Paris mon Amour Vol. IV | 20 Books of Hours from Paris 1500 - 1550 | Cat. 82

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LXXXII Gewidmet dem Andenken von Janet Backhouse und Myra D. Orth, die auf diesem verschatteten Gebiet erste Wegmarken gesetzt haben


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IV  StundenbÜcher aus Paris  –  Darunter das Stundenbuch der Katharina von Aragon, zwei Stundenbücher des Anne de Montmorency und das Stundenbuch von Henri II und Diane de Poitiers in Form einer Bourbonlilie aus dem Besitz von Eugène de Beauharnais und Viscount Combermere: Vom Martainville-Meister, Jean Pichore, Jean Coene, Gotha-Meister, Meister der Philippa von Geldern, Etienne Poncher-Meister, Etienne Colaud, Meister des d’Urfé-Psalters, dem Meister des François II de Rohan, Noël Bellemare, Martial Vaillant, Meister des Gouffier-Psalters, Charles Jourdain

KataLog LXXXii Heribert Tenschert 2018


Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com

Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.

English summaries of the descriptions available on application.

Autoren: Prof. Dr. Eberhard König, Dr. Christine Seidel, Dr. h. c. Heribert Tenschert Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert, Maria Danelius Fotos: Athina Nalbanti, Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-32-6


Vor­wort Dass du nicht en­den kannst, das macht dich groß, Und dass du nie be­ginnst, das ist dein Los, Dein Lied ist dre­hend wie das Stern­ge­wöl­be, An­fang und Ende im­mer­fort das­sel­be, Und was die Mit­te bringt, ist of­fen­bar Das, was zu Ende bleibt und an­fangs war. Goe­the, West-öst­li­cher Divan Aber enden ist nie leicht; auch wenn kaum einer damit renommieren geht, daß er’s nicht kann. Zwischen beiden, Abschluß-Notdach und taubem Verweilen, richtet man sich ein und atmet auf, wenn man irgend davonkommt. Und wie ginge das, davonkommen, nach fünf Folianten mit der schwer hängenden Ladung von weit über 60 Pariser Stundenbüchern? Andere müssen das entscheiden, weil ich ganz und gar befangen bin – gefangen in einer Sackgasse, die mir immer Verzwickteres auflädt: Aufgabe, Prüfung, die Schatten des Scheiterns. Kann man so weitermachen? Also – nur zum Scherz – ein Pendant zu „Paris mon Amour“ in, sagen wir, vierzig Florentiner Offizien des Quattrocento liefern? Nein. Jedoch sich umwenden und wieder Potpourri-Kataloge wie Leuchtendes Mittelalter I oder II machen, kommt noch weniger in Frage. Diese Karawanserei am blankgewehten Pfad der alten Schriften sollen andere besiedeln. Immer habe ich mich damit getröstet, daß bei noch so hohem Seegang unserer Fahrt Horizonte sich auftaten, morgensilbern: wie viele steigende, stürzende, an Wunder grenzende Erfahrungen haben mich nicht darin bestärkt! Aber jetzt ist der Zeitpunkt da, wo umgekehrt werden muß, weil die Zielbewußtheit der Spezialisierung nach langem glücklichen Aufstieg in Ratlosigkeit zu enden droht und wir in dieser Richtung auf Grund fahren. Also planen wir noch einen hübschen Katalog mit grünvernarrten flämisch-burgundischen Kalendern, Simon Bening darunter, Gerard David, der Dresdner Meister, aber danach muß ein neues Prinzip gefunden werden. Ich werde mich selbst überraschen müssen. Womit man bei den vorliegenden Bänden gelandet wäre. Verglichen mit Band III, der in diversen launigen, auch schütteren Ausformungen die heraufdrängende Kunst der Buchdrucker bestreitet, kontert, ignoriert oder schon feiert, erscheinen die 20 Stundenbücher von „Paris mon Amour“ IV und V in einer Haltung, die der eigenen trotzig behaupteten Superiorität genauso Rechnung tragen möchte wie der causa victa ihrer Zukunft, die mit unseren Nummern 64 – 66 im Triumph von Schönheit und Abschied ihre Todgeweihtheit heroisch „überstirbt”.


Vorwort

Und doch. Wer einmal, im Stundenbuch der Katharina von Aragon (Nr. 47) blätternd, der stiebenden Fülle seiner Erscheinung aus Farben und Formen ansichtig wird, entsprungen aus dem politischen Zweckauftrag des französischen Königs (und seiner mit Recht so selbstbewußten Königin) und zielend auf Trost, Stolz und Glaubensfestigung der Adressatin in ihrer Fremdeinsamkeit, der sagt den Gedankenspielen ab, worin Druck und Handschrift ihre Scheingefechte austragen und verliert sich stattdessen in den Schwebungen tausendfältiger Schönheit, die mit jedem Betrachten ins immer Abgründigere führt. Tatsächlich ist der Reichtum dieser Handschrift von der Art, die einen nicht so sehr befreit entläßt, sondern eher schnürt und beschränkt, weil man über solchen Kosmos nicht hinausdenken oder -phantasieren kann: der Rausch dieser Klarheit ist immer schon bewußt und doch erst im Unendlichen zu kosten. Nach diesem schwarzen Diamanten haben es die anderen Schriften in Band IV schwer – aber der steinig blühende Bilderüberschwang von Nr. 48 bringt wie in einer Zeitkapsel ein halbes Jahrhundert zu Kunst geronnener Bemühung herauf; die beiden anderen Arbeiten des Martainville-Meisters zeigen musterhaft die Eigenständigkeit und gespannten Muskeln seiner Kunst; Jean Pichores Brevier des Dichters Octovien de Saint-Gelais (Nr. 51) füllt, obzwar schon einmal breit vorgestellt, im neuen Katalog eine eigens für ihn sich öffnende Lücke und die restlichen vier Werke legen, jedes für sich, so eigene wie letztlich die Regel bestätigende Beweise ab für den in hohem Trieb stehenden, wenngleich nicht allzu tief wurzelnden Blumengarten der ersten zwei Jahrzehnte des Seizième. Mit Band V, salomonisch sich teilend, wird es noch einmal ernst, weil – wie man selbst erkennen wird – das uns Nächste am schwersten darzustellen und zu begreifen ist. Die aufrührerische Vielfalt, das Überfluß-Arom in den Nrn. 56, 58, 59, 60 und 61 geben beredte Kunde von einer Bewegung, an deren Aufbruch schon die Flammen der Reformation lecken – „die Füße im Feuer“. Die späten Stundenbücher 62 und 63, wie sandgeschliffen in ihrer Renaissance-Eleganz, sind der organische Steg zu den drei Denkmälern, die den Band beschließen. Mit ihnen endigt unser neues Unternehmen, wie es mit Katharinas Horarium begann – ein Posaunenstoß, der für niemanden verklingt, der ihn einmal hat vernehmen dürfen, ein Blick in das Sternendickicht unserer abendländischen Kunst, ihr wehes Herz. Was Noël Bellemare und der Maler des François de Rohan (dabei der wackere Colaud) in Nrn. 64 und 65 leisten, wie in allen Falten und Inkarnaten und Ädikula wild der Herzschlag eines befreiten Geistes betet, in Nr. 65 der weiße Brand der Gebirge, die Süße der Fernen auf die Szenen im Vordergrund überspringt, das mißt sich einem für immer ein, wenn etwas in uns darauf gewartet hat. Damit wollen wir es dann auch bewenden lassen, unter Anrufung der Gnade einer Rückkehr, bei langsam sich leerendem Stundenglas. Und nächstes Jahr greifen wir nach den Hörnern des Mondes. Bi­ber­müh­le, Ok­to­ber 2018 H. T.

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Inhaltsverzeichnis Band IV und V Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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47 Das Stundenbuch der Katharina von Aragon – Als Geschenk von König Ludwig XII und Anne de Bretagne (?): Ein unerhört reiches Pariser Manuskript vom Martainville-Meister und Jean Pichore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 48 Ein Stundenbuch, nach 1461 im Poitou oder der Loire-Region geschrieben, um 1500 vom Martainville-Meister vollendet . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 49 Das Pelée-Chaperon- Stundenbuch vom Martainville-Meister, zuletzt im Besitz des Comte de Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 50 Ein Stundenbuch vom Martainville-Meister, eventuell aus dessen Frühzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 51 Das Brevier des Dichters Octovien de Saint-Gelais: Ein frühes Hauptwerk von Jean Pichore aus der Zeit um 1494 . . . . . . . . . . . . . 187 52 Ein Stundenbuch als Panorama der Pariser Buchmalerei um 1500 – mit Miniaturen von Jean Pichore, Jean Coene, dem Meister der Philippa von Geldern und einem überragenden weiteren Maler . . . . . . . . . 217 53 Ein Stundenbuch für den Gebrauch von Coutances vom Martainville-Meister, in Zusammenarbeit mit Jean Pichores Werkstatt . . . . . . 237 54 Ein Stundenbuch mit mehr als 100 Bildern von Jean Pichore und seiner Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 55 Das Stundenbuch der Marguerite de Coësmes und des Charles d‘Angennes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 56 Das monumentale Stundenbuch der Madame Giraud de Prangey-Escertaines: seltenes Beispiel einer Pariser Handschrift für den Gebrauch von Langres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

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57 Das Lignieres-Stundenbuch – von Jean Coene ganz eigenhändig ausgemalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 58 Ein mit 158 Bildern ungemein reiches Stundenbuch vom Gotha-Meister mit mehreren alttestamentarischen Zyklen und einem Totentanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 59 Ein Pariser Stundenbuch mit 124 Bildern vom Meister der Philippa von Geldern, dem Meister des Étienne Poncher und einem bislang unbekannten Meister mit Vorliebe für explizite Aktdarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 60 Ein Stundenbuch von Etienne Colaud und dem Meister des d’Urfé-Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 61 Ein Stundenbuch mit 99 Bildern von Etienne Colaud und dem Hauptmeister der Statuten des Michaelsordens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 62 Das Stundenbuch des Pierre Palmier, Erzbischof von Vienne, illuminiert von Etienne Colaud und Martial Vaillant . . . . . . . . . . 457 63 Das Stundenbuch des Pierre Duchesnay und der Antoinette Cain: Ein unbekanntes Werk vom Meister des Gouffier-Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 64 Das Erste Stundenbuch des Anne de Montmorency, Connétable de France, mit herrlichen Miniaturen von Noël Bellemare. . . . . . . 493 65 Das Zweite Stundenbuch des Anne de Montmorency, Konnetabel von Frankreich, ein Hauptwerk des Meisters des François de Rohan aus dem Jahr 1539 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 66 Ein Stundenbuch in Form der französischen Königslilie: Die Maquette für das Amienser Stundenbuch des französischen Königs Henri II . – später im Besitz von Napoleon, Eugene de Beauharnais und Viscount Combermere . . . . . . . . . . . . . 561 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

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Pa­ris mon amour ist nicht die ers­t e Lie­bes­er­klä­rung, die Heri­bert Ten­schert der fran­zö­ si­schen Met­ro­po­le zu­ge­dacht hat,1 aber in ih­rer Aus­schließ­lich­keit die groß­ar­tigs­t e, selbst wenn in den neun Bän­den Horae mit ih­ren 4384 Sei­ten noch mehr aus Pa­ris ge­zeigt und dis­ku­tiert wird als in den nun vor­ge­leg­ten fünf Bän­den. Wie­der geht es um Stun­den­bü­cher, und man darf na­tür­lich auch fra­gen, wa­rum man im­mer wie­der auf den­sel­ben Buch­typ ver­fällt.2 Da aber geht es dem An­ti­quar in un­se­ren Zei­ten ähn­lich wie den Buch­künst­lern am Über­gang vom Mit­tel­al­ter zur Re­nais­sance: Kei­ne an­de­re Art von Hand­schrift oder Früh­druck war ähn­lich reich und viel­fäl­tig und zu­gleich so ver­traut. Wie sich die So­na­te in der Klas­si­schen Mu­sik an­bot, in­ner­halb ei­ner ein­mal ge­fun­de­nen und fort­an res­pek­tier­ten Form un­end­li­chen Er­fin­dungs­geist zu ent­ fal­ten, so er­wies sich das spät­mit­tel­al­ter­li­che Stun­den­buch ge­ra­de durch die Ver­gleich­ bar­keit von Text, For­mat, Schrift, De­kor und Be­bil­de­rung als un­er­schöpf­li­che He­raus­ for­de­rung für ihre Ge­stal­ter im Wett­streit um er­staun­li­che Lö­sun­gen eben­so wie für die Da­men und Her­ren, die kei­nen Auf­wand scheu­ten, wenn sie für sich selbst oder sel­te­ner für Men­schen ih­rer Um­ge­bung, die ih­nen be­son­ders wert wa­ren, ein neu­es Exemp­lar ge­ stal­ten lie­ßen oder ei­nes, das sie schon in Hän­den hiel­ten, noch ein­mal durch neue Pracht kost­ba­rer ma­chen woll­ten. *** Mit un­se­ren Bänden IV und V von Pa­ris mon amour er­rei­chen wir die Epo­che der Glau­ bens­spal­tung, der eine schon län­ger schwe­len­de tie­fe Kri­se von Kir­che und Fröm­mig­keit vo­raus­ge­gan­gen war. Bei der Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen spiel­te die sprung­haft ge­wach­ se­ne Le­se­fä­hig­keit wei­ter Krei­se eine er­heb­li­che Rol­le, die das Le­sen nicht mehr zwin­ gend beim Ent­zif­fern des Prym­ers lern­te, wie das Stun­den­buch als Le­se­fi­bel in Eng­land noch für lan­ge Zeit be­zeich­net wur­de. Des­halb ver­lor die klas­si­sche Spra­che an Ein­ fluß – frei­lich nicht über­all mit der glei­chen Ent­schie­den­heit. Wäh­rend in Eng­land und Deutsch­land zwi­schen John Wy­clifs eng­li­scher Fas­sung der Bi­bel aus dem 14. Jahr­hun­ dert und Mar­tin Lu­thers Sep­tem­ber­tes­t a­ment von 1522 um die wört­li­che Bi­bel­ü­ber­ 1

Sie­he die weit­ge­hend auf Pa­ris kon­zent­rier­ten Ka­ta­lo­ge: Gro­ße Buch­ma­le­rei zwi­schen Rou­en und Pa­ris: Der Frois­sart des Kar­di­nals Georges d’Amb­oise aus der Samm­lung des Fürs­ten Pü­ck­ler-Mus­kau (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV ), Rot­thal­müns­t er 1992. Boc­ca­ccio und Petr­arca in Pa­ris (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter. Neue Fol­ge I), Rot­thal­müns­t er und Bi­ber­müh­le 1997. 35 Stun­den­bü­cher aus Pa­ris und den fran­zö­si­schen Re­gi­o­nen im 15. und 16. Jahr­hun­dert (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge VI ), Bi­ber­müh­le 2009. Das Pa­ri­ser Stun­den­buch an der Schwel­le zum 15. Jahr­hun­dert. Die Heu­res de Joff­roy und wei­te­re un­be­kann­te Hand­schrif­ten (Il­lu­mi­na­ti­o­nen 14), Bi­ber­müh­le 2011. Ein un­be­kann­tes Meis­ter­werk. Das Bre­vier des Dich­ters Oc­to­vien de Saint- Ge­lais. Ver­such über das Phä­no­men Jean Pich­ore in Pa­ris 1490–1520. Da­bei ein Stun­den­buch aus sei­ner Pro­duk­ti­on mit 112 Mi­ni­a­tu­ren (Il­lu­mi­na­ti­o­nen 14), Bi­ber­müh­le 2014.

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Zu die­sem Buch­t yp im­mer noch grund­le­gend ist die Int­roduct­ion des Abbé Vic­tor Lero­quais in Band I sei­nes Ka­ta­logs der Liv­res d’heu­res der Pa­ri­ser Na­ti­o­nal­bib­li­o­thek von 1927. Auch an eine Bib­li­ot­ hek, die KB in Den Haag, ge­bun­den ist die knap­ pe Aus­ei­nan­der­set­zung von E. Kö­nig mit der Be­bil­de­rung des Ma­ri­en-Of ­fi­zi­ums in un­ter­schied­li­chen Re­g i­o­nen, De­vo­ti­on from Dawn to Dusk, Lei­den 2012, die auch ins In­ter­net ge­stellt ist. Für die Zeit um 1500 sei auch auf den sehr aus­f ühr­li­chen Kom­men­tar­band von E. Kö­nig zum Stun­den­buch Chris­tophs I. von Ba­den, Karls­ru­he 1978, ver­wie­sen. Zum Pa­ri­ser Stun­ den­buch ist auf un­se­ren Ka­ta­log von 2011 zu ver­wei­sen, der je­doch durch die nun ge­bo­te­ne Fül­le weit über­trof­fen wird. Die ge­druck­ten Stun­den­bü­cher sind nir­gend­wo so gründ­lich be­han­delt wie in un­se­ren 9 Bän­den Horae B.M.V. von 2003, 2014 und 2015.

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Einleitung

set­zung ge­run­gen wur­de,3 be­gnüg­te man sich in Frank­reich da­mit, die so­ge­nann­te Bi­ble hist­ori­ale nicht als Wort Got­tes, son­dern als ein Ge­schichts­buch zu le­sen, in des­sen Er­ zäh­lung auch au­ßer­bib­li­sche Text­tra­di­ti­o­nen ein­ge­wirkt hat­ten.4 Dem La­tein blieb man beim Be­ten wei­ter treu, wäh­rend in wich­ti­gen Re­gi­o­nen das La­ tei­ni­sche in­zwi­schen ent­schie­den zu­rück­ge­drängt war; denn vie­ler­orts ver­zich­te­te man auf die hiera­ti­sche Kir­chen­spra­che in der Hoff­nung, die ei­ge­ne Fröm­mig­keit in­ni­ger aus­ drü­cken zu kön­nen. So er­lang­te die Volks­spra­che in den nörd­li­chen Nie­der­lan­den ganz neue Be­deu­tung, weil man dort statt der Horae Bea­tae Mariae Vir­gi­nis de­ren Über­set­ zung im Getij­den­boek las. In den Län­dern deut­scher Zun­ge wie­de­rum hat­te das Stun­ den­buch, la­tei­nisch oder deutsch, nie zum Grund­be­stand des Be­tens ge­hört.5 Gott selbst be­herrsch­te selbst­ver­ständ­lich eben­so wie die Mut­ter­got­tes Ma­ria alle Volks­ spra­chen; doch das hieß in Frank­reich kei­nes­wegs, daß man ihn durch­weg oder gar in al­ler­ers­t er Li­nie auf Fran­zö­sisch an­zu­spre­chen wag­te. Das ein­drucks­volls­t e Bei­spiel – dies­mal nicht aus Pa­ris – fin­det sich in den Gran­des Heu­res de Ro­han, ei­nem um 1430 in An­gers oder wei­ter west­lich ent­stan­de­nen Stun­den­buch (Pa­ris, BnF, la­tin 9471): Dort emp­fiehlt der Tote auf dem Fried­hof (fol. 159) in wohl­ge­setz­tem La­tein sei­nen Geist in Got­tes Hän­de: „In ma­nus tuas do­mine com­mendo spiri­tum meum“. Gott aber – als Herr­scher mit Schwert, welt­li­cher Kro­ne und Spha­ira – ver­heißt ihm auf Fran­zö­sisch nur, er müs­se für sei­ne Sün­den Buße tun: „Pour tes pec­hiez pen­itence feras“. 6 In Pa­ris wie in ganz Frank­reich blieb es da­bei, daß man sich an Gott nicht all­zu oft in der da­für doch für zu vul­gär ge­hal­te­nen ei­ge­nen Spra­che wand­te. Selbst die Jung­frau Ma­ria war so ent­ rückt, daß die schö­nen oft in ge­reim­ten Ver­sen verf­aß­ten fran­zö­si­schen Ge­be­te kei­nen fes­ ten Platz im Stun­den­buch er­hiel­ten – mit Aus­nah­me der XV Joi­es Ma­ri­ens und der da­ran an­schlie­ßen­den VII Re­quê­tes des Herrn, die so man­ches Pa­ri­ser Exemp­lar be­schlie­ßen.7 Stun­den­bü­cher wa­ren kei­ne li­tur­gi­schen Hand­schrif­ten im stren­gen Sin­ne und un­ter­la­ gen kei­ner sys­t e­ma­ti­schen Kont­rol­le. Selbst nach den letz­ten Be­schlüs­sen des Tri­denti­ ni­schen Kon­zils aus den Jah­ren 1562–63, als man zu Zei­ten, da kaum noch ein neu­ es Stun­den­buch ent­stand, In­qui­si­to­ren in die Häu­ser der From­men schick­te, um de­ren 3

So er­ließ der Main­zer Erz­bi­schof Bert­hold von Hen­ne­berg am 22.3.1485 ein Edikt, das den Druck deutsch­spra­chi­ger Bi­beln ver­bot und auch für über zwei Jahr­zehn­te galt, nach­dem er es am 4.1.1486 er­neu­ern muß­te: Carl Mir­bt, Quel­len zur Ge­schich­ te des Papst­tums und des rö­mi­schen Ka­tho­li­zis­mus, Tü­bin­gen 51934, Nr. 409, S. 245 f., so­wie Fer­di­nand Geld­ner, „Ein in ei­nem Sam­mel­band Hart­mann Schedels (Clm 901) über­lie­fer­tes Gut­ach­ten über den Druck deutsch­spra­chi­ger Bi­beln“, in: Gu­ten­ berg-Jahr­buch 1972, S. 86 – 89.

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Im­mer noch grund­le­gend: Sa­mu­el Ber­ger, La Bi­ble fran­ça­ise au Mo­yen Âge : étude sur les plus an­cien­nes vers­i­ons de la Bi­ble écri­ tes en pro­se de langue d’oil, Pa­ris 1884, Re­print Genf 1967.

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Sie­he dazu: Jef­frey Ham­bur­ger, An­other Per­spect­ive: Books of Hours in Germ­any, in: Sand­ra Hind­man und James H. Mar­ row (Hrsg.), Books of Hours Recon­side­red, Lon­don/Turnh­out 2013, S. 97–152, so­wie in un­be­kann­ter Zu­kunft die Druck­fas­ sung der nicht zu­gäng­li­chen Ber­li­ner Dis­ser­ta­ti­on von Re­g i­na Cer­mann.

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Sie­he Eber­hard Kö­nig, Die Gran­des Heu­res de Ro­han. Eine Hil­fe zum Ver­ständ­nis des Ma­nusc­rit la­tin 9471 der Bi­bli­othè­que na­ ti­o­na­le de France, Sim­bach am Inn 2006, S. 21.

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Zu den XV Joi­es ge­hö­ren auch die an Chris­t us ge­rich­te­ten VII Re­quê­tes oder V Plaies; ei­nen le­ben­di­gen Ein­druck vom Mög­ li­chen, in den er­hal­te­nen Hand­schrif­ten aber doch Sel­te­nen sie­he Lero­quais 1927, II , S. 305–350 mit 41 Ge­be­ten, da­von 12 in la­tei­ni­scher Spra­che; dort die VII Re­quê­tes und die XV Joi­es als Nr. IV–V, S. 309–311.

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Einleitung

Buch­be­sitz kri­tisch durch­zu­se­hen, konn­ten sol­che Bän­de dem kirch­li­chen Zu­griff ent­ ge­hen. Das zei­gen schon un­se­re Bei­spie­le, die – si­cher in ka­tho­li­schen Fa­mi­li­en sorg­sam auf­be­wahrt – fast ganz ohne Kor­rek­tu­ren und Ver­mer­ke der In­qui­si­ti­on über­lebt ha­ben. Stun­den­bü­cher wa­ren den Re­for­ma­to­ren ein Dorn im Auge; sie wa­ren aber für die­je­ni­ gen, die Rom treu blie­ben, in den Zei­ten der Glau­bens­spal­tung ein teu­res Gut. Das La­ tein, das sol­che Bän­de be­herrsch­te, wird eine mar­kan­te Rol­le ge­spielt ha­ben; denn die Be­ru­fung auf die­se Spra­che war zu­gleich Be­kennt­nis zur Al­ten Kir­che. Des­halb blie­ben die Liv­res d’Heu­res in vie­len Fa­mi­li­en so be­hü­tet, daß man ih­nen gern im 16. Jahr­hun­ dert noch ein­mal ei­nen neu­en Ein­band gab und in sie bis weit ins 17. Jahr­hun­dert hi­nein die wich­tigs­t en Er­eig­nis­se des fa­mi­li­ä­ren Le­bens als Liv­res de rai­son ein­trug. Da­durch wur­den sie aber kei­nes­wegs zu Ar­chi­ves of Prayer, wie uns das neue Mo­de­wort aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, das Vir­gi­nia Rein­burg ge­prägt hat, weis­ma­chen will. 8 Eben­so ir­rig ist die Vor­stel­lung, es sei beim Stun­den­buch in ers­ter und letz­ter Li­nie da­ rauf an­ge­kom­men, in­di­vi­du­el­le Wün­sche zu er­fül­len. Rich­tig ist si­cher, daß so gut wie kei­ne er­hal­te­ne Hand­schrift mit ei­ner an­de­ren in al­len Punk­ten über­ein­stimmt und so­ gar ge­druck­te Stun­den­buch-Aus­ga­ben Text­va­ri­an­ten bo­ten.9 Aber da­raus darf man nicht schlie­ßen, der Buch­typ sei vor al­lem auf in­di­vi­du­el­le Per­so­na­li­sie­rung aus­ge­rich­tet ge­we­ sen. Ge­ra­de im 15. Jahr­hun­dert hat­te sich im Um­gang mit Bü­chern eine Ten­denz ent­ wi­ckelt, die ge­ra­de in der ge­nau­en Über­ein­stim­mung von Exemp­la­ren ei­nen wün­schens­ wer­ten Vor­teil sah. Die­se Ein­stel­lung för­der­te den äl­tes­t en Buch­druck; und pa­ral­lel dazu zeu­gen vor al­lem Stun­den­bü­cher, die in den 1460er und 1470er Jah­ren in Rou­en ent­stan­ den sind, von ei­nem er­staun­li­chen Sinn für Gleich­maß und Gleich­klang.10 Im Hand­schrif­ten­we­sen wäre es tech­nisch kein Pro­blem ge­we­sen, je­den in­di­vi­du­el­len Wunsch in ein Stun­den­buch auf­zu­neh­men; das aber hät­te dem Sinn sol­cher Text­samm­ lun­gen wi­der­spro­chen: An­ders als bei der un­ü­ber­sicht­li­chen Var­ianz deut­scher Ge­bet­ bü­cher11 soll­te ein „rich­ti­ges“ Stun­den­buch gu­tem Brauch fol­gen und im Kern mit dem über­ein­stim­men, was die Men­schen der Um­ge­bung auch hat­ten. Nie­mand woll­te ein ganz in­di­vi­du­ell zu­ge­schnit­te­nes Ma­nus­kript, son­dern im Kern das An­er­kann­te und Ge­wohn­ te, höchs­t ens durch ein paar zu­sätz­li­che Tex­te er­gänzt und durch die Ge­stal­tung von den an­de­ren Bü­chern un­ter­schie­den. Cha­rak­te­ris­t isch für die­se Ge­sin­nung ist der Um­stand, daß es fast in je­dem Stun­den­buch Stel­len gibt, an de­nen sich die Be­sit­zer na­ment­lich 8

Sie­he dazu die Re­zen­si­on von E. Kö­nig, Das Stun­den­buch wirk­lich recon­side­red? Zwei ame­ri­ka­ni­sche Neu­er­schei­nun­gen, Vir­g i­nia Rein­burg, French Books of Hours: Ma­king an Ar­chi­ve of Prayer. C. 1400–1600, Cam­bridge 2012; Joni M. Hand, Women, Manu­scripts and Iden­ti­ty in North­ern Eur­ope, Farn­ham 2013, in: Kunst­chro­nik 67, 2014, S. 615–621.

