei­den Bil­der pas­sen von den Pro­por­tio­nen recht gut in die Hand­schrift, auch wenn das ein­ge­schal­te­te Voll­ bild auf ei­nen et­was schma­le­ren Text­spie­gel ein­ge­rich­tet ist und mit den Bor­dü­ren et­ was we­ni­ger weit aus­greift. Das Ne­ben­ein­an­der läßt die un­ter­schied­li­che An­schau­ung zwei­er Ma­ler von der­sel­ben ver­trau­ten Sze­ne er­ken­nen: Bei­de zei­gen über­ein­stim­mend in ei­nem aus höl­zer­nen Bal­ ken und Bret­tern ge­zim­mer­ten Stall die Jung­frau Ma­ria als ein we­nig nach vorn ge­rück­te Haupt­fi­gur und den Zieh­va­ter Jo­seph zu­rück­ge­setzt, in An­be­tung des nack­ten Je­sus­kna­

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ben, der in ei­ner ova­len Krip­pe liegt, so­wie dazu Ochs und Esel ge­la­gert und auf­merk­ sam zum Ge­sche­hen blickend. Auf fol. 44v fluch­tet die Ar­chi­tek­tur nach rechts und öff­ net sich hin­ten zur Land­schaft, aus der be­reits zwei Hir­ten zum Flecht­zaun ge­kom­men sind, wäh­rend auf fol. 45 durch Fach­werk hin­durch ein zen­tra­ler Blick auf die ge­schlos­ se­ne bild­par­al­le­le Rück­wand ge­ge­ben wird. Die­sen Ver­hält­nis­sen ent­spricht die Ver­tei­ lung von Jo­seph und Ma­ria: Dem räum­li­chen Zug nach rechts hin­ten ge­mäß sind bei­de auf fol. 44v nach links ge­rückt und blicken auf das Kind rechts vor sich, wäh­rend sie auf fol. 45 ein­an­der ge­gen­über knien, das Kind links vor sich. Der Neu­ge­bo­re­ne liegt ein­mal auf ei­ner ge­floch­te­nen Krip­pe, die mit ei­nem wei­ßen ova­len Tuch be­deckt ist, das an­de­ re Mal auf frisch grü­nem Heu. Jo­seph ist auf fol. 44v ein Greis, auf fol. 45 hat er hin­ge­ gen noch brau­nes Haar. Un­ter der Er­schei­nung ei­nes En­gels im Bo­gen­schei­tel der Mi­nia­tur, der den des Le­sens Un­kun­di­gen ein un­be­schrie­be­nes gol­de­nes Spruch­band prä­sen­tiert, sind zwei Män­ner bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 51) nie­der­ge­kniet. Der Bär­ti­ge in bun­tem Rot und Blau links zeigt mit der Lin­ken zum En­gel und ruft of­fen­bar laut, wäh­rend der jün­ ge­re rechts in Ocker und Alt­ro­sa still be­tet. Ei­ni­ge Scha­fe tau­chen zwi­schen bei­den auf. Die Land­schaft ist wie­der nah­räumig, mit ei­nem Ra­sen­stück vorn und ei­nem nied­ri­gen Fels­ab­bruch bei den Hir­ten, de­ren Ge­stal­ten star­ke Schat­ten auf den Bo­den wer­fen. Der Ma­ler schätzt es, die Kämpf­er­hö­he des rah­men­den Bo­gens auf un­ge­wohn­te Wei­se in die Fi­gu­ren­kom­po­si­ti­on ein­zu­be­zie­hen; das sieht man bei der An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 55): Die rechts thro­nen­de Ma­ria hat ihr Haupt zur Höhe der Ka­pi­tel­le er­ho­ ben, was ei­nen ar­chi­tek­to­nisch ein­leuch­ten­den Sinn er­gibt. Die von links her­ein­ge­tre­te­ nen bei­den jün­ge­ren Kö­ni­ge ra­gen hin­ge­gen mit ih­ren Köp­fen dar­über hin­aus und wir­ken des­halb wei­ter nach hin­ten ge­rückt. Der jüng­ste Kö­nig ist mit Blau, Weiß und Rot bunt ge­klei­det, die bei­den an­de­ren in ge­deck­ten Tö­nen, die in der Ar­chi­tek­tur wie­der­keh­ren; es ist kei­nes­wegs der Stall von Beth­le­hem aus Fach­werk und Bret­tern, son­dern ein auf­ wändi­ger Stein­bau mit ähn­li­chen far­bi­gen Stein­spie­geln wie bei der Ver­kün­di­gung. Auch bei der Dar­brin­gung zur Non (fol. 58v) er­reicht nur Ma­ria ge­mein­sam mit dem Kna­ben auf Simeons Hän­den die Ka­pi­tell­hö­he; der grei­se Prie­ster und Jo­seph, der hier das Tau­ben­körb­chen trägt, ra­gen dar­über hin­aus. Simeon steht hin­ter dem weit nach links ge­rück­ten Al­tar und hält das nack­te Knäbl­ein auf ei­nem wei­ßen Tuch. Ma­ria kniet rechts, auch sie mit ei­nem Tuch auf den Hän­den, wäh­rend Jo­seph zu­rück­ge­setzt mit­tig ge­stellt ist. Bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 62v) be­an­sprucht die Hei­li­ge Fa­mi­lie das gan­ze Bild­for­mat; sie kommt von rechts auf ei­nem san­di­gen Weg mit Gras­nar­ben; die Land­schaft ist nur durch ei­nen Hü­gel rechts und ei­nen fer­nen Berg in der Mit­te an­ge­deu­ tet. Der Ho­ri­zont liegt auf der Höhe des Esels­kopfs; selbst der in ei­nen gol­de­nen Kit­tel ge­klei­de­te Kna­be nimmt schon ei­nen hö­he­ren Blick­punkt ein; die Be­trach­ter sind also ge­hal­ten, sich vor den Ge­stal­ten zu ver­nei­gen und sie vor dem leuch­ten­den Him­mel zu se­hen.

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Über Wol­ken und un­ter ei­nem un­durch­dring­li­chen hel­len Blau steht Got­tes Thron be­ reit für die Ma­rien­krö­nung zur Komplet (fol. 68): Die Ge­stalt der Jung­frau löst sich gleich­sam aus dem Blau der ge­kräu­sel­ten Wol­ken links. Sie kniet vor ih­rem Sohn, der mit ei­ner Spha­ira in der Lin­ken so auf dem Thron Platz ge­nom­men hat, daß rechts ne­ben ihm – für die Be­trach­ter also links – Platz für die Got­tes­mut­ter bleibt. Dort er­scheint über dem pur­pur­nen Thron­tuch ein En­gel mit der Kro­ne. fol. 73: Da­vids Buße war zur Ent­ste­hungs­zeit un­se­res Ma­nu­skripts schon nicht mehr das Haupt­the­ma für die Buß­psal­men – da­von gibt un­ser Ka­ta­log ei­nen Ein­druck. Hier kehrt das aus dem frü­he­ren 15. Jahr­hun­dert ge­wohn­te The­ma auf un­ge­wohn­te Wei­se wie­der: Der Kö­nig kniet un­ter ei­nem Baum, des­sen Stamm sich rechts mit der rah­men­den Säu­ le er­hebt. Vor sich hat er eine Art Tisch, der mit blau­em Gold­bro­kat be­deckt ist, an dem die Har­fe lehnt und auf dem der rote Kron­hut liegt. Der noch recht jun­ge Kö­nig be­tet zu Gott, der sich als Halb­fi­gur in ei­ner Wol­ken­au­reo­le vor hel­lem Gelb zeigt. Ei­nen ent­ schei­den­den Ef­fekt schafft auch hier die kar­ge Land­schaft – eine gelb­grü­ne Wie­se rechts zum Baum hin ge­nügt, links wird ein nied­ri­ger Hü­gel mit ein we­nig Busch­werk ins Blau der Fer­ne ge­taucht. Schon Da­vids be­ten­de Hän­de ra­gen über den Ho­ri­zont hin­aus. fol. 89: Hiob mit sei­nen Freun­den hat sich ge­gen 1500 in Frank­reich als Haupt­the­ma zum To­ten-Of ­fi­zi­um durch­ge­setzt, so auch hier. Die Freun­de tre­ten von links her­an; man sieht sie, wenn man den nied­ri­gen Ho­ri­zont be­denkt, etwa aus der War­te des Dul­ders, des­sen Haupt dann doch noch ein we­nig über den Ho­ri­zont hin­aus­ragt. Nur mit ei­nem Len­den­tuch um die Hüf­ten sitzt Hiob, das rech­te Bein in ei­gen­ar­ti­ger Wei­se un­ter­ge­ schla­gen, auf dem Dung, der am Wald­rand auf­ge­schüt­tet ist. Er blickt nicht auf zu den vor­neh­men Män­nern, die zu ihm hin­aus­ge­kom­men sind. Ge­sten der Hän­de be­zeich­nen das Ge­spräch. Die Ma­ler Der ge­sam­te Grund­be­stand an Be­bil­de­rung in die­ser Hand­schrift wur­de vom Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern ge­schaf­fen. Man er­kennt die Hand in er­ster Li­nie an den recht klei­nen Köp­fen mit cha­rak­te­ri­sti­schem Ge­sichts­aus­druck, der ins­be­son­de­re durch die Prä­zi­si­on um die Au­gen­par­tie er­zeugt wird; dazu sind die gro­ßen Kör­per in vo­lu­mi­nö­ sen Dra­pe­ri­en eben­so cha­rak­te­ri­stisch wie die schlich­ten Land­schaf­ten, die ei­ner­seits ver­ra­ten, daß sich der Ma­ler eher für mo­nu­men­ta­le Fi­gu­ren in­ter­es­siert, zu­gleich aber auch, daß er auf die über­zeu­gen­de Wir­kung des Ein­fa­chen setzt. Als er­ste ha­ben sich Otto Pächt und Dag­mar Thoss mit dem Stil aus­ein­an­der­ge­setzt, der die­se Hand­schrift be­stimmt; für sie han­del­te es sich noch um ein Mit­glied der Schu­le von Rouen (wie sie 1913 Rit­ter und Lafond um­ris­sen hat­ten). Für den Not­na­men hat sich John Plum­mer 1982 auf eine fran­zö­si­sche Fas­sung des Le­bens Jesu von Lud­olph von Sach­sen be­zo­gen, das 1506 für Phili­ppa von Gel­dern, die zwei­te Frau des loth­rin­gi­schen Her­zogs René II , ge­schaf­fen wur­de (Lyon, Bibl. mun., ms. 5125 – Avril und Reynaud 1993, Nr. 152).) Das Œuvre um­ris­sen ha­ben Avril und Reynaud, bei de­nen der Künst­ler als ein in Pa­ris an­säs­si­ger Buch­ma­ler er­scheint.

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Hin­zu kommt hier der Mei­ster des Stun­den­buchs aus Go­tha, das nun wie­der dort­hin zu­rück­ge­kehrt ist (sie­he un­se­re Nr. 58). Sei­ne Ei­gen­art hat Ina Net­te­koven in der Pu­bli­ ka­ti­on für die Kul­tur­stif­tung der Län­der von 2007 de­fi­niert; sie fin­det sich hier in ei­ner ein­zi­gen Mi­nia­tur, dem text­lo­sen Weih­nachts­bild auf fol. 44v, zwei­fels­frei wie­der. Da der Rand­schmuck ein­schließ­lich des Bild­rah­mens aus der Werk­statt stammt, die auch alle an­de­ren Bild­sei­ten ge­stal­tet hat, er­weist sich ein ei­gen­tüm­li­cher Um­stand: Of­f en­bar wur­de der Pa­ri­ser Kol­le­ge, den wir nach der Go­tha­er Hand­schrift nen­nen, mit Wis­sen des Mei­sters der Phil­ipp von Gel­dern her­an­ge­zo­gen, ein zwei­tes Bild zu ei­nem The­ma zu ge­stal­ten, das be­reits in der Hand­schrift be­ar­bei­tet war; denn die be­tref­fen­de Mi­nia­ tur fin­det sich nicht auf ei­nem ein­ge­schal­te­ten Blatt, son­dern auf der leer ge­blie­be­nen Rück­sei­te vom Ende der Geist-Matutin, die viel­leicht am Ende ei­ner Lage da­durch zu Pro­ble­men führ­te, weil der Schrei­ber für das ge­wohn­te Pfingst­bild zu­vor kei­nen Platz ge­las­sen hat­te. Ein voll­stän­dig er­hal­te­nes Stun­den­buch für den sehr sel­te­nen Ge­brauch der Di­öze­se Le Mans, das in Pa­ris vom Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern mit gro­ßen Mi­nia­tu­ ren ge­schmückt wur­de, in de­nen ins­be­son­de­re durch die Ein­stel­lung des meist recht nied­ri­gen Ho­ri­zonts bei schlich­ten nah­räumi­gen Land­schaf­ten die Mo­nu­men­ta­li­tät der Fi­gu­ren da­durch ge­stei­gert wird, daß ihre Häup­ter in der Re­gel vor dem Him­ mel er­schei­nen. Das Buch fügt sich in das be­son­de­re In­ter­es­se des An­ti­qua­ri­ats Ten­ schert, die Kennt­nis der Pa­ri­ser Buch­kunst im Über­gang zum ge­druck­ten Buch zu be­för­dern. Dazu paßt auch die­ser Ko­dex auf das Vor­züg­lich­ste; denn hier tref­fen wir auf zwei Ma­ler, die um 1500 gute Mi­nia­tu­ren für das Buch­we­sen der Haupt­stadt schu­fen. Da­bei zeigt sich der Mei­ster der Phili­ppa von Gel­dern als Ver­ant­wort­li­cher, der – an­ders als in vie­len sei­ner Wer­ke – die Be­bil­de­rung für den ge­sam­ten Ko­dex lie­fert, in den dann vom Erst­be­sit­zer noch eine Mi­nia­tur von Kol­le­gen­hand ein­ge­ fügt wur­de. LI­T E­R A­T UR :

Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge VI , 2009, Nr. 27

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43 Das Stun­den­buch der Ma­rie de Briot vom Mei­ster des Étienne Ponc­her, spä­ter im Be­sitz des Ri­chard Lome­nie


Stun­den­buch. Horae B.M.V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken, in Rot, mit ei­nem Ka­len­der in Braun, ge­ schrie­ben in dun­kel­brau­ner Bast­arda. Pa­ris, c. 1495/1500: Mei­ster des Étienne Ponc­her (Mei­ster der Ma­rie Char­lot) 41 Bil­der: 10 gro­ße Mi­nia­tu­ren, ge­rahmt von Ar­chi­tek­tur­bor­dü­ren in Pin­sel­gold in der Art ita­lie­ni­scher Re­nais­sance­rah­men mit Pi­la­stern oder Säu­len; 19 neunz­ei­li­ge Klein­ bil­der für un­ter­ge­ord­ne­te Tex­te; 12 Mo­nats­bil­der im Ka­len­der im Bas-de-page mit drei­ sei­ti­gen Bor­dü­ren­klam­mern auf Pin­sel­gold­g rund: ge­rahmt ent­we­der von drei­sei­ti­gen Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren, teils mit schwar­zen und gol­de­nen Kompartim­en­ten, oder von Gold­grund­bor­dü­ren oder Akanthus auf bun­tem Grund mit Schrift­rol­len, da­zwi­schen im­mer wie­der klei­ne Gro­tes­ken, Vö­gel und In­sek­ten; jede Text­sei­te mit ei­nem Bor­dü­ren­ strei­fen au­ßen in Kom­par­ti­ment-De­kor, dreiz­ei­li­ge In­itia­len zu den Text­an­fän­gen in Blau mit wei­ßem Akanthus­de­kor oder in Gold auf Rot mit gol­de­nem Li­ni­en­de­kor; zweiz­ei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen in glei­cher Art, ein­zei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen, am Zei­len­be­ginn, in Pin­sel­gold auf Flä­chen in Blau, Rot oder Um­bra; Zei­len­fül­ler in glei­cher Art oder als Kno­ten­stöcke mit Pin­sel­goldhöhung. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 115 Blatt Per­ga­ment, vor­ne 1 flie­gen­des und hin­ten 2 flie­gen­de Vor­sät­ze aus al­tem Per­ga­ment, das in zwei Ko­lum­nen reg­liert ist. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (6); die Kol­la­ti­on­ierung des Buch­blocks nicht mög­lich. Die Bil­der zu den Lau­ des so­wie Non und Ves­p er feh­len. Re­ste von ho­ri­zon­ta­len Reklam­an­ten im To­ten­of­fi­zi­um. Rot reg­liert zu 23, im Ka­len­der zu 33 Zei­len. Ok­tav (173 x 120 mm, Text­spie­gel: 108 x 63 mm). Brau­ner Juch­ten(?)-Le­der­ein­band des mitt­le­ren 16. Jahr­hun­derts: fla­cher Rücken mit vier Kompartim­en­ten in gol­de­ner Akanthus­ran­ken-Prä­gung, fal­sche Bünde in Perl­stab­ver­gol­dung; Deckel im „Cent­re-and-Cor­ner­piece“-Stil in­ner­halb von drei Gold­fileten, wo­bei die vier gro­ßen drei­sei­ti­gen Eck­plat­ten eben­so wie die in Rau­ten­form ge­hal­te­ne be­herr­schen­de Zen­tral­plat­ te in Entrelac-Ma­nier über Schraf­fur­gold ge­stal­tet sind, wäh­rend der Zwi­schen­raum mit ei­ nem Semé aus win­zi­gen Bour­bon­li­lien-Stem­peln ge­füllt ist; in den Zen­tral­plat­ten ova­le Schil­ de, die ei­nen Na­men tru­gen, mit ei­ni­ger Si­cher­heit „Ma­rie“ (vorn) und „De Briot“ (hin­ten); Steh­kanten­fi­lete, ge­punz­ter Gold­schnitt. Der Ein­band weist Ge­brauchs­spu­ren auf, v. a. in den Ge­len­ken und den Ecken, und zeigt be­mer­kens­wer­te Par­al­le­len zu je­nem des Stun­den­buchs der Ma­rie Char­lot (un­ser Kat. 20, Nr. 15, Abb. S. 71), das vom sel­ben Künst­ler il­lu­mi­niert wur­de. Auf dem vor­de­ren In­nen­deckel das in Kup­fer ge­sto­che­ne Wap­pen-Ex­li­bris von Ri­chard de Lome­nie mit der De­vi­se „Je main­ti­end­ray“; auf dem Ver­so des er­sten flie­gen­den Vor­sat­zes die An­ga­be: M 62.

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Text fol. 1: Ka­len­der, je­der Tag be­setzt, Hei­li­gen­na­men in Braun, Fest­ta­ge in Rot oder Blau, Gol­de­ne Zahl und der Sonn­tags­buch­sta­be a in Rot, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g in Braun; der Ka­len­der folgt ei­nem Pa­ri­ser For­mu­lar, der Hei­li­ge Ur­si­nus am 30. De­zem­ber weist nach Rouen. fol. 7: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 7), Lu­kas (fol. 8), Mat­thä­us (fol. 9) und Mar­kus (fol. 10). fol. 11: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro te (fol. 11); O in­teme­rata (fol. 13v); Ave cuius co­nceptio (fol. 15). fol. 16: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matutin (fol. 16, mit drei Nok­tur­ nen), Lau­des (fol. 29, An­fang fehlt), Prim (fol. 36), Terz (fol. 40), Sext (fol. 43), Non (fol. 46, An­fang fehlt), Ves­per (fol. 48, An­fang fehlt), Komplet (fol. 52). fol. 56: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 64), dar­un­ter die Pa­ri­ser Hei­li­gen Ger­vasius und Pro­thasius, Mar­cel­lus und die hei­li­ge Gen­ovefa; doch auch Leo­bin von Chartres. fol. 68: Horen: des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 68), des Hei­li­gen Gei­stes (fol. 70v). fol. 73: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 73), Matutin (fol. 78, nicht mar­kiert), Lau­des (fol. 93v, mit Ru­brik). fol. 102: Suff­ragien: Tri­ni­tät (fol. 102), Mi­cha­el (fol. 102v), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 103), Pe­trus und Pau­lus (fol. 103v), Steph­anus (fol. 104), Se­ba­sti­an (fol. 104v), Chri­stoph­orus (fol. 105), Ni­ko­laus (fol. 105v), An­to­ni­us Ab­bas (fol. 106), Mag­da­le­na (fol. 106v), Anna (fol. 107), Alle Hei­li­gen Jung­frau­en (fol. 107v). fol. 108: Pas­si­on Chri­sti nach Jo­han­nes, ge­folgt von den Her­ren­ge­be­ten Deus qui volu­ isti pro re­de­mpt­ione (fol. 114v), Deus qui manus tuas et pe­des tuos und O beat­issime domi­ne (fol. 115). Schrift und Schrift­de­kor Noch in Bast­arda ge­schrie­ben, die der spä­ter be­nutz­ten Fere-Hu­ma­nist­ica be­reits nahe kommt, je­doch mit fort­schritt­li­chen In­itia­len ver­se­hen, steht die­ses Ma­nu­skript, des­sen Ka­len­der mit 33 Zei­len be­reits das stei­le For­mat hat, das er­laubt, die Mo­na­te auf ei­ner Sei­te zu prä­sen­tie­ren, an der Schwel­le zum 16. Jahr­hun­dert: Dazu pas­sen die ein­zei­li­gen Pin­sel­gold-Buch­sta­ben auf Blau, Rot oder Um­bra eben­so wie die Kno­ten­stöcke als Zei­ len­fül­ler. Grö­ße­re In­itia­len sind in Blau mit wei­ßem Akanthus­de­kor oder in Gold auf Rot mit gol­de­nem Li­ni­en­de­kor ge­stal­tet. Zu den Kom­par­ti­ment-Bor­dü­ren in der Tra­di­ti­on der Le Bar­bier kom­men Va­ri­an­ten mit schwar­zen und gol­de­nen Kompartim­en­ten eben­so wie Fonds mit rei­nem Pin­sel­gold oder Akanthus auf bun­tem Grund mit Schrift­rol­len hin­zu. Klei­ne Mi­nia­tu­ren sind nur in den Senk­rech­ten und oben mit Gold­lei­sten ge­rahmt, wo­ bei win­zi­ge schwar­ze Mar­ken in den obe­ren Ecken den ar­chi­tek­to­ni­schen Cha­rak­ter der Rän­der be­zeich­nen. Für die zehn gro­ßen Mi­nia­tu­ren sind Re­nais­sance­rah­men ein­

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gesetzt, die in der Entstehungszeit in Paris noch zur Ausnahme gehören. Die flachen mit Pinselgold bemalten Pilaster sind mit farbigen Steinspiegeln gegliedert. Stärker der Renaissance verpflichtet sind die Säulen mit ihren farbigen Schäften, auch wenn sie aus dem Repertoire der Le Barbier entwickelt sein dürften. Bildfolge fol. 1: Den Kalender, der pro Monat nur eine Seite braucht, begleiten in der Mitte der Bordüren die Tierkreiszeichen, meist auf einem Bodenstreifen, sowie die Monatsdarstellungen in Bildfeldern im Bas-de-page, deren rahmende Säulchen an querformatige Druckstöcke für Bordüren erinnern: Im Januar sitzt ein Herr zu Tisch und läßt sich von einem Pagen Wein und Speise servieren; der Wassermann als bekleideter Knabe leert einen Krug in einen Fluß. Im Februar sitzt ein vornehmes junges Paar vor einer Tafel; dazu drei (!) Fische in einem Fluß. Im März werden die Weinreben zurückgeschnitten; der Widder. Im April pflücken zwei junge Damen Blumen von einem Spalier, um Kränze zu flechten; der Stier von vorn gesehen, ruhend. Im Mai spaziert ein Paar durch die Landschaft; die Zwillinge als nacktes Paar hinter einem blauen Schild. Im Juni machen die Bauern Heu; der rote Krebs. Zum Juli folgt dann die Kornmahd; der Löwe. Im August sind zwei Männer mit Korndreschen beschäftigt; die Jung frau mit dem Palmwedel. Im September bei der Aussaat schleppt ein zweiter Mann einen zweiten Sack mit Saatgut herbei; eine Hand hält die Waage. Im Oktober wird der Wein gekeltert; der Skorpion. Im November werden die Schweine geschlachtet; der Schütze als Kentaur. Im Dezember schließlich das Brot gebacken; der Steinbock in einem Ammonshorn; die senkrechte Bordüre mit einem Schriftband, dessen große Buchstaben SA MA und AVE MAT DEI wohl als Salve Maria und Ave Mater Dei zu verstehen sind. fol. 7: Die Perikopen und die Mariengebete eröffnen mit Halbfiguren in neunzeiligen Kleinbildern: Johannes auf Patmos (fol. 7) erblickt beim Schreiben das Tier mit den neun Köpfen aus der Apokalypse (obwohl der Text aus dem Evangelium stammt): Lukas schreibt in Gesellschaft des Stiers (fol. 8). Matthäus läßt sich das Evangelium von einem Engel präsentieren (fol. 9), und Markus wird von einem zahmen Löwen begleitet (fol. 10). fol: 11: Zu den Mariengebeten die Mondsichelmadonna mit Kind halbfigurig (fol. 11) und die Pietà (fol. 13v). fol. 16: Das Marienofzium war mit dem gewohnten Zyklus versehen; doch fehlen drei Bilder: Die Verkündigung (fol. 16) zur Matutin des Marienofziums ist auf eine schmale Nische mit einem Rundbogen im Zentrum hin ausgerichtet; die linke Seitenwand ist mit Pilastern gegliedert, zwischen denen ein Blick ins Freie gegeben wird; hier auch wird die Holztonne sichtbar, die den Raum überwölbt, während die rechte Seite fast ganz von einem runden Baldachin verstellt ist. Von links ist der Engel in der Dalmatika eines Diakons eingetreten und ins Knie gesunken, während die betende Maria in würdevoller Ruhe rechts kniet.