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So wur­de z.B. zu­wei­len ein und die­sel­be Aus­ga­be mit nur mi­ni­ma­len Mo­di­fi­ka­ti­o­nen in un­ter­schied­li­chen li­tur­g i­schen Ge­ bräu­chen an­ge­bo­ten.

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Sie­he un­ser Buch Wie­der­se­hen mit Rou­en. Zwölf nor­man­ni­sche Stun­den­bü­cher aus be­deu­ten­den Samm­lun­gen (Il­lu­mi­na­ti­o­nen 19), Bi­ber­müh­le 2014. Zur Si­tu­a­ti­on im Früh­druck sie­he z.B. E. Kö­nig, Für Jo­han­nes Fust, in: Ars impr­es­so­ria. Ent­ste­hung und Ent­wick­lung des Buch­drucks. Eine in­ter­na­ti­o­na­le Fest­ga­be für Sev­erin Cor­sten zum 65. Ge­burts­tag, hrsg. von Hans Lim­burg u.a., Mün­chen, New York, Lon­don, Pa­ris 1986, S. 285–313.

11 ­Re­g i­na Cer­mann, Ge­bet­bü­cher (Ka­ta­log der deutsch­spra­chi­gen il­lust­rier­ten Hand­schrif­ten des Mit­tel­al­ters, be­gon­nen von Hel­la Früh­mor­gen-Voss, fort­ge­f ührt von Nor­bert H. Ott zu­sam­men mit Ul­ri­ke Bode­mann, Bd. 5), Mün­chen 2002.

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nennen sollten,12 aber keine uns bekannte Handschrift dort, wo der Name stehen müßte, über den Namenskürzel „N“ hinausgeht. Noch entschiedener tritt diese Eigenart in Ge­ beten am Ende von Bußpsalmen sowie Veser und Laudes des Totenofziums auf; dort wird der Eltern gedacht; doch nur ein einziges Mal, in unserem Stundenbuch der Königin Claude de France, werden sie namentlich genannt.13 Wer nun das Vorgehen der Besteller besser begreifen will, müßte mehr über die Vorgän­ ge wissen, die im Austausch von Auftraggebern und Buchkünstlern zum jeweiligen Er­ gebnis führten. Gern würde man Verträge einsehen; doch genügten ofenbar mündliche Absrachen; deshalb ist bisher kein einziges Schriftstück aufgetaucht, das Aufschluß ge­ ben könnte über die eigentliche Kernfrage bei der Gestaltung eines neuen Stundenbuchs, nämlich über das Verhältnis von Auftrag und Ausführung: Der Schreiber setzte sich ja keineswegs hin und schrieb draufos, sondern mußte von Vorlagen ausgehen, auf die sich er selbst oder sein Verleger mit den Auftraggebern geeinigt hatten. So gut wie nie genüg­ te es, ein schon vorhandenes Buch, das die Hersteller vorlegten oder die Besteller mit­ brachten, einfach zu reproduzieren. Zudem gilt wohl, daß Verleger, Schreiber und Maler bei den Beratungen mit den Möglichkeiten besser vertraut waren als die Auftraggeber, die nur kannten, was sie in anderen Händen gesehen hatten. Doch wer sich nicht zum ersten Mal damit auseinandersetzte, wird bei der Planung intensiver mitgewirkt haben. *** Diese Überlegungen führen uns zunächst zum Ende unseres Katalogs; denn dort wer­ den drei Meisterwerke beschrieben, die auf sektakuläre Weise Aufschluß zu den hier aufgeworfenen Fragen geben können: Nr. 66, die einzige Handschrift auf Papier in all den vier Bänden von Paris mon amour, ist das ungemein rare Beisiel eines Musters für die Pergament­Version eines sehr ungewöhnlichen Livre d’heures mit königlichem An­ sruch. Für Texthandschriften legte man eine sogenannte minute an, die nur in sehr sel­ tenen Fällen überlebt hat. Schon der Umstand, daß unser Manuskript ein bis auf ein Blatt am Anfang des Kalenders vollständiges Stundenbuch blieb, unterstreicht dessen besonderen Rang: Grundgedanke war, das Gebetbuch als Königslilie zu gestalten. Da­ mit sollte es einerseits engstens auf den König selbst bezogen werden, zugleich aber mit der Lilienform auch jenes Zeichen der Unschuld evozieren, das als Trinitätszeichen ver­ standen wurde und das Gott der Legende nach dem Frankenkönig Chlodwig als Wap­ penschild verliehen hatte.14 Technisch mag man sich an den ihrerseits fast ebenso seltenen herzförmigen Büchern orientiert haben, bei denen zu entscheiden war, ob das geschlossene Buch nur ein halbes 12

Das gilt vor allem für die Mariengebete Obsecro te und O intemerata (gute Textbeisiele bei Leroquais 1927, II , Nr. xxxviii, S. 346 f. und Nr. xxi, S. 336 f., deren lateinische Formeln für Mann und Frau diferenziert werden konnten, so daß die Lite­ ratur davon ausgehend gern und oft unzutrefend bestimmen will, ob ein Buch für eine Frau oder einen Mann geplant war.

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Schon der Schreiber trug an diesen Stellen ein: Ludovici Regis patris mei und Annae Reginae matris meae. Siehe E. König, Das Stundenbuch der Claude de France. Königin von Frankreich (Illuminationen 18), Kat. 70, Bibermühle 2012, S. 28–31.

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Am anschaulichsten wird das in der letzten Miniatur des Bedford-Stundenbuchs, London, BL , Add. 18850, fol. 288v, in der der Meister der Münchner Legenda aurea, unser Conrad von Toul, Gottes Sendung des Wappenschildes zur Einkleidung des Frankenkönigs schildert: E. König, Die Bedford Hours, Darmstadt 2007, S. 126–127.

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Katalog 82, Nr. 64: 1. Stundenbuch des Anne de Montmorency


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Katalog 82, Nr. 65: 2. Stundenbuch des Anne de Montmorency


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Chantilly, Ms. 1943: 3. Stundenbuch des Anne de Montmorency, 1551


Einleitung

Herz bil­de­te, das erst beim Öff­nen die ge­wünsch­te Form er­reich­te, oder schon ein Herz war, das im ge­öff­ne­ten Zu­stand ver­dop­pelt wur­de.15 Eine Kö­nigs­li­lie mit ih­ren spit­zen Kon­tu­ren er­hielt man nur, wenn der Ein­band die Hälf­te der Form aus­mach­te, die sich erst beim Öff­nen des Liv­re d’heu­res er­schloß. 1553 ist un­ser Ma­nus­kript da­tiert, zwei Jah­re spä­ter set­zen die Oster­daten in der Hand­schrift Lesc­alo­pier 22 der Stadt­bib­li­o­ thek von Ami­ens, die in exakt den­sel­ben Ma­ßen das­sel­be Kon­zept auf Per­ga­ment wie­ der­holt. Der Band ist zehn Blatt di­cker und auf­wen­di­ger be­bil­dert; sei­ne Her­kunft aus Kö­nigs­be­sitz ist zu­min­dest seit den Zei­ten Lud­wigs XIII . er­wie­sen; wahr­schein­lich war Hein­rich II . (Kö­nig von 1546 bis 1559), der Sohn von Franz I., der ers­t e Be­sit­zer. In sei­ ner Re­gie­rungs­zeit ent­stand un­ser Exemp­lar, wohl als ein ers­t er Ver­such, ein sol­ches kö­ nig­li­ches Buch zu ge­stal­ten. *** In die engs­t e Um­ge­bung der bei­den ge­nann­ten Kö­ni­ge füh­ren auch die Stun­den­bü­cher für den Chef des fran­zö­si­schen Heers, den Kon­net­abel Anne de Mont­morency (1493– 1567).16 Bes­t ens be­kannt ist das zu Recht be­rühm­te Ma­nus­kript von 1549/1551, das im Jah­re 1900 dem Mus­ée Con­dé in Chan­tilly vom Comte d’Haus­son­ville ge­schenkt und bei die­ser Ge­le­gen­heit von Del­isle in Zu­sam­men­ar­beit mit Dur­rieu vor­ge­stellt wur­de.17 Seit­her weiß man auch, daß die­ses Stun­den­buch in be­mer­kens­wer­ter Kon­kur­renz zu ei­nem Stun­den­buch steht, das Hein­rich II . of­fen­bar von der Fa­mi­lie de Dinte­ville ge­ schenkt wur­de.18 Wie wir hier zei­gen kön­nen, steht die­ses Ma­nus­kript am Ende ei­ner Se­rie von drei hand­ ge­schrie­be­nen Liv­res d’heu­res für den Kon­net­abel. Von des­sen In­te­res­se an Stun­den­bü­ chern weiß die Li­te­ra­tur zwar schon; doch kennt sie nur jene Hand­schrift, die 1988 in ei­ner Pa­ri­ser Auk­ti­on auf­ge­taucht war und die wir hier als Nr. 65 neu und zum ers­ten Mal aus­führ­lich be­schrei­ben.19 Wir kön­nen aber mit Nr. 64 ein wei­te­res Stun­den­buch, aus al­tem spa­ni­schen Be­sitz, das im­mer­hin kurz von Dom­ín­guez Bord­ona 1933 er­wähnt wor­den war,20 mit Wap­pen, Or­dens­ket­te und Schwert des Kon­net­abels als ein bis­her un­

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Ein herz­för­mi­ges Stun­den­buch (für den Ge­brauch von Ami­ens) ist die un­be­bil­der­te Pa­pier­hand­schrift la­tin 10536 der BnF aus dem 15. Jahr­hun­dert (Lero­quais 1927, I, S. 337–338). Herz­för­mig im ge­schlos­se­nen Zu­stand ist der Chan­son­nier des Jean de Mont­ch­enu, Bi­schofs von Agen, aus den Jah­ren 1460–1476 (Pa­ris, BnF, Roth­schild 2973: Av­ril und Reyn­aud 1993, Nr. 119); sie­he auch Ge­ne­viève Thi­ba­ult et Da­vid Fal­lows (Hrsg.), Chan­son­nier de Jean de Mont­ch­enu, Pa­ris 1991.

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Fran­cis Dec­rue de Sto­utz, Anne de Mont­morency: grand-maî­tre et conn­ét­able de France, à la cour, aux arm­ées et au con­seil du roi Fran­çois Ier, Pa­ris 1885 ; Neu­druck Genf 1978; ders., Anne, duc de Mont­morency, conn­ét­able et pair de France sous les rois Hen­ ri II, Fran­çois II et Charles IX, Pa­ris 1889; Thier­ry Ren­tet, Anne de Mont­morency: grand maî­tre de Fran­çois Ier, Ren­nes 2011; Cédric Mic­hon (Hrsg.), Les conse­ill­ers de Fran­çois Ier, Ren­nes 2011; Cré­pin-Le­blond, Aus­st.-Kat. Éco­uen und Chan­tilly 1991; Cré­pin-Le­blond 2014.

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Chan­tilly, Mus­ée Con­dé, Ms. 1476/1943: Del­isle 1900, zu­letzt Orth 2015, Nr. 91, und Brown 2015. Zu Anne de Mont­ morencys Bü­chern sie­he vor al­lem die ver­schie­de­nen Pub­li­ka­ti­o­nen von Cré­pin-Le­blond aus den Jah­ren 1991 bis 2014.

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Pa­ris, BnF, lat. 1429: Orth 2015, Nr. 84. Die­ses Ma­nus­kript steht wie­de­rum in en­gem Zu­sam­men­hang zu ei­nem Ma­nus­ kript, das die Dinte­ville nicht wei­ter­ga­ben: Pa­ris, BnF, lat. 10558: Orth 2015, Nr. 92.

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Ader Pi­card Ta­jan, Pa­ris, 18. 9. 1988, Nr. 67bis; zu­letzt Brown 2015 mit knap­per Cha­rak­te­ri­sie­rung auf S. 435–436.

20 Da­mals im Be­sitz von Don Di­ego de Fu­nes: Je­sus Do­mín­g uez Bord­ona, Ma­nos­cri­tos con pint­uras, Mad­rid 1933, II , Nr. 2139, Abb. 737.

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Einleitung

be­kann­tes Bei­spiel vor­wei­sen und an den Be­ginn der nun­mehr be­kann­ten drei hand­ge­ schrie­be­nen Stun­den­bü­cher stel­len. Anne de Mont­morency ge­hört nun zu den we­ni­gen Be­sit­zern von Stun­den­bü­chern, die sich selbst ein­mal na­ment­lich in ei­nem Ge­bet nen­nen lie­ßen; denn in Chan­tilly steht auf fol. 113 ein un­ge­wöhn­li­ches Ge­bet an den hei­li­gen Chris­topho­rus mit der Bit­te „ut erga Deum et sanc­tam ejus geni­tri­cem mi­chi fa­mulo tuo Anne sis prop­icius pec­cat­ori“.21 Das Ge­bet be­steht an­ders als die meis­t en Suf­fra­gien aus konk­re­ten Bit­ten um Bei­stand in die­ ser Welt, die fle­hent­lich vor­ge­tra­gen sind und sich ge­gen Fein­de und Nei­der, Lüg­ner und fal­sche Rat­ge­ber rich­ten, ehe die Schluß­for­mel dann doch um das Ewi­ge Le­ben bit­tet. Ei­ner Ge­schichts­schrei­bung, die sol­che un­ge­mein sel­te­nen Spu­ren ganz wört­lich auf Le­ bens­we­ge und Er­eig­nis­se be­zie­hen möch­te, be­rei­te­te die­ser Text Schwie­rig­kei­ten. Uns er­in­nert der Wort­laut an die Kla­ge des Charles d’Or­lé­ans, die er wohl in eng­li­scher Ge­ fan­gen­schaft in sein Stun­den­buch ne­ben Ps. 101,3 schrieb.22 Qual­voll für Anne de Mont­ morency wa­ren die Jah­re 1541 bis 1547, in de­nen der Kon­net­abel bei Franz I., wohl auch we­gen sei­ner en­gen Ver­bin­dung zum Daup­hin, in Un­gna­de ge­fal­len war. Doch das spä­ tes­te Stun­den­buch des Anne de Mont­morency, in dem sich die­ses Suf­fra­gium fin­det, ist in die Zeit nach sei­ner Re­ha­bi­li­tie­rung durch den nun als Hen­ri II ge­krön­ten Erb­prin­zen da­tiert. Auf der ers­t en Sei­te steht die Jah­res­zahl 1549; erst nach der Er­he­bung zum Her­ zog im Sep­tem­ber 1551 wur­de ein zwei­tes Wap­pen am Ende des Bu­ches ge­malt. Des­ halb mein­te Del­isle 1900, der Schrei­ber habe den Text ver­se­hent­lich ko­piert. Im Grun­de spricht nichts zwin­gend ge­gen die An­nah­me, die Ar­bei­ten hät­ten be­reits frü­her ein­ge­ setzt; ge­nau­so wäre es aber auch mög­lich, daß an­ge­sichts der ein­mal er­fah­re­nen Wech­ sel­haf­tigk­eit des Glücks ein sol­ches Ge­bet auch über die Wie­der­her­stel­lung der kö­nig­li­ chen Gna­de hi­naus wert­voll blei­ben moch­te. Mehr über den Auf­trag ver­rät der Text des Stun­den­buchs in Chan­tilly nicht; es feh­len die Ho­ren von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist. Der Ver­zicht auf den Ka­len­der mag zur Pla­nung ge­hört ha­ben; denn der tex­ti­le Ein­band ist wohl der ur­sprüng­li­che.23 Die Be­schrän­kung der Wap­pen auf Anne de Mont­morency al­lein hat Eli­za­beth Brown in ih­rem hüb­schen Bei­trag von 2015 dazu nut­zen wol­len, den Auf­trag der Ge­mah­lin Ma­de­ leine de Savoie zu­zu­schrei­ben, die dann aus nob­ler Be­schei­den­heit nicht mit ih­ren Wap­ pen in Er­schei­nung trat. Da­für mein­te die ame­ri­ka­ni­sche Kol­le­gin, un­ser 1539 da­tier­tes Stun­den­buch (Nr. 65) he­ran­zie­hen zu kön­nen; denn da­rin will sie un­ter der gol­de­nen Über­ma­lung auf fol. 40 zur Hir­ten­ver­kün­di­gung das Al­li­anz­wap­pen Mont­morency-Sa­ voy­en und auf fol. 55v zur Ma­rien­krö­nung Sa­voy­en al­lein er­kannt ha­ben. Ein zent­ra­les 21

Der gan­ze Wort­laut bei Del­isle 1900, S. 325–6; das­sel­be Ge­bet wird, wie Cré­pin-Le­blond an meh­re­ren Stel­len be­tont hat (so im Aus­st.-Kat. 1993, un­ter Nr. 23, S. 58), im 1555 von Gom­mar Esti­enne in Pa­ris für Anne de Mont­morency und sei­ne Ge­mah­lin Ma­de­leine de Savoie ge­druck­ten Psal­ter (Aus­st.-Kat. 1991, Nr. 33), selbst­ver­ständ­lich ohne Na­mens­nen­nung, an die hei­li­ge Anna ge­rich­tet.

22

Sie­he un­se­ren Ka­ta­log 66 Das Pa­ri­ser Stun­den­buch an der Schwel­le zum 15. Jahr­hun­dert von 2011, S. 83; das Ma­nus­kript wird dort als Nr. 4 be­schrie­ben. Charles no­tier­te dort: In qua­cum­que die tri­bulo­rum inc­li­na ad me au­rem tuam.

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Und selbst Orth 2015, Nr. 91, tut so, als sei der Ver­zicht auf den Ka­len­der ir­gend­wie be­ab­sich­tigt ge­we­sen.

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Einleitung

Kreuz be­herrscht die Wap­pen bei­der Ehe­leu­te:24 Es ist rot bei Mont­morency, sil­bern oder weiß bei Sa­voy­en. Da aber bei Ge­gen­licht die klei­nen Vö­gel (al­ér­i­ons) des Hau­ses Mont­ morency-Laval ein­deu­tig auf je­weils al­len vier Vier­teln zu se­hen sind und das Kreuz ge­ra­ de­zu sig­nal­rot leuch­tet, bleibt es über­all bei den Far­ben des Man­nes al­lein. Ma­de­leine de Sa­voy­en als Mit­be­sit­ze­rin un­se­res Stun­den­buchs von 1539 hät­te wohl auch den Fran­zis­ ka­ner-Kor­deln um die Sei­ten mit Klein­bil­dern den cha­rak­te­ris­t i­schen 8-förmi­gen Kno­ ten der Sa­voyer ge­ben las­sen.25 Browns neu­en Vor­schlag, das Stun­den­buch von 1539, un­se­re Nr. 65, sei von den Ehe­ leu­ten ge­mein­sam ge­plant wor­den, der 1549/1551 ent­stan­de­ne Ko­dex in Chan­tilly aber ein Ge­schenk der Ge­mah­lin an den Kon­net­abel ge­we­sen, müs­sen wir zu­rück­wei­sen. Erst wenn man den Kon­net­abel selbst bei­de Male zum ei­gent­li­chen Mo­tor macht, tritt der son­ der­ba­re Grund­cha­rak­ter die­ser Liv­res d’heu­res deut­lich zu Tage: Anne de Mont­morency ist 1539 wie 1549 je­weils von ei­nem für den Kö­nig be­stimm­ten Werk aus­ge­gan­gen und hat dann zwei­mal ge­wagt, ein kö­nig­li­ches Stun­den­buch mit ei­nem ei­ge­nen Auf­trag zu über­tref­fen; und je­des Mal ist es ihm ge­lun­gen! Anne de Mont­morency mag in bei­den Fäl­len das für den Kö­nig be­stimm­te Buch noch in Ar­beit ge­se­hen ha­ben; 1539 wird das im Ate­li­er des Buch­ma­lers ge­we­sen sein, der im sel­ben Jahr für Franz I. ein Stun­den­buch schuf, das seit kur­zem dem New Yor­ker Met­ rop­oli­tan Mu­se­um ge­hört.26 Den Künst­ler, den wir als Meis­ter des Fran­çois II de Ro­ han be­zeich­nen, hat er an­ge­sichts der Leis­t ung für den Kö­nig zu ei­nem wei­te­ren Schritt er­mun­tert: In sei­nem ei­ge­nen Stun­den­buch woll­te der Kon­net­abel Voll­bil­der ohne Text ha­ben; und so er­hielt er Mi­ni­a­tu­ren von ei­ner un­vor­stell­ba­ren Wucht, die im Grund­be­ stand den Bil­dern für den Kö­nig durch­aus ent­spre­chen, aber, vom Text­feld auf der Sei­te be­freit, noch sehr viel wei­ter ge­hen. Wenn Myra Orth Recht ge­habt hät­te, das Stun­den­ buch für Franz I. sei das ei­gent­li­che Haupt­werk, dann hät­te der Ma­ler in un­se­rer Nr. 65 sich selbst über­trof­fen. Zehn Jah­re spä­ter wie­der­hol­te sich das Spiel: Das auf der ers­t en Sei­te 1549 da­tier­te Buch für den Kon­net­abel ver­zich­tet selbst­ver­ständ­lich auf Ge­be­te, die nur dem Kö­nig zu­ste­ hen, ent­spricht sonst aber in we­sent­li­chen Grund­zü­gen dem Stun­den­buch der Dinte­ville für Hein­rich II .; so­gar der Ver­zicht auf den Ka­len­der scheint für bei­de Ma­nus­krip­te von vorn­her­ein ge­plant ge­we­sen zu sein. Nun war es kei­ne Fra­ge mehr, daß die ent­schei­den­ den Bil­der text­los sein soll­ten; sie wa­ren jetzt so­gar in bei­den Hand­schrif­ten so au­to­ nom, daß das Un­gleich­ge­wicht von Au­ßen- und In­nen­rand nicht mehr be­ach­tet wur­de, die Rah­mun­gen also ein­heit­lich breit sind. Auch blieb es nicht bei Auf­trä­gen an ein und den­sel­ben Ma­ler: Für den Kö­nig wie für den Kon­net­abel herrscht sti­lis­t i­sche Viel­falt, die aus Anne de Mont­morencys drit­tem Stun­den­buch, in Chan­tilly, ge­ra­de­zu eine Bil­der­ ga­le­rie der Zeit um 1550 mach­te. Da dort ei­ni­ge der bes­ten Mi­ni­a­tu­ren auf Blät­ter des 24 Ein sol­ches Al­li­anz­wap­pen bil­det Cré­pin-Le­blond 2014, S. 39, ab. 25

Das weiß auch Brown 2015, Anm. 25, S. 459.

26 New York, Met­rop­oli­tan Mu­se­um (2011.353): Croi­zat-Gla­zer 2013.

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Einleitung

Buch­blocks auf­ge­klebt sind, hat der Kon­net­abel of­fen­bar bei noch mehr Ma­lern, als für den Kö­nig zum Ein­satz ka­men, Bil­der zu die­sem Zweck ein­kau­fen las­sen.27 Das er­in­nert an das ein hal­bes Jahr­hun­dert äl­te­re Stun­den­buch des Bo­na­par­te Ghi­sli­eri in der Bri­tish Lib­rary, des­sen text­lo­se Voll­bil­der ein ähn­li­ches Be­mü­hen ver­ra­ten, die Kunst meh­re­rer Ma­ler von Rang ein­zu­fan­gen.28 Das Ver­trau­en, das der Kon­net­abel bei sei­nem 1539 da­tier­ten Stun­den­buch ei­nem ein­zi­ gen Ma­ler ent­ge­gen­brach­te, war nicht nur durch des­sen En­ga­ge­ment für Franz I. be­grün­ det, son­dern ver­dank­te sich be­reits ei­ner frucht­ba­ren Er­fah­rung Anne de Mont­morencys mit die­sem Künst­ler: Der Meis­ter des Fran­çois II de Ro­han hat­te be­reits We­sent­li­ches für An­nes ers­tes Stun­den­buch (un­se­re Nr. 64) ge­tan, dort aber noch in en­ger Zu­sam­ men­ar­beit mit Noël Bellem­are, der 1539 nicht mehr mit­ge­ar­bei­tet hat. Mit Nr. 64 sind wir in der Lage, ent­schei­dend neue Ein­sich­ten zum Rang des Stun­den­ buchs aus­ge­rech­net für ei­nen Heer­füh­rer zu lie­fern, der sich durch die Er­rich­tung der Schlös­ser in Chan­tilly und Éco­uen, aber auch durch sei­ne ein­drucks­vol­le Bib­li­o­phi­lie in ei­ner Viel­zahl von Be­rei­chen aus­ge­zeich­net hat.29 In der Li­te­ra­tur wird An­nes Stun­den­ buch in Chan­tilly ge­mein­sam mit den Auf­trägen der Fa­mi­lie de Dinte­ville nur als In­diz für die Rück­be­sin­nung auf den al­ten Buch­typ ge­wer­tet. Das ist in­so­fern na­tür­lich rich­tig, als da­mit noch ein­mal eine Spät­blü­te be­krönt wur­de und der Kon­net­abel mit dem Her­ zog von Gu­ise und dem Mar­schall St.-André zu je­nem Tri­um­vi­rat ge­hör­te, das in den Hu­ge­not­ten­krie­gen ge­gen den Con­dé kämpf­te. Doch ver­kennt die Kon­zent­ra­ti­on auf die Re­gie­rungs­zeit Hein­richs II . mit ih­rer ri­go­ro­ sen Kon­fes­si­ons­po­li­tik ei­nen ganz an­de­ren Grund­zug von Anne de Mont­morency: In­ dem wir ein wei­te­res Stun­den­buch den bis­her be­kann­ten vo­rausschi­cken, ma­chen wir aus dem spä­te­ren Kon­net­abel, des­sen Wap­pen für die Laval schon in un­er­hört be­deu­ten­den Stun­den­bü­chern, wie la­tin 920 der BnF für Lou­is de Laval,30 prang­te, ei­nen Samm­ler von Stun­den­bü­chern, der – vier Ge­ne­ra­ti­o­nen nach Jean de Ber­rys Tod im Jah­re 1416 – wirkt, als habe er die­sem groß­ar­tigs­t en Vor­bild na­he­kom­men wol­len: Wie Ber­ry mag Anne de Mont­morency sein ers­t es Stun­den­buch­ma­nus­kript wäh­rend der Ar­beit da­ran über­nom­ men ha­ben, um es durch kon­zep­ti­o­nel­le Ver­än­de­run­gen, die wir im Ka­ta­log­ab­schnitt Nr. 64 er­läu­tern, zu ei­ner zu­nächst nicht ge­plan­ten Pracht zu stei­gern. Daß er auf das Buch nach der Er­nen­nung zum Kon­net­abel 1538 noch ein­mal zu­rück­kam, um sein neu­es stol­ zes Wap­pen und neue Tex­te ein­fü­gen zu las­sen, wür­de auch zu Ber­rys Um­gang mit sei­nen Stun­den­bü­chern pas­sen! We­sent­lich war da­bei auch, daß sich der Auf­trag­ge­ber, des­sen 27

Orth 2015, S. 275 schreibt die Be­bil­de­rung des Dinte­ville-Stun­den­buchs für Hein­rich II . dem Meis­ter der Getty-Epis­teln, dem Meis­ter Hein­richs II . und dem Meis­ter der Gri­sail­len für Hein­rich II . zu. Auf S. 292, die 14 Mi­ni­a­tu­ren für Mont­ morency hin­ge­gen fol­gen­den Ma­lern: den Meis­tern der Getty-Epis­teln, des Gouf ­fi er-Psal­ters, des Gouf ­fi er-Stun­den­buchs, dem Flo­ra-Meis­t er, Jean Cou­sin und Nic­colò dell’Abb­ate.

28 E. Kö­nig und Hen­rik En­gel, Das Stun­den­buch des Bo­na­par­te Ghi­sli­eri. Ya­tes Thomp­son MS 29. The Bri­tish Lib­rary Lon­don, Be­gleit­band zur Fak­si­mi­le­aus­ga­be, Lu­zern 2008. 29

Sie­he vor al­lem Cré­pin-Le­blond 1991, der un­se­re bei­den Stun­den­bü­cher des Anne de Mont­morency nicht kann­te.

30 Lero­quais 1927, Nr. 6; zu­letzt Sei­del 2017, pas­sim.

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Einleitung

ers­t es Stun­den­buch in der so­li­den, aber nicht wirk­lich füh­ren­den Werk­statt von Étienne Col­aud an­ge­legt wor­den war, mit Ken­ner­schaft da­rum be­müh­te, bes­se­re, fä­hi­ge­re, fort­ schritt­li­chere Buch­ma­ler ein­zu­be­zie­hen: So stieß er auf frem­de künst­le­ri­sche Idi­o­me, die wie der viel­leicht aus deutsch­spra­chi­gem Ge­biet stam­men­de Meis­ter des Fran­çois II de Ro­han und der aus Ant­wer­pen ge­kom­me­ne Noël Bellem­are der Pa­ri­ser Kunst neue Im­ pul­se ge­ben konn­ten. Die durch das frü­hes­t e hand­ge­schrie­be­ne Stun­den­buch er­öff­ne­te Zeit­li­nie zu­rück in die frü­hen Jah­re des 1493 ge­bo­re­nen Anne de Mont­morency läßt sich noch wei­ter in die 1520er Jah­re zu­rück­ver­fol­gen: Noch lan­ge, be­vor er zum Kon­net­abel auf­stieg, be­saß Anne we­nigs­t ens zeit­wei­lig das ein­zi­ge be­kann­te Per­ga­ment-Exemp­lar ei­ner Aus­ga­be, die Thiel­ mann Ker­vers Wit­we Yo­lan­de Bon­homme 1523 he­raus­ge­ge­ben hat. Die­ses Exemp­lar, das wir in horae vor­stel­len konn­ten, ist kost­bar il­lu­mi­niert und zeigt an vie­len Stel­len iden­ tisch wie im ers­ten Ma­nus­kript das Mo­no­gramm AM des Kon­net­abels in Sil­ber. Die schließ­lich gül­ti­gen Wap­pen sind je­doch nicht mehr Kreuz und Vö­gel­chen der Mont­ morency, son­dern die Far­ben der bre­to­ni­schen Fa­mi­lie du Bot de Ker­bot (Blau, mit ei­ nem Spar­ren in Gold, be­glei­tet von drei sechs­blätt­ri­gen Blü­ten in Sil­ber).31 Der Band ist so­mit nur zeit­wei­lig in den Hän­den des Herrn ge­we­sen, der als Bau­herr in Éco­uen und Chan­tilly nörd­lich von Pa­ris die Re­nais­sance in Frank­reich mit­ge­prägt hat. Das ge­druck­te Stun­den­buch, das er wohl kurz nach des­sen Er­schei­nen An­fang 1523 er­warb, wird Anne de Mont­morency, viel­leicht nach­dem er sich dann doch eher der al­ten Schreib­kunst wie­ der zu­ge­wandt hat­te, den du Bot de Ker­bot ge­schenkt ha­ben. Ehe er sei­nen kost­bar il­lu­ mi­nier­ten Druck fort­gab, mag er noch an­ge­regt ha­ben, daß die klei­ne Mi­ni­a­tur auf fol. 23v sei­nes ers­t en Stun­den­buch­ma­nus­kripts ei­nen Me­tall­schnitt va­ri­ier­te, der als Voll­bild im Stun­den­buch von 1523 die Bei­wor­te für die Jung­frau Ma­ria ins Bild setzt. 32 Die Be­deu­tung von Anne de Mont­morency wur­de post­hum auf sehr un­ge­wohn­te Wei­ se noch ein­mal un­ter­stri­chen; denn sein Mo­no­gramm fin­det sich auch auf dem Uni­cum ei­ner ge­druck­ten Aus­ga­be, die je­doch nicht mehr zu Leb­zei­ten des 1567 nach schwe­rer Ver­wun­dung ver­stor­be­nen Kon­net­abels er­schie­nen ist. Wie­der kann ein erst von uns ge­ ho­be­ner Schatz Auf­schluß ge­ben; denn in horae viii konn­ten wir ein von Jean Le Blanc 1573 ge­druck­tes Stun­den­buch vor­stel­len, des­sen Ti­tel­sei­te wie eine Hom­ma­ge an den Kon­net­abel ge­stal­tet ist und of­fen­bar für An­nes Sohn Hen­ri I (1534–1614) be­stimmt war, der 1593 eben­falls zum Kon­net­abel er­nannt wur­de.33 Die im Er­geb­nis – un­se­rer Nr. 65 und dem Ma­nus­kript in Chan­tilly – so er­folg­rei­che Kon­kur­renz des Kon­net­abels zu sei­nen bei­den Kö­ni­gen rückt ein Miß­ver­ständ­nis zu­ recht: Es wa­ren kei­nes­wegs im­mer die höchs­t en Her­ren, de­nen die er­staun­lichs­t e künst­ le­ri­sche Stei­ge­rung ver­dankt wird, son­dern wie un­ter Karl VII . des­sen Fi­nanz­mi­nis­t er 31

Ge­brauch von Pa­ris, 16. Feb­ru­ar 1522 (1523 n.st.): horae vii, Nr. 199b, S. 3174–3194, das Mo­no­gramm auf den Abb. S. 3189 und 3191; das Wap­pen du Bot de Ker­bot auf S. 3174 und 3191.

32

Horae vii, 2015, Nr. 119b, Abb. S. 3190.

33

Horae viii, 2015, Nr. 141.7, S. 3626–3630; das mit AM und dem grie­chi­schen Mot­to ΑΠΛΑΝΩΣ ver­se­he­ne Ti­tel­blatt ist auf S. 3638 ab­ge­bil­det.

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Einleitung

Étienne Che­va­li­er oder un­ter Lud­wig XII . des­sen Kanz­ler, Kar­di­nal Georges aus der von den Vor­gän­gern die­ses Kö­nigs zu­tiefst ge­de­mü­tig­ten Fa­mi­lie d’Amb­oise.34 *** Wäh­rend der Kon­net­abel Anne de Mont­morency vor al­lem in Zei­ten der kö­nig­li­chen Un­gna­de zwar weit vom Hof ent­fernt, aber in nächs­ter Nähe von Pa­ris wirk­te und im Va­lo­is durch sei­ne Schloß­bau­ten von Chan­tilly und Éco­uen bril­lierte, kommt mit dem Be­sit­zer un­se­rer Nr. 62 ein ho­her Prä­lat ins Spiel, der sich, weit von Haupt­stadt und Hof ent­fernt, eben­falls als Bau­herr aus­zeich­ne­te und doch ein hand­ge­schrie­be­nes Stun­den­ buch aus Pa­ris be­saß: Pi­erre Pal­mier, ab 1527 Erz­bi­schof von Vien­ne im Daup­hiné. Der 1555 Ver­stor­be­ne war Fran­zo­se, ist in Ne­a­pel ge­bo­ren, je­doch wohl in Lyon auf­ge­wach­ sen. Un­ter sei­nem Epis­ko­pat wur­de der go­ti­sche Kathe­dral­bau von Vien­ne ab­wei­chend von der ur­sprüng­li­chen Kon­zep­ti­on so weit voll­en­det, daß die Fas­sa­de ihre gül­ti­ge Form er­hielt und da­nach kei­ne we­sent­li­chen Bau­maß­nah­men mehr er­folg­ten. Pi­erre Pal­mier hat sich von Étienne Col­aud in An­be­tung des Gna­den­stuhls auf ei­ner ganz­sei­ti­gen, von wuch­ti­gen Säu­len ge­rahm­ten Mi­ni­a­tur dar­stel­len las­sen, die auf fol. 1v dem Ja­nu­ar ge­ gen­ü­ber­steht. Als Erz­bi­schof im Chor­man­tel hat er die Mit­ra auf ein Bet­pult ab­ge­legt, das sein Wap­pen trägt: drei gol­de­ne Palm­we­del auf Blau. Daß ein Erz­bi­schof ein Stun­den­buch be­saß, ist kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich; denn die hohe Geist­lich­keit brauch­te ei­gent­lich li­tur­gi­sche Bü­cher zum Be­ten. Li­tur­gie de­fi­niert sich we­sent­lich durch den Wan­del im Kir­chen­jahr. Auf eine ge­ra­de­zu ku­ri­o­se Wei­se hat man die­se Not­wen­dig­keit bei der Zu­sam­men­stel­lung der Tex­te für Pi­erre Pal­mier be­ rück­sich­tigt, was zu­gleich be­stä­tigt, daß der Band kei­nes­wegs nur als schö­ne Kost­bar­ keit in die Hän­de des Erz­bi­schofs ge­langt ist, son­dern wirk­lich für ihn kon­zi­piert, ge­ schrie­ben und il­lu­mi­niert wur­de: Die Suf­fra­gien, die tra­di­ti­o­nell nach den Hie­rar­chi­en der Li­ta­nei ge­ord­net sind, be­gin­nen mit ei­ner klei­nen Grup­pe von Tex­ten zum Kir­chen­ jahr, die von Weih­nach­ten bis zu Pfings­ten führt; dazu ge­hört auch das Suf­fra­gium in die­bus rog­atio­num, das von Mon­tag bis Mitt­woch der 5. Wo­che nach Os­t ern zu be­ten ist (fol. 119). Der Text bie­tet so­mit eine Art Schwund­stu­fe des­sen, was ein ho­her Geist­li­ cher zum Ge­bet brauch­te. Von ganz an­de­rer Ernst­haf­tig­keit hin­ge­gen ist das Ma­nus­kript für ei­nen an­de­ren Bi­ schof, das wir hier – nach der Mo­no­gra­phie von 2014 – noch ein­mal un­ter der Nr. 51 auf­ge­nom­men ha­ben.35 Mit ei­nem Stun­den­buch hät­te sich der als Dich­ter und Über­set­zer hoch­be­deu­ten­de Oc­to­vien de Saint-Ge­lais (1468–1502) aus Co­gnac kei­nes­wegs zu­frie­ den ge­ge­ben, nach­dem er sich vom Hof­le­ben ab­ge­wandt und mit 26 Jah­ren sei­ne Pfrün­de als Bi­schof sei­ner Hei­mat­di­ö­ze­se Ang­oulême er­hal­ten hat­te: Bei Hof un­ge­mein be­liebt, war Oc­to­vien wohl ein sehr viel ent­schie­de­ne­rer Re­nais­sance-Mensch als Pi­erre Pal­mier; 34 Zu ihm sie­he auch un­se­ren Band: Gro­ße Buch­ma­le­rei zwi­schen Rou­en und Pa­ris: Der Frois­sart des Kar­di­nals Georges d’Amb­oise aus der Samm­lung des Fürs­ten Pü­ck­ler-Mus­kau (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV ), Rot­thal­müns­t er 1992. 35

E. Kö­nig, Ein un­be­kann­tes Meis­ter­werk. Das Bre­vier des Dich­ters Oc­to­vien de Saint- Ge­lais. Ver­such über das Phä­no­men Jean Pich­ore in Pa­ris 1490–1520 (Il­lu­mi­na­ti­o­nen 21, hrsg. von Heri­bert Ten­schert), Kat. 74, Bi­ber­müh­le 2014; re­zen­siert von Al­ bert Châ­te­let in: art de l’en­lu­min­ure 50, 2014, S. 75 f.

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EinLeiTUnG

Katalog 74: Portrait von Ocovien de Saint-Gelais

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Einleitung

aber ein­mal zum Bi­schof ge­weiht, woll­te er das gan­ze Ge­wicht sei­nes neu­en Amts in der wür­di­gen Buch­form des Bre­viers in der Hand hal­ten. Da­mit ver­hielt sich der jun­ge Bi­ schof von Ang­oulême wie Ar­mand de Gon­taut, der 1492 zum Bi­schof der klei­nen Di­ö­ ze­se Sar­lat er­nannt wur­de, wo er bis zu sei­nem Tode 1519 ein Klein­od von Re­nais­sanceStädt­chen er­rich­te­te; auch Ar­mand er­hielt sein Bre­vier – eben­falls aus Pa­ris.36 Un­se­re Un­ter­su­chung der bei­den Bre­vie­re zwei­er mit­ei­nan­der kon­kur­rie­ren­der Bi­schö­ fe führ­te zu­gleich vor Au­gen, daß bei die­sem Buch­typ die lo­ka­le Be­gren­zung au­ßer Kraft ge­setzt wird; denn es er­gab sich eine ver­blüf­fen­de Ähn­lich­keit des Ma­nus­kripts für Oc­ to­vien de Saint-Ge­lais mit dem Bre­viarium Grim­ani in Ve­ne­dig, wäh­rend das Gon­tautBre­vier mit dem eben­falls flä­mi­schen Bre­vier des Mu­se­ums May­er van den Bergh in Ant­ wer­pen text­lich eng ver­bun­den ist.37 Das wei­te­re Ge­schick der Ver­gleichs­bei­spie­le ist auf­schluß­reich: Das eine flä­mi­sche Bre­ vier ge­lang­te an die Kar­di­nä­le Grim­ani in Ve­ne­dig, das an­de­re viel­leicht an eine Kö­ni­gin aus dem Hau­se Habs­burg; doch bei­de wa­ren wohl nicht von An­fang an für ihre spä­te­ren Be­sit­zer kon­zi­piert. Gon­ta­uts Wap­pen wur­den schließ­lich mit de­nen der Jeanne Ma­let über­malt, die mit dem Ad­mi­ral Charles II d’Amb­oise ver­hei­ra­tet war. Das al­les zeigt zu­ gleich, wie sich kost­ba­re Bü­cher rasch aus ih­rer ur­sprüng­li­chen Be­stim­mung lö­sen konn­ ten. Auch in un­se­rem Bre­vier für Oc­to­vien sind die Wap­pen der Fa­mi­lie Saint-Ge­lais ge­tilgt; doch un­ver­brüch­lich bleibt uns das be­ein­dru­cken­de Bild­nis des ju­gend­li­chen Bi­ schofs: Er lei­tet auf fol. 74 den Chor­ge­sang zum 97. Psalm Can­tate do­mi­no; und das zeigt, wie weit man ging, um die Per­so­na­li­sie­rung sol­cher Wer­ke durch Bil­der kni­en­der Be­ter zu über­win­den, wenn ein Ma­ler wie Jean Pich­ore in Pa­ris von ei­nem be­deu­ten­den Be­ stel­ler und sei­nem ein­neh­men­den We­sen ei­nen le­ben­di­gen Ein­druck ge­ben woll­te. *** Stun­den­bü­cher wa­ren schon vom For­mat her nicht ei­gent­lich für re­prä­sen­ta­ti­ve Zwe­cke ge­eig­net; denn man konn­te sie kaum he­rum­zei­gen. Am bes­t en dien­ten sie dem ein­zel­nen Au­gen­paar; umso mehr muß er­stau­nen, daß sich Män­ner wie Anne de Mont­morency für die­sen Buch­typ be­geis­t er­ten, der kaum öf­fent­li­chen Ruhm be­scher­te. Da­mit war er aber kei­nes­wegs al­lein. Ge­ra­de­zu Rüh­rung mag der in­ni­ge Be­zug ei­nes Man­nes wie Jean Lal­le­mant le Je­une aus Bour­ges zu sei­nem Haa­ger Stun­den­buch er­we­cken, das ihm of­ fen­bar Trost in ver­zwei­fel­ter Lage bot.38 Stun­den­bü­cher in Frau­en­hand mag man sich viel lie­ber vor­stel­len. Doch den freund­li­ chen Be­mü­hun­gen aus den USA , der Frau von Anne de Mont­morency kre­a­ti­ven An­teil an den bei­den ihr be­kann­ten Stun­den­bü­chern des Kon­net­abels zu­zu­schrei­ben, muß­ten wir wi­der­ste­hen; und wenn wir nun schau­en, was un­ser Band IV von Pa­ris mon amour an per­sön­li­chen Be­zü­gen bie­tet, dann scheint die­se Aus­wahl dem in der Li­te­ra­tur gern 36

Pa­ris, BnF, la­tin 1058: Lero­quais 1934, Nr. 517, Bd. III , S. 63 f.; zur Be­tei­li­g ung von Fran­çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren (ehe­ mals Meis­t er des Ja­ques de Be­san­çon) und vom Meis­t er der Chroni­que scand­ale­use sie­he un­ser Buch von 2011, S. 22.

37

Dazu sie­he auch E. Kö­nig mit Jo­ris Co­rin Hey­der, Das Bre­viarium Grim­ani, Sim­bach am Inn 2016.

38

Den Haag, KB , Ms. 74 G 38: Kö­nig, De­vo­ti­on, 2012, vier Abb. als fig. 15.

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Einleitung

ge­äu­ßer­ten Ge­dan­ken nicht im­mer zu ent­spre­chen, sol­che Hand­schrif­ten sei­en noch im 16. Jahr­hun­dert in ers­t er Li­nie für Frau­en be­stimmt ge­we­sen. Selbst­ver­ständ­lich fin­den sich Bei­spie­le, die ganz in die­ses Bild pas­sen, das den Frau­en ih­ ren Platz im Haus­halt, im Kind­bett und im Ge­bet zu­weist, so Nr. 55, das an­mu­tig klei­ne Stun­den­buch für Marg­uer­ite de Coes­mes, de­ren Name kost­bar ein­ge­schrie­ben ist, die aber nicht vom Ma­ler ge­zeigt wird: Ihre Na­mens­pat­ro­nin Mar­ga­re­te, zu­gleich die wich­tigs­ te Schutz­hei­li­ge bei Kinds­nö­ten, weil sie vom Be­elze­bub ver­schlun­gen und dann un­be­ scha­det aus ihm wie­der he­raus­ge­bro­chen ist, er­hält auf sehr un­ge­wohn­te Art in die­sem Ma­nus­kript vor dem Ma­rien­of ­fi­zi­um ein Suf­fra­gium und eine schö­ne Mi­ni­a­tur, de­ren Bor­dü­re den Na­men der Dame ver­e­wigt, der das Buch zu­ge­eig­net war. Wap­pen an den wich­tigs­ten Inci­pits un­ter­strei­chen, daß man es hier mit ei­ner Ad­li­gen zu tun hat; und wer nach­schaut, wo Coes­mes liegt, kann das Buch, auch wenn es ein un­ge­mein bil­der­ rei­ches Pa­ri­ser Stun­den­buch von Jean Co­ene ist, mit der spe­zi­fi­schen Stun­den­buch­kul­ tur der Bre­tag­ne ver­bin­den (auch wenn wir mitt­ler­wei­le wis­sen, dass Marg­uer­ite sich im Jahr 1491 mit Charles d’An­gen­nes, Seig­neur de Ram­bouil­let ver­hei­ra­te­te). Aus die­sem Her­zog­tum, das erst un­ter Franz I. ins Kö­nig­reich ein­ge­mein­det wur­de, stamm­ten vie­ le tüch­ti­ge Leu­te, die über­all in Frank­reich, also auch in Pa­ris, bes­ser als zu Hau­se ihr Aus­kom­men fan­den. Nicht so leicht ein­zu­ord­nen sind die Be­zü­ge zu ei­ner Be­sit­ze­rin in Nr. 61, ei­nem von Éti­ enne Col­aud aus­ge­mal­ten Stun­den­buch: Ihr nicht durch Wap­pen und erst recht nicht durch Na­mens­bei­schrift er­läu­ter­tes Bild als Be­te­rin er­setzt auf fol. 129v zum Suf­fra­ gium Karls des Gro­ßen das Bild des Kai­sers, als han­de­le es sich um eine Char­lot­te oder die schwarz ge­klei­de­te Wit­we ei­nes ver­stor­be­nen Charles. Doch nicht nur der Ma­ler, schon der Schrei­ber hat­te in die­sem Ma­nus­kript ganz un­ge­wöhn­li­che Vor­ga­ben zu be­ rück­sich­ti­gen: In den fünf Tex­ten wird Ma­ria, an­geb­lich mit Wor­ten des Evan­ge­lis­ten Jo­han­nes, der un­ter dem Kreuz der Mut­ter­got­tes an Soh­nes Statt an­ver­traut wor­den war, mit höchst un­ge­wöhn­li­chen For­meln als Medi­atrix om­nium, Au­xili­atrix om­nium, Re­par­atrix de­bil­ium, Illu­min­atrix pe­cc­ato­rum und Al­le­vi­atrix an­ge­ru­fen; und dort, wo die Jung­frau auf fol. 136 als Er­leucht­erin der Sün­der (nicht der Sün­de­rin­nen) an­ge­ru­fen wird, ist die Be­te­rin, je­doch an­ders ge­klei­det, ein zwei­tes Mal dar­ge­stellt.39 Von ei­nem ganz an­de­ren Be­wußt­sein für die Rol­le der Frau im Stun­den­buch zeugt hin­ge­ gen das schon text­lich he­raus­ra­gen­de Liv­re d’heu­res für Lang­res, Nr. 56. Es ge­hört zu den Bei­spie­len, in de­nen ein Pa­ri­ser Buch­ma­ler – es ist wie im Stun­den­buch der Marg­uer­ite de Coes­mes (Nr. 55) wie­der Jean Co­ene – ein sehr sorg­fäl­tig auf frem­den li­tur­gi­schen Ge­ brauch ein­ge­stell­tes Ma­nus­kript il­lu­mi­niert hat. Ent­spre­chend wur­den ja in der Haupt­ stadt ge­druck­te Stun­den­bü­cher für die un­ter­schied­lichs­t en Re­gi­o­nen des Kö­nig­reichs ver­legt. Lo­kal ver­an­kert blieb un­se­re Hand­schrift of­fen­bar bis ins 19. Jahr­hun­dert: Auf dem ers­t en Blatt dient im Ka­len­der­bild zum Ja­nu­ar das Wap­pen der Fa­mi­lie Gir­aud de 39

Lero­quais 1927, II , S. 26 f., fin­det die­sel­be Ge­bets­fol­ge zwei­mal, je­weils mit Zu­schrei­bung an Jo­han­nes den Evan­ge­lis­t en, be­ son­ders auf­wen­dig in lat. 10561 der BnF, ei­nem Stun­den­buch aus dem spä­ten 15. Jahr­hun­dert, wo die fran­zö­si­sche Rub­rik mit ei­ner aus­f ühr­li­chen Para­phra­se der Tex­te ver­bun­den wird, und auf S. 61, lat. 13268, aus dem frü­hen 16. Jahr­hun­dert.