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Die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 36) bezieht die Hirten mit ein: Unter dem Dach des Stalls, der rechts steht, kniet die ganz in Blau gewandete Maria in Anbetung des Kindes. Joseph kommt hinter ihr, auf einen Stock gestützt, herbei; vor dem Ochsen schnuppert der Esel nach dem Jesuskind, das nackt auf einem weißen Tuch liegt. Ein kleiner Engel hat sich links vorn zur Anbetung hinzugesellt; sein Erscheinen läßt an Vorbilder von Mittel- oder Oberrhein denken, da dort Engelchen im 15. Jahrhundert gern solche Szenen bevölkern. Hinter dem Zaun blicken bereits vier Hirten hervor. Dennoch folgt zur Terz die Hirtenverkündigung (fol. 40): Vorn hat sich ein Hirtenpaar niedergelassen. Während der junge Hirte links auf die drei Engel im Himmel blickt, die das Gloria in excelsis anstimmen, hat die rechts am Boden hockende Hirtin spielerisch ein Schaf auf ihren Schoß genommen. Hinten links sitzt ein Hirte mit seiner Sackpfeife; ein weiterer steht rechts hinten und schaut verwundert in die Höhe. Die Darstellung spielt dicht vor einem stolzen Gebäudekomplex rechts; von dort ist wohl ein offenbar wohlhabender Greis gekommen, der mit untergeschlagenen Armen auf das Geschehen unten blickt. Zur Anbetung der Könige zur Sext (fol. 43) thront Maria en face auf einem mit rotem Goldbrokat verhängten Thron, der bis zum Dach des Stalls reicht; rechts dahinter schaut Joseph verlegen hervor. Von rechts ist der älteste König niedergekniet; ihm schließt sich der mittlere an, während der jüngste links hinzutritt. Die Komposition folgt also einem in Italien beliebten Kompositionsmuster, das derselbe Maler seitenverkehrt im Stundenbuch der Bastienne Mayvret (Nr. 44) verwendete. Die Marienkrönung zur Komplet (fol. 52) beschließt den Marienzyklus. Unter einem runden Baldachin, der außen rot, innen grün bespannt ist, hat Gottvater auf seinem mit Maßwerk verzierten goldenen Thron würdevoll die Hand zum Segen erhoben. Vor ihm kniet die Muttergottes, die bereits die Krone auf dem Haupt trägt und sich sogleich auf den für sie vorbereiteten violett bespannten Thron rechts setzen wird. Drei jugendliche Engel warten dort auf sie, während feurige Seraphim, blaue Cherubim und golden leuchtende Engel gleicher Art den Fond bilden. fol. 56: Die Bußpsalmen eröffnet Bathseba im Bade (fol. 56), die rechts im Bild als reizender Akt in einem Teich steht, der von einem prächtigen runden Brunnen gespeist wird, der das eigentliche Schaustück der Miniatur ist: Auf zwei Ebenen speien Köpfe, darunter auch Löwen, Wasser in eine obere Schale und in den Teich unten. Aus dem Fenster seines Palastes schaut König David herab. Im Hintergrund links tobt bereits jene Schlacht, in der ihr Ehemann sein Leben verlieren wird. Seitenverkehrt kehrt diese Komposition im Stundenbuch der Bastienne Mayvret (Nr. 44) wieder; beide Male wirkt es, als seien zwei für die Bebilderung von Bußpsalmen in Manuskripten und Drucken getrennte Bildfelder hier einfach ineinander integriert worden. Eine solche Kombination bietet seitengleich mit der hier beschriebenen Miniatur ein zwischen 1497-1502 entstandener Metallschnitt vom Meister der Apokalypsenrose für Thielman Kerver (siehe Horae IX , Nr. 17, S. 3977, Abb. 14).

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Für die Kreuzigung (fol. 68) zur Heilig-Kreuz-Matutin ist das Kreuz vor einer Stadtvedute mit zwei stumpfen Türmen errichtet. Links steht Maria klagend mit Johannes und weiteren Frauen, rechts kniet Magdalena als beherrschende Figur, die Hände flehend vor der Brust gefaltet. Hinter ihr deutet der Zenturio mit seinem Gefolge auf den wahren Sohn Gottes, den er erst in dessen Tode erkennt; das geschieht unter einer Fahne mit rotem Doppeladler auf Gold. Zur Matutin des Heiligen Geistes zeigt der Maler ein selten als Erkennungsbild eingesetztes Motiv: die Taufe Christi im Jordan (fol. 70v). Während ein Engel den Rock Christi hält, erscheint am Himmel in einer Engelsgloriole Gottvater segnend. Das Bild kehrt an derselben Stelle beim selben Maler im Amory-Stundenbuch (Nr. 45) wieder. fol. 73: Noch hat sich die Auferweckung des Lazarus (fol. 73) als Erkennungsbild des Totenofziums nicht ganz durchgesetzt; in gedruckten Pariser Stundenbüchern sollte das Thema erst ab 1504 in den Metallschnitten der Pichore-Werkstatt auftauchen (siehe Horae B. M. V. IX, Nr. 23, S. 4003, Abb. 13 [für Thielman Kerver ca. 1504-06] und Nr. 24, S. 4011, Abb. 14 [die Quart-Serie für Simon Vostre, ca. 1504-08]). Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts wird man die Szene hin und wieder in der nordfranzösischen und auch der flämischen Buchmalerei finden. Lazarus war im Fliesenboden eines Sakralraums beigesetzt worden. Nun sitzt er aufrecht im geöffneten Grab, von Petrus im Rücken gestützt, und betet zu Christus, der von rechts mit dem jugendlichen Johannes und anderen Jüngern hinzugekommen ist. Vor der Zuschauermenge erkennt man die mit Nimben ausgezeichneten Schwestern des Toten, Martha und Magdalena, die beide mit Salbtöpfen auftreten. Neunzeilige Kleinbilder mit Halbfiguren, meist vor Landschaft bebildern zum Abschluß die Suffragien: Trinität (fol. 102) mit Sohn und dem als Papst gekrönten Vater im gemeinsamen rosafarbenen Mantel mit dem Buch des Lebens und der Geist-Taube. Michaels Sieg über den Teufel (fol. 102v). Johannes der Täufer mit dem Lamm auf der verdeckten Hand (fol. 103). Petrus und Paulus im Gespräch (fol. 103v). Stephanus (fol. 104) als Diakon mit Märtyrerpalme und einem Stein in der Hand. Sebastiansmartyrium mit einem Bogenschützen (fol. 104v). Christophorus (fol. 105) mit dem Knaben, links ein Felsenufer, über weitem Meer bei sehr niedrigem Horizont. Nikolaus, dem einer der drei Jünglinge betend aus dem Bottich entgegentritt (fol. 105v). Antonius im Feuer stehend (fol. 106). Maria Magdalena (fol. 106v) mit Salbgefäß. Anna (fol. 107) mit der kleinen Maria an der Hand vor einem karminroten Tuch. Allerheiligenbild (fol. 107v) mit Margarete und einer weiteren Jungfrau im Vordergrund sowie zwei Bischöfen oder Äbten, einem Kardinal und dem heiligen Christophorus in zweiter Reihe, wobei das Christuskind in die rechte obere Ecke gequetscht ist. Ebenfalls ein neunzeiliges Bild eröffnet die Johannespassion mit Gefangennahme Christi und Judaskuß (fol. 108): Von behelmten Soldaten umdrängt ist Jesus nach links gerückt; Judas bedrängt ihn; Malchus stürzt vor den beiden zu Boden. Petrus wird nicht gezeigt. Es scheint, als seien die Bilder von Christophorus, Nikolaus, Antonius und der Gefangennahme nicht von der Hand unseres Malers.

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Zum Stil Alle Mi­nia­tu­ren sind ein­heit­lich von je­nem Ma­ler aus­ge­führt, den wir als Mei­ster der Ma­rie Char­lot mit Nr. 15 in Ka­ta­log 20, ei­nem im spä­ten 16. Jahr­hun­dert mit die­sem Na­men auf dem Ein­band be­zeich­ne­ten Stun­den­buch, ein­ge­führt ha­ben. Nie­mand hat­ te sich vor 1988 mit dem Buch­ma­ler je be­faßt, als das Stun­den­buch der Ma­rie Char­lot be­schrie­ben wer­den muß­te. Bei der Er­fas­sung der ge­druck­ten Stun­den­bü­cher konn­te die Il­lu­mi­nie­rung des Per­ga­ment­ex­em­plars ei­nes Stun­den­buchs für den Ge­brauch von Rom, für Si­mon Vostre, um 1505, Horae I, Nr. 40, die­sem Ma­ler zu­ge­schrie­ben wer­den (S. 352). Par­al­lel dazu und ohne auf un­se­re Be­mü­hun­gen ein­zu­ge­hen, hat Isa­bel­le Delaunay ein Œuvre um Hand­schrif­ten für Étienne Ponc­her (1446-1525) zu­sam­men­ge­stellt: 1503 zum Bi­schof von Pa­ris ge­wählt, stieg Ponc­her 1519 zum Erz­bi­schof von Sens auf; von 1512 bis 1514 war er un­ter Lud­wig XII . auch Gar­de des Sceaux. Sein zwei­bändi­ges Pontifik­ale (Lero­quais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) hat selbst­ver­ständ­lich den Vor­ teil, von ei­nem Auf­trag­ge­ber aus dem eng­sten Um­feld des Kö­nigs zu zeu­gen, eig­net sich aber nicht so gut für Ver­glei­che mit Stun­den­bü­chern. Der Ma­ler, den man ge­le­gent­lich mit der Il­lu­mi­nie­rung von ge­druck­ten Stun­den­bü­chern be­traut hat, wird schon ab etwa 1490 ge­ar­bei­tet ha­ben; um 1510 ist sei­ne Tä­tig­keit wohl er­lo­schen. Die recht ein­fa­chen Mi­nia­tu­ren zeu­gen von ei­ner be­mer­kens­wer­ten Fri­sche der Auf­f as­ sung. Noch hat sich die gra­phi­sche Ori­en­tie­rung des Ma­lers, die man in un­se­rer Nr. 44 fin­den wird, nicht durch­ge­setzt. Un­ser Stun­den­buch stammt so­mit aus den Jah­ren kurz vor 1500. Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch aus den Jah­ren kurz vor 1500, um drei Bil­der be­raubt, den­ noch reich il­lu­striert. In Schrift und Schrift­de­kor noch äl­te­rer Tra­di­ti­on ver­pflich­tet, be­mer­kens­wert in der Fri­sche der Bil­der. Wie das Stun­den­buch der Ma­rie Char­lot, das die Grund­la­ge für un­se­re Be­schäf­ti­gung mit dem Ma­ler war, ist die­ses Ma­nu­ skript in ei­nen gold­ge­präg­ten Le­der­ein­band des spä­te­ren 16. Jahr­hun­derts ge­bun­ den und be­weist da­mit die an­hal­ten­de Be­deu­tung sol­cher Stun­den­bü­cher in Zei­ten, in de­nen die Je­sui­ten die ka­tho­li­sche Spi­ri­tua­li­tät be­stimm­ten. Der ver­ant­wort­li­che Ma­ler hat un­ter an­de­rem für Étienne Ponc­her (seit 1503 Bi­schof von Pa­ris) ge­ar­ bei­tet und ge­hört zu je­nen Künst­lern aus dem Kreis der Le Bar­bier, die sich von de­ ren fein­glied­ri­ger Spät­go­tik lö­sten und For­men aus der Re­nais­sance in ihr Schaf­fen in­te­grier­ten. Er ent­wickelt ei­ge­ne Vor­lie­ben, hat bei­spiels­wei­se be­grif­fen, daß sich der Hei­li­ge Geist zum er­sten Mal bei der Tau­fe Chri­sti zeigt; des­halb er­setzt er das Pfingst­wun­der gern durch die­se Sze­ne. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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44 Das Stun­den­buch der Bast­ienne Mayvret vom Mei­ster des Étienne Ponc­her


Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Braun, Rot und Blau, in niedriger Bastarda. Paris, um 1500: Meister des Étienne Poncher (oder Meister der Marie Charlot) 46 Bilder: 13 Bildseiten in goldenen Rahmen, zusammengesetzt aus einem Hauptbild und einer Szene im Bas-de-page, mit sieben Zeilen Text und vierzeiligen Initialen; 19 Kleinbilder und eine historisierte Bordüre; größere Zierbuchstaben aus weißem Akanthus auf rotem Grund mit Binnenfeld in Pinselgold mit weißem Akanthusdekor, zweizeilig zu den Psalmenanfängen; einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Pinselgold auf Flächen in Rot, Blau und Umbra mit goldenem Liniendekor; Zeilenfüller gleicher Art. Versalien gelb laviert. 97 Blatt Pergament, vorne und hinten je ein fliegendes Vorsatz aus Papier. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), Lage 2 (8-1, 8 ohne Textverlust) und Lage 8 (4); keine Reklamanten. Rot regliert zu 29, im Kalender zu 33 Zeilen. Klein-Okatv (156 x 96 mm, Textspiegel: 89 x 52 mm). Vollständig und brillant erhalten. 1593 für Bastienne Mayvret gebunden in einen braunen Maroquinband auf fünf sichtbare Bünde; auf dem Vorder- und Hinterdeckel doppelter Rahmen mit Lorbeerranken in den Zwickeln und einem von Lorbeer gerahmten Medaillon mit der Kreuzigung sowie dem Namen Bastienne (vorne) Mayvret (hinten); 1593 datiert; Goldschnitt, Spuren von zwei Seidenschließbändern. Provenienz: Keine Hinweise auf frühere Besitzer. Bastienne Mayvret ist sonst nicht nachgewiesen. Text fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache; nicht jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Braun, Festtage in Rot oder Blau, Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstabe a in Rot oder Blau, Sonntagsbuchstaben b-g in Braun. Die Heiligenauswahl wenig spezifisch. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 8), Matthäus (fol. 9) und Markus (fol. 10). fol. 10v: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 10v), O intemerata (fol. 12v). fol. 14: Marienofzium für den Gebrauch von Rom, mit eingestellten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 14), Laudes (fol. 24v), Matutin von Heilig Kreuz (fol. 31), Matutin von Heilig Geist (fol. 32), Marien-Prim (fol. 33), Terz (fol. 36), Sext (fol. 39), Non (fol. 41v), Vesper (fol. 44), Komplet (fol. 48); gefolgt von dem Adventsofzium (fol. 51v).

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fol. 58: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 67v), darunter die Pariser Heiligen Gervasius und Prothasius und Genovefa sowie Bischof Claudius aus dem Jura. fol. 69: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 69), Matutin, durch eine Rubrik hervorgehoben (fol. 72), Laudes, durch eine Rubrik hervorgehoben (fol. 84). fol. 90v: Sufragien: Trinität (fol. 90v), Michael (fol. 91), Johannes der Täufer, Petrus und Paulus (fol. 91v), Christophorus (fol. 92), Sebastian (fol. 93), Nikolaus (fol. 93v), Claudius (fol. 94), Antonius Abbas (fol. 94v), Fiacrius (fol. 95), Anna, Magdalena (fol. 95v), Katharina (fol. 96), Barbara (fol. 96v), Margarete (fol. 97). Schrift und Schriftdekor Die Schrift ist eine niedrig laufende Bastarda, die in manchen Details schon zur FereHumanistica oder Gotico-Antiqua tendiert, die wir hier zuerst in Nr. 32 angetroffen haben. Dazu passen das Blau für die Rubriken ebenso wie die Initialen: Mit Pinselgold auf blauen, roten und umbra-braunen Flächen gemalt sind die einzeiligen Zierbuchstaben am Zeilenbeginn; bei der Einrichtung der Texte fällt gerade im Vergleich zu Nr. 32 auf, daß man sich Mühe gab, möglichst wenig Platz für Zeilenfüller zu lassen, die entweder in der gleichen Art gehalten oder als Knotenstöcke ausgebildet sind. Größere Zierbuchstaben sind nur aus rosafarbenem Akanthus gebildet; Binnenfelder meist mit Blüten auf Pinselgold geschmückt. Bordüren bleiben auf die mit Kleinbildern versehenen Seiten beschränkt; sie sind durchweg mit dem gängigen System der Kompartimente gestaltet, also mit blau-goldenem Akanthus auf Pergamentgrund und Blumen auf kräftig konturiertem Muschelgold. Die sieben Zeilen Incipit zu den Hauptbildern sind mit Tintenkonturen begrenzt und wirken, als seien sie auf die Malerei aufgeklebt. Sie überspielen die Aufteilung der Bildseiten in Hauptbild und Bas-de-page, weil sie die als waagerechte Trennung eingesetzten Goldrahmen weitgehend verdecken. Kräftigere profilierte Leisten rahmen die gesamte Malerei auf solchen Seiten; wenig motiviert wirken Spielereien mit kleinen MaßwerkMotiven unter der oberen Kante. Bildfolge fol. 7: Für die Perikope des Johannes hat der Maler eine selten in Manuskripten, dafür aber umso häufiger in gedruckten Stundenbüchern verwendete Ikonographie gewählt – siehe dazu unseren Katalog Horae IX , Nrn. 5 und 6 (Metallschnitt vom Meister des Jean Dupré, bereits ca. 1488, und Anthoine Vérard, ca. 1489), 9 (Metallschnitt vom Meister der Grandes Heures für Denis Meslier, ca. 1490), 12 (Metallschnitt des Meisters der Grandes Heures für Simon Vostre, ca. 1491), 15 (Metallschnitt des Meisters der Apokalypsenrose für Simon Vostre, 1495-98), 22 (Metallschnitte in Oktav der Pichore-Werkstatt für Simon Vostre, 1504-06), usw.: Auf einem Markplatz, umgeben von Schaulustigen und unter Anweisung des Hauptmanns, hat man den nackten Johannes in ein siedendes Ölbad gestellt. Schergen befeuern den Kessel, einer von ihnen kippt

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von oben heißes Öl hinzu. Auf wundersame Weise übersteht der Heilige die Ölmarter unbeschadet und taucht verjüngt aus dem Kessel auf. Im Bas-de-page wird derweil die üblichere Erkennungsszene gezeigt: Johannes auf Patmos, der, begleitet von dem Adler, die Apokalypse schreibt. Die übrigen Perikopen und das sich anschließende Mariengebet erhalten achtzeilige Kleinbilder: Halbfigurig sind die Evangelistenbilder: Lukas mit dem Stier (fol. 8), Matthäus als junger Mann mit dem Engel (fol. 9) und Markus mit dem Löwen (fol. 10). fol. 10v: Als Halbfigur gezeigt wird auch Maria mit dem Kind, die ihr Haar mit ihrem blauen Mantel verhüllt. fol. 14: Vor dem Marienofzium ist auf der letzten Textseite der Mariengebete eine Bildbordüre mit der Wurzel Jesse (fol. 13v) eingerichtet. Halb erwacht dreht sich Jesse im unteren Rand der Bordüre um, besungen von David mit der Harfe, während nach links die Reihe der Könige bis hin zur leuchtenden Erscheinung von Maria mit Kind als Rankenblüte im äußeren Randstreifen aufsteigt. Auf dem gegenüberliegenden Recto erscheint ein lebendiges Bild der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 14). Vor einer Renaissance-Wand, die links ins Freie geöffnet ist, hat Maria rechts unter einem runden Baldachin an ihrem Betpult Platz genommen. Aufgeschreckt von dem reizenden Gast, der von links hinzutritt und auf Gottvater weist, der aus dem Himmel ins Haus blickt, hat Maria die Arme erhoben und sich von ihrem Pult weggedreht. Der schwung volle Pinselstrich des Malers und seine Tendenz zu rundlichen, lieblichen Formen und frischen Farbtönen machen die Miniatur zu einem frohlockendlebendigen Bild. Mariä Tempelgang im Bas-de-page geht diesem Geschehen voraus. Die typologische Dimension der Verbindung der alttestamentlichen Wurzel Jesse und der Verkündigung zum Marienofzium war insbesondere im frühen StundenbuchDruck sehr beliebt und findet sich z. B. in der Holzschnittserie vom Meister des Jean Dupré für Dupré von ca. 1488 (Horae IX , Nr. 3, S. 3913, Abb. 2a). Dort sind Verkündigung und Wurzel Jesse in der Bordüre auf einer Platte kombiniert. In der Metallschnittserie des Meisters der Apokalypsenrose, erstmals bei Jean Dupré um 1489 eingesetzt, ist dem Motiv sogar eine eigene Platte gewidmet (Horae IX , Nr. 8, S. 3933, Abb. 2) und in seiner Werkstatt kontinuierlich wiederholt (siehe Horae IX , die Serien Nrn. 11 und 13 von ca. 1491, 15 von 1495-98, 17 von 1497-1502). Dieser Meister hat sogar ein stark übermaltes Wandbild der Wurzel Jesse in einer der Chorkapellen der Pariser Kirche Saint-Severin geschaffen. In einer leuchtenden Landschaft treffen Maria und Elisabeth zur Heimsuchung (fol. 24v) aufeinander. Maria, die von links übers Gebirge gekommen ist, wird von Joseph begleitet und von ihrer Base empfangen, die schon beide Hände ausgestreckt hat, um den Bauch der Jungfrau zu berühren. Hinter ihr ist mit besonders viel Detailverliebtheit eine Wasserburg dargestellt. Im Bas-de-page hat der Maler Maria am Webstuhl im Tempel ge-

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zeigt. Der Engel bringt ihr dort, freilich zur Non und nicht zu den Laudes, täglich Wasser und Brot, damit sie ungestört ihre Arbeit verrichten kann. Zu den Heilig-Kreuz-Horen wird wie üblich die Kreuzigung (fol. 31) gezeigt. Etwas klein ragt das Kruzifix in den Himmel, um Platz für die Gruppe der Trauernden links, die flehende Maria Magdalena am Fuße des Kreuzes und das Heer des Zenturio zu bieten, der auf den wahren Sohn Gottes verweist. Im Bas-de-page wird von der Kreuztragung der Moment gezeigt, in dem ein Scherge zum Hieb mit dem Stock ausholt. Das Pfingstbild (fol. 32) zu den Horen von Heilig Geist ist auf Maria konzentriert. Hier wiederholt sich unter ganz anderen Voraussetzungen als in unseren Manuskripten der Le Barbier die Analogie zur Marienverkündigung: Unter einem ähnlichen Baldachin wie dort kniet die Muttergottes vor ihrem Pult, nun im Kreise der Apostel mit Petrus links und Johannes rechts. Von links kommt die Taube und wird staunend von den Anwesenden angebetet. Im Bas-de-page ist die Taufe Christi gezeigt, die sowohl im Marie de Briot- als auch im Amory-Stundenbuch vom selben Meister (Nrn. 43 und 45) Hauptthema zu diesen Horen ist. Zur Marien-Prim wird die Geburt Christi (fol. 33) freudvoll inszeniert. Während Maria und Joseph den auf eine altarähnliche Krippe gebetteten Knaben anbeten, sind drei Engel hinzugekommen, um einen Hymnus von einem Notenblatt anzustimmen. Im Basde-page gehen Joseph und Maria auf der Suche nach einer Herberge mit Ochs und Esel zum verfallenen Stall von Bethlehem, nachdem sie anderswo abgewiesen wurden. Zur Terz findet die Hirtenverkündigung (fol. 36) nicht auf einer weiten Wiese, sondern in einem umzäunten Gatter statt. Während die Schafe grasen, sind zwei Hirten und ihr Hund aufgeschreckt und blicken gen Himmel: Dort sind erneut drei Engel erschienen und weisen auf einen Lobgesang, der, in Text und Notation unterschieden, aus einem Chorbuch stammen könnte. Im Bas-de-page folgt die Anbetung der Hirten. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 39) sitzt Maria leicht nach links gedreht, unter dem schadhaften Dach des Stalls; Joseph ist abwesend. Von links ist der älteste König niedergekniet; ihm schließt sich der mittlere an, während der jüngste als dunkelhäutiger Jüngling mit krausem Haar in modischer Kleidung von rechts hinzutritt. Die Komposition folgt also einem in Italien beliebten Kompositionsmuster, das derselbe Maler seitenverkehrt im Stundenbuch der Marie de Briot (Nr. 43) verwendete. Im Bas-de-page sind die drei Könige vor dem Palast des Herodes zu sehen, die dort halten und fragen, wo denn der Heiland geboren worden sei. Eine besonders feierliche Szene bietet die Darbringung im Tempel (fol. 41v) zur Non. Mächtig ragt der große Altar unter einem prachtvollen runden Baldachin in den Raum. Rechts kniet Maria vor der Mensa, begleitet von einer jungen Frau mit Kerze und Joseph, der die Tauben bringt. Der eindrucksvoll große Priester Simeon, von einem Akolythen begleitet, hat den Knaben auf einem weißen Tuch entgegengenommen. Spielerisch streckt der Junge den Arm nach seiner Mutter. Im Bas-de-page steht der zwölfjährige Je-

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sus im Tem­pel, im lan­gen Rock, auf dem Al­tar und dis­ku­tiert auf­ge­weckt mit ei­ner Schar ge­lehr­ter Män­ner im Tem­pel. Zur Ves­p er be­gibt sich die Hei­li­ge Fa­mi­lie auf die Flucht nach Ägyp­ten (fol. 44). Wäh­ rend ein Idol vor ei­nem Burg­tor von der Säu­le stürzt, bie­tet ein Bäum­chen, das kei­ne Dat­teln trägt, Ma­ria sei­ne ro­ten Früch­te (Kir­schen?!) an. Im Kon­trast zu der idyl­lisch wir­ken­den Sze­ne im Haupt­bild steht der Kin­der­mord im Bas-de-page: Ver­geb­lich ver­ su­chen dort zwei Frau­en, ihre Kin­der den Sol­da­ten zu ent­rei­ßen. Den Ab­schluß zur Komplet bil­det auch hier die Ma­rien­krö­nung (fol. 48). Die Wol­ken­ decke hat sich ge­öff­net und gibt den Blick frei auf den mit päpst­li­cher Tia­ra un­ter ei­nem Bal­da­chin thro­nen­den Gott­va­ter, der die Mut­ter­got­tes seg­net. De­mü­tig die Hän­de zum Ge­bet ge­fügt, er­war­tet sie die Kro­ne, die ihr zwei En­gel aufs Haupt set­zen wer­den. Im Bas-de-page sind bei Mariä Him­mel­fahrt ana­log zu Bil­dern von Chri­sti Him­mel­fahrt nur der Saum ih­res Klei­des und ein we­nig von ih­rem Man­tel zu se­hen, wäh­rend die Apo­ stel mit Pe­trus links und Jo­han­nes rechts noch am Bett der Got­tes­mut­ter ver­wei­len und be­tend auf­schau­en. Im Er­öff­nungs­bild der Buß­psal­men wer­den wie in Nr. 43, nun aber sei­ten­ver­kehrt, zwei Bild­mo­ti­ve aus der Da­vid­ge­schich­te kom­bi­niert: Bat­hseba im Bade (fol. 58) tän­zelt im Was­ser ei­nes recht­ecki­gen Ba­des und läßt ei­nen Strahl aus der vom rech­ten Bild­rand ab­ ge­schnit­te­nen Lö­wen­fon­tä­ne auf ihre Hand fal­len, wäh­rend Da­vid sie vom Fen­ster sei­nes Pa­la­stes aus be­ob­ach­tet. Im Hin­ter­grund rechts tobt eine Schlacht, die auf den Tod von Bat­hsebas Ehe­mann Uria hin­weist, den Da­vid auf die­se Wei­se her­bei­führt. Ein be­son­ ders schö­nes kom­po­si­to­ri­sches Äqui­va­lent, das die Haupt­sze­ne der Bat­hseba zwar völ­lig an­ders wie­der­gibt, die im Hin­ter­grund to­ben­de Schlacht aber ähn­lich be­greift, bie­tet ein zwi­schen 1497-1502 ent­stan­de­ner Me­tall­schnitt vom Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se für Thiel­man Kerver (sie­he Horae IX , Nr. 17, S. 3977, Abb. 14). Das Bas-de-page zeigt Da­ vids Buße in der Ein­öde; die Har­fe steht links, der Kron­hut liegt rechts auf ei­ner klei­ nen Klip­pe. So be­tet der grei­se Kö­nig bar­häup­tig zu Gott­va­ter, der mit päpst­li­cher Tia­ ra rechts ne­ben dem Schrift­feld schwebt. Das To­ten­of ­fi­zi­um er­hält eine recht de­tail­lier­te Dar­stel­lung des Gleich­nis­ses vom Rei­ chen und dem ar­men La­za­rus (fol. 69). Wäh­rend sich der Rei­che am Ban­kett mit Kir­ schen(?) satt ißt, bit­tet der Aus­sät­zi­ge, der eine Klap­per trägt, am Tor um eine Spen­de, wird aber vom Pa­gen ab­ge­wie­sen. Im Hin­ter­grund ent­schwin­det sei­ne See­le dem Kör­ per, von ei­nem En­gel ge­tra­gen. Im Bas-de-page fol­gen die Höl­len­qua­len des Rei­chen, der fle­hend auf sei­ne Zun­ge weist, die vor Hit­ze glüht. La­za­rus in Abra­hams Schoß fleht er an, ihm Was­ser zu rei­chen; doch ist ihm kei­ne Lin­de­rung sei­ner Qual ver­gönnt. Zu den Suff­ragien wer­den neunz­ei­li­ge Klein­bil­der mit den Hei­li­gen als Halb­fi­gu­ren ge­schal­tet: Tri­ni­tät mit Sohn und päpst­li­chem Va­ter nach Psalm 109 im ge­mein­sa­men ro­sa­far­be­nen Man­tel mit dem Buch des Le­bens und der Tau­be zwi­schen sich vor tief­ blau­em best­irnten Him­mel (fol. 90v). Mi­cha­els Kampf mit dem Teu­fels­dra­chen (fol. 91). Jo­han­nes der Täu­fer in der Ein­öde und auf der­sel­ben Sei­te Pe­trus und Pau­lus in ei­nem