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Einleitung

Pran­gey – blau, da­rauf in Sil­ber ein waa­ge­rech­ter Strei­fen so­wie oben drei Mon­de und un­ten ein sprin­gen­der Hirsch – dazu, die Blö­ße des Was­ser­manns zu ver­ste­cken; im Ap­ ril folgt das eben­falls blau­grund­ige Wap­pen der Fa­mi­lie Esc­erta­ines mit ei­nem gol­de­nen Hir­schen. Die Pran­gey-Esc­erta­ines wa­ren durch Woll­käm­me­rei in Zei­ten reich ge­wor­ den, in de­nen die­ses Ge­wer­be auch an­ders­wo, in Flan­dern wie in Flo­renz, dem Patriz­iat wirt­schaft­li­che Po­tenz gab. Des­halb wird die Be­te­rin auf ei­nem gro­ßen Bild ne­ben der Ma­rien­ver­kün­di­gung vom hei­li­gen Bla­si­us be­glei­tet, den man hier wie auf fol. 117v am Woll­kamm er­kennt. Die­se Frau – Ma­dame Gir­aud de Pran­gey-Esc­erta­ines – steht da­ mit für den Er­folg ih­rer Fa­mi­lie, die sich schon im Grund­be­stand der Aus­ma­lung durch Kö­nigs­li­li­en im bur­gun­di­schen Lang­res zur fran­zö­si­schen Par­tei be­kennt. Das Schick­sal des Ma­nus­kripts woll­te es aber, daß schließ­lich die­ser As­pekt im 19. Jahr­ hun­dert eine ganz neue Di­men­si­on er­hielt; denn mit Kö­nigs­li­li­en über­mal­te Wap­pen von Pran­gey-Esc­erta­ines im Buch und der un­ge­mein pracht­vol­le Ein­band be­zeu­gen eine spä­te Pha­se in kö­nig­li­chem Be­sitz: Viel­leicht auf Ini­ti­a­ti­ve ei­nes spä­ten Nach­fah­ren un­ se­rer Be­te­rin, Gra­phi­kers und Dag­uer­roty­pis­t en Jo­seph-Phili­bert Gira­ult de Pran­gey aus Lang­res (1804–1892), wid­me­te man den Band um zum sicht­ba­ren Be­sitz ent­we­der für den 1830 ge­stürz­ten Kö­nig Karl X. oder für des­sen En­kel Hein­rich, Her­zog von Cham­ bord, Sohn des 1820 er­mor­de­ten Her­zogs von Ber­ry, der noch nach Karls Ab­dan­kung im Zuge der Re­vo­lu­ti­on 1830 als Hein­rich V. zum Kö­nig prok­la­miert wur­de. *** Noch ein­mal führt uns die hier prä­sen­tier­te Aus­wahl zu den Kö­nigs­li­li­en und in den engs­t en Kreis der ge­krön­ten Häup­ter, dies­mal je­doch nicht in ro­man­ti­scher An­eig­nung aus dem 19. Jahr­hun­dert, son­dern in der Re­gie­rungs­zeit des fran­zö­si­schen Kö­nigs Lud­ wigs XII . (1498–1515) und da­mit auch der zwei­ten Pe­ri­o­de, in der Anne de Bre­tag­ne fran­zö­si­sche Kö­ni­gin war (1499–1514). Die­se Jah­re sind als Ent­ste­hungs­zeit durch Er­ schei­nung und Stil des Werks be­kräf­tigt. Wir kom­men da­mit zu Nr. 47, dem ers­ten und schon durch das vor­züg­li­che Ult­ra­ma­ rin und das üp­pi­ge Gold kost­bars­ten Ma­nus­kript un­se­rer Aus­wahl in Band IV von Pa­ ris mon amour. Die­ses Stun­den­buch ist zwin­gend für eine Frau be­stimmt ge­we­sen und das auf spek­ta­ku­lä­re Wei­se: Zwar hat der Schrei­ber gram­ma­ti­ka­lisch auf das ei­gent­lich ge­bo­te­ne Fe­mi­ni­num ver­zich­tet; doch steht der gan­ze Buch­schmuck im Zei­chen ei­ner Dame, die mehr­fach dar­ge­stellt ist. Ihr Fall ver­langt sehr viel mehr Ein­sicht und Ver­ ständ­nis als die eben er­ör­ter­ten Ge­stal­ten, die eher sche­men­haft vor uns ge­tre­ten sind. Die Aus­ma­lung ist ein Haupt­werk je­nes Ma­lers, den man nach ei­nem Stun­den­buch in Rou­en als den Mart­ain­ville-Meis­ter be­zeich­net. Er stammt wohl, wie auch un­se­re Nr. 50 na­he­legt, aus Tours; in Pa­ris be­haup­tet sich sei­ne ge­ni­a­li­sche Kunst vor­züg­lich ne­ben Jean Pich­ore, mit dem er eine Wei­le in den ge­mein­sa­men Topf der Schu­le von Rou­en ge­

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EinLeiTUnG

Katalog 82, Nr. 47: Kreuztragung aus dem


EinLeiTUnG

Stundenbuch der Katharina von Aragon


Einleitung

wor­fen wur­de, ehe zu­nächst für Pich­ore in Ver­öf­fent­li­chun­gen von 1992 und 1993 klar wur­de, daß er von Pa­ris aus wirk­te.40 Der Mart­ain­ville-Meis­t er hat ge­mein­sam mit dem Meis­t er der Phili­ppa von Gel­dern das für Lud­wig XII . be­stimm­te Exemp­lar ei­nes ge­druck­ten Stun­den­buchs vom 15.10.1499 ill­umi­nier­t41 und für den Kö­nig ein klei­nes Stun­den­buch-Ma­nus­kript aus­ge­malt.42 Kö­ nig­li­che Pro­ve­ni­enz, wenn auch, so­weit er­wie­sen, nur zwei­ter Hand, hat ein in zwei Bän­ de auf­ge­teil­tes Stun­den­buch in Lon­don, das frü­hes­t ens 1558 mit den Wap­pen von Franz II . (1544–1560) und der mit ihm ver­hei­ra­te­ten Mary Queen of Scots, also Ma­ria Stu­art, ver­se­hen wur­de.43 Ver­schwen­de­risch sind in un­se­rer Nr. 47 fran­zö­si­sche Kö­nigs­li­li­en ein­ge­setzt: Auf nicht we­ni­ger als fünf­zig Sei­ten fin­den sie sich im semé, also im un­end­li­chen Rap­port; als zwei­ tes Zei­chen stößt man an vie­len Stel­len, zu­wei­len so­gar im Zu­sam­men­spiel mit den Fle­urs de lis auf Ja­kobs­mu­scheln, die ent­spre­chend als semé in den Bor­dü­ren er­schei­nen. Da­mit ent­steht ein Be­zug zwi­schen Frank­reich und der Ibe­ri­schen Halb­in­sel, der an kei­ ner Stel­le von den sonst gern in die Bor­dü­ren ein­ge­füg­ten Gro­tes­ken ge­stört wird. Statt fromm auf die Ja­kobs­pil­ger­schaft nach San­ti­a­go da Com­post­ela hin­zu­wei­sen, las­sen die Mu­scheln auf spa­ni­sche Her­kunft der in Bil­dern dar­ge­stell­te Frau schlie­ßen. Der wich­tigs­t e An­halts­punkt für die Be­stim­mung der Adres­sa­tin des Stun­den­buchs ist das Bild zum Ma­rien­ge­bet Obse­cro te auf fol. 20v: Dort be­glei­tet die hei­li­ge Ka­tha­ri­na von Ale­xand­ri­en eine vor­neh­me Be­te­rin, die eine schwar­ze Hau­be wie Anne de Bre­tag­ne trägt, je­doch mit sicht­ba­ren blon­den Lo­cken; das er­in­nert an das be­mer­kens­wer­te Frau­ en­bild­nis von Mi­chel Sit­tow im Wie­ner Kunst­his­to­ri­schen Mu­se­ums, in dem man ge­ mein­hin Ka­tha­ri­na von Ar­agon er­kennt.44 Die jun­ge Be­te­rin ist ver­hei­ra­tet; sie be­wahrt in ei­nem Fach ih­res Bet­pults eine gol­de­ne Kö­nigs­kro­ne auf, ist also noch nicht Kö­ni­gin, gleich­sam Kö­ni­gin auf Ab­ruf oder schö­ner ge­sagt: in Er­war­tung kö­nig­li­cher Wür­de. Ihre Ge­stalt wur­de in ei­ner zwei­ten Ar­beits­kam­pag­ne in klei­nen Bil­dern un­ge­wohn­ter Ikono­grap­hie mit zwei The­men­be­rei­chen wie­der­holt. Es geht um die Er­war­tung von Mut­ ter­schaft, die wohl auch durch die auf­fäl­li­gen Gür­tel an vie­len Stel­len im Rand­schmuck aus­ge­drückt und durch die Ho­ren der Emp­fäng­nis am Ende un­ter­stri­chen wird; und es geht noch ent­schie­de­ner um To­ten­kla­ge: Aus­ge­rech­net vor dem Ad­vents­of ­fi­zi­um be­tet 40 Als „École de Rou­en“ kennt man den Stil seit dem Buch von Rit­ter und La­fond 1913; Pa­ris kam ins Spiel durch den Kom­men­ tar­band zu Chris­t oph von Ba­den, Kö­nig 1978, die­se An­nah­me be­stärk­te Plum­mer in sei­nem Aus­st.-Kat. The Last Flowe­ring 1982. Von ei­nem Hin­weis Av­rils aus­ge­hend konn­te un­ser Ka­ta­log zum Frois­sart des Georges d’Amb­oise 1992 ei­nen vi­ta­len Neu­be­g inn ma­chen; es folg­ten Av­ril und Reyn­aud im Aus­st.-Kat. 1993. In en­ger Ver­bin­dung mit dem An­ti­qua­ri­at Bi­ber­ müh­le hat Mara Hof­mann ihre nicht als Buch pub­li­zier­te Ber­li­ner Ma­g is­ter­ar­beit über das Pa­nis­se-Stun­den­buch des Mart­ ain­ville-Meis­t ers ge­schrie­ben; es folg­te Ca­ro­li­ne Zö­hls Dis­ser­ta­ti­on über Jean Pich­ore, die 2007 er­schie­nen ist. 41

Ho­r ae 17.1, Band V, S. 1992–2011.

42

Ex. Fir­min-Di­dot, Ven­te 1882, Nr. 19; spä­ter bei A. Kann; heu­ti­ger Auf­be­wah­rungs­ort un­be­kannt.

43

Lon­don, BL , Add. Mss. 25696 und 25710: Janet Back­house, Il­lu­mi­na­ti­on from Books of Hours, Lon­don 2004, Nr. 81, S. 96.

44 Auf die in­ter­ne Aus­ei­nan­der­set­zung um die Iden­ti­fi­zie­rung kön­nen wir hier ver­zich­ten. Mat­thi­as We­ni­ger, der in sei­ner gro­ ßen Mo­no­g ra­phie zu den Ma­lern für Isa­bel­la die Ka­tho­li­sche (Sit­tow, Mor­ros, Juan de Flan­des, Kiel 2011) an­ge­kün­digt hat­te, er wer­de noch nach­wei­sen, daß statt­des­sen die äl­te­re Kö­ni­g in ge­meint sei, hat die­sen Nach­weis nie er­bracht.

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Einleitung

Katalog 82, Nr. 47: Portrait der Katharina von Aragon

Katalog 82, Nr. 47: Der tote Arhur?

Michel Sittow, Portrait der Katharina von Aragon, Wien

Portrait des gestorbenen Arthur von Wales?

Portrait des jungen Heinrich VIII.?

Rogier van der Weyden, Sakramentsaltar, Antwerpen: Todgeweihter mit Sterbehaube

Portrait Heinrichs VIII. um 1509, Denver Museum


Einleitung

die jun­ge Frau am Fußen­de ei­nes Bet­tes, auf dem die schwan­ge­re Ma­ria ruht (fol. 100v). Vor der To­ten­ves­per (fol. 138v) kniet sie auf ei­nem Fried­hof am frisch aus­ge­ho­be­nen Grab für drei in Lein­tuch ein­ge­näh­te Ver­stor­be­ne. Klei­ner, aber eben­falls mar­kant ins Bild ge­setzt, be­tet sie am Ende der To­ten­lau­des vor dem Be­ginn der Suf­fra­gien auf fol. 183 zu Gott. Selbst­ver­ständ­lich er­scheint sie auch im spek­ta­ku­lärs­t en Bild die­ses an Sen­sa­ti­o­nen über­ rei­chen Buchs: in der auf zwei Sei­ten ei­nes ein­ge­schal­te­ten Dop­pel­blatts aus­ge­brei­te­ten Kreuz­tra­gung (fol. 205v/206). Dort reiht sie sich ein in eine Grup­pe von Men­schen, die nicht zur Hof­ge­sell­schaft ge­hö­ren, son­dern zu den Ar­men und Trost­su­chen­den, die ge­ mein­sam mit Bet­tel­mön­chen ihr Kreuz auf sich neh­men; da­mit wird, wie viel­leicht auch durch die Her­bergs­su­che auf fol. 70v be­tont, daß die vor­neh­me Dame, der das Buch zu­ ge­eig­net war, nicht in stan­des­ge­mä­ßer Si­cher­heit leb­te. In Zei­ten von Lud­wig XII . und Anne de Bre­tag­ne wird man nur an eine Fürs­t in des hier nö­ti­gen Ran­ges den­ken kön­nen: Ka­tha­ri­na von Ar­agon (15.12.1485–7.1.1536) – nicht als Auf­trag­ge­be­rin, son­dern als Adres­sa­tin, durch­aus ohne Rück­spra­che mit ihr, ana­log zu ih­rer Schwes­ter Jo­han­na von Kas­ti­li­en, die an ih­rem Lon­do­ner Stun­den­buch Add. Ms. 18852 kaum mit­wirk­te und zum Mark­gra­fen Chris­t oph I. von Ba­den, des­sen Karls­ ru­her Stun­den­buch, cod. Dur­lach 1, als dip­lo­ma­ti­sches Ge­schenk aus Pa­ris ge­gen die Habs­bur­ger zu ver­ste­hen ist. Ka­tha­ri­na von Ar­agon, die jüngs­t e Toch­ter der Ka­tho­li­schen Kö­ni­ge und Tan­te der Kai­ ser Karl V. und Fer­di­nand I., wur­de 1489 mit Ar­thur, dem Erb­sohn Hein­richs VII ., ver­ lobt und 1501 mit ihm ver­hei­ra­tet, aber schon 1502 zur Wit­we. Da­nach leb­te sie bis zu ih­rer un­glück­li­chen Ehe­schlie­ßung mit des­sen Bru­der Hein­rich VIII . 1509 un­ter de­ mü­ti­gen­den Um­stän­den in Eng­land. Die drei To­ten, die im Stun­den­buch auf ihre Bei­ set­zung war­ten, sind nicht ihre drei früh ge­stor­be­nen Kin­der aus den ers­ten Ehe­jah­ren mit Hein­rich VIII .; denn in je­ner Zeit trug Ka­tha­ri­na eine Kro­ne. Nach Ar­thurs Tod 1502 aber er­gibt die Kro­ne im Bet­pult mit den drei To­ten auf dem Fried­hof Sinn: Im Jahr 1504 mu­ßte Ka­tha­ri­na von Ar­agon nach Ar­thurs Hin­schei­den zwei wei­te­re Tote be­kla­gen: ihre Mut­ter Isa­bel­la und ihre Schwie­ger­mut­ter Eli­sa­beth, ihre bes­t e Für­spre­ che­rin am eng­li­schen Hof. Ref­le­xi­on über den Tod bie­tet das ein­zig­ar­ti­ge Bild, das so­gar den to­ten Chris­t us auf fol. 39v in Pa­ri­ser Ma­nier ein­ge­näht in ein Lei­chen­tuch zeigt, be­mer­kens­wert oft ist auch die An­we­sen­heit des To­des in den Bil­dern.45 Noch ent­schie­de­ner aber drückt der ex­ten­si­ve, fast ein­zig­ar­ti­ge Hi­obs-Zyk­lus die­se Ten­denz aus. Un­er­hört in ei­nem Stun­den­buch ist die da­rin ein­ge­bet­te­te Dar­stel­lung vom Rad der For­tu­na zur ers­ten Le­sung der To­ ten-Matu­tin auf fol. 152, das per­fekt Ka­tha­ri­nas Le­bens­si­tu­a­ti­on um 1504 spie­gelt, wenn es da heißt: „regn­avi – sum sine re­gno – regn­abo – re­gno“ und der Tote un­ter dem Rad, ikono­gra­phisch ganz ein­zig­ar­tig, durch­aus als Ar­thur zu ver­ste­hen ist. Er mag auch mit 45

So auf fol. 139, 152, 153, 160, 162v, 168v, 170, 170v und 171v.

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Einleitung

dem jun­gen Mann ge­meint sein, der auf fol. 172 im letz­ten Bild des To­ten­of ­fi­zi­ums um die Gna­de bit­tet, noch zu Leb­zei­ten sei­ne Sün­den be­reu­en zu kön­nen. Für die sehr from­me Prin­zes­sin, die man in Eng­land wie eine Gei­sel fest­hielt, wird die fran­zö­si­sche Sei­te, da­mals Bünd­nis­part­ner von Ka­tha­ri­nas Va­ter Fer­di­nand, die Pracht­ hand­schrift als ein Zei­chen über den Ka­nal ge­sen­det ha­ben, daß Ka­tha­ri­na als zu­künf­ ti­ge Kö­ni­gin Eng­lands an­zu­se­hen sei, ge­gen die Plä­ne ei­ner Al­li­anz mit den habs­bur­gi­ schen Bur­gun­dern. Kir­chen­recht­li­che Prob­le­me, die real im Raum stan­den, las­sen sich im Me­di­um der Buch­ma­le­rei nicht mit wün­schens­wer­ter Prä­zi­si­on fest­ma­chen; so fragt es sich, wie weit Wit­wen­tracht im Bild zum Mai und an­ders­wo er­kannt wer­den mag. 46 He­ral­disch be­stand bei Ka­tha­ri­na von Ar­agon um 1504 ein schwer lös­ba­res Pro­blem, weil ein Al­li­anz­wap­pen mit Eng­land zwi­schen Ar­thurs Tod und der Ehe­schlie­ßung mit Hein­rich nicht an­ge­mes­sen ge­we­sen wäre; schließ­lich be­ruh­te der Dis­pens, der die Ehe mit Hein­rich erst er­lau­ben soll­te, auf Nicht­voll­zug der Ehe mit Ar­thur. Das Buch wird aber mit ei­nem gro­ßen Al­li­anz­wap­pen er­öff­net, das al­ler­dings fast un­ les­bar ge­macht wur­de, im Um­riß je­doch mit Ka­tha­ri­nas ge­druck­ten Wap­pen47 über­ein­ stimmt und bei star­kem Ge­gen­licht zu­min­dest ei­nen Ad­ler links und den auf­stei­gen­den Lö­wen rechts un­ten ah­nen läßt. Von Ka­tha­ri­na von Ar­agon schrieb Eras­mus von Rot­ter­dam, sie sei weit­aus be­le­se­ner als Hein­rich VIII . ge­we­sen. Aus der über­lie­fer­ten Lis­te der Bü­cher in ih­rem Nach­laß48 ist nur das ers­t e ver­schwun­den: „Item one prim­mar writ­ten on vel­lom cove­red with clo­the of golde, hav­ing two clas­pis of silver and gilte“.49 Die­ses in gol­de­nen Stoff ge­bun­de­ne Stun­ den­buch auf Per­ga­ment könn­te, nein: wird un­ser Ma­nus­kript sein. Ka­tha­ri­nas Toch­ter Ma­ria, die ka­tho­li­sche Kö­ni­gin Bloody Mary (1553–1558), die sehr an her­kömm­li­cher Li­tur­gie in­te­res­siert war, mag als na­tür­li­che „ge­bo­re­ne“ Er­bin mit da­für ge­sorgt ha­ben, daß das Buch über­leb­te.50 *** Mit Nr. 47, dem Stun­den­buch für Ka­tha­ri­na von Ar­agon, sind wir nun end­lich auf un­se­ rem un­ge­wohn­ten Weg zum An­fang von Band IV des Ka­ta­logs Pa­ris mon amour ge­langt. Ein mar­kan­ter sti­lis­t i­scher Bruch trennt die­se Ma­le­rei von der Kunst der bei­den Le Bar­ bier, Va­ter und Sohn, de­ren spät­go­ti­sche For­men­spra­che den drit­ten Band we­sent­lich ge­prägt hat­te. Der äs­t he­ti­sche Um­bruch ist er­staun­lich; er gab dem jün­ge­ren Ma­ler Frei­ heit zu groß­zü­gig an­ge­leg­ten Fi­gu­ren in Räu­men von atmo­sphä­ri­scher Un­be­stimmt­heit. Die klas­si­schen Grund­far­ben sind bei ihm weit­ge­hend durch dunk­le­re Töne ver­drängt; 46 So in der Mi­ni­a­tur mit den Hir­tin­nen zur Ma­ri­en-Terz vorn links (fol. 100v) so­wie auf fol. 138v, 146 und 183. 47 ­Abb. bei Car­ley, 2004, S. 112! 48 ­Car­ley 2004, S. 120. 49

Car­ley 2000, S. LVI.

50 Ohne Kennt­nis un­se­res Ma­nus­kripts mut­maßt Car­ley, Nr.1 der Bü­cher im Nach­laß sei spä­ter in West­min­ster als Nr. 671 (rich­tig: 670 bzw. 439) ver­zeich­net wor­den: „pri­mer writ­ten, cove­rid with cloth of golde“ und mög­li­cher­wei­se am 25. Feb­ru­ar 1551 auf Be­fehl Kö­nig Ed­wards VI mit an­de­ren „su­per­stitio­use“ Bü­chern ver­brannt wor­den.

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Einleitung

der Pin­sel ar­bei­tet recht rasch und er­reicht ma­le­ri­sche Ef­fek­te, die auch leb­haf­te Hö­ hung mit Gold ein­be­zie­hen, nach­dem Gold in der zu­vor do­mi­nie­ren­den zeich­ne­ri­schen Buch­ma­le­rei der Pa­ri­ser Spät­go­tik eher gra­phisch ein­ge­setzt wor­den war. Die­ser Wan­del ver­lang­te von den Auf­trag­ge­bern eine neue Sicht. Das war für uns ein Grund un­ter an­de­ren, statt wie in den bis­he­ri­gen Ein­lei­tun­gen zu un­se­ren Ka­ta­lo­gen im we­sent­li­chen von den Buch­ma­lern zu spre­chen und de­ren Bei­trä­ge in ei­ner Art his­t o­ri­ schem Rei­gen zu ver­fol­gen, auch the­ma­tisch die Rei­hen­fol­ge um­zu­keh­ren und zu­nächst nach den Frau­en und Män­nern zu fra­gen, die un­se­re Bü­cher in Auf­trag ge­ge­ben ha­ben. Die Fra­ge nach den Künst­lern trat dem­ge­gen­ü­ber in den Hin­ter­grund; nun keh­ren wir zur gu­ten Ord­nung zu­rück. Daß in der Tat bei den Käu­fern Ü­ber­zeu­gungs­ar­beit ge­leis­t et wer­den mu­ßte, ver­rät ein Vier­zei­ler in ei­nem Haupt­werk des uns vom Stun­den­buch für Ka­tha­ri­na von Ar­agon ver­ trau­ten Mart­ain­ville-Meis­t ers, Chan­tilly, Ms. 72; dort steht auf fol. 16: „Quy pe­ult choi­sir ne do­ibt pren­dre le pire. Donc vous su­ply ne lais­ser le me­ill­eur. Et de ma part à la me­ill­eu­re tire En pour­chas­sant de vo­stre grace l’heu­re.“51 Mit der Mög­lich­keit der Wahl zwi­schen ver­schie­de­nen Stil­la­gen rech­net stil­kri­ti­sche Kunst­ge­schich­te erst in der Neu­zeit. In frü­he­ren Epo­chen stellt sie sich Stil­ent­wick­lung meist als eine ge­ra­de­zu na­tür­li­che Ge­ne­se vor, de­ren zwin­gen­der Ab­lauf Er­kennt­nis­ziel der For­schung sei. Erst zu Zei­ten, in de­nen sich der ein­zel­ne Künst­ler sei­ner Ein­zig­ar­tig­ keit als per­sön­li­cher Iden­ti­tät be­wußt war, wäre dem­nach eine vom Stil be­stimm­te Kon­ kur­renz zu den an­de­ren Künst­lern ent­stan­den.52 Das stimmt si­cher nicht ganz so, wie es die tra­di­ti­o­nel­le Sicht auf das Mit­tel­al­ter will; aber Wett­streit soll­te tat­säch­lich zu ei­nem Grund­zug ma­nie­ris­ti­scher Pe­ri­o­den wer­den; in ihm liegt nicht nur die Er­kennt­nis des An­ders­seins, son­dern auch die Chan­ce zur be­wuß­ten Ab­kehr vom Her­kömm­li­chen. Mit ei­nem Künst­ler wie dem Mart­ain­ville-Meis­t er sind wir in ei­ner neu­en Epo­che an­ge­langt, bei der man nörd­lich der Al­pen nicht recht weiß, ob sie noch als Re­nais­sance oder eben schon als eine Art von Ma­nie­ris­mus gel­ten soll­te. *** Tat­säch­lich tritt in den 1490er Jah­ren in Pa­ris ein neu­er Stil auf, der als Bruch mit dem Ge­wohn­ten au­gen­fäl­lig wird – dazu ge­nügt es, die Ab­bil­dun­gen in Band III und IV von Pa­ris mon amour zu ver­glei­chen. Seit 1992/1993 wird die­ser Wan­del mit dem Na­men Jean Pich­ore ver­bun­den, von dem Quel­len aus der Zeit des Kar­di­nals Georges 51

Meur­gey 1930, S. 165 f. (dort auch Taf. cx-cxi); auch zi­tiert im Kom­men­tar­band zum Stun­den­buch Chris­tophs I. von Ba­ den: Kö­nig 1978, S. 226 f.