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Ge­bäu­de (fol. 91v). Chri­stoph­orus mit dem Ein­sied­ler, der die Lam­pe hält (fol. 92). Se­ba­ sti­an mit Pfei­len ge­spickt al­lein vor dem blau­en Him­mel (fol. 93). Ni­ko­laus mit den drei Kna­ben im Bot­tich (fol. 93v). Clau­di­us als Bi­schof vor blau­em Eh­ren­tuch (fol. 94). An­ to­ni­us Ab­bas mit dem Schwein vor der Ein­sie­de­lei (fol. 94v). Fi­acrius als Mönch mit ei­ nem Spa­ten(fol. 95). Anna lehrt Ma­ria le­sen und auf der­sel­ben Sei­te Ma­ria Mag­da­le­na mit dem Salb­topf (fol. 95v). Ka­tha­ri­na mit dem Schwert und dem Palm­zweig (fol. 96). Bar­ba­ra mit Palm­zweig und dem trinit­ari­schen Turm­mo­dell in der Lin­ken (fol. 96v). Mar­ga­re­te aus dem Dra­chen im Ker­ker aus­bre­chend (fol. 97). Zum Stil Alle Mi­nia­tu­ren sind ein­heit­lich von je­nem Ma­ler aus­ge­führt, den wir als Mei­ster der Ma­rie Char­lot ein­ge­führt ha­ben, nach ei­nem Stun­den­buch, des­sen Ein­band aus der­sel­ ben Zeit stammt wie der hier vor­lie­gen­de und mit dem Na­men die­ser spä­te­ren Be­sit­ze­ rin be­zeich­net wur­de (Kat. 20, Nr. 15). Par­al­lel dazu und ohne auf un­se­re Be­mü­hun­gen ein­zu­ge­hen, hat Isa­bel­le Delaunay von zwei Hand­schrif­ten für Étienne Ponc­her (14461525) aus­ge­hend ein Œuvre zu­sam­men­ge­stellt; die­se Be­nen­nung hat selbst­ver­ständ­ lich den Vor­teil, daß der Not­na­me von ei­nem Auf­trag­ge­ber des Ma­lers aus dem eng­sten Um­feld des Kö­nigs stammt, der 1503 zum Bi­schof von Pa­ris und 1519 zum Erz­bi­schof von Sens wur­de. Ponc­hers zwei­bändi­ges Pontifik­ale (Lero­quais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) eig­net sich aber nicht so gut für Ver­glei­che mit Stun­den­bü­chern. Der Ma­ler, den man ge­le­gent­lich mit der Il­lu­mi­nie­rung von ge­druck­ten Stun­den­bü­chern be­traut hat, wird schon ab etwa 1490 ge­ar­bei­tet ha­ben; um 1510 ist sei­ne Tä­tig­keit wohl er­lo­schen. Un­ser Stun­den­buch stammt aus den Jah­ren um 1500. Ein äu­ßerst char­man­tes, kom­plett und breit­ran­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch aus den Jah­ren um 1500, fort­schritt­lich in Schrift und Schrift­de­kor, be­mer­kens­wert in der ikono­gra­phi­schen Durch­drin­gung, zu der die Ein­tei­lung der gro­ßen Bild­sei­ten in Haupt­bild und Bas-de-page we­sent­lich bei­trägt. Der ver­ant­wort­li­che Ma­ler hat un­ter an­de­rem für Étienne Ponc­her (seit 1503 Bi­schof von Pa­ris) ge­ar­bei­tet und ge­ hört zu je­nen Künst­lern aus dem Kreis der Le Bar­bier, die sich von de­ren fein­glied­ ri­ger Spät­go­tik lö­sten und For­men aus der Re­nais­sance in ihr Schaf­fen in­te­grier­ten. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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45 Das reich il­lu­mi­nier­te AmoryStun­den­buch vom Mei­ster des Étienne Ponc­her


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Blau, mit ei­nem Ka­ len­der in Rot und Blau, in dun­kel­brau­ner Fere-Hu­ma­nist­ica. Pa­ris, c. 1500: Mei­ster des Étienne Ponc­her (Mei­ster der Ma­rie Char­lot) 57 Bil­der: acht In­cipits mit Kopf­bil­dern über vier Zei­len Text mit dreiz­ei­li­ger In­itia­le in Akanthus auf Pin­sel­gold oder Blau; da­von fünf in Ar­chi­tek­tur­bor­dü­ren mit zu­sätz­li­chen Sze­nen im Bas-de-page; eine mit Fort­set­zung des Bil­des un­ter dem Text­feld und zwei mit Kopf­bil­dern in Voll­bor­dü­ren; 20 Klein­bil­der von acht bis elf Zei­len Höhe, 24 Ka­len­ der­bil­der in Voll­bor­dü­ren, die un­ten durch die Bild­fel­der durch­bro­chen sind. Der Rand­ schmuck durch­weg ohne Un­ter­schei­dung von Kompartim­en­ten, ent­we­der mit Akanthus­ ran­ken und gro­ßen Blü­ten­stie­len auf Pin­sel­gold oder mit Blu­men­spa­lier. Klein­bil­der mit Voll­bor­dü­ren. Bor­dü­ren­strei­fen in Höhe des Text­spie­gels auf je­der Text­sei­te; klei­ne­re In­itia­ len wie die zu den gro­ßen In­cipits: zweiz­ei­lig zu den Psal­men­an­fän­gen, ein­zei­lig zu Psal­men­ ver­sen, die im Zei­len­ver­lauf ste­hen. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 148 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten je 2 flie­gen­de Vor­sät­ze aus Pa­pier. Ge­bun­den in La­ gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend nur die Ka­len­der­la­ge 1 (12). Ir­re­füh­ren­de mo­der­ne Foli­ ie­rung in Blei­stift rechts oben; Re­ste von ver­ti­ka­len Reklam­an­ten. Rot reg­liert zu 22, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Ok­tav (170 x 108 mm, Text­spie­gel: 100 x 57 mm). Kom­plett, ma­kel­los und breit­ran­dig er­hal­ten. Dun­kel­ro­ter Ma­ro­quin­band des 17. Jahr­hun­derts auf fla­chen Rücken, die­ser gänz­lich mit Fi­ let­en so­wie or­na­men­tal-flora­len Stem­peln in Point­illé-Ma­nier be­deckt; Deckel in Fi­let­en­rah­ mung mit brei­ter Dent­el­le­bor­dü­re und ein­ge­stell­tem Hoch­recht­eck aus vier Fi­let­en bzw. durch­ bro­che­nen Li­ni­en; Steh­kan­ten in Point­illé, fe­ste Mar­mor­pa­pier­vor­sät­ze, Gold­schnitt, wohl von Luc-An­toine Boy­et (vgl. Ka­ta­log Es­me­rian II, 1972, Nrn. 57, 67 und 70). Pro­ve­ni­enz: Auf dem leer ge­blie­be­nen fol. 148v ein mo­der­ner Hin­weis auf das Wap­pen der fran­zö­si­schen Fa­mi­lie Amory, mit der Be­schrei­bung: „Aux ar­mes de Amory (France): d’azur à un che­vron d’ar­gent accompagné de trois étoiles d’or, deux en chef, une en poin­te.“ Ein sol­ches Wap­pen mit drei Blü­ten oder Ster­nen, in den Far­ben je­doch nicht voll les­bar, ist auf fol. 29 of­fen­bar nach­träg­lich zwi­schen zwei Put­ten, die wohl He­ral­dik prä­sen­tie­ren soll­ten, ein­ge­malt wor­den. In glei­cher Wei­se über den ur­sprüng­li­chen De­kor ge­legt, farb­lich je­doch ein­ deu­ti­ger auf d’azur au che­vron d’or, also Blau mit ei­nem gol­de­nen Spar­ren, fest­ge­legt ist das Wap­pen auf fol. 79. Ein sol­cher Schild, auf fol. 13 voll­far­big und ohne meubles, ge­hört zum Ori­gi­nal­be­stand. Der Name Amory oder Am­aury be­zeich­net meh­re­re fran­zö­si­sche Adels­fa­mi­li­en; er wird mit sehr un­ter­schied­li­cher He­ral­dik ver­bun­den. Die Amory, die seit dem 13. Jahr­hun­dert in der Ge­gend von Saint-Malo nach­ge­wie­sen sind, hat­ten ein ähn­li­ches, aber von bei­den For­men in un­se­rem Stun­den­buch mar­kant ab­wei­chen­des Wap­pen. Viel­leicht sind die Her­ren von Mont­

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fort-Am­aury im Département Yvel­ines (be­rühmt durch Ra­vels Boléro), west­lich von Ver­sailles ge­meint. Doch bleibt of­fen, ob in un­se­rem Stun­den­buch über­haupt von Amory die Rede sein darf und wo die dann an­ge­sie­delt wa­ren. An­ge­sichts der un­si­che­ren Über­lie­fe­rung wäre es ver­ lockend, das hier nicht zur ur­sprüng­li­chen Ma­le­rei ge­hö­ren­de Wap­pen mit den drei Ro­sen mit der Fa­mi­lie Ponc­her zu ver­bin­den; dem wich­tig­sten Prä­la­ten die­sen Na­mens ver­dankt der ver­ ant­wort­li­che Ma­ler ei­nen sei­ner bei­den Not­na­men, wenn er als Mei­ster des Étienne Ponc­her be­zeich­net wird. Des­sen Far­ben wa­ren auf Gold ein ro­ter Spar­ren, frei­lich mit ei­nem Moh­ren­ kopf und mit drei schwar­zen Ja­kobs­mu­scheln (d’or au che­vron de gueu­les, accompagné de trois co­quilles de sable). Da Far­ben in der spät­mit­tel­al­ter­li­chen He­ral­dik gar nicht so ent­schei­dend wa­ren, steht un­ser Stun­den­buch des­halb viel­leicht in Ver­bin­dung mit der Fa­mi­lie des Pa­ri­ser Bi­schofs Étienne Ponc­her, der als ho­her Prä­lat selbst kein sol­ches Ge­bet­buch ge­habt ha­ben dürf­ te, wohl aber für ein Fa­mi­li­en­mit­glied bei „sei­nem“ Ma­ler be­stellt ha­ben könn­te. Text fol. 1: Ka­len­der in la­tei­ni­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, Hei­li­gen­na­men in Rot und Blau, Fest­ta­ge in Gold, Gol­de­ne Zahl in Gold, Sonn­tags­buch­sta­be A in Weiß auf Gelb und Rot; Sonn­tags­buch­sta­ben b-g in Braun. Die Wahl des La­tei­ni­schen müß­te ei­gent­lich da­für sor­gen, daß hier ein recht sorg­fäl­tig kon­zi­pier­ter Ka­len­der vor­liegt. An­ge­sichts der Ge­stal­tung ir­ri­tiert die Wahl des La­tei­ni­schen; denn zu ab­wech­selnd in Rot und Blau ko­pier­ten und auf je­dem Tag be­setz­ten Ka­len­da­ri­en ge­hört ei­gent­lich das Fran­zö­si­sche in dia­lek­ta­ler Fär­bung. Die Hei­li­gen­aus­wahl, die in La­tein meist sorg­fäl­ti­ger kon­trol­liert sein müß­te, ist nicht ein­deu­tig be­stimm­bar. Sie bie­tet Hei­li­ge aus den un­ter­schied­lich­ sten Ge­gen­den, dar­un­ter Au­gulus, Bi­schof von Augs­burg (7.2.). Zahl­rei­che Ein­tra­gun­ gen sind über­ra­schend, so Os­waldi regis für Kö­nig Os­wald von North­um­bri­en am 4.8. fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes als Suff­ragium (fol. 13), Lu­kas (fol. 14v), Mat­thä­us (fol. 15v) und Mar­kus (fol. 17). fol. 18: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro te (fol. 18), O in­teme­rata (fol. 20v), Stabat ma­ter (fol. 22), Ave cuius co­nceptio (fol. 23v), O illustrissima et ex­cellentissima virgo (fol. 24), Gau­de flo­re vir­gin­ali (fol. 25v), Ave re­gi­na celo­rum (fol. 26v), Alma re­de­ mptoris (fol. 27), Re­gi­na celi letare (fol. 27v), In­violata in­tegra et casta es (fol. 27v), ge­folgt von ei­nem Ge­bet, das, laut Ru­brik, je­den Tag ge­be­tet, dem Tod in Sün­de vor­beugt: Ma­ ter digna dei (fol. 28); fol. 28v leer. fol. 29: Jo­han­nes-Pas­si­on. fol. 37: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom: Matutin (fol. 37), Lau­des (fol. 43v), Prim (fol. 50), Terz (fol. 53), Sext (fol. 55v), Non (fol. 58), Ves­per (fol. 59v), Komplet (fol. 65); Ad­vents­of­fi­zi­um (fol. 72v); fol. 78v leer. fol. 79: Horen: des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 79), des Hei­li­gen Gei­stes (fol. 81v); fol. 84/84v leer.