52

Mi­cha­el Ba­xan­dall (Die Kunst der Bild­schnit­zer, Mün­chen 1984) hat An­sät­ze dazu in der deut­schen Bild­schnit­ze­rei des spä­ ten Mit­tel­al­ters ge­sucht: E. Kö­nig, Ge­sell­schaft, Ma­te­ri­al, Kunst. Neue Bü­cher zur deut­schen Skulp­tur um 1500, in: Zeit­ schrift für Kunst­ge­schich­te 46, 1984, S. 535–558.

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Einleitung

d’Amb­oise sa­gen, er sei „dém­our­ant à Pa­ris“, und dem man aus Rou­en dort kost­bar ge­ schrie­be­ne Ma­nus­krip­te zur Aus­ma­lung in der Haupt­stadt schick­te.53 Do­ku­men­tiert ist Pich­ore vor al­lem 1504 und 1518: Am 5. Ap­ril 1503, also 1504 n.st., da­tiert ist die ext­ rem sel­te­ne Quart­aus­ga­be ei­nes Stun­den­buchs, das Pich­ore ge­mein­sam mit Remy de Lai­stre ge­druckt hat; da­rauf folg­te am 24. Sep­tem­ber 1504 das Ber­li­ner Uni­cum ei­nes Ok­tav­drucks.54 Pich­ore, der eben­so wie der Mart­ain­ville-Meis­t er si­cher schon in den 1490er Jah­ren tä­tig war, kommt hier erst mit Nr. 51, dem ge­wich­ti­gen Bre­vier für Oc­to­vien de Saint-Ge­lais aus der Zeit sei­ner Er­he­bung zum Bi­schof 1494, in den Blick. So pro­mi­nent er in­zwi­ schen ist, so muß er doch dem Mart­ain­ville-Meis­ter den Vor­tritt las­sen; denn bei kei­ nem Ver­tre­ter des neu­en Stils wird – in der Mal­wei­se wie im Be­griff da­von, was ein Bild leis­ten kann – die äs­the­ti­sche Dif­fe­renz zu den bei­den Le Bar­bier und an­de­ren Künst­ lern, die noch bis in die 1490er Jah­re die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei be­herrsch­ten, so deut­lich wie bei die­sem ano­nym blei­ben­den Buch­ma­ler. Ihn ha­ben wir nach ei­nem Stun­den­buch der Stadt­bib­li­o­thek von Rou­en, Ms. Mart­ain­ville 183, be­nannt, das un­ge­mein dicht und mit un­er­hör­ter Er­fin­dungs­kraft be­bil­dert wur­de.55 Der cha­rak­te­ris­t i­sche Um­gang mit der Pers­pek­ti­ve ver­riet für La­fond 1927 die Her­kunft des zur Schu­le von Rou­en ge­zähl­ten Buch­ma­lers aus dem un­mit­tel­ba­ren Ein­fluß Jean Bour­dic­hons in Tours; wir den­ken eher an eine di­rek­te Aus­ei­nan­der­set­zung mit ita­li­e­ni­ schen Vor­bil­dern. Ihn an den Be­ginn die­ses vier­ten Ban­des zu stel­len, hieß auch, durch die Rei­hung dem Ein­druck ent­ge­gen zu wir­ken, der Mart­ain­ville-Meis­ter sei ein Nach­ fol­ger des Buch­ma­lers und Ent­wer­fers von Stun­den­buch-Gra­phik, in dem man heu­te Jean Pich­ore er­kennt. Das Pro­fil des Künst­lers, des­sen Ar­bei­ten für Kö­nig Lud­wig XII . be­reits in den Er­ör­te­ run­gen zu Ka­tha­ri­na von Ar­agon eine wich­ti­ge Rol­le spiel­ten, ist noch nicht welt­weit an­ er­kannt.56 Das liegt vor al­lem an Un­schär­fen zwi­schen ei­ner­seits den Wer­ken um Mart­ain­ville 183, de­ren ikono­gra­phisch auf­re­gen­de Qua­li­tä­ten im Stun­den­buch für Ka­tha­ri­ na von Ar­agon zu Tage tra­ten, und an­de­rer­seits ei­ner klei­nen Stil­grup­pe, die in der Pa­ ri­ser Aus­stel­lung von 1993 im we­sent­li­chen aus zwei Hand­schrif­ten be­stand: Pet­rar­cas

53

Von ei­nem Hin­weis ausgehend, den Av­ril 1991, S. 106, ge­ge­ben hat, wur­de 1992 in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV der Ver­such ge­macht, die­sen Na­men dem Meis­ter der Tri­um­phe Pet­rar­cas, fr. 594, zu ge­ben; dem ha­ben Av­ril und Reyn­aud 1993, zu Nrn. 234–238 wi­der­spro­chen. Die Ber­li­ner Dis­ser­ta­ti­on von Ca­ro­li­ne Zöhl, aus der eine Mo­no­g ra­phie über Jean Pich­ore, Zöhl 2007, her­vor­g ing, hat sich den Pa­ri­ser Vor­stel­lun­gen an­ge­schlos­sen.

54 Horae II , Nr. 92, S. 742–751; Zöhl 2007, S. 162–168. 55

Jean La­fond hat dem Werk 1927 eine klei­ne Mo­no­g ra­phie ge­wid­met und es in die Bour­dic­hon-Nach­fol­ge ge­stellt. Mara Hof­ mann hat im All­ge­mei­nen Künst­ler­le­xi­kon, Bd, 88, 2016, S. 451–452, den Stand der Kennt­nis seit Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV, 1992, dar­ge­stellt und den Ma­ler cha­rak­te­ri­siert; ihre Ber­li­ner Ma­g is­t er­ar­beit über un­ser Pa­nis­se-Stun­den­buch blieb un­ver­ öf­fent­licht. Zöhl 2007 nimmt je­doch den Be­g riff auf und wid­met dem Ma­ler eine knap­pe Zu­sam­men­fas­sung auf S. 46–47.

56

Ohne den Not­na­men ar­g u­men­tiert De­lau­ney 1993 bei ih­rer Zu­sam­men­stel­lung ver­wand­ter Ar­bei­ten; in den sonst aus­ge­ zeich­ne­ten fran­zö­si­schen Bei­trä­gen zu ano­ny­men Buch­ma­lern bei Wi­k ipe­dia fehlt der Künst­ler.

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Einleitung

Tri­um­phen in der Über­set­zung aus Rou­en 1503, fr. 59457, und ei­nem Stun­den­buch, das als Peti­tes Heu­res der Anne de Bre­tag­ne be­kannt ist.58 Die Iso­lie­rung die­ser bei­den Wer­ke grün­det auf ei­ner stil­kri­ti­schen Sicht­wei­se, die die ikono­gra­phi­sche Kühn­heit des Ma­lers weit­ge­hend au­ßer Acht läßt. Wa­ren wir um 1980 noch weit­ge­hend ei­nig, daß Hand­schrif­ten wie Chan­tilly 72 und das Stun­den­buch des Mark­gra­fen Chris­toph I. von Ba­den in Karls­ru­he dem da­mals als Petr­arca-Meis­ter59 be­zeich­ne­ten Meis­ter der Tri­um­phe fr. 594 zu ver­dan­ken sei­en, 60 so hat das müh­sa­me Be­grei­fen von Jean Pi­cho­res Bei­trag zwi­schen die bei­den be­wun­der­ ten Haupt­wer­ke in der Pa­ri­ser Na­ti­o­nal­bib­li­o­thek und die ikono­gra­phisch span­nen­den Stun­den­bü­cher ei­nen Keil ge­trie­ben. Da­bei spie­len die er­wähn­ten Aus­ga­ben von ge­druck­ ten Stun­den­bü­chern aus dem Jahr 1504 eine ent­schei­den­de Rol­le. Mit der gra­phi­schen Ent­schie­den­heit der da­für ent­wor­fe­nen Gra­phi­ken und der zahl­rei­chen wei­te­ren Bei­trä­ ge zum Buch­druck kor­res­pon­diert bei Hand­schrif­ten wie un­se­ren Nrn. 51 und 54 ein nüch­ter­ner Sinn für er­prob­te Bil­der. Pi­cho­res li­ne­a­re Prä­zi­si­on ist so­mit nicht nur aus den tech­ni­schen Ge­ge­ben­hei­ten zu er­ klä­ren, son­dern prägt den Stil des Ent­wer­fers; da­ge­gen hebt sich der ma­le­ri­sche Sinn so­ wohl des Ma­lers von Mart­ain­ville 183 wie auch des Petr­arca-Meis­t ers ab; und man könn­ te viel­leicht doch wie­der zu dem Punkt zu­rück­keh­ren, die­se bei­den Grup­pen ge­gen das zu ver­ei­nen, was heu­te Jean Pich­ore zu­ge­schrie­ben wird. Doch da­für ist die Zeit im Mo­ ment nicht reif. *** Auf das Stun­den­buch für Ka­tha­ri­na von Ar­agon, Nr. 47, folgt hier mit Nr. 48 ein Werk, des­sen Mi­ni­a­tu­ren und Bor­dü­ren ge­ra­de­zu ei­nen Bo­gen von der frü­hes­t en Re­nais­sance in der fran­zö­si­schen Buch­ma­le­rei hin zur Zeit um 1500 schla­gen: Vom For­mat, dem Bil­der­reich­tum und dem Rand­schmuck her schließt die­ses nicht vor 1461 im Buch­block ge­schrie­be­ne Ma­nus­kript, das dem Ge­brauch von Rom folgt, an die so­ge­nann­ten Klei­nen Stun­den­bü­cher des Jo­uve­nel-Krei­ses aus der Mit­te des 15. Jahr­hun­derts an. 61 Auch wenn der Ka­len­der eher auf Pa­ris deu­tet, wur­den die ers­ten fünf Bil­der eben­so wie ei­ni­ge Mi­ ni­a­tu­ren zu den Suf­fra­gien von zwei si­cher nicht Pa­ri­ser Buch­ma­lern ge­schaf­fen, die noch un­ge­nü­gend erf­aßt sind. Sie grei­fen Im­pul­se auf, die Jean Fou­quet nach sei­ner Rück­kehr aus Ita­li­en Künst­lern an der Loire so­wie in Bour­ges und Poi­tiers ver­mit­telt hat; so ge­rät der jun­ge Georges Tru­bert in un­ser Vi­sier. 57

Zu die­sem Haupt­werk der so­gen. École de Rou­en: Kö­nig 1978, S. 181–189; un­ser Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter IV, 1992, S. 18 und 26; Av­ril und Reyn­aud 1993, Nr. 237; Zöhl 2007, pas­sim.

58

Pa­ris, BnF, NAL 3027: Lero­quais 1943, Nr. 1, Kö­nig 1978, S. 163–179; Av­ril und Reyn­aud 1993, Nr. 238; Zöhl 2007, pas­ sim.

59 ­Prob­le­ma­tisch ist die­se Ver­kür­zung, weil die­ser Not­na­me schon für den Ent­wer­fer be­deu­ten­der Augs­bur­ger Gra­phik etwa der glei­chen Zeit be­nutzt wird: Wal­ther Schei­dig, Die Holz­schnit­te des Petr­arca-Meis­ters zu Pet­rar­cas Werk : von der Art­zney bay­der Glück des gu­ten und wi­der­wär­ti­gen – Augs­burg 1532. Ber­lin 1955. 60 Kö­nig im Kom­men­tar­band 1978, Plum­mer im Aus­st.-Kat. The Last Flowe­ring 1982, wir schließ­lich noch in Leuch­ten­des Mit­ tel­al­ter IV, 1992, zu Nr. A., S. 28 f., die hier als Nr. 48 wie­der­kehrt. 61

Die­sen Be­g riff präg­te Kö­nig 1982, S. 56–68.

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Einleitung

Die Mehr­zahl der Mi­ni­a­tu­ren in Nr. 48 hat ih­ren Platz hin­ge­gen in die­sem letz­ten Band von Pa­ris mon amour di­rekt nach dem Stun­den­buch für Ka­tha­ri­na von Ar­agon: Um 1500 hat der Mart­ain­ville-Meis­t er die Aus­ma­lung voll­en­det. Die­sen er­staun­li­chen Künst­ler zeich­net eine pro­fun­de Bild­phan­ta­sie aus. Am in­ten­sivs­t en wid­me­te er sich der Pas­si­on Chris­t i: Bei der Be­bil­de­rung von Nr. 47 hat­te sich die­se Nei­gung von den un­ge­wohn­ten Sze­nen zum Jo­han­nes­t ext bis zur Kreuz­tra­gung ge­stei­gert, die er auf ei­ner Dop­pel­sei­te aus­brei­te­te. Das­sel­be The­ma wird in der klei­nen Kopf­mi­ni­a­tur in Nr. 48 ein­drucks­voll auf we­ni­ge Fi­gu­ren in der äl­te­ren Ikono­grap­hie kon­zent­riert. Dem­sel­ben Grund­kon­zept, bei dem das Kreuz wie in un­se­rer Nr. 48 mit dem Stamm nach vorn ge­rich­tet ist, folgt auch die Kreuz­tra­gung in Nr. 50. Doch wäh­rend sich Chris­ tus in der klei­ne­ren Mi­ni­a­tur um­blick­te, schrei­tet er auf fol. 29v nun mit dem Kreuz über der Schul­ter ener­gisch nach rechts, wo auf der Buch­sei­te ge­gen­über (fol. 30) das­sel­ be Kreuz hoch auf­ge­rich­tet, aber wie nach der Kreuz­ab­nah­me schon wie­der ver­las­sen, steht, von den Arma Chris­t i um­ge­ben. Das Ne­ben­ei­nan­der der bei­den Kreu­ze ist nicht als fil­mi­sche Ab­fol­ge zu ver­ste­hen; denn dem Künst­ler geht es nicht um Er­zäh­lung; viel­mehr will er wie kein an­de­rer Buch­ma­ ler sei­ner Zeit Me­di­ta­ti­on an­re­gen. Um uns beim Be­trach­ten ein­zu­be­zie­hen, spielt er in sei­nen wich­tigs­t en Mi­ni­a­tu­ren mit der Ho­ri­zont­hö­he: In­dem er bei­spiels­wei­se in Nr. 49 Bath­seba im Bade mit ih­rer Kopf­hö­he auf den Ho­ri­zont ein­stellt, schafft er eine ge­ wis­se In­ti­mi­tät; bei der Kreu­zi­gung aber, die dort die Kreuz­tra­gung er­setzt, läßt er uns gleich­sam aus der Frosch­pers­pek­ti­ve auf­schau­en – ein be­mer­kens­wer­tes Be­kennt­nis zur Re­nais­sance. *** Für den Re­nais­sance-Men­schen Oc­to­vien de Saint-Ge­lais be­stimmt war das Bre­vier Nr. 51; und soll­te es der jun­ge Prä­lat nicht selbst be­zahlt ha­ben, dann war es eher ein Ge­ schenk vom Kö­nigs­hof Karls VIII . in Amb­oise als eine Gabe vom Hof des Charles d’Ang­oulême in Co­gnac, dem der Dich­ter fa­mi­li­är ver­bun­den war. So frisch, wie das Ma­nus­kript aus der Zeit, als Oc­to­vien noch um sein Amt kämpf­te, er­hal­ten ist, läßt es er­ken­nen, daß der Be­sit­zer in sei­nen Amts­jah­ren wohl nicht eif­ri­ger ge­be­tet hat als an­ de­re gro­ße Prä­la­ten sei­ner Epo­che. Die klar kon­zi­pier­ten gro­ßen Mi­ni­a­tu­ren ver­ra­ten den­sel­ben Geist, der die Ent­wür­fe für ge­druck­te Stun­den­bü­cher prägt. Be­son­ders ein­drucks­voll ist beim Psalm 68 (Sal­vum me fac) die ra­di­ka­le Um­kehr von der ge­wohn­ten Ikono­grap­hie: Statt zu zei­gen, wie dem Psal­ mis­t en „das Was­ser zum Hal­se steht“, er­hält Da­vid die Kraft, mit ei­nem stol­zen Schim­ mel über die Wäs­ser hi­nü­ber­zu­set­zen, wohl als Er­mun­te­rung für den jun­gen Be­sit­zer, der nur aus Krank­heits­grün­den zum geist­li­chen Amt ge­strebt hat­te. Die Stun­den­bü­cher Nr. 52 bis 54, die an die­ses his­t o­risch und äs­t he­tisch ge­wich­ti­ge Bre­ vier an­schlie­ßen, do­ku­men­tie­ren den Nach­druck, mit dem sich das An­ti­qua­ri­at Ten­ schert glei­cher­ma­ßen um die Er­for­schung der ge­druck­ten Stun­den­bü­cher und der Buch­ ma­ler küm­mert, die an de­ren Be­bil­de­rung und Aus­ma­lung be­tei­ligt wa­ren. In Nr. 52

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Einleitung

wer­den für ge­druck­te Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher be­son­ders cha­rak­te­ris­t i­sche Bil­der wie der Schmer­zens­mann vor den Arma Chris­ti und die Im­ma­cul­ata mit den Bei­wor­ten der Jung­fräu­lich­keit so­wie die über zwei Bild­sei­ten ver­teil­te Be­geg­nung der Drei Le­ben­den und Drei To­ten wie­der­holt. Wie stark in den Jahr­zehn­ten um 1500 mit Kon­zep­ti­o­nen zur Be­bil­de­rung ge­run­gen wur­de, zei­gen in Nr. 52 die un­ter­schied­li­chen Ar­ten von Bil­dern – von der ganz­fig­u­ri­ gen Dar­stel­lung in Voll­bor­dü­re, der Kopf­mi­ni­a­tur in tra­di­ti­o­nel­lem Rand­schmuck zum Klein­bild mit aus­drucks­vol­ler Halb­fi­gur, ne­ben de­nen es hier wie in manch an­de­rem Stun­den­buch ganz­sei­tig an­ge­leg­te Ma­le­rei­en mit Text­fel­dern in Re­nais­sance-Ädik­ulen gibt. Bor­dü­ren sind in sol­cher Buch­ma­le­rei nicht mehr selbst­ver­ständ­lich: Bei den klei­ nen Mi­ni­a­tu­ren fällt der Rand­schmuck weg. Of­fen­bar tum­mel­ten sich in Pa­ris die un­ter­schied­lichs­t en Buch­ma­ler, eine gan­ze An­zahl von ih­nen war an Nr. 52 be­tei­ligt: Jean Co­ene und den Meis­t er der Phili­ppa von Gel­dern ken­nen wir gut; an­de­re wie der Ma­ler, der den wun­der­ba­ren Da­vid ge­malt hat, tau­chen auf, ohne daß man sie an­ders­wo noch ein­mal fän­de. Er­staun­lich ist, daß Jean Pich­ore nur klei­ne, je­doch bril­lan­te Bil­der über­nom­men hat. Grau­zo­nen der Zu­schrei­bung er­ge­ben sich bei Nr. 53 und 54. Bei der präch­ti­gen Nr. 54 kam es of­fen­bar wie so oft zum Wunsch, ein be­reits nach gu­tem Brauch be­bil­der­ tes Ma­nus­kript noch ein­mal durch ganz­sei­ti­ge Mi­ni­a­tu­ren auf ein­ge­schal­te­ten Blät­tern auf­zu­wer­ten. Da­durch wur­de zum An­fang des Jo­han­nes-Evan­ge­li­ums aus der Ge­ne­sis der Sün­den­fall ge­stellt; die Ver­mäh­lung der Jung­frau steht nun vor der Ver­kün­di­gung, die Gei­ße­lung vor der Kreu­zi­gung, und die Ge­schich­te von Da­vid und Bath­seba, die zu­ nächst nur durch den Urias­brief als Kopf­bild an­ge­deu­tet wur­de, er­hält in der pracht­ vol­len Gar­ten­sze­ne die für die­se Epo­che so wich­ti­ge Akt­dar­stel­lung. Bei die­sen Er­gän­ zun­gen spiel­te kei­ne Rol­le, daß zur To­ten­ves­per der in­te­res­san­tes­t e Teil des Kopf­bil­des, die Höl­len­qual des Rei­chen, noch ein­mal im grö­ße­ren For­mat text­los wie­der­holt wur­de. *** Pa­ris war schon durch die Uni­ver­si­tät seit Jahr­hun­der­ten ein Ort ge­we­sen, an dem Schrei­ ber und Buch­ma­ler aus den un­ter­schied­lichs­t en Re­gi­o­nen der la­tei­ni­schen Welt zu­sam­ men­ka­men. Lan­ge be­vor sich in an­de­ren Städ­ten Lai­en ins Buch­we­sen ein­misch­ten, gab es an der Sei­ne Buch­ma­ler, die nicht dem geist­li­chen Stand an­ge­hör­ten und au­ßer­halb von Klös­t ern ar­bei­te­ten. 62 Ne­ben den von der Sor­bonne kont­rol­lier­ten Be­rei­chen blüh­te eine Buch­kul­tur, die ohne stren­gen kor­po­ra­ti­ven Zwang ar­bei­ten konn­te. Vor al­lem aus nörd­li­chen Ge­bie­ten stamm­te manch ei­ner, der in Pa­ris sein gu­tes Aus­kom­men fand; und man wird an­neh­men dür­fen, daß be­stimm­te Fa­mi­li­en, die ein­mal in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt Fuß gef­aßt hat­ten, über Ge­ne­ra­ti­o­nen eine Art pied à terre an der Sei­ne un­ ter­hiel­ten.

62

Sie­he Fran­çois Av­ril, À quand re­mont­ent les pre­mi­ers ate­li­ers d’en­lu­mine­urs la­ïcs à Pa­ris, in: Dos­si­ers de l’arc­héolo­g ie 16, 1976, S. 36–44.

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Einleitung

Die Quel­len­la­ge ist schüt­ter; das gilt auch an­ge­sichts der jahr­zehn­te­lan­gen Be­mü­hun­gen von Mary und Ri­chard Ro­use, die er­hal­te­nen Do­ku­men­te zu sich­ten und das für die Ge­ schichts­schrei­bung Ent­schei­den­de zu Tage zu för­dern. So lie­gen nun seit dem Jahr 2000 zwei ge­wich­ti­ge Bän­de vor, die uns Kunst­his­t o­ri­ker durch die Dich­te der Quel­len­kennt­ nis be­schä­men, die aber kei­nes­wegs al­les er­fas­sen, was in Pa­ris ge­schah. Zu­dem en­den die bei­den Rou­ses mit der Zeit um 1500, in der un­ser Band IV erst ein­setzt. Gern nutzt man heu­te den da­durch ge­ho­be­nen Schatz, um sich ge­gen Ver­su­che ab­zu­ schot­ten, doch noch den ei­nen oder an­de­ren Na­men in die Dis­kus­si­on ein­zu­brin­gen. 63 Dann heißt es nur, der Name kom­me bei den Rou­ses nicht vor – mit Aus­nah­me von Fran­ çois Le Bar­bier dem Jün­ge­ren, der sich ge­gen ei­nen sol­chen Ein­wand durch­ge­setzt hat.64 So er­ging es un­se­rem Con­rad von Toul (Bd. I, Nr. 11–13); und so auch dem Buch­ma­ler, von dem nun die Rede sein soll: Jean Co­ene.65 Wir ge­ben gern zu: Die Rou­ses er­wäh­nen nur den be­rühm­te­ren Jacques Co­ene,66 der im Juli 1398 ei­ni­ge Re­zep­te zur Buch­ma­le­rei dem Al­cherius mit­ge­teilt ha­ben soll, die dann auch von Jean Lebè­gue tra­diert wur­den.67 Ihm ist an der Frau­en­kir­che von Brüg­ ge eine Ta­fel ge­wid­met, weil er in Mai­land für die Dom­bau­hüt­te un­ter Gio­vann­ino dei Grassi ge­ar­bei­tet hat.68 1407 ist er noch ein­mal in Pa­ri­ser Diens­t en für Jacques Ra­ponde nach­weis­bar; 1411 wird er ge­stor­ben sein. Ob er der Bouc­ic­aut-Meis­t er war, steht schon des­halb da­hin, weil da­ne­ben der Ma­za­rine-Meis­ter auf­ge­tre­ten ist (Bd. I, Nr. 5 und 6). Für Al­bert Châ­te­let ist er der Ma­ler der Ma­rien­krö­nung, den man auch nach den Clè­res fe­mmes für Phi­lipp den Küh­nen von Bur­gund nennt. 69 Der­sel­be Nach­na­me ist in den gol­de­nen Rah­men ei­ner Kreu­zi­gung ge­ritzt, die von Blatt­räu­bern aus ei­nem bis­her nicht iden­ti­fi­zier­ten Meß­buch ge­metz­gert wur­de: de jos co­ene.70 Da der eng mit Kuhn oder Co­hen ver­wand­te Name im christ­li­chen Kon­text ja nicht sehr häu­fig ist, wür­de es uns wun­dern, wenn zwi­schen Jacques Co­ene ( Ja­kob Kuhn) und Jos (eher Jo­han­nes als Jod­ocu­s71) kei­ne fa­mi­li­ä­re Ver­bin­dung be­stün­de. Die fran­zö­si­ 63

Da­bei be­zieht man sich auf das sehr nütz­li­che Re­g is­t er in Bd. II , S. 11–146.

64 Ro­use und Ro­use 2000, S. 29, tei­len nur zum äl­te­ren Trä­ger des Na­mens mit, was in knapp 8 Zei­len zu sa­gen ist. Es ist we­ der ih­nen noch Ma­thieu Deldi­que vor­zu­wer­fen, daß wir durch Deldi­que über Va­ter und Sohn nun er­heb­lich mehr wis­sen: L’en­lu­min­ure à Pa­ris à la fin du xve siè­cle: Maî­tre Fran­çois, le Maî­tre de Jacques de Be­san­çon et Jacques de Be­san­çon ident­ ifiés?, in: Re­vue de l’art 183, 2014, S. 9–18. 65

So heißt es bei Cous­seau 2016, S. 78: „bien qu’on n’ait au­cun témoig­na­ge sur la pré­sence à Pa­ris d’un mem­bre de cette fa­mil­le de pein­tres bruge­ois à cette épo­que“

66 Ro­use und Ro­use 2000, S. 56 f. 67

Mary Ph. Mer­ri­field, Ori­g i­nal Treati­ses in the Arts of Pain­ting, 2 Bde., Lon­don 1849; ND New York 1967, S. 259–279.

68 Sie­he auch den son­der­ba­ren Ver­weis auf Mai­län­der Ar­chi­tek­tur in dem wie­de­rum sti­lis­t isch ab­wei­chen­den Lon­do­ner Ale­ xan­der, BL , Ro­yal 20 B xx: Ul­rich Hein­ritz, Eine Über­le­g ung zu Jacques Co­ene. In: Zeit­schrift für Kunst­ge­schich­te 56, 1993, S. 113–115. 69

Châ­te­let 2000, S. 108–110 und pas­sim.

70

Das Blatt stammt aus ei­nem nicht iden­ti­fi­zier­ten Meß­buch in Quart­for­mat und be­fin­det sich in un­se­rem Be­sitz. Wir ha­ben es 1997 am Ende des 1. Ban­des der Neu­en Fol­ge von Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter (Boc­ca­ccio und Petr­arca in Pa­ris) auf S. 320 zum ers­t en Mal be­kannt ge­macht, sie­he dort auch S. 306–309.

71

Im In­ter­net taucht zu­wei­len auf, wir sprä­chen von Jos­se Co­ene.

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EinLeiTUnG


Einleitung

Diptychon aus einem Missale mit Signatur „de Jos Coene“


Einleitung

sche Li­te­ra­tur72 be­steht für den klar er­kenn­ba­ren Stil auf der un­glück­li­chen Be­zeich­nung Maî­tre des Ent­rées pa­ri­sien­nes. Da­ne­ben geis­tert ein zwei­ter Not­na­me durch die Li­te­ra­ tur: Man spricht auch vom Meis­t er der Be­gräb­nis­fei­er­lich­kei­ten der Anne de Bre­tag­ne; die er­hal­te­nen Ma­nus­krip­te die­ses Be­richts von Pi­erre Cho­que aber schei­nen uns viel zu un­ein­heit­lich für eine sti­lis­t i­sche De­fi­ni­ti­on.73 Ei­nes geht im­mer­hin aus die­sen Be­mü­hun­gen um ei­nen Not­na­men her­vor: Der Stil, um den es hier geht, war in den Zei­ten, da Anne de Bre­tag­ne 1514 starb und ihre Toch­ter als Ge­mah­lin von Kö­nig Franz I. fei­er­lich in Pa­ris ein­zog, gut ge­nug für of ­fi­zi­el­le Auf­trä­ge für Kö­ni­gin­nen. Mit Ver­gnü­gen ver­kün­den wir des­halb er­neut, daß wir den Na­men für die­sen Stil ken­nen: Es wird sich um den vier­ten Jean Co­ene in ei­ner Ge­ne­ra­ti­o­nen­fol­ge han­deln, in de­ren Ver­lauf si­cher der in die­ser Epo­che ge­läu­figs­t e Vor­na­me im­mer ver­ wandt wur­de; des­halb ha­ben wir zu­wei­len von Jean IV Co­ene ge­spro­chen. Da­bei wen­ det sich das Ar­gu­ment, das man ge­gen un­se­re von ei­ner im­mer­hin sig­nier­ten Mi­ni­a­tur be­stimm­ten Na­mens­nen­nung vor­bringt, ge­gen die Kri­ti­ker: Wer sagt, ein Name kön­ne nur gel­ten, wenn zeit­ge­nös­si­sche Quel­len ihn nen­nen, muß sich fra­gen, wo die Un­ter­la­ gen zur Aus­ma­lung der Ent­rées und der Funé­rail­les ge­blie­ben sind. Der durch den hun­dert Jah­re frü­he­ren Jacques Co­ene an­ge­reg­te Be­zug zu Brüg­ge führt frei­lich bei un­se­rem Pa­ri­ser Buch­ma­ler der Zeit um 1500 nicht sehr weit. Die hel­le Far­ big­keit bin­det Jean Coe­nes Mi­ni­a­tu­ren zu­rück an die Le Bar­bier; Wur­zeln in äl­te­rer Pa­ri­ser Kunst könn­te man viel­leicht bis zu dem in­zwi­schen als Phi­lip­pe de Ma­zer­ol­les er­kann­ten Meis­ter des Har­ley Frois­sart (sie­he hier Nr. 18 in Band I) zu­rück­ver­fol­gen. So­mit ver­tritt un­ser Jean Co­ene sicht­lich Pa­ri­ser Ei­gen­art. Im De­ko­ra­ti­ven aber folgt er dem Ge­schmacks­wan­del um 1500: Statt der zier­li­chen spät­go­ti­schen Rah­men der Le Bar­bier schätzt er den ge­ra­de in der Haupt­stadt auf­blü­hen­den Re­nais­sance-De­kor als Bor­dü­ren­er­satz. Ver­gli­chen mit dem Tem­pe­ra­ment des Mart­ain­ville-Meis­t ers wirkt Jean Co­ene zu­rück­ hal­tend, auf das Rich­ti­ge und Ge­wohn­te be­dacht. Doch auch ein Buch­ma­ler mit be­schei­ de­ne­rem Tem­pe­ra­ment kann zu ein­drucks­vol­ler Pracht fin­den: Das zeigt un­se­re Nr. 56, das Stun­den­buch für die Gir­aud de Pran­gey-Esc­erta­ines in Lang­res. Hin­ge­gen ver­tritt die spar­sa­mer auf­ge­mach­te Nr. 57 in sym­pa­thi­scher Art ei­nen Typ ein­fa­cher Buch­ge­ stal­tung, der auf dem von ge­druck­ten Stun­den­bü­chern zur Ent­ste­hungs­zeit ge­ra­de­zu über­schwemm­ten Pa­ri­ser Markt er­staunt. Of­fen­bar blieb ein Sinn für das Alt­be­kann­te le­ben­dig; das zeigt schon der Ein­satz von Text­ura; und dann tri­um­phiert doch der neu­ ar­ti­ge Re­nais­sance­de­kor! ***

72 ­Nach den Ent­rées der Kö­ni­g in Claude de France, fr. 5750 der BnF: Isa­bel­le Del­aunay, Le Maî­tre des ent­rées pa­ri­sien­nes, in: Art de l’en­lu­min­ure 26, 2008, S.52–61. 73

Zu dem ge­sam­ten Kom­plex sie­he: Jean-Luc Deuf ­fi c (Hrsg.), „ Qu’il me­cte ma po­vre ame en cél­es­te lum­ière“. Les funé­rail­les d’une rei­ne: Anne de Bre­tag­ne (1514). Tex­tes, images et ma­nusc­rits, Pe­cia 15, 2012.

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Einleitung

Ab­seits der gro­ßen Wege be­geg­nen in un­se­rem Be­stand be­mer­kens­wer­te Lö­sun­gen: Vom Meis­ter des Go­tha­er Stun­den­buchs und sei­nem Kreis stammt Nr. 58. Schon in den 1470er Jah­ren hat­te Jean Col­ombe im Stun­den­buch des Lou­is de Laval, la­tin 920 der Pa­ri­ ser Na­ti­o­nal­bib­li­o­thek, ei­nen Ge­dan­ken ener­gisch wei­ter­ver­folgt, der wohl zu­erst in den be­rühm­ten Bed­ford Hours der Bri­tish Lib­rary, Add. Ms. 18850, aus dem 2. Jahr­zehnt zu fin­den ist:74 Alle Text­sei­ten ver­sah Col­ombe nicht nur mit ei­nem durch­lau­fen­den Zyk­lus von Rand­bil­dern, son­dern er­läu­ter­te die­se auch wort­reich.75 Das ge­schieht hier eben­falls. Nun könn­te man mei­nen, um 1500 habe man sich für sol­che Se­ri­en ein­fach an ähn­lich kom­men­tier­ten Rand­bil­dern in ge­druck­ten Stun­den­bü­chern ori­en­tiert. Im­mer­hin gab es dort, wie dies un­ser Ka­ta­log Horae do­ku­men­tiert, Rand­bil­der in Hül­le und Fül­le.76 Doch ver­steht sich die Aus­stat­tung von Nr. 58 nur in Ana­lo­gie zum Buch­druck; denn die Se­rie der Vor­fah­ren Chris­t i gibt es dort nicht, wohl aber den To­ten­tanz; doch auch der bleibt in un­se­rem Ma­nus­kript for­mal ei­gen­stän­dig. Un­ser Bei­spiel zeigt, wie im hand­ ge­schrie­be­nen Stun­den­buch ge­ra­de mit Blick auf die Kon­kur­renz von Sei­ten des Buch­ drucks die kre­a­ti­ve Mög­lich­keit le­ben­dig blieb, mit der Schrei­ber und Ma­ler al­ter­na­ti­ve Pro­gram­me ent­wi­ckeln konn­ten. Zum Fort­schritt in der Buch­ge­stal­tung ge­hört bei Nr. 58 die Re­duk­ti­on des Um­fangs; sie wird er­reicht durch er­höh­te Zei­len­zahl mit recht klei­ner Schrift in Di­men­si­o­nen, die ge­ druck­te Stun­den­bü­cher nur sel­ten er­rei­chen. Zum glei­chen Buch­typ ge­hört Nr. 59; und wie­der bie­tet die Ar­beit per Hand eine Chan­ce für Be­bil­de­rung, wie sie so im Buch­druck nicht vor­kommt: Wäh­rend die in­halt­li­che Aus­rich­tung der in Nr. 58 ganz re­gel­mä­ßig ein­ge­setz­ten Bil­der der Vor­fah­ren Chris­t i und des To­ten­tan­zes sehr gut zur strik­ten Or­ ga­ni­sa­ti­on der Dru­cker paßt, herrscht bei der Be­rei­che­rung von Nr. 59 durch Rand­bil­ der ein frei­es Spiel: Ein the­ma­ti­sches Kon­zept wird nur auf den we­ni­gen Sei­ten mit der Jo­han­nes­pas­si­on ver­folgt, wo Sta­ti­o­nen der Pas­si­on in klei­ne Rand­bil­der ne­ben den Text ge­setzt sind. Viel­leicht hat­te man für das Ma­rien­of ­fi­zi­um zu­nächst ähn­li­che Plä­ne; denn in den Bor­dü­ren der ers­t en Lage wird, nun je­doch un­ter dem Text­spie­gel, auf je­der Sei­te ein Feld frei­ge­las­sen, das aber nicht mit from­men Dar­stel­lun­gen ge­füllt wur­de, son­dern mit mun­te­ren Gro­tes­ken ei­ner of­fen­sicht­lich ganz vom Text frei­en Phan­ta­sie. Of­fen­bar soll­ten noch mehr sol­che an­mu­ti­gen Land­schaf­ten ge­malt wer­den, in de­nen son­der­ba­re Halb­we­sen, viel­leicht in As­so­zi­a­ti­on zu Tier­fa­beln auf­tau­chen;77 doch blie­ben bei die­ser Ar­beits­kam­pag­ne ei­ni­ge Fel­der leer, die man schließ­lich mit Bor­dü­ren­schmuck ge­füllt hat.

74

Wie Kö­nig 2006 im Kom­men­tar zum Fak­si­mi­le er­läu­tert, stam­men die Er­läu­te­run­gen zu den zu­nächst un­be­schrif­te­ten Bil­ dern vom Leib­arzt und Er­zie­her Kö­nig Hein­richs VI . und wur­den ge­schrie­ben, als das Ma­nus­kript dem am 16. De­zem­ber 1431 in der Pa­ri­ser Not­re-Dame ge­krön­ten Kna­ben ge­schenkt wur­de.

75

Sie­he dazu in Kür­ze den im we­sent­li­chen von Chris­t i­ne Sei­del verf­a ß­ten Kom­men­tar zum Fak­si­mi­le des Ver­lags Siloe. Eine vor­züg­li­che Über­sicht der Bil­der bot be­reits Lero­quais 1927, Nr. 6, vor al­lem S. 17–29.

76

Sie­he die zwei chro­no­lo­g i­schen In­di­ces in Horae ix, 2015, S. 4137–4153, so­wie den da­ran schlie­ßen­den er­hel­len­den Bei­trag von Ca­ro­li­ne Zöhl, die bril­lant die Vor­ge­schich­te die­ser Zyk­len ein­be­zieht: S. 4154–4218.

77 Das hat nichts mit den Land­schaf­ten im Stun­den­buch­druck zu tun, die als Zyk­lus für Bon­inus de Bo­ni­nis 1499 ge­schaf­fen wur­den: Horae ix, S. 4148.

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Einleitung

Er­öff­net wird der Band mit ei­nem ein­zig­ar­ti­gen Ka­len­der: Wie­der wird Platz ge­spart; nun ste­hen so­gar zwei Mo­na­te auf ei­ner Sei­te; die An­ga­ben er­schei­nen je­doch auf Gold­ grund, um­ge­ben mit ein­drucks­vol­len Bil­dern aus dem Jah­res­lauf und dem Zo­diak. Die­ se Bil­der zeu­gen von ei­nem Ma­ler, den man mit Rit­ter und La­fond 1913 der Schu­le von Rou­en zu­rech­ne­te, aber spä­tes­t ens seit 1993 für ei­nen Ver­tre­ter der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei hält; dazu paßt sei­ne Mit­ar­beit an Inku­na­beln und Früh­dru­cken, ins­be­son­de­re von Anth­oine Vér­ard. John Plum­mer hat ihn nach der fran­zö­si­schen Fas­sung der Vie du Christ des Lu­dolf von Sach­sen be­nannt, die 1506 für Phili­ppa von Gel­dern, die zwei­te Frau Her­zog Re­nés II . von Loth­rin­gen ge­schaf­fen wur­de.78 Die meis­ten Klein­bil­der im Text eben­so wie die Il­lust­ra­ti­o­nen zur Jo­han­nes­pas­si­on stam­men hin­ge­gen von ei­nem uns schon durch die Nrn. 43, 44 und 45 in Bd. III von Pa­ris mon amour ver­trau­ten Ma­ler, der für den Pa­ri­ser Bi­schof Étienne Pon­cher (1464–1525) ge­ar­bei­tet hat. *** Noch ei­nen wei­te­ren Stil­kreis, der ge­ra­de erst in den kunst­his­t o­ri­schen Blick ge­ra­ten ist, er­schließt die­ser Ka­ta­log mit den Nrn. 60 bis 62: Die Ma­le­rei­en stam­men aus dem Ate­li­er von Étienne Col­aud. Um 1527 ent­stan­de­ne Hand­schrif­ten der Sta­tu­ten des Mi­ cha­els­or­dens für Franz I. wa­ren der Aus­gangs­punkt für die 2016 post­hum er­schie­ne­ne Dis­ser­ta­ti­on von Ma­rie-Blan­che Cous­seau. Sie konn­te auch ein 1512 da­tier­tes und von Col­aud sig­nier­tes Stun­den­buch ein­be­zie­hen, das ihr erst sehr spät be­kannt wur­de und des­halb nicht aus­rei­chend in ihre Ar­gu­men­ta­ti­on ein­ge­bun­den wer­den konn­te.79 Cous­seau zeigt sich selbst et­was rat­los, wie weit Jean Pich­ore an dem – im Buch von 2016 lei­der nur mit we­ni­gen Ab­bil­dun­gen80 do­ku­men­tier­ten – sig­nier­ten Stun­den­buch be­tei­ ligt war. Von den er­hal­te­nen Exemp­la­ren der Sta­tu­ten des Mi­cha­els­or­dens81 läßt Cous­seau nur fr. 19815 als eine ei­gen­hän­di­ge Ar­beit Col­auds „d’une qua­lité bien sup­éri­eu­re“82 gel­ ten, wäh­rend für die an­de­ren – mit Aus­nah­me des Bellem­are zu­ge­schrie­be­nen Exemp­lars in Man­ches­t er – Be­grif­fe wie „Col­la­bo­ra­teur d’Étienne Col­aud“ und „Ex­écu­tant princi­ pal“ er­for­der­lich schei­nen. Col­aud er­scheint da­mit eher als Or­ga­ni­sa­tor für den kö­nig­li­ chen Auf­trag. So ha­ben wir wie so oft ei­nen Na­men zur Ver­fü­gung; zu ihm ge­hört ein ge­wis­ser Vor­rat an Bild­vor­la­gen und de­ko­ra­ti­ven Ent­wür­fen, die im sig­nier­ten Stun­den­buch von 1512 eben­so ge­nutzt wur­den wie in den drei nun von uns vor­ge­stell­ten Ma­nus­krip­ten: Nr. 60 ist ein voll­stän­dig er­hal­te­nes Stun­den­buch aus dem spä­ten 15. Jahr­hun­dert, das bald, nach­ dem es zum ers­ten Mal in die Hän­de von Buch­ma­lern ge­ra­ten war, un­be­ar­bei­tet lie­gen 78

Lyon, Bibl. mun., ms. 5125; Plum­mer in Aus­st.-Kat. New York 1982, Nr. 91–92; Av­ril und Reyn­aud 1993, Nr. 152.

79

Das Ma­nus­kript be­fin­det sich in Pri­vat­be­sitz: Cous­seau 2016, S. 91–94, knap­pe Be­schrei­bung S. 337 f. – ohne ir­gend­ei­nen konk­re­ten Hin­weis auf Ort und Zeit des Auf­tau­chens die­ses Ma­nus­kripts. Die Sig­na­tur fin­det sich am Texten­de un­ter dem förm­li­chen Expli­cit, das je­doch von Cous­seau, S. 397, nicht in wün­schens­wer­ter Klar­heit be­schrie­ben wird (es fehlt so­gar die Fo­lio-An­ga­be in die­sem 103 Blatt star­ken Stun­den­buch mit den Ma­ßen 132 x 78 mm.

80 ­Abb. 5–7 auf S. 92–93. 81 ­Sie­he die sehr nütz­li­che Fol­ge von XVII gleich­g ro­ßen Farb­ta­feln mit der kons­t i­tu­ie­ren­den Hof­sze­ne bei Cous­seau 2016, S. 160–176. 82

Cous­seau 2016, S. 147 zu Taf. IX .

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Von Et. Colaud signiertes Stundenbuch von 1513

Hauptmeiser der Statuten des Michaels-Ordens


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blieb. Um 1510 wird es zu Étienne Colaud gelangt sein, zu dessen frühen Arbeiten die Miniaturen gehören dürften. Ganz einheitlich ist hingegen Nr. 61 ausgemalt: Graphisch sind Figur und Landschaft als plastische Einheiten begrifen, eng mit dem von Étienne Colaud 1512 signierten Stundenbuch in Privatbesitz verwandt. Nr. 61 ist sehr reich bebildert, bietet neben 20 großen und 49 kleinen Bildern auch sechs historisierte Initialen. Die Arbeit per Hand erlaubt auch hier, teilweise Einzigartiges zu schafen: So wird man die Serie zu den Versen des heiligen Gregor sonst nirgendwo fin­ den; ebenso ungewohnt ist die Bebilderung der jeweils letzten Stunde, also der Komplet, der sonst nur zur Matutin bebilderten Horen von Heilig Kreuz, Heilig Geist und Emp­ fängnis Mariä. Während die Beterin in Nr. 61 anonym bleibt, wurde Nr. 62, wie bereits erläutert für Pierre Palmier, Erzbischof von Vienne von 1527 – 1555, geschrieben und ausgemalt. Diesem hohen Geistlichen genügte ofenbar der bei dem Pariser Buchmaler vorgefundene Vorrat an Motiven, die in graphischen Formen und klarem Kolorit, wie es den Maler kennzeichnet, vorgetragen sind. Da Pierre Palmier als Bischof gezeigt, ist sein Manuskript frühestens 1527 entstanden. Ein Vergleich mit dem etwa gleichzeitigen Frontisiz des von Cousseau bevorzugten Exemplars der Michaels-Statuten läßt an der für fr. 19815 behaupteten Qualität zweifeln. *** Mit Nr. 63 gelangen schließlich in die Endzeit der großen Buchmalerei; es ist ein schö­ nes Werk aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. 83 Hier hat sich der Manierismus Bahn ge­ brochen mit der italienisch geprägten Gewandung und der heftigen Bewegung; das ist Malerei, wie sie für die Zeit Heinrichs II . von Frankreich charakteristisch ist. Der verant­ wortliche Maler, der vielleicht mit Charles Jourdain identifiziert werden darf, hat wichtige Handschriften und Frühdrucke um 1550 bearbeitet, darunter das New Yorker Stundenbuch des Claude Gouffier, den Gouffier-Psalter im Arsenal und ein großformatiges Stun­ denbuch für denselben Auftraggeber, das heute über die Welt verstreut ist. 84 Er führt uns zu den Anfängen dieser Einleitung zurück; denn er hat zum sätesten Stundenbuch des Anne de Montmorency von 1551, heute in Chantilly, nicht weniger als fünf Miniaturen beigesteuert. 85 Dieser hinreißende Illuminator gehört zu den letzten großen Persönlich­ keiten der Buchmalerei überhaupt; seine Größe zeigt sich in unserem kleinen Stunden­ buch, in dem der Zauber seiner Kunst gerade in der räumlichen Beschränkung aufblüht. Besonders bemerkenswert sind dabei die manieristischen Züge, die sich in den Rahmen­ architekturen mit ihren großen Hermen am besten ausdrücken. Hier lebt ein von der Antike insirierter Sinn für das Nackte, das Faunische, der wenigstens punktuell in be­ merkenswerter Spannung zum religiösen Inhalt stehen kann. 83

Das Manuskript haben wir bereits in Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI , 2009, als Nr. 32 vorgestellt.

84 New York, Pierpont Morgan Library, M. 538: Ausst.Kat. von Roger Wieck, Painted Prayers, New York 1997, Nr. 42; Paris, Arsenal, Ms. 5095: Ausst.­Kat. Livres d’heures royaux, Écouen 1993, Nr. 9, und aus dem Manuskript großen Formats ehe­ mals bei Firmin­Didot, ebenda Nr. 14. 85

Chantilly, Musée Condé, Ms. 1476/1943, fol. 1v, 2, 13v, 52v und 58v: im Ausst.­Kat. L’art du manuscrit de la Renaissance en France, Chantilly 2001, Farbabb. auf S. 61.

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Katalog 61, Nr. 28: Albiac-Stundenbuch

Katalog 45, Nr. 28: Benigne Serre-Stundenbuch, 1524

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Einleitung

*** Wir ha­ben hier von Re­nais­sance und Ma­nie­ris­mus ge­spro­chen. Das wa­ren Epo­chen, die sich mit neu­em Ei­fer der Auf­ga­be wid­me­ten, den nack­ten Kö­per zu er­fas­sen. Vor­stu­ fen da­für gab es schon in der spät­go­ti­schen Buch­ma­le­rei. Er­staunt konn­ten wir in Band III auf die Dar­stel­lun­gen der Bath­seba im Werk des Ga­guin-Meis­t ers hin­wei­sen. 86 Das wird hier nun ge­stei­gert: Die aus der ers­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts ge­wohn­ten Bil­ der des bü­ßen­den Kö­nigs Da­vid, wie wir sie nur noch ver­streut – so in Nr. 52 – fin­den, wer­den von Bil­dern der Bath­seba im Gar­ten ver­drängt. Die weib­li­che Nackt­heit tritt vor pas­to­ra­ler Ku­lis­se in den Vor­der­grund; Da­vid selbst ist wie wir nur Zu­schau­er, oft weit ent­fernt und durch das Busch­werk, das der Vor­der­grund­sze­ne In­ti­mi­tät gibt, so­gar fast am Schau­en ge­hin­dert. Auch die be­schei­de­ne­ren Ta­len­te er­rei­chen er­staun­li­che Wir­kun­ gen; denn auch bei ih­nen bleibt es nicht wie in Nr. 59 bei ei­ner bie­de­ren Be­geg­nung zwi­ schen den an­ge­zo­ge­nen Leu­ten und der Nack­ten im Bade; da mag aus Bath­seba so­gar in Nr. 58 eine fast tän­ze­ri­sche Akt­fi­gur wer­den. Aus der Spät­zeit der fran­zö­si­schen Buch­ma­le­rei sind wir schon frü­her auf ver­schäm­te und dann wie­der un­ge­mein pa­cken­de Bil­der des The­mas ge­sto­ßen. Da ist an das scheue Bild im Stun­den­buch des Bénigne Ser­re aus Di­jon zu den­ken, wo schon die Knie aus­ rei­chen, um Da­vids Be­gier­de zu we­cken. 87 Am vir­tu­os­es­t en aber stei­gert sich die ma­nie­ ris­t i­sche Er­fas­sung des Lei­bes im Al­biac-Stun­den­buch.88 Im Stun­den­buch des Gouf ­fi er-Meis­t ers, Nr. 63, ist dann schließ­lich eine Leich­tig­keit er­ reicht, die nur noch be­zau­bert. Im zwei­ten Stun­den­buch des Anne de Mont­morency er­ reicht der Meis­ter des Fran­çois II de Ro­han bei die­sem The­ma eine be­son­de­re Grö­ße; doch im glei­chen Ma­nus­kript wird noch ein an­de­rer As­pekt der neu­en Akt­ma­le­rei vor Au­gen ge­führt; denn in der gan­zen Zeit, die uns hier be­schäf­tigt hat, wur­de auch der Kör­per des grei­sen Hiob stu­diert und zu­wei­len in er­grei­fend schö­ner Klar­heit von den Ma­lern ge­stal­tet. In ih­ren Be­mü­hun­gen um den Akt ori­en­tie­ren sich fran­zö­si­sche Buch­ ma­ler nach vie­len Sei­ten; es sind nicht im­mer nur die ita­li­e­ni­schen Vor­bil­der, die uns er­ stau­nen las­sen. In Nr. 54 wird plötz­lich ein Kup­fer­stich Dür­ers von Adam und Eva im Pa­ra­dies wirk­mäch­tig; und wenn man dann das gan­ze Ma­nus­kript durch­schaut, be­greift man schließ­lich, daß der Akt, der beim Ga­guin-Meis­ter si­cher ge­wagt war und auch ge­ wagt aus­se­hen soll­te, schon re­la­tiv früh bei ei­ni­gen un­se­rer Künst­ler zu neu­er Selbst­ver­ ständ­lich­keit fin­den konn­te: Das gilt für Bath­seba, die nun zum ers­ten Mal ganz nackt ist, aber auch für Ge­stal­ten wie den Rei­chen in der Höl­le; denn auch er war eine gro­ße He­raus­for­de­rung für Ma­ler, die noch nicht lan­ge ge­wohnt wa­ren, auf die vie­len schö­nen Dra­pe­ri­en ih­rer Fi­gu­ren zu ver­zich­ten. ***

86 Pa­ris mon amour III , Abb. S. 34. 87 Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter Neue Fol­ge III , 2000, Nr. 28, Abb. S. 481. 88 Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter Neue Fol­ge VI , 2009, Nr. 28, Abb. S. 480; Cous­seau 2016, Fig. 14 auf S. 141.