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fol. 85: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 92), in der knappen Auswahl die Pariser Heiligen Gervasius und Prothasius. fol. 96: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 96), Matutin, mit einer Rubrik (fol. 100). fol. 123: Sufragium der Trinität, gefolgt von Herrengebeten. fol. 133: Sufragien: Michael (fol. 133), Johannes der Täufer (fol. 133v), Petrus und Paulus (fol. 134), Jacobus (fol. 134v), Laurentius (fol. 135), Christophorus (fol. 135v), Sebastian (fol. 136), Alle Heiligen (fol. 136v), Nikolaus (fol. 137), Claudius (fol. 137v), Antonius Abbas (fol. 138), Fiacrius (fol. 138v), Martin (fol. 139), Anna (fol. 139v), Magdalena und auf derselben Seite Margarete (fol. 140), Barbara (fol. 140v), Katharina (fol. 141v), Apollonia (fol. 141v), Genovefa (fol. 142v). fol. 143: Lateinische Gebete für den Tagesverlauf und für verschiedene Anlässe, eingeleitet durch französische Rubriken. fol. 148: Textende; fol. 148v leer. Schrift und Schriftdekor Nicht mehr in einer Bastarda, sondern in Gotico-Antiqua oder Fere-Humanistica, die sich in Paris erst um 1490 durchsetzte, ist dieses Manuskript angelegt. Die AkanthusInitialen, die auch für die einzeiligen Zierbuchstaben eingesetzt werden, sind in kräftigem Blau und Gold gestaltet. Zum fortschrittlichen Charakter gehören die Rubriken, deren Blau im Adventsofzium fast eine ganze Seite füllt. Der Randschmuck, der auf Textseiten Bordüren in Höhe des Textspiegels vorsieht, kommt durchweg ohne Kompartimente aus. Man verteilt entweder Akanthusranken und Blütenstiele auf Pinselgold oder kleine Blüten und Blätter in farbigen Spalieren. Die Kleinbilder erhalten Vollbordüren; das gilt auch für den Kalender, wo jedoch die nach unten versetzten Miniaturen den Randschmuck durchbrechen. Bildfolge fol. 1: Den Kalender zieren im Bas-de-page Monatsbilder auf Recto und Tierkreiszeichen auf Verso. Zum Januar gießt sich ein edler Herr am Tisch Wein aus einer Schale in den Mund (fol. 1), der Wassermann schüttet als rotblonder kleiner Junge einen Wasserkrug aus (fol. 1v). Zum Februar wärmen sich Herr und Dame am Feuer (fol. 2); viele große, karpfenähnliche Fische schwimmen in einem Fluß (fol. 2v). Im März schneidet ein Bauer die Weinreben (fol. 3), und der Widder mit gedrehten Hörnern bückt sich mit seinem langen Fell so, als wolle er soeben zum Sprung ansetzen (fol. 3v). Im April hat eine junge Dame Blumen gepflückt (fol. 4), der Stier, der auf sonderbare Weise seinen Schwanz unter dem Bauch lang nach oben reckt, schreitet langsam voran (fol. 4v). Im Mai tauschen junge Edelleute unter einem Baum Blumen miteinander (fol. 5), während die Zwillinge als nacktes Paar in einem Gesträuch stecken (fol. 5v). Im Juni wird von einem jungen

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Bau­ern das Gras ge­mäht (fol. 6), der Krebs liegt wie eine Lan­gu­ste mit grau­em Pan­zer am Ufer ei­nen Ge­wäs­sers (fol. 6v). Im Juli schnei­det ein Bau­er das Korn (fol. 7), wäh­rend der Löwe zwi­schen ein­zel­nen Bäu­men um­her­zu­sprin­gen scheint (fol. 7v). Im Au­gust ist Zeit für die Korn­dre­sche, die ein jun­ger Bau­er wild am Fuße ei­nes an­ti­zi­pie­ren­den Baus voll­führt (fol. 8), wäh­rend die Jung­frau als Edel­da­me mit ei­nem Pal­men­zweig er­scheint (fol. 8v). Die Aus­saat wird im Mo­nat Sep­tem­ber auf den Fel­dern be­gan­gen (fol. 9), die Waa­ge hält eine aus den Wol­ken kom­men­de Hand, die auf den gött­li­chen Rich­ter­spruch ver­weist (fol. 9v). Im Ok­to­ber wird der Wein ge­kel­tert (fol. 10), der Skor­pi­on kriecht ei­ nem Tau­send­füß­ler gleich über ei­nen Stein am Fluß­ufer (fol. 10v). Im No­vem­ber wer­ den Ei­cheln ge­schla­gen (fol. 11), wie üb­lich er­scheint der Schüt­ze als bo­gen­schie­ßen­der Zen­taur (fol. 11v). Im De­zem­ber bäckt man Brot (fol. 12) und der Stein­bock kriecht als lang­hor­ni­ger Zie­gen­bock aus ei­ner Mu­schel (fol. 12v). Die Per­ik­open er­öff­nen mit ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Dar­stel­lung von Jo­han­nes auf Patmos (fol. 13). Der jun­ge Evan­ge­list, dem der Ad­ler das Tin­ten­faß hält, sieht als Mo­tiv aus der Apo­ka­lyp­se eine halb­fig­uri­ge Ma­rien­er­schei­nung auf der Mond­si­chel. Ge­ra­de­zu ein­zig­ ar­tig ist die Zu­nei­gung des Je­sus­kna­ben zu Jo­han­nes; denn er beugt sich vor, als wol­le er sei­nen Lieb­lings­jün­ger be­rüh­ren. Im Bas-de-page wird der Evan­ge­list, der hier den Gift­ be­cher, aus dem das Gift in Form ei­ner Schlan­ge ent­weicht, als At­tri­but in der Hand hält, nach Patmos ver­schifft. In ei­ner drit­ten Art von Bild wird in Gold-Ca­maïeu in der Ar­chi­tek­tur­bor­dü­re der knien­de Au­gu­stus mit der Tiburti­ni­schen Si­byl­le ge­zeigt, die den Kai­ser auf die Ma­rien­er­schei­nung im Jo­han­nes­bild hin­weist. Im Sockel der Ar­chi­ tek­tur­bor­dü­re er­scheint ein gol­de­ner Spar­ren auf blau­em, mit Ran­ken ver­zier­tem Wap­ pen­schild. Die fol­gen­den Per­ik­open er­hal­ten elfz­ei­li­ge Klein­bil­der, die die fol­gen­den drei Evan­ge­li­ sten als Halb­fi­gu­ren zei­gen: Lu­kas als Ma­don­nen­ma­ler (fol. 14v), Mat­thä­us mit dem En­ gel (fol. 15v) und Mar­kus (fol. 17), der als ein­zi­ger als er­grau­ter al­ter Mann ge­zeigt wird. Zum Ma­rien­ge­bet er­scheint Ma­ria als Halb­fi­gur vor ei­nem Eh­ren­tuch (fol. 18). Die ei­ gen­tüm­lich al­ter­tüm­li­che Art der Dar­stel­lung und des Fal­ten­wurfs las­sen kei­nen Zwei­fel dar­an, daß mit die­sem Bild eine by­zan­ti­ni­sche Ma­rien­iko­ne im Be­sitz des René d’An­jou ge­meint ist, die auch von Bart­hélemy d’Eyck in ei­nem Stun­den­buch des Her­zogs (Pa­ris, BnF, Ms. lat. 17332, fol. 15v) und von Ge­org­es Tru­bert (Los An­ge­les, Getty Mu­se­um, ms. 48, fol. 159) ge­malt wur­de. Zum Lobe des hei­li­gen Bil­des sind, wie in ei­nem ver­zier­ ten Rah­men, zwei En­gel links und rechts in der Bor­dü­re zu se­hen. Wäh­rend im Hin­ter­grund noch Chri­stus auf dem Öl­berg zu se­hen ist, fin­det im Vor­ der­grund schon die wil­de Ge­fan­gen­nah­me Chri­sti (fol. 29) statt. In Blau tritt Ju­das vor das Ge­tüm­mel der Sol­da­ten und ver­rät den Hei­land mit sei­nem Kuß, wäh­rend Pe­trus dem Mal­chus das Ohr ab­ge­schla­gen hat. Die Mari­en-Matutin er­öff­net mit der Ver­kün­di­gung (fol. 37) in ei­ner Ädikula mit gol­de­ nen Säu­len, in de­ren Schaft rechts auch ein Pro­phet ein­ge­stellt ist, der Ma­ria mit ecce ma­ter rede(m)ptoris be­zeich­net, wäh­rend der Vers Tota pulcra es ami­ca mea

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et macula … aus dem Ho­hen­lied im Fries oben steht. In ei­nem durch eine Log­gia zur Land­schaft ge­öff­ne­ten Raum kniet Ma­ria un­ter ei­nem Bal­da­chin, un­ter­bricht ihr Ge­ bet und emp­fängt nun de­mü­tig mit er­ho­be­nen Hän­den den leb­haft be­weg­ten En­gel, der das in wei­ßen Let­tern ein­ge­schrie­be­ne ave spricht, mit der Rech­ten zur Tau­be über sich weist und mit sei­nen lieb­li­chen Ge­sichts­zü­gen fast an mit­tel­rhei­ni­sche Ma­le­rei er­in­nern könn­te. Im Bas-de-page er­scheint der Kuß an der Gol­de­nen Pfor­te. Die nach­fol­gen­den Stun­den wer­den von acht- bis zehnz­ei­li­gen Klein­bil­dern ein­ge­lei­tet: Zur Heim­su­chung (fol. 43v) vor dem Stadt­tor zur Lau­des wer­den die zwei Frau­en von Jo­seph und ei­ner Die­ne­rin be­glei­tet. In der Ge­burt Chri­sti (fol. 50) zur Prim nutzt der Ma­ler die Enge des klei­nen For­mats und ent­wickelt ein in­ni­ges Halb­fi­gu­ren­bild von Ma­ ria und Jo­seph in An­be­tung des Kin­des. Zur Terz er­scheint ein gol­de­ner En­gel am Him­ mel zur Hir­ten­ver­kün­di­gung (fol. 53). Auch die An­be­tung der Kö­ni­ge (fol. 55v) pro­fi­tiert vom in­ti­men Cha­rak­ter des klei­nen For­mats. Voll Zu­nei­gung beugt sich der äl­te­ste Kö­ nig vor­sich­tig zu dem Kna­ben, der auf dem Schoß der Mut­ter die Gabe ent­ge­gen­nimmt. Zur Non ist Ma­ria mit Jo­seph und ei­ner Frau zur Dar­brin­gung im Tem­pel (fol. 58) ge­ kom­men. Wäh­rend Simeon den Kna­ben schon mit ver­hüll­ten Hän­den auf den Al­tar ge­ho­ben hat, greift der Jun­ge in ei­ner kind­li­chen Ge­ste nach sei­ner Mut­ter. Zur Ves­p er zeigt der Ma­ler nicht nur die Flucht nach Ägyp­ten (fol. 59v), de­ren Zen­trum der leuch­ tend rot ge­klei­de­te Je­sus­kna­be ist, son­dern im Hin­ter­grund auch das Korn­wun­der, das wir im C. P.-Stun­den­buch, Nr. 34, schon ge­fun­den ha­ben. Zur Komplet schließ­lich fin­ det die Ma­rien­krö­nung (fol. 65) vor ei­nem gol­de­nen Eh­ren­tuch statt. Wäh­rend Gott in Ge­stalt des Soh­nes die Mut­ter seg­net, reicht ein En­gel die Kro­ne über den Gold­bro­kat. Die Kreu­zi­gung (fol. 79) zur Matutin von Hei­lig Kreuz ist von be­son­de­rer Fa­rb­fri­sche. Vor leuch­ten­dem Him­mel ist das Kreuz auf­ge­rich­tet und wird von Ma­ria in Blau und Jo­han­nes in zar­tem Vio­lett und ei­nem tief­ro­ten Man­tel ge­rahmt. Den Fuß des Kreu­zes um­klam­mert Ma­ria Mag­da­le­na. Wäh­rend im Bas-de-page mit der Kreuzt­ragung noch auf die Er­eig­nis­se vor der Kreu­zi­gung hin­ge­wie­sen wird, brin­gen die bei­den Grei­se, die in Gold-Ca­maïeu in den Säu­len der Ar­chi­tek­tur­bor­dü­re ge­zeigt sind, be­reits die Lei­tern für die Kreuz­ab­nah­me. Im Sockel au­ßen ist das Wap­pen der Jo­han­nes­bor­dü­re (fol. 13) in Gold-Ca­maïeu wie­der­holt, nun mit drei Blü­ten be­setzt, zwei oben, ei­ner un­ten. Die Hei­lig-Geist-Horen er­öff­net der ver­ant­wort­li­che Ma­ler hier wie schon in Nr. 43 mit ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Er­ken­nungs­bild: Die Tau­fe Chri­sti im Jor­dan (fol. 81v) durch den Täu­fer, wo­bei ein En­gel Jesu Rock hält und Gott­va­ter in ei­ner Au­reo­le seg­nend Chri­ stus als sei­nen Sohn be­zeich­net, wie das Schrift­band ver­rät (hic es – sic – fi­lius meus dilec­tus in quo). Pas­send dazu span­nen die gol­de­nen Put­ten auf den Ka­pi­tel­len der Säu­len der Bor­dü­re fei­er­lich ihre Fes­t ons über die Sze­ne. Ins Bas-de-page ist das ei­gent­ li­che Er­ken­nungs­bild ge­rückt: Vor ei­nem Bet­pult knien Ma­ria und da­hin­ter die Apo­ stel und er­le­ben die Aus­gießung des Hei­li­gen Gei­stes (im Pi­la­ster links), die sich in ro­ ten Flam­men ma­ni­fe­stiert. Den Witz des Ma­lers zeigt der klei­ne En­gel, der links hin­ter dem Bo­gen her­vor­schaut.