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Einleitung

Ein Bo­gen schließt sich, der mit 49 Jah­ren fast ge­nau ein hal­bes Jahr­hun­dert aus­macht von den Jah­ren um 1504 zum Li­li­en­ma­nus­kript von 1553. Pa­ral­lel zum er­staun­li­chen Auf­blü­hen des Stun­den­buchs im be­bil­der­ten Buch­druck, dem wir die neun Bän­de Ho­ rae ge­wid­met ha­ben, ha­ben Schrei­ber Au­ßer­or­dent­li­ches ge­leis­t et: Sie muß­ten sich mit neu­en Schrift­mo­den aus­ei­nan­der­set­zen und den Weg von der go­ti­schen Let­tre de for­me, also der Text­ura, und der Bast­arda über Va­ri­an­ten der Fere-hum­anis­tica zur An­ti­qua fin­den, die von ih­ren Prop­aga­to­ren, Hu­ma­nis­t en in Ita­li­en, gar nicht für Ge­bet­bü­cher ge­dacht war. Die Schrei­ber in Pa­ris hat­ten da­mit zu kämp­fen, ob denn der alte Hor­ ror va­cui wei­ter ihr Tun be­stim­men soll­te oder nicht doch auch mit­hil­fe leer ge­las­se­ner Zei­len äs­t he­ti­scher Reiz mit ei­ner klu­gen Füh­rung der Le­se­rin­nen und Le­ser ver­ein­bar war. Alte und neue Zier­buch­sta­ben und Zei­len­fül­ler stan­den in Kon­kur­renz zu­ei­nan­der. Die mit je­der Kost­bar­keit be­rei­cher­te Bor­dü­re, ein Tum­mel­feld der Phan­ta­sie, mu­ßte im Lau­fe des hal­ben Sä­kul­ums wei­chen: Ar­chi­tek­tur, die in ih­rer spät­go­ti­schen Zier­lich­ keit be­reits von Fran­çois Le Bar­bier Fils als Rah­mung ein­ge­setzt wor­den war, ver­dräng­te nun zu­neh­mend das Spiel aus Akant­hus und Blu­men auf kost­ba­ren Kom­par­tim­en­ten. Für die Bild­the­men blieb es, soweit nicht be­son­de­re He­raus­for­de­run­gen wie das Stun­ den­buch für Ka­tha­ri­na von Ar­agon ganz be­son­de­re Lö­sun­gen ver­lang­ten, beim Al­ten. Die Ma­ler stan­den in Kon­kur­renz zur Gra­phik, an der sie gern auch selbst et­was ver­ dien­ten – als Er­fin­der oder auch als Über­ma­ler, die frem­den Ent­wür­fen ihre ei­ge­ne Prä­ gung ga­ben. Trotz die­ser en­gen Be­zie­hung, die durch Jean Pi­cho­res Druck­le­gung ei­ge­ner Stun­den­buch­aus­ga­ben im Jahr 1504 glän­zend be­stä­tigt wird, blieb es doch bei mar­kan­ ten Un­ter­schie­den – man den­ke nur an den Um­stand, daß im hand­ge­schrie­be­nen Stun­ den­buch der Kin­der­mord von Beth­le­hem nur sehr sel­ten dar­ge­stellt wur­de, wäh­rend er im ge­druck­ten oft die in Pa­ris ge­wohn­te Flucht nach Ägyp­ten ver­drängt. *** Pa­ris war in dem hal­ben Jahr­hun­dert zwar wie­der Haupt­stadt des Kö­nig­reichs und blüh­ te als Met­ro­po­le ei­ner weit ver­zweig­ten Wirt­schaft auf; die Stadt zog fä­hi­ge Leu­te aus der gan­zen la­tei­ni­schen Welt an, pro­fi­tier­te von künst­le­ri­schen Ent­wick­lun­gen in Ita­li­en, in den Nie­der­lan­den und in den deutsch­spra­chi­gen Län­dern. Da­für ste­hen Künst­ler wie Noël Bellem­are aus Ant­wer­pen oder auch der süd­deutsch ge­präg­te Meis­t er des Fran­çois II de Ro­han, die un­se­ren Nrn. 64 und 65 ihr Ge­prä­ge ha­ben. Von den Kö­ni­gen wur­de die Stadt nicht ge­mie­den, aber eben doch nur be­sucht. Lud­wig XII . zeig­te das ge­rings­t e In­te­res­se an ihr in sei­nem Le­ben zwi­schen Blois, Amb­oise, Ro­ma­rin, Lyon und den An­ sprü­chen auf Mai­land. Si­cher gab es ge­wis­se An­sät­ze, den Louv­re, in dem Franz I. so­ gar Kai­ser Karl V. emp­fan­gen hat­te, wie­der zu ei­nem wür­di­gen Kö­nigs­schloß nach dem Ge­schmack der Zeit zu ma­chen. Die Bau­ar­bei­ten un­ter Franz I. blie­ben auf der Sei­neSei­te ste­cken; erst Hein­rich II . füg­te mit dem Kar­ya­ti­den­saal im re­prä­sen­ta­ti­ven neu­en Bau­trakt der frü­hen 1550er Jah­re ei­nen wür­di­gen Saal für herrsch­erli­che Re­prä­sen­tanz hin­zu. Gro­ße Ar­chi­tek­tur wur­de zu je­ner Zeit nicht in Pa­ris, son­dern im Loire­ge­biet und in den nörd­li­chen Rand­zo­nen der Haupt­stadt, in Éco­uen und Chan­tilly ge­baut.

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EinLeiTUnG

Katalog 82, Nr. 65


EinLeiTUnG

Stundenbuch von François Premier, Metropolitan Museum, N. Y.

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Stundenbuch Heinrichs II., Amiens, Einband (Rücken modern) und Doublüre


EinLeiTUnG

Katalog 82, Nr. 66, Einband und Doublüre


Einleitung

Ent­spre­chend hat­te die Li­te­ra­tur zu Bil­der­hand­schrif­ten auch die be­deu­ten­de Buch­ma­ le­rei weit­ge­hend aus Pa­ris aus­ge­schlos­sen. Gro­ße Buch­ma­le­rei un­ter Lud­wig XII . galt als „École de Rou­en“; sie ist mit dem Meis­ter von Mart­ain­ville und Jean Pich­ore in die Haupt­stadt zu­rück­ge­kehrt. In ih­rem un­glück­lich un­voll­en­de­ten For­schen hat Myra Orth das wahr­haft Gro­ße mit der so­ge­nann­ten 1520er Werk­statt an die Loire ver­set­zen wol­ len. Noch kurz vor ih­rem Tod mu­ßte sie wahr­neh­men, wie jün­ge­re Kol­le­gen viel für Pa­ ris zu­rück­ge­win­nen konn­ten. *** In un­se­rem Ka­ta­log wird man die er­staun­li­che künst­le­ri­sche Viel­falt be­wun­dern, mit der be­schei­de­ne­re und gro­ße Ta­len­te die Buch­ma­le­rei in Pa­ris zu ei­nem span­nen­den Feld der Aus­ei­nan­der­set­zung zwi­schen Tra­di­ti­on und Neu­e­rung, zwi­schen Orts­brauch und ei­ner aus al­ler Welt nach Pa­ris strö­men­den „Mo­der­ne“ mach­ten. Die­ser Um­stand sorg­ te dann auch da­für, daß es of­fen­bar für ehr­gei­zi­ge Auf­trag­ge­be­rin­nen und Auf­trag­ge­ber nichts Wün­schens­wer­te­res gab, als ein Buch aus Pa­ris für Lang­res, Ang­oulême, Vien­ne oder wo auch im­mer zu er­hal­ten. Ei­nen Pa­ri­ser Stil zu de­fi­nie­ren, ver­bie­tet die wahr­ haf­te Grö­ße die­ser ge­lieb­ten Stadt: Sie bot für zu vie­le be­gab­te Künst­ler He­raus­for­de­ run­gen und war des­halb der Ort, an dem die heh­re alte Kunst der Buch­ma­le­rei in Gold und Far­ben um 1550 im schöns­ten Sin­ne des Wor­tes ill­uminatio noch ein­mal ­ju­belnd auf­leuch­ten konn­te.

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47 Das Stun­den­buch der Ka­tha­ri­na von Ar­agon Als Ge­schenk von Kö­nig Lud­wig XII. und Anne de Bre­tag­ne (?) – Ein un­er­hört rei­ches Pa­ri­ser Ma­nus­kript vom Mart­ain­ville-Meis­ter mit Bei­trä­gen von Jean Pich­ore


Stun­den­buch. Horae B.M.V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Rub­ri­ken in Blau, mit ei­nem ­Ka­len­der in Blau und Rot, die Fes­te in Gold, in Bast­arda. Pa­ris, um 1504 – 1507: Mart­ain­ville-Meis­ter und Jean Pich­ore Von ein­zig­ar­ti­ger Bild­fül­le mit 114 Mi­ni­a­tu­ren, da­run­ter 60 ganz­sei­ti­ge oder gro­ße: ein dop­pel­sei­ti­ges (!) Bild ohne Text, 33 ganz­sei­ti­ge und 24 Bil­der über Inci­pits (15 über zwei, acht über drei und eine über vier Zei­len Text); ein Voll­bild mit dreiz­ei­li­gem Text­an­fang in der Bild­flä­che; 24 gro­ße Rand­bil­der zum Ka­len­der so­wie 31 Mi­ni­a­tu­ren am Texten­ de, da­von je eine 15- bzw. 13zei­lig, zwei 12zei­lig, vier 10zei­lig, je eine zu 9 und 8 Zei­len, zwei zu 7, drei zu 6, sechs zu 5, zwei zu vier, sechs zu 3 und zwei zu 2 Zei­len. Die Voll­bil­ der recht­e­ckig, in gol­de­nen Rah­men mit dem Text­an­fang oder Rub­rik im un­te­ren Rah­ men­stück, die be­bil­der­ten Inci­pits mit Ini­ti­a­len in der je­wei­li­gen Zei­len­hö­he, eine die­ser Mi­ni­a­tu­ren er­streckt sich über eine Dop­pel­sei­te; sechs von ih­nen ste­hen sich als Dop­pel­ sei­ten ge­gen­über; die Mi­ni­a­tu­ren mit Boge­nab­schluß in Voll­bor­dü­ren; die üb­ri­gen Bil­ der in drei­sei­tig von au­ßen um den Text­spie­gel ge­leg­ten Bor­dü­ren. Vier Text­sei­ten mit vierz­ei­li­gen Ini­ti­a­len aus Akant­hus auf Pin­sel­gold mit Blü­ten; zweiz­ei­li­ge Ini­ti­a­len der­ sel­ben Art für Psal­men­an­fän­ge; Psal­men­ver­se am Zei­len­be­ginn in auf­fäl­li­ger Wei­se ab­ wech­selnd als plas­ti­scher wei­ßer Akant­hus auf Gold und in fla­chem Pin­sel­gold auf Blau; der ge­sam­te Rand­schmuck in Kom­par­tim­ent-De­kor von un­er­hör­ter Viel­falt, mit blau­gol­ de­nem Akant­hus auf Farb­grün­den und Blu­men auf Pin­sel­gold; 50 Blät­ter sehr dicht be­ setzt mit gol­de­nen fle­urs de lis auf blau­em Grund, aber auch Spie­le­rei­en, in de­nen gro­ße fle­urs de lis mit Blu­men ge­füllt als Kom­par­tim­en­te ein­ge­setzt sind; dazu vie­le blaue Ja­ kobs­mu­scheln; die Mehr­heit der Text­bor­dü­ren mit gro­tes­ken Fi­gu­ren oder Schmet­ter­lin­ gen be­lebt. Die End­la­ge mit dem Rad Ka­tha­ri­nas in ei­ni­gen gold­grundi­gen Bor­dü­ren ähn­lich ge­stal­tet, aber im De­tail ab­wei­chend. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 212 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten ein Dop­pel­blatt Per­ga­ment als fes­tes und flie­gen­des Vor­satz. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, ohne Zä­su­ren vor Ma­ri­en-Matu­tin und Buß­psal­ men; von der Norm ab­wei­chend die um das ers­te Blatt er­gänz­te Ka­len­der­la­ge 1 (12+1), die um ein Blatt vor fol. 27 be­raub­te Lage 3 (8-1), Lage 5 (16! mit ver­stärk­tem Falz in der La­gen­mit­te), die um ein Blatt vor fol. 71 be­raub­te Lage 7 (8-1), das um ein Blatt vor fol. 85 be­raub­te Bi­fo­ lio Lage 8 (2-1), die aus einem Doppelblatt bestehende Lage 23 (fol. 205-206), und die End­ la­ge 24 (6). Rekl­aman­ten in der Text­schrift bis auf Par­ti­en des Ma­rien­of­fi­zi­ums re­gel­mä­ßig. Quart (200 x 133 mm; Text­spie­gel: 98 x 64 mm). Rot reg­liert zu 18 Zei­len in Text und Ka­len­der; die ers­te Text­la­ge (fol. 14-21) je­doch zu 19 Zei­len. Un­be­schnit­ten und farb­stark er­hal­ten. Spu­ren from­men Ge­brauchs fast aus­schließ­lich in den un­be­mal­ten Blatt­rän­dern, zu­mal die di­cken Farb­flä­chen der Bor­dü­ren dem ext­rem fei­nen Per­ga­ment un­ge­wöhn­li­ches Ge­wicht ge­ben. Bis auf drei Blatt voll­stän­dig. Gold­schrift im Ka­len­der zu An­fang von ei­nem Gold­schlä­ger be­ar­bei­tet.

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Katalognummer 47

Mo­dern ge­bun­den in Gold­fa­den-Da­mast mit Gra­nat­ap­fel­de­kor über Holz­de­ckeln, zwei Mes­sing­schlie­ßen, Gold­schnitt. Zur Pro­ve­ni­enz Die künst­le­ri­sche Aus­stat­tung der von vorn­her­ein un­ge­mein groß­zü­gig und bil­der­reich an­ge­leg­ten Hand­schrift er­folg­te in we­nigs­tens zwei Etap­pen, in de­nen of­fen­bar die Be­ deu­tung des Auf­trags wuchs. Nach­dem das Ma­nus­kript nach bes­tem Pa­ri­ser Brauch mit den ge­wohn­ten Mi­ni­a­tu­ren ver­se­hen war, ist die da­für ver­ant­wort­li­che Werk­statt noch ein­mal ein­ge­setzt wor­den, um in ei­nem zwei­ten Schritt alle am Ende vie­ler Tex­te leer ge­blie­be­nen Räu­me mit wei­te­ren Bil­dern oder we­nigs­tens de­ko­ra­ti­ven Strei­fen aus­ zu­ma­len. Ähn­lich ver­fuhr man im so­ge­nann­ten Bed­ford-Stun­den­buch, Add. Ms. 18850 der Bri­tish Lib­rary in Lon­don, wo he­ral­di­sche Hin­wei­se auf den Her­zog von Bed­ford in Rest­fel­dern Platz fan­den. In dem hier zu be­schrei­ben­den Stun­den­buch spielt die hei­li­ge Ka­tha­ri­na eine zent­ra­ le Rol­le: Zwar wur­de sie vom Schrei­ber in den Suf­fra­gien nicht an­ders als die an­de­ren Hei­li­gen be­han­delt, er­hielt je­doch schon in die­ser Par­tie des Bu­ches ein Zu­satz­bild­chen, das auf dem Ver­so ge­gen­über dem Text­an­fang Bruch­stü­cke ih­res Ra­des zeigt. Ka­tha­ri­na be­glei­tet im Bild zum Ma­rien­ge­bet Obse­cro te eine vor­neh­me Be­te­rin, die eine schwar­ ze Hau­be wie Anne de Bre­tag­ne trägt, je­doch an­ders als bei die­ser fran­zö­si­schen Kö­ni­ gin mit sicht­ba­ren blon­den Lo­cken. Bei­de Ge­stal­ten wa­ren von vorn­her­ein vor­ge­se­hen; doch zeigt ein deut­li­cher Stil­un­ter­schied, daß die Be­te­rin wie in we­ni­gen her­vor­ra­gen­den Stun­den­bü­chern am Über­gang zur Re­nais­sance (so im Stun­den­buch des Lou­is de Laval, la­tin 920 der BnF) von ei­nem an­de­ren Ma­ler als die Hei­li­ge ge­stal­tet wur­de: Der Hei­li­ gen Ka­tha­ri­na Ant­litz hat der Mart­ain­ville-Meis­ter ge­malt, der auch für die Ma­don­na und die sons­ti­ge Be­bil­de­rung des Ma­nus­kripts ver­ant­wort­lich war. Das Haupt der Be­ te­rin wird hin­ge­gen Jean Pich­ore aus­ge­führt ha­ben, des­sen Werk­statt auch die im Lay­ out ab­wei­chen­de letz­te Lage mit den Ho­ren der Emp­fäng­nis Mariä ge­stal­te­te, mit ei­nem Bild der Bei­wor­te der Jung­frau Ma­ria. Die Be­te­rin ist jung, aber schon ver­hei­ra­tet; und sie be­wahrt auf spek­ta­ku­lä­re Wei­se in ei­nem Fach ih­res Bet­pults eine gol­de­ne Kö­nigs­kro­ne auf! So­mit ist sie noch nicht als Kö­ni­gin, son­dern in Er­war­tung ei­ner kö­nig­li­chen Wür­de zu ver­ste­hen. An ver­schie­de­nen Stel­len hat man ihre Ge­stalt bei der zwei­ten Aus­stat­tungs­kam­pag­ ne in klei­nen Bil­dern am Ende grö­ße­rer Text­ab­schnit­te wie­der­holt und zwar in klei­nen Mi­ni­a­tu­ren, die Er­war­tung von Mut­ter­schaft und To­ten­kla­ge zum The­ma ha­ben: Vor dem Ad­vents­of ­fi­zi­um be­tet sie am Fußen­de ei­nes Bet­tes, auf dem die schwan­ge­re Ma­ ria in ei­ner sonst ganz und gar un­be­kann­ten Sze­ne liegt (fol. 100v). Auf ei­nem Fried­hof kniet die Be­te­rin am Ende der Li­ta­nei vor dem To­ten­of ­fi­zi­um (fol. 138v), von ei­ner jün­ ge­ren Frau be­glei­tet, um aus ei­nem auf­ge­schla­ge­nen Buch zu be­ten; vor ihr ist ein Grab für drei Ver­stor­be­ne aus­ge­ho­ben, die nach fran­zö­si­scher Sit­te in Lein­tuch ein­ge­näht auf

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die Be­er­di­gung war­ten. Klei­ner, aber eben­falls mar­kant ins Bild ge­setzt, be­tet die­sel­be ­fi­zi­ums vor dem Be­ginn der Suf­fra­gien auf fol. 183. Dame zu Gott am Ende des To­ten­of ­fi­zi­um weicht vom ge­wohn­ten rö­mi­schen Ge­brauch ab durch Schluß­ge­be­ Das To­ten­of te für Or­dens­ge­mein­schaf­ten, die wie die Do­mi­ni­ka­ner und Fran­zis­ka­ner Mönchs- und Non­nen­klös­ter un­ter­hal­ten. Ein­zig­ar­tig aber ist die Be­bil­de­rung; denn Voll­bil­der ver­ su­chen, die ein­zel­nen Le­sun­gen aus dem Buch Hiob an­schau­lich zu ma­chen. Bei dem dazu ge­zeig­ten Per­so­nal spie­len Frau­en – au­ßer Hi­obs Ge­mah­lin – kaum eine Rol­ le; eher geht es um ein Män­ner­schick­sal und die Flüch­tig­keit von Glück, aber wohl aus der Sicht ei­ner Frau. Am auf­fäl­ligs­ten wird die­ser Ge­dan­ke beim Rad der For­tu­na, das auf fol. 152 mit dem ju­gend­li­chen Kö­nig an der Spitze dar­ge­stellt ist. Das The­ma stand Buch­ma­lern zwar im Trost der Phi­lo­so­phie des Boe­thius, bei Boc­ca­ccio, De casi­bus viro­rum ill­ustrium und im Ro­sen­ro­man des Jean de Meun le­ben­dig vor Au­gen (sie­he dazu Mat­thi­ as Voll­mer, For­tu­na di­a­gramma­tica, Pe­ter Lang 2009), ist aber un­er­hört in der Be­bil­de­ rung von Stun­den­bü­chern. Die Bil­der zum To­ten­of ­fi­zi­um ge­ben sich nicht da­mit zu­frie­den, wie in Nr. 34 die­ses Ka­ ta­logs ein­fach ei­nen Hi­obs­zyk­lus aus­zu­brei­ten, son­dern set­zen je­weils neu an, um Kern­ aus­sa­gen der Le­sun­gen zu ver­an­schau­li­chen, die über­dies noch ins Bild ein­be­schrie­ben sind und in ih­rer Her­aus­lö­sung aus dem fort­lau­fen­den Text auf be­mer­kens­wer­te La­tein­ kennt­nis­se von Ma­ler und Be­nut­zer schlie­ßen las­sen. Wenn man nach ih­rer Aus­rich­tung fragt, so wird un­zei­ti­ger Tod ei­nes Man­nes zum Mo­vens. Da­für war selbst­ver­ständ­lich das Ge­nie ei­nes Ma­lers ge­fragt, der wie der hier ver­ant­wort­li­che Mart­ain­ville-Meis­ter weit über ge­wohn­ten Stan­dard hi­nausge­hen konn­te, um Text und Bild auf ei­ge­ne Wei­se zu ref­lek­tie­ren. Die emi­nen­te und in ih­rer dich­ten Durch­drin­gung der The­men ein­zig­ ar­ti­ge Be­bil­de­rung des To­ten­of ­fi­zi­ums wird aber auch die Be­stim­mung un­se­res Ma­nus­kripts be­tref­fen: Hier wird of­fen­bar ei­nes all­zu früh Ver­stor­be­nen ge­dacht. Dar­stel­lun­gen ei­nes jun­gen Man­nes zwi­schen schlich­tem Gen­re und ei­ner nicht scharf fo­kus­sier­ten Ab­sicht, auf ei­nen be­stimm­ten Auf­trag­ge­ber ein­zu­ge­hen, un­ter­stüt­zen die­ se Sicht: Auf fol. 84 tritt ein jun­ger Be­ter mit zwei Jüng­lin­gen im Ge­fol­ge auf; er mag noch ein­mal mit der klei­nen Ge­stalt ge­meint sein, de­ren Kopf auf fol. 95 fast vom Bild­ rand an­ge­schnit­ten ist. In Voll­bil­dern des To­ten­of ­fi­zi­ums kni­en auf fol. 155 zwei jun­ ge Män­ner be­tend vor Chris­tus, auf fol. 172 ein sol­cher Mann vor ei­ner nicht ge­nau be­stimm­ba­ren hei­li­gen Ge­stalt. Man könn­te an­neh­men, hier sei je­mand zur Un­zeit ge­ stor­ben; des­halb steht schließ­lich doch eine Frau frag­los im Zent­rum: In der hin­zu­ge­füg­ ten Lage mit den Ho­ren von Mariä Emp­fäng­nis, de­ren Text in Ge­dan­ken an die Mut­ ter­got­tes dazu ge­eig­net war, auch Kin­der­wün­sche from­mer Frau­en zu ref­lek­tie­ren, wird mit Bruch­stü­cken des Ka­tha­ri­nen­rads in drei Bor­dü­ren am Ende des Ma­nus­kripts auf fol. 207v, 209v und 211 ge­spielt, nach­dem Ka­tha­ri­nas Rad auf fol. 20v be­reits ähn­lich ge­zeigt wor­den war. Die Dame, der das Ma­nus­kript zu­ge­dacht war, scheint auch beim Aus­ritt im Mai, fol. 6, ge­meint zu sein. Ob sie, nur mit wei­ßem Schlei­er auch im Ge­ bet vor Gen­ovefa, fol. 200v, er­scheint, steht da­hin. Si­cher aber ist die Dame, für die