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Die Buß­psal­men ziert eine rei­zen­de Bat­hseba im Bade (fol. 85), die in ei­nem Brun­nen ba­det, des­sen Was­ser aus ei­ner Mas­ke ent­springt und auf ihre Hand rie­selt, wäh­rend die Wel­len sanft ihre Scham um­spie­len. Kö­nig Da­vid und ein Ver­trau­ter be­ob­ach­ten die schö­ne Ba­den­de vom Bal­kon des Pa­la­stes. Zum To­ten­of ­fi­zi­um schil­dert der Ma­ler dra­stisch das Jüng­ste Ge­richt (fol. 96). Von zwei En­geln, die die Po­sau­nen des Jüng­sten Ta­ges bla­sen, ist der als Schmer­zens­mann ge­zeig­te Wel­ten­rich­ter um­ge­ben; zu sei­ner Rech­ten, also links im Bild bit­tet ihn Ma­ria mit hei­li­ gen Jung­frau­en (die ge­krön­te dürf­te Ka­tha­ri­na sein); rechts scha­ren sich die Apo­stel, mit dem Täu­fer dar­über, alle nur als Halb­fi­gu­ren. Auf die links mit ei­nem gol­de­nen Schrift­ band ver­kün­de­te Auf­f or­de­rung surgite mortui et venite ad iudicium hin ste­hen die To­ten aus ih­ren Grä­bern auf. Von Er­lö­sung ist nichts zu se­hen, nur Teu­fel, die rechts Ver­damm­te in die Höl­len­feu­er sto­ßen; auch im Bin­nen­feld der Ar­chi­tek­tur rechts setzt sich die Höl­len­qual fort. Im Bas-de-page wird aus der weit ver­brei­te­ten Bild­vor­la­ge mit der Dar­stel­lung des Rei­chen in der Höl­le ein (auch aus Nr. 44) ver­trau­tes Mo­tiv auf­ge­ nom­men, zu dem ei­gent­lich der arme La­za­rus in Abra­hams Schoß ge­hört, wie er in un­ se­rem C. P.-Stun­den­buch (Nr. 34) die To­ten­ves­p er er­öff­net. Weil er nicht barm­her­zig war, brennt nun sei­ne Zun­ge in der Höl­le; Lin­de­rung ist ihm nicht ver­gönnt. Die Ver­ bin­dung die­ses Gleich­nis­ses mit ei­ner End­zeit­vi­si­on hat ein weit ent­fern­tes Vor­bild im welt­be­rühm­ten ro­ma­ni­schen Por­tal von Moissac. fol. 123: Für die Suff­ragien sind zwölf Klein­bil­der von elf Zei­len Höhe vor­ge­se­hen, al­ ler­dings nicht für je­des Suff­ragium. Be­bil­dert sind: die Tri­ni­tät als Gna­den­stuhl vor ei­ nem Eh­ren­tuch (fol. 123), Mi­cha­els Sieg über den Teu­fel (fol. 133), Jo­han­nes der Täu­fer bei ei­ner Pre­digt (fol. 133v), Pe­trus und Pau­lus (fol. 134), Lau­ren­ti­us mit dem Rost (fol. 135), Se­ba­sti­ans Pfeil­mar­ter (fol. 136), Ni­ko­laus mit den drei Jüng­lin­gen im Bot­tich (fol. 137), Fi­acrius (fol. 138v), Anna lehrt Ma­ria le­sen (fol. 139v), Bar­ba­ra (fol. 140v), Gen­ ovefa mit der Ker­ze zwi­schen En­gel und Teu­fel (fol. 142v). Zum Stil Alle Mi­nia­tu­ren sind ein­heit­lich von je­nem Ma­ler aus­ge­führt, den wir nach ei­nem im 16. Jahr­hun­dert auf dem Ein­band be­schrif­te­ten Stun­den­buch als Mei­ster der Ma­rie Char­ lot ein­ge­führt ha­ben (Kat. 20, Nr. 15). Par­al­lel dazu und ohne auf un­se­re Be­mü­hun­gen ein­zu­ge­hen, hat Isa­bel­le Delaunay vom zwei­bän­di­gen Pontifik­ale (Lero­quais 1937, Nrn. 106-7, Taf. CXXIX) und ei­ner wei­te­ren Hand­schrift für Étienne Ponc­her (1446-1525) aus­ge­hend ein Œuvre des­sel­ben Stils zu­sam­men­ge­stellt: Ihr so de­fi­nier­ter Not­na­me hat den Vor­teil, von ei­nem Auf­trag­ge­ber aus dem eng­sten Um­feld des Kö­nigs zu zeu­gen, der 1503 zum Bi­schof von Pa­ris und 1519 zum Erz­bi­schof von Sens wur­de und un­ter Lud­wig XII . auch Gar­de des Sceaux war. Das Groß­for­mat die­ser Bän­de eig­net sich aber nicht so gut für Ver­glei­che mit Stun­den­bü­chern. Im Fal­le der hier be­schrie­be­nen Hand­schrift reizt der Ge­dan­ke, die nicht end­gül­tig iden­ti­fi­zier­ten Wap­pen könn­ten mit der Fa­mi­lie des Bi­schofs ver­bun­den sein. Der Ma­ler, den man ge­le­gent­lich mit der Il­lu­mi­nie­rung von

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gedruckten Stundenbüchern betraut hat, wird schon ab etwa 1490 gearbeitet haben; um 1510 ist seine Tätigkeit wohl erloschen. Aus dieser Spätzeit stammt unser Stundenbuch. Ein sehr einheitliches, taufrisch und breitrandig erhaltenes Pariser Stundenbuch aus den Jahren um 1500. In Schrift und Schriftdekor fortschrittlicher als die bei­ den vorausgehenden Manuskripte, beweist dieses Stundenbuch den zuweilen küh­ nen Umgang mit ikonographischen Konventionen, wenn beispielsweise der Reiche in der Hölle unter dem Jüngsten Gericht erscheint. Der verantwortliche Maler hat unter anderem für Étienne Poncher (seit 1503 Bischof von Paris) gearbeitet und ge­ hört zu jenen Künstlern aus dem Kreis der Le Barbier, die sich von deren feinglied­ riger Spätgotik lösten und Formen aus der Renaissance in ihr Schafen integrierten. Hier begegnen wir ihm in seiner Spätzeit mit einfach komponierten, aber sehr tref­ fenden und eindrucksvollen Miniaturen, die öfter auch einmal ikonologisch ausge­ tretene Pfade verlassen.

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46 Ein Stun­den­buch vom Mei­ster der Mett­ler-Pèleri­na­ge, frü­her im Be­sitz des Hau­ses Liech­ten­stein


Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Blau, geschrieben in dunkelbrauner Textura. Paris, c. 1500: Meister der Mettler-Pèlerinage und ein weiterer im Kalender 42 Bilder: 13 große Miniaturen über fünf Zeilen Incipit mit vierzeiligen Dornblatt-Initialen in Vollbordüren, fünf Kleinbilder zu den Perikopen und zwei Sufragien mit Bordürenklammer von außen; 24 Kalenderbilder im äußeren Randstreifen der Recto-Seiten mit dem Monatsbeginn; alle Kalenderseiten mit Bordürenstreifen in Textspiegelhöhe, die von ungewöhnlichen Schmuckleisten begleitet werden, die sich als Klammer von der Falzseite um den Textspiegel legen. Durchweg Kompartiment-Bordüren mit dem Wechsel von Pergamentgrund und Flächen in Pinselgold. Alle Textseiten mit einem Bordürenstreifen außen; zwei- bis einzeilige Initialen in Blattgold auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 157 Blatt Pergament, vorne 3 und hinten 2 fliegende Vorsätze aus altem Pergament. Vorwiegend gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12); der Beginn des Mariengebets und das Ende fehlen zwischen fol. 19/20 und 20/21 ebenso wie der Beginn der Suffragien. Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; keine Reklamanten. Oktav (185 x 130 mm, Textspiegel: 114 x 68 mm). Farbfrisch und in den Miniaturen gut erhalten, jedoch nicht ganz vollständig: ein Blatt aus dem Obsecro te als fol. 1 fehlgebunden, von den Mariengebeten sonst nur ein weiteres Blatt, fol. 20, erhalten; der Anfang der Suffragien fehlt. Olivbrauner Maroquinband des 18. Jahrhundert auf fünf echte Bünde, Rücken mit Kastenvergoldung und floral-ornamentalen Stempeln verziert; Deckel in breiter Bordüren-Rahmung aus Bienenrolle zwischen jeweils drei Filetenbündeln, Steh- und Innenkantenvergoldung, blaue Seidenmoiré-Vorsätze, Goldschnitt. Provenienz: Auf dem festen Vorsatz, der wie der erste fliegende Vorsatz mit blauer Seide bespannt ist: Ex libris Liechtensteinianis, also die fürstlich-liechtensteinische Bibliothek, die Ende der 40er Jahre über H. P. Kraus aufgelöst wurde. Text Vorsatz mit einem Blatt aus dem Textblock und einem Incipit: Ofcium B. Mariae Virginis et Defunctorum. Coloniae 1502 (!). fol. 1: das zweitletzte Blatt des Mariengebets Obsecro te, das hier an fol. 20 anschließen müßte. fol. 2: Kalender, jeder Tag besetzt, Heiligennamen abwechselnd in Rot und Braun, Festtage in Blau, Goldene Zahl in Blau, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf rot-blauem Grund,

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Sonntagsbuchstaben b-g in Braun, Römische Tageszählung in Rot und Braun. Die Heiligenauswahl mit Fest des Dionysius und dem Tag der heiligen Columba von Sens (30.12.). fol. 14: Perikopen: Johannes (fol. 14), Lukas (fol. 15v), Matthäus (fol. 17) und Markus (fol. 18v). fol. 20: Mariengebet Obsecro te: Anfang fehlt; fol. 1 schließt hier an; danach fehlt das Ende des Texts. fol. 21: Marienofzium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 38v), Prim (fol. 49v), Terz (fol. 53v), Sext (fol. 57), Non (fol. 60v), Vesper (fol. 64v), Komplet (fol. 70v), Advents-Ofzium (fol. 75v). fol. 81: Horen von Heilig Kreuz (fol. 81), von Heilig Geist (fol. 85). fol. 89: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 100). fol. 107v: Totenofzium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 107v), Matutin (fol. 114v), Laudes, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 136). fol. 149/v leer und unregliert. fol. 150: Suffragien: Anna (Anfang fehlt, fol. 150), Katharina (fol. 150v), Barbara (fol. 151). Schrift und Schriftdekor Die Textura und deren Ausstattung mit Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen zeigt die Verankerung in der Tradition. Geradezu veraltet ist auch die Einrichtung der Bildseiten mit fünf Zeilen Incipit sowie vierzeiligen Dornblatt-Initialen. Hingegen ist der Randschmuck auf Kompartiment-Bordüren eingestellt, die Pergamentgrund und schwarz konturierten Fond mit Pinselgold abwechseln. In dieser Art sind die Vollbordüren zu den Kopf bildern, die Bordürenklammern zu den fünf Kleinbildern und die sonst überall eingesetzten Randstreifen in Textspiegelhöhe dekoriert. Besonders auffällig und ungewohnt sind die Schmuckleisten, die sich nur im Kalender, dort aber auf Recto und Verso als Klammer von der Falzseite um den Textspiegel legen. Bildfolge fol. 2: Der Kalender ist mit einer Folge von Monatsbildern und Tierkreiszeichen versehen, die jeweils auf den Recto-Seiten in einer schmalen Architekturbordüre am äußeren Blattrand übereinandergestellt werden. Ganz und gar ungewöhnlich ist die Rahmung durch mit bunten Schmucksteinen besetzte goldene Leisten, die oben und unten den Bordürenstreifen und den Textspiegel begleiten und sich dann zum Falz hin schließen: Zum Januar sitzt ein reicher Herr am Tisch, und der Wassermann, als nackter blonder Knabe, schüttet einen Wasserkrug in einen Fluß (fol. 2). Zum Februar wärmt sich ein Herr am Feuer, und zwei große Fische schwimmen in einem Fluß (fol. 3). Ein weiß ge-

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kleideter Bauer schneidet die Weinstöcke im März und erscheint damit in einer Farbe passend zum Fell des Widders, der sich mit seinen gedrehten Hörnern stolz aufrichtet (fol. 4). Im April träg ein junger Edelmann Blütenstängel, der Stier reckt im unteren Bildfeld den Kopf nach rechts (fol. 5). Im Mai wird der Ausritt eines jungen Herrn gezeigt, die Zwillinge stecken als nacktes Paar in einem Gesträuch (fol. 6). Im Juni wird ein Schaf zum Scheren von einem jungen Hirten auf den Schultern getragen, der Krebs liegt feuerrot am Ufer einen Gewässers (fol. 7). Im Juli ist erst die Heumahd, wohl weil der Maler durch das ungewohnte Bild zum Juni aus dem Rhythmus gekommen war; dazu zeigt sich der Löwe aufrecht sitzend. Im August ist hier erst Zeit für die Kornmahd, während die Jung frau mit einem Palmenzweig zwischen blühenden Bäumen sitzt (fol. 9). Die Aussaat wird im Monat September auf den Feldern begangen, die Waage wird von einer aus den Wolken kommenden Hand getragen und dadurch mit göttlichem Richterspruch verbunden (fol. 10). Im Oktober wird der Wein gekeltert, während sich der Skorpion als gepanzerter Vielfüßler mit drachenähnlichem Kopf in der Landschaft windet (fol. 11). Schon im November wird ein Schwein geschlachtet, der junge Metzger hat soeben den Hals des Tieres durchbohrt, wie üblich erscheint der Schütze als bogenschießender Zentaur (fol. 12). Im Dezember wird Brot gebacken, und der Steinbock reckt als langhorniger Ziegenbock frech den Kopf nach oben (fol. 13). Die Perikopen eröffnen mit einer großen Miniatur, die Johannes auf Patmos (fol. 14) zeigt. In stille Zurückgezogenheit versunken, schreibt der jugendliche Evangelist in die Seiten seines aufgeschlagenen Buches. Der Adler hebt die Flügel und streckt den Hals so, als hätte er die Vision des Heiligen erblickt. Danach folgen drei Kleinbilder mit den Halbfiguren der Evangelisten: Lukas (fol. 15v), erstaunlich jung und mit seinem braunen Bart christusähnlich, schreibt ins Profil gedreht sein Evangelium. Matthäus ist ein Greis mit der Gelehrtenkappe, dem der Engel ein Buch aufgeschlagen hält (fol. 17). Wie der jugendlich bartlose Johannes sieht Markus aus, der neben dem Löwen sitzt und seine Schreibfeder prüft (fol. 18v). Das Marienofzium eröffnet wie gewohnt mit der Verkündigung (fol. 21) zur Matutin. Obwohl wir die bildparallele Rückwand mit der geöffneten Fensterfront sehen, ist das Hauptereignis schräg angelegt. Denn der kniende Erzengel rechts wendet uns eigentlich den Rücken zu und dreht den Kopf ins Profil, damit wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Überraschung der Maria richten können, deren Betpult links unter rotem Baldachin eigentlich zum Betrachter hin ausgerichtet ist. In ihrer Lektüre unterbrochen, vernimmt sie die Worte des Engels, während die Taube über dessen Haupt schwebt. Zu den Laudes folgt die Heimsuchung (fol. 38v). Vor sonderbar steil aufragenden Türmen im Mittelgrund erwartet die Base Elisabeth Maria. Diese hält den Saum ihres blauen Mantels vor dem Körper und erlaubt der erfreuten Alten, ihren Leib zu berühren. Zwei halbwüchsige Engel sind der Jungfrau wie zwei kleine Pagen gefolgt und unterstreichen ihre Würde. Zur Prim findet die Anbetung des Kindes (fol. 49v) im Stall statt, von dem nur die schadhafte Rückwand und ein Deckenbalken gezeigt wird. Auf einem weißen Tuch, das die

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rechteckige Krippe bedeckt, liegt der Knabe wie auf einem Altar und wird von Maria und Joseph, der die Flamme einer Kerze schützt, angebetet. Vergnügt blicken Ochs und Esel auf die Szene, und zwei Engel sind herbeigekommen, um einen nicht lesbaren Gesang anzustimmen. Zur Hirtenverkündigung (fol. 53v), die die Terz eröffnet, erscheint nur ein Engel und verkündet auf einem langen, wieder nicht lesbaren Schriftband die Geburt des Heilands. In Aufregung versetzt, blicken zwei riesenhafte Hirten gen Himmel, einer bereit, die Hände zum Gebet zu falten, während die Schafe ruhig auf der Wiese grasen. Die Sext ist der Anbetung der Könige (fol. 57) vorbehalten. Maria hat vor einem roten Goldbrokat, der als Ehrentuch hinter ihr in denselben Stall gespannt ist, wie er zur Weihnacht gezeigt wurde, mit dem nackten Knaben im Arm Platz genommen. Vor ihr kniet bereits der älteste König und reicht seine Gabe dar. Dahinter spricht der mittlere zum jüngeren, während der Stern zwischen ihren Köpfen am Himmel strahlt. Von rechts ist Maria mit Joseph, der eine Kerze und ein Körbchen mit Tauben mitführt, zur Darbringung im Tempel (fol. 60v) vor dem Altar niedergekniet. Den nackten Knaben hat sie Simeon übergeben, der als Heiliger mit Nimbus und goldenem Gewand mit bloßen Händen Jesus hält, der in amüsanter Weise über den Altartisch auf seine Mutter zuschreitet und beide Hände zu ihr ausstreckt. Zur Vesper hat der Maler eine in der Pariser Buchmalerei fast nie gezeigte Ikonographie gewählt: Thema ist Herodes, der den Kindermord befiehlt (fol. 64v). Vor dem in der Landschaft stehenden König knien rechts drei Soldaten und nehmen den Auftrag entgegen, während der weißbärtige König den Befehl erteilt und in Haltung und Gestik dabei von einem rot gekleideten Berater mit blauer Kappe nachgeahmt wird. Zur Komplet des Marienofziums wird die Marienkrönung (fol. 70v) nach traditionellem Muster dargestellt. Maria kniet vor dem thronenden Gottvater auf einer Wolkenbank. Während sie die Hände zum Gebet gefaltet hat und Gottvater sie segnet, haben ihr zwei Engel über die Thronbank hinweg, die neben dem mit blauem Tuch ausgeschlagenen Gottesthron auf sie wartet, wohl soeben die Himmelskrone aufs Haupt gesetzt. Rot glüht der Himmel mit goldenen Strahlen; doch Seraphim sind nicht gezeigt. Bei der Kreuzigung (fol. 81) zur Matutin von Heilig Kreuz blicken Maria und Johannes, hinter denen weitere Frauen an ihren Nimben erkennbar sind, zum blutüberströmten Erlöser auf, während rechts vielleicht der Zenturio mit seinem Heer im Angesicht des wahren Gottessohnes verstummt. Als übliches Erkennungsbild der Heilig-Geist-Horen wird auch hier ein Pfingstbild (fol. 85) geschaltet. Durch das Fenster links ist die Taube, mit einer flammenden roten Strahlenaureole, in den Kirchenraum geflogen. Rechts haben sich die Apostel kniend hinter Johannes, die Muttergottes und Petrus geschart, in Anbetung des Wunders. In unseren Stundenbüchern aus den Jahrzehnten um 1500 ist Bathseba im Bade das gängige Eingangsbild zu den Bußpsalmen (fol. 89): Diesmal steht die nackte Bathseba

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bis zu den Knien im Was­ser; nur leicht über­spielt ihre Scham ein trans­p a­ren­ter Schlei­ er. Wäh­rend eine win­zi­ge Die­ne­rin ihre Klei­der am Ufer hü­tet, blickt Kö­nig Da­vid aus ei­nem in die Bild­mit­te ge­setz­ten Turm sei­nes Pa­lasts auf die Ba­den­de. Wie auf ei­nem Bett, mit auf­ge­rich­te­tem Ober­kör­per, liegt Hiob auf dem Dung (fol. 107v) zum Be­ginn des To­ten­of ­fi­zi­ums. Nur mit ei­nem Len­den­tuch be­klei­det, hat er die Hän­de zum Ge­bet ge­fal­tet. Die drei Freun­de sind hin­zu­ge­kom­men und re­den nun auf ihn ein. Zu den ver­blei­ben­den Suff­ragien wer­den zwei Klein­bil­der ge­schal­tet: Ka­tha­ri­na (fol. 150v) und Bar­ba­ra (fol. 151). Der ver­ant­wort­li­che Ma­ler Alle Miniaturen, außer dem Kalender, sind von einer Hand, die noch Verbindungen mit der Werkstatt der Le Barbier verrät. Außer uns hat sich niemand mit diesem Maler beschäftigt. Man trifft auf ihn insbesondere bei der Illuminierung von Drucken der späten 1480er Jahre: Er hat in unserem Katalog Horae am Stundenbuch der Anne de Beaujeu mitgearbeitet (I,1) und die Nr. I,3 ausgemalt. Er taucht in Bd. IV wieder auf, weil er an Delta beteiligt war, Epsilon ganz illuminiert, in Kappa das Doppelbild zur Marien-Matutin gestaltet und das als Lambda verzeichnete Fragment der Grandes Heures Royales von Anthoine Vérard koloriert hat. Wir nennen ihn nach seinem umfangreichsten Werk Meister der Mettler-Pèlerinage und meinen damit die bedeutende Digulleville-Handschrift, die dem Sammler Arnold Mettler-Specker aus Sankt Gallen gehört hat, bei Mensing, Amsterdam 5.4.1935, als lot 27 versteigert wurde und vor kurzem bei der Versteigerung Burrus wieder aufgetaucht und in französischen Privatbesitz gewandert ist. Dieser Illuminator hat auch das Wiener Exemplar von Vérards Lancelot und die Chroniques de France in Wormsley sowie ein Exemplar des Orose, Vélins 682 der BnF, illuminiert. Schließlich war er am Mer des Hystoires von Pierre Le Rouge für Karl VIII . beteiligt (Vélins 676-677). Ferner hat er die Danse macabre für Karl VIII . gemeinsam mit dem Meister der Apokalypsenrose bearbeitet (BnF, Est., Te 8 fol. rés.: siehe Farbabb. 134-136 bei Nettekoven 2004). Ein Stundenbuch, das in Madrid mit Kaiser Karl V. verbunden wird, stammt ebenfalls von seiner Hand (Vit. 24.3: Ausst.-Kat. Les Rois Bibliophiles, Brüssel 1985, Nr. 64). Die Kalenderminiaturen stammen von einem anderen Maler – am nächsten kommt ihm die Werkstatt des Poncher-Meisters (hier Nrn. 43-45). Ein bis auf wenige Verluste gut erhaltenes Stundenbuch, bis auf den Kalender vollstän­ dig gestaltet vom Meister der Mettler-Pèlerinage, der zu den wichtigsten Illuminato­ ren der frühesten bebilderten Pariser Drucke gehörte und sich hier als ein selbständi­ ger Künstler aus dem Umfeld der Le Barbier zeigt, mit einem von Schrift und Initialen her ganz der Tradition verhafteten Werk von solider Qualität, das als eines der extrem seltenen Manuskripte mit Miniaturen seiner Hand unsere Aufmerksamkeit verdient. LI­T E­R A­T UR :

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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Register Zum rascheren Auffinden von Autoren, Übersetzern und Bearbeitern (1); Buchmalern (2), Schreibern (3); Buchbindern (4); sowie Auftraggebern und Provenienzen (5). Die Nummern beziehen sich auf diejenigen des Katalogs. Da es sich bei den Handschriften durchgehend um Stundenbücher handelt, werden diese im Register nicht eigens aufgeführt. A Amory, Familie (5) 45 Aubry, Jean Thomas (5) 40

Hennequin, Jehanne (5) 36 Heron, Robert (5) 41 Huth, Henry (5) 33

B Barbier Fils, Francois Le (2) 28 (Stil), 29, 30, 31, 32, 33 (Stil) Baron, Charles (5) 37 Battersby, B. A. (5) 27 Bellecombe, Françoise de (5) 39 Boyet, Luc-Antoine (4) 45 Bragelongne, Madeleine de (5) 34 Breslauer, Bernard (5) 29 Briot, Marie de (5) 43

K Kraus, H. P. (5) 27, 29, 46

C Coene, Jean (2) 41 Coëtivy-Meister (2) 26 D Delorme, Nicaise (5) 29 Desplain, Marie (5) 27 Dreyfus, Familie (5) 33 Dreyfus, George (5) 33 Duru, Hippolyte (4) 33 F Frescobaldi, Piero di Filippo (5) 42 G Gaguin-Meister (2) 37, 38 Gotha-Meister (2) 31, 41, 42 H Harewood, Earls of (5) 30

L Lansburgh, Mark (5) 29 La Vallière, Duc de (5) 31, 36(?) Le Conte, Anne (5) 36 Le Jeûne, Perrette (5) 37 Le Noir, J.-C.-P. (5) 31 Liechtenstein, Fürsten von (5) 46 Lomenie, Richard de (5) 43 Lucas & Dingwall, Baroness (5) 40 M Marius Michel (4) 33 Mayvret, Bastienne (5) 44 Meister der Chronique Scandaleuse (2) 26, 31, 38, 39, 40, 41 Meister der Marie Charlot, siehe Meister des E. Poncher Meister der Mettler-Pèlerinage (2) 26, 46 Meister der Philippa von Geldern (2) 41, 42 Meister des Robert Gaguin, siehe Gaguin-Meister Meister der Traités théologiques (2) 32 Meister des Etienne Poncher (2) 40, 41, 43, 44, 45 Meister des Gothaer Stundenbuchs, siehe Gotha-Meister

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Register

Meister des Jacques de Besançon, siehe Barbier Meister Karls VIII . (2) 35, 36 Meister von C. P. (2) 34 Montholon, Anne de (5) 34 Montholon, J. de (5) 34 Mutry, Coquebert de (5) 37 N Nanton, Louis de (5) 39 Naslin, Marie (5) 28 Nettancourt, N. J. de (5) 35 P Perdrier, Anne de (5) 34 Perdrier, Charles de (5) 34 Perrins, Charles W. Dyson (5) 29 Petre, Edward (5) 42 Phillipps, Sir Thomas (5) 27 Phillips, Neil F. (5) 27 Polignac-Meister (2) 27, 28 Q Quaritch, Bernard (5) 29

R Riva, Conte (5) 39 Rivière (4) 29 Robert, Jeanne (5) 37 Rothschild, Alexandrine de (5) 39 Rothschild, Betty de (5) 39 Rothschild, Edmond de (5) 39 Rothschild, James Mayer de (5) 39 S Salé, André (5) 28 Sneyd, Sir Walter (5) 31 Sourget, Patrick (5) 35 St. Victor, Augustiner von (5) 29 T Thibaron-Joly (4) 39 Tolson, G. H. (5) 33 Tregaskis (5) 33 V Van Zuylen, Baron (5) 38 W White, Henry (5) 42

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Zuletzt erschienen:

I & II 25 Stundenbücher aus Paris 1380 – 1460

2 Bände mit jeweils 320 Seiten und ca. 335 Farbtafeln Zusammen € 200,-


IV 2 Stundenbücher aus Paris 100– 10

Miniatur aus dem Stundenbuch der Katharina von Aragon

Erscheint im Mai/Juni dieses Jahres


UNIVERS ROMANTIQUE Les Français peints par eux-mêmes

Alle nennenswerten Bücher Frankreichs mit Illustrationen zwischen 1825 und 1875 in einer einzigartigen Reihe von Original-Zeichnungen, Aquarellen, 111 Exemplaren auf Chinapapier, im Kolorit der Zeit etc. 600 Exemplare vor allem aus den Sammlungen Beraldi · Bonnasse Brivois · Carteret · Clapp · De Rouvre · Descamps-Scrive Duché · Esmerian · Adrian Flühmann · Gallimard Gavault · Lafond · Lebœuf de Montgermont Lainé · Legrand · Meeus · Perier · Petiet Rattier · Van der Rest · Ripault Roudinesco · Schumann Tissot-Dupont Villebœuf Vautier etc.

4 Bände mit ca. 2000 Seiten und 4000 Farbabbildungen

Erscheint im April/Mai 2018




III

LXXXI H T 


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