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das Stun­den­buch ge­schaf­fen wur­de, trotz ab­wei­chen­der Hau­be die Haupt­fi­gur im Krei­se der Men­schen un­ter­schied­li­cher Ge­sell­schafts­stu­fen, die auf fol. 205v–206 Chris­t i Kreuz auf sich neh­men (Vgl. unsere Ausführungen zur Miniatur S. 106f.). Ein­deu­ti­ge he­ral­di­sche Hin­wei­se wie les­ba­re Wap­pen sind nir­gend­wo im Buch zu fin­ den. Im Rand­schmuck, der meist spie­gel­bild­lich auf bei­den Sei­ten ei­nes je­den Blat­tes nach dem­sel­ben Ent­wurf wie­der­holt wur­de, schmü­cken fran­zö­si­sche Kö­nigs­li­li­en mehr als jede zehn­te, das heißt ins­ge­samt fünf­zig Buch­sei­ten: fol. 7v, 11v, 17, 35/v, 38/v, 52/v, 54v, 58v, 74, 85/v, 99/v, 101v, 105/v, 112/v, 116/v, 125/v, 127/v, 131/v, 134v, 149/v, 158, 164, 179/v, 180v, 182/v, 185/v, 190/v, 203/v, 206v, 208/v und 210v (dort nicht auf Rec­to). Sie fin­den sich ein­mal auch in ei­ner Voll­bor­dü­re um eine gro­ße Mi­ni­a­tur, das An­to­ni­usBild auf fol. 190. Die fle­urs de lis sind über das gan­ze Ma­nus­kript ver­streut: im Ka­len­der, im ur­sprüng­li­chen Text­block, in der als Nach­trag an­zu­se­hen­den End­la­ge und be­son­ders auf­fäl­lig auf dem ein­ge­füg­ten Dop­pel­blatt mit der Kreuz­tra­gung. Nir­gend­wo bil­den die Li­li­en die Drei­heit von France mo­der­ne; in Semé auf Blau be­de­cken sie, so auf fol. 74 und 101v, gan­ze Rand­flä­chen oder blau­grund­ige Kom­par­tim­en­te. Fel­ der, die als gan­ze oder hal­be Kö­nigs­li­li­en zu le­sen sind, bil­den Kom­par­tim­en­te, auf de­ ren Gold­grund Blu­men ver­teilt sind. Auf fol. 99/v wer­den bei­de Ar­ten so­gar mit­ei­nan­ der kom­bi­niert, in­dem als fle­urs de lis kon­tu­rier­te Kom­par­tim­en­te mit blau­en Fel­dern ab­wech­seln, auf de­nen klei­ne Kö­nigs­li­li­en im Semé an­ge­ord­net sind. Noch eine zwei­te he­ral­di­sche Form im Semé kommt hin­zu: Zwei­mal, auf fol. 134 und 158, wech­seln Kö­nigs­li­li­en auf der ei­nen Sei­te und gol­de­ne Ja­kobs­mu­scheln auf der Rück­ sei­te ab, als sol­le das eine Zei­chen mit dem an­de­ren kom­bi­niert wer­den. Die um 1500 am fran­zö­si­schen Hof be­lieb­ten Ja­kobs­mu­scheln, vor­wie­gend in Gold, sel­te­ner in hel­lem Blau, keh­ren auf fol. 84, 93/v, 96v, 106/v, 122v, 134, 148, 155v und 158v wie­der. Zu­wei­len sind die Mu­scheln mit Kno­ten­stö­cken ver­bun­den. Der Kno­ten­stock selbst, also der bâton nou­eux, der vor al­lem für das Haus Or­lé­ans zeugt, fin­det sich sei­ner­seits auf fol. 41v, 59, 62/v, 70, 91/v, 93/v, 106/v und 113/v. Schließ­lich mö­gen auf fol. 141/v, 173/v und 183/v Gür­tel, de­ren Schnal­len meist mit Paa­ren von Hunds­veil­chen, fran­zö­ sisch pens­ées, ver­ziert sind, auf die vor­neh­me Dame und eine even­tu­el­le Schwan­ger­schaft an­spie­len. Das Mo­no­gramm AM , das auf fol. 64v zu­sam­men mit IHS er­scheint, ist hin­ ge­gen nur auf die Jung­frau Ma­ria be­zo­gen. Für die Na­mens­be­stim­mung der Be­te­rin ist zu be­ach­ten, daß ge­ra­de in Frank­reich der Name ei­ner Per­son, für die ein Werk be­stimmt, nicht zwin­gend die Hei­li­gen­pat­ro­ne fest­ legt: Für Jean de Ber­ry tritt der Apos­tel And­re­as häu­fi­ger als Jo­han­nes der Täu­fer ein, weil der Her­zog am And­rea­stag ge­bo­ren wur­de. Jo­han­nes den Täu­fer spricht hin­ge­gen an Claus Slut­ers Por­tal der Karta­use von Champ­mol in Di­jon aus den 1390er Jah­ren für den Bur­gun­der­her­zog Phi­lipp der Küh­nen. Die hei­li­ge Ka­tha­ri­na be­glei­tet dort des­sen Ge­mah­lin Mar­ga­re­te von Flan­dern; denn die­se Hei­li­ge galt nach der Jung­frau Ma­ria als die ein­fluß­reichs­te Adv­oka­tin beim Jüngs­ten Ge­richt. Auch beim Ge­bet zur Ma­don­na

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konn­te die­se Hei­li­ge nütz­lich sein; denn Ma­ria hält ja den künf­ti­gen Wel­ten­rich­ter noch als Kind in ih­ren Ar­men. Wenn man nun sol­che Aus­nah­men au­ßer Acht läßt und von der hei­li­gen Ka­tha­ri­na aus­geht und da­bei die Kro­ne ein­be­zieht, die nicht auf dem Haupt der Be­te­rin sitzt, son­dern in Griff­nä­he in de­ren Bet­pult liegt, kommt in der Ent­ste­hungs­zeit nur eine Fürs­t in in Fra­ge: Ka­tha­ri­na von Ar­agon (15.12.1485–7.1.1536). Sie muß nicht zwin­ gend den Auf­trag ge­ge­ben ha­ben; denn über­aus pro­mi­nen­te Stun­den­bü­cher sind zu­wei­len ohne konk­re­te Rück­spra­che mit den Per­so­nen ent­stan­den, de­nen sie zu­ge­ dacht wa­ren. Ka­tha­ri­nas Schwester Jo­han­na von Kas­ti­li­en (auch als Ju­ana la Loca be­kannt) er­hielt bei­ spiels­wei­se das Lon­do­ner Add. Ms. 18852, das in zwei Pha­sen je­weils fast ganz ohne ihre Mit­wir­kung ge­stal­tet wur­de: Den Grund­be­stand hat­te ihr Bräu­ti­gam Phi­lipp der Schö­ ne vor ih­rer ers­ten Rei­se in die Nie­der­lan­de be­stimmt; die text­lich und bild­lich be­mer­ kens­wer­ten Hin­zu­fü­gun­gen aus der Zeit ih­res zwei­ten Auf­ent­halts im Nor­den wur­den ihr hin­ge­gen von geist­li­chen Be­ra­tern okt­ro­yiert (sie­he mei­nen Bei­trag Books for Women Made by Men, in: Flor­ence Bra­zès-Moly und France­sca Mar­ini, Medi­eval Charm. II­lu­mi­na­ted Manu­scripts for Ro­yal, Ari­sto­cra­tic and Ec­cle­sias­tic Patro­na­ge, Flo­renz 2017, S. 64-83). Nach­dem das Buch zu­nächst zur Braut­wer­bung ge­hört hat­te, soll­te es spä­ter der Dis­zip­li­nie­rung durch den Beicht­va­ter die­nen. Dip­lo­ma­ti­sche Ge­schen­ke über Län­der- und Kul­tur­gren­zen hin­weg hat es immer ge­ge­ ben; so er­hielt der mit Ma­xi­mi­li­an auf das engs­te ver­bun­de­ne Mark­graf Chris­toph I. von Ba­den wohl 1491 aus­ge­rech­net, als er zum Rit­ter des Gol­de­nen Vlie­ses er­ho­ben wur­de, ein mit un­se­rem Ma­nus­kript stil­ver­wand­tes Pa­ri­ser Stun­den­buch, das ihn für die fran­ zö­si­sche Sei­te ge­win­nen soll­te (Karls­ru­he, Ba­di­sche Lan­des­bib­li­o­thek, cod. Dur­lach 1: Kö­nig 1978). Zu prü­fen ist, ob die­ses Stun­den­buch mit sei­ner ent­schie­de­nen Be­to­nung der fle­urs de lis als dip­lo­ma­ti­sches Ge­schenk vom fran­zö­si­schen Hof an die aus Kas­ti­li­en stam­men­de Kö­ni­gin zu ver­ste­hen ist, die über ihre Schwes­ter Jo­han­na von Kas­ti­li­en Tan­te der habs­ bur­gi­schen Kai­ser Karl V. und Fer­di­nand I. war. Ka­tha­ri­na von Ar­agon war die jüngs­te Toch­ter der Ka­tho­li­schen Kö­ni­ge Isa­bel­la von Kas­ti­li­en und Fer­di­nand von Ar­agon. Auf Mi­chel Sit­tows be­deu­ten­dem Port­rät aus dem Jahr­zehnt nach 1500, das spä­ter ir­re­füh­rend mit ei­nem Nim­bus ver­se­hen wur­de (Wien, Kunst­his­t o­ri­sches Mu­se­um), trägt sie die glei­che Hau­be wie in un­se­rem Stun­den­buch und zwar eben­falls so, daß die vol­len blon­den Lo­cken die Stirn rah­men. Schon 1489 wur­de Ka­tha­ri­na per Hei­rats­ver­trag mit Ar­thur, dem Erb­sohn Hein­rich Tu­ dors, ver­bun­den, der als Hein­rich VII . da­rum be­müht war, mit die­ser Ehe des Prin­zen von Wales den Rang sei­ner Fa­mi­lie im Kreis der eu­ro­pä­i­schen Kö­nigs­hö­fe zu be­to­nen. 1501 brach Ka­tha­ri­na nach Eng­land auf, man hei­ra­te­te am 14. No­vem­ber; doch ver­wit­ we­te sie schon mit Ar­thurs Tod am 2. Ap­ril 1502. Erst nach de­mü­ti­gen­den Er­fah­run­

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gen am eng­li­schen Hof und dip­lo­ma­ti­schen Ver­wick­lun­gen schloß Ka­tha­ri­na kurz nach dem Tod Hein­richs VII . am 23. Juni 1509, mit päpst­li­chem Dis­p ens von 1504, in dem Ju­li­us II . die Be­den­ken ge­gen die Ehe­schlie­ßung ei­ner Wit­we mit dem Bru­der des ver­ stor­be­nen Ge­mahls auf­hob, die Ehe mit Ar­thurs Bru­der Hein­rich VIII . Die auf fol. 138v vor dem Be­ginn des To­ten­of ­fi­zi­ums ein­ge­füg­te Mi­ni­a­tur mit der Kla­ ge über drei Tote auf dem Fried­hof läßt nach Schick­sals­schlä­gen fra­gen, die Ka­tha­ri­na von Ar­agon er­lit­ten hat: Im­mer­hin hat sie in den ers­ten Ehe­jah­ren mit Hein­rich VIII . drei Kin­der zur Welt ge­bracht, die sich als nicht le­bens­fä­hig er­wie­sen: Auf die Tot­ge­ burt ei­nes Mäd­chens am 31.1.1510 folg­te am Neu­jahrs­tag 1511 die Ge­burt ei­nes Sohns, Hein­rich von Corn­wall, der am 22.2.1511 starb, und An­fang 1513 – über­dies nach ei­ner Fehl­ge­burt – die ei­nes wei­te­ren Sohns, der nur we­ni­ge Tage leb­te. Die drei auf fol. 138v be­wein­ten To­ten könn­te man für die früh ver­stor­be­nen Kin­der Ka­tha­ri­nas hal­ten (die schließ­lich 1516 noch eine Toch­ter ge­bar, die von 1553 bis 1558 als Bloody Mary oder Ma­ria die Ka­tho­li­sche zur ers­ten eng­li­schen Kö­ni­gin in ei­ge­nem Recht wur­de). Dann wäre die Hand­schrift 1513 zu da­tie­ren; im Fol­ge­jahr 1514 war an Dip­lo­ma­tie kaum noch zu den­ken, weil Hein­rich VIII . mit sei­nem Heer in Ca­lais ein­fal­len und Thé­rou­an­ne er­o­bern soll­te. Stil­ge­schicht­lich sinn­vol­ler wäre für un­ser Stun­den­buch eine Da­tie­rung in die Jah­re nach Ar­thurs Tod 1501; auch die Kro­ne, auf die beim Ma­rien­ge­bet noch ge­war­tet wird, er­hiel­te ei­nen präg­nan­ten Sinn. Wenn man die Trau­er um Ar­thur mit ein­be­zieht, mu­ßte Ka­tha­ri­na von Ar­agon im Jahr 1504 drei Tote be­kla­gen; denn sie hat­te mit ih­rer Mut­ter Isa­bel­la und der Schwie­ger­mut­ter Eli­sa­beth ihre wich­tigs­t en Für­spre­ che­rin­nen ver­lo­ren. Dip­lo­ma­ti­sche Ver­wick­lun­gen sorg­ten da­für, daß der spä­te­re Hein­ rich VIII . Ka­tha­ri­na nicht mehr hei­ra­ten woll­te, ihr Va­ter Fer­di­nand 1505 ein Bünd­nis mit Frank­reich schloß und ihr Schwa­ger Phi­lipp der Schö­ne über eine Ehe­schlie­ßung sei­ner äl­tes­ten Toch­ter, also ih­rer 1498 ge­bo­re­nen Nich­te Ele­o­no­re mit Hein­rich ver­han­ del­te. Noch war die­se weit da­von ent­fernt, nach Por­tu­gal ver­hei­ra­tet zu wer­den und sehr viel spä­ter Franz I. von Frank­reich zu ehe­li­chen. Die­se kri­ti­sche Pha­se der Un­ge­wiss­heit für die da­mals wie eine Gei­sel in Eng­land ge­hal­te­ne Ka­tha­ri­na wäre ein gu­ter Zeit­punkt, ihr, der sehr from­men Prin­zes­sin, von fran­zö­si­scher Sei­te als Bünd­nis­p art­ner Fer­di­nands ein Stun­den­buch zu sen­den. Die Pracht­hand­schrift wäre als Zei­chen zu ver­ste­hen, daß sie nach dem end­lich er­ teil­ten Dis­p ens für eine Ehe mit dem spä­te­ren Hein­rich VIII . (22.11.1504) die zu­ künf­ti­ge Kö­ni­gin Eng­lands sei und es nicht zu ei­ner Al­li­anz zwi­schen den habs­bur­ gi­schen Bur­gun­dern und Eng­land kom­men wer­de. He­ral­disch be­stün­de ein schwer lös­ba­res Pro­blem, weil ein Al­li­anz­wap­pen mit Eng­land zwi­schen Ar­thurs Tod und der Ehe­schlie­ßung mit Hein­rich nicht an­ge­mes­sen ge­we­sen wäre; denn der Dis­p ens, der die Ehe mit Hein­rich erst er­laub­te, be­ruh­te auf Nicht­voll­ zug der Ehe mit Ar­thur. Der Be­zug auf die hei­li­ge Ka­tha­ri­na als Adv­oka­tin hät­te eine Prin­zes­sin stär­ken sol­len, die un­ter de­mü­ti­gen­den Um­stän­den in Eng­land ge­ra­de­zu ge­ fan­gen ge­hal­ten wur­de. Die fran­zö­si­schen Li­li­en mö­gen all­ge­mein auf den Rang der Be­

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schenk­ten kö­nig­li­chen Ge­blüts an­spie­len, zu­mal Ka­tha­ri­na von Ar­agon auch Va­lo­is un­ ter ih­ren Vor­fah­ren hat­te, oder – eher noch – sich auf die Schen­ken­den be­zie­hen. Der jun­ge Mann, der auf fol. 172 im letz­ten Bild des To­ten­of ­fi­zi­ums um die Gna­de bit­tet, noch zu Leb­zei­ten sei­ne Sün­den be­reu­en zu kön­nen, wäre dann der un­glück­lich früh hin­ge­schie­de­ne Ar­thur, Prince of Wales. Über den Bü­cher­be­sitz der Ka­tha­ri­na von Ar­agon ist nicht viel be­kannt. Fest steht, daß für sie, die von al­len Ehe­frau­en Hein­richs VIII die­je­ni­ge mit der um­fäng­lich­sten und bes­ten Er­zie­hung war, Bü­cher­lek­tü­re die Grund­la­ge ih­rer ge­sam­ten Kul­tur dar­stell­te; so meint Eras­mus von Rot­ter­dam, sie sei weit­aus be­le­se­ner als ihr Gat­te ge­we­sen. Die von James P. Car­ley, The Books of King Hen­ry VIII and his Wives, Lon­don 2004, S. 120, ge­ ge­be­ne Lis­te der bei Ka­tha­ri­nas Tod nach­ge­las­se­nen Bü­cher ver­zeich­net 21 Wer­ke, von de­nen 20 – alle ge­druckt – heu­te noch in öf­fent­li­chen eng­li­schen Samm­lun­gen nach­ge­ wie­sen wer­den kön­nen. Ein Buch aber, das ers­te der Lis­te, ist ver­schwun­den und es ist die­ses, des­sen la­pi­da­re No­tiz uns elekt­ri­siert: „Item one prim­mar writ­ten on vel­lom cove­red with clo­the of golde, hav­ing two clas­p is of silver and gilte“ (James P. Car­ley, The Libr­a­ri­es of King Hen­ry VIII, Lon­don 2000, S. LVI), also ein auf Per­ga­ment ge­ schrie­be­nes, in gül­de­nen Stoff ge­bun­de­nes Stun­den­buch mit ver­gol­de­ten Silb­er­schlie­ßen. Ist nicht der Um­stand, daß die­ses als ein­zi­ges Buch in der Fol­ge­zeit ver­schwin­det, ob­wohl es in der Rang­fol­ge der Hin­ter­las­sen­schaft als Per­ga­ment­ma­nus­kript aus­ drück­lich he­raus­ge­ho­ben wird, ein wei­te­res star­kes In­diz da­für, daß wir es hier­bei mit un­se­rer Hand­schrift zu tun ha­ben? Car­ley, der un­ser Ma­nus­kript selbst­ver­ständ­ lich nicht kennt, ver­tritt die Hy­po­the­se, daß es sich um den spä­ter in der West­min­sterLis­te von 1542 un­ter Nr. 671 (rich­tig: 670 bzw. 439) ver­zeich­ne­ten „pri­mer writ­ten, cove­rid with cloth of golde“ hand­le, der mög­li­cher­wei­se am 25. Feb­ru­ar 1551 nach ei­ner Ver­fü­gung Kö­nig Ed­wards VI . mit an­de­ren „su­per­stitio­use“ Bü­chern in West­min­ster ver­brannt wor­den sei; er ist da­bei aber auf rei­ne Mut­ma­ßun­gen an­ge­wie­sen. Wir kön­nen uns nicht vor­stel­len, daß man ei­nen sol­chen ein­zig­ar­tig kost­ba­ren Band ohne wei­ te­res ver­nich­tet hat – viel wahr­schein­li­cher ist, daß er schon nach Ka­tha­ri­nas Tod oder spä­tes­t ens bei Ma­rys Thron­be­stei­gung an ihre Toch­ter ge­lang­te, die 1553 bis 1558 Kö­ni­gin war und schon 1534, vor dem Tod ih­rer Mut­ter, zwei Bü­cher von die­ ser als Ge­schenk er­hielt, be­zeich­nen­der­wei­se eine „Vita Chris­t i“ und die Brie­fe des Hi­e­ro­ny­mus (Car­ley 2004, S. 110). Wir wis­sen, und Car­ley be­stä­tigt dies, daß Mary als Kö­ni­gin ver­such­te, die Uhr zu­rück­zu­dre­hen und so vie­le klös­ter­li­che und vor­re­for­ma­ to­ri­sche Bü­cher als noch mög­lich zu ret­ten, „to re­store the faith“ (Car­ley 2004, S. 145). Au­ßer Fra­ge steht je­den­falls, daß sie „im­mens­ely symp­athe­tic to a re­turn to the pre-Re­ for­ma­ti­on or­der“ war, aber ihr frü­her Tod wei­ter­rei­chen­de Kon­se­quen­zen ver­hin­der­te. Daß hin­ge­gen das per­sön­li­che Stun­den­buch ih­rer Mut­ter bei ihr ver­blieb und nicht zer­ stört wur­de, scheint uns so schlüs­sig wie der Um­stand, daß sie sei­ner Ver­nich­tung nach ih­rem Tod vor­beug­te, in­dem sie es in treue und recht­gläu­bi­ge Hän­de ge­lan­gen ließ.

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Man hat die Pro­ve­ni­enz durch eine mehr­fa­che Über­ma­lung des Wap­pens ver­tu­schen wol­len, al­ler­dings ent­spre­chen die Um­ris­se die­ses Wap­pen­schil­des, das En­gel aus Jean Pi­cho­res Werk­statt auf dem vor den Ka­len­der ge­schal­te­ten Ein­zel­blatt prä­sen­tie­ ren, ziem­lich ge­nau den­je­ni­gen von Ka­tha­ri­nas ge­druck­tem Wap­pen, sie­he die Abb. bei Car­ley, 2004, S. 112! Der In­halt ist wohl schon im 16. Jahr­hun­dert ver­än­dert wor­den, recht di­let­tan­tisch, da in der obe­ren Hälf­te zwei ge­gen­ei­nan­der leicht ver­setz­te (und so he­ral­disch un­mög­li­che) Kreu­ze in Sil­ber ein­ge­tra­gen wur­den, wäh­rend die un­te­re Hälf­ te ge­tilgt ist. Die im­mer noch vor­han­de­ne ho­ri­zon­ta­le Zwei­tei­lung des Wap­pens weist eben­falls auf das von Ka­tha­ri­na zu­rück. Um die­sen nicht mehr ori­gi­na­len Zu­stand un­ kennt­lich zu ma­chen, wur­de das gan­ze Feld mit Rot über­malt, das schließ­lich un­sach­ge­ mäß ab­ge­wa­schen wur­de. Tat­sa­che bleibt, daß der Um­riß des Wap­pen­schilds dem­je­ni­gen von Ka­tha­ri­nas ge­druck­ter Ver­si­on ent­spricht. Nach die­ser wie­der­hol­ten Ver­än­de­rung und Til­gung des Wap­pens ruh­te die Zime­lie – ih­rer Her­kunft be­raubt – in ver­schie­ de­nen eng­li­schen Samm­lun­gen, bis sie am 9.12.1974 bei Sot­heby’s (ohne Kennt­nis der Pro­ve­ni­enz) als Nr. 63 mit Ab­bil­dung von fünf Mi­ni­a­tu­ren als „Pro­per­ty of a Gen­tle­ man“ ver­stei­gert wur­de und in die eu­ro­pä­i­sche Pri­vat­samm­lung kam, aus der wir sie vor kur­zem di­rekt er­war­ben. Text So in­ten­siv die Be­bil­de­rung auf eine Frau an­spielt, die eng mit der hei­li­gen Ka­tha­ri­na von Ale­xand­ri­en ver­bun­den ist, so ein­deu­tig sind die Tex­te für ei­nen Mann re­di­giert; das aber muß in der Ent­ste­hungs­zeit der Hand­schrift kurz nach 1500 nicht ver­wun­dern. fol. 2: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che; je­der Tag be­setzt: Gol­de­ne Zahl und Fes­te in Gold (zum Teil von ei­nem Gold­schlä­ger ab­ge­schla­gen), Sonn­tags­buch­sta­ben A als gol­ de­ne Ini­ti­a­len ab­wech­selnd auf braun­ro­ten und blau­en Grün­den; ein­fa­che Hei­li­gen­ta­ge ab­wech­selnd blau und rot; Die Or­tho­gra­phie (La typ­haine) ist eben­so wie die Hei­li­gen­ aus­wahl mit dem Fest der Gen­ovefa am 3. Ja­nu­ar pa­ri­se­risch. fol. 14: Perik­open: Jo­han­nes (fol. 14), Lu­kas (fol. 16), Mat­thä­us (fol. 17v) und Mar­kus (fol. 19). fol. 21: Bei den Ma­rien­ge­be­ten, die für ei­nen Mann re­di­giert sind (fa­mulo tuo auf fol. 22v; mi­chi pec­cat­ori fol. 26v), sorg­te ein Bin­de­feh­ler für Ir­ri­ta­ti­on: fol. 24 (die mo­der­ne Fo­li­ie­ rung ent­spricht an die­ser Stel­le der ur­sprüng­li­chen Rei­hen­fol­ge) war vor fol. 23 ge­schal­ tet; es bil­de­te mit dem nach fol. 26v feh­len­den Blatt ein Bi­fo­lio: Obse­cro te (fol. 21), O int­emer­ata für Ma­ria und Jo­han­nes (fol. 25; die letz­te Text­sei­te fehlt nach fol. 26v), die Fehl­bin­dung ist nun be­rich­tigt. fol. 27: Jo­han­nes-Pas­si­on: Egres­sus est ihe­sus (fol. 27), Mit­te gla­dium tuum (fol. 28), Addu­ cunt ergo ihe­sum (fol. 30v), Tunc ergo app­re­hen­dit py­la­tus (fol. 32v), Exi­vit ergo ihe­sus port­ ans coro­nam spi­neam (fol. 33v), Sus­cepe­runt aute(m) il­lum (fol. 35v), Stab­ant au­tem iuxta cru­cem (fol. 37), Post hec au­tem rog­avit py­la­tum ios­eph ab ari­mat­hia (fol. 39), Erat au­tem lo­cus (fol. 40).

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fol. 41: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom, mit drei Psal­men­grup­pen für die Wo­chen­ta­ge zur Matu­tin: die ers­ten bei­den Psal­men zu Sonn­tag, Mon­tag und Don­ ners­tag ge­gen den Brauch ohne An­ti­pho­nen, der drit­te Psalm mit Ante tho­rum; die mit je drei An­ti­pho­nen aus­ge­stat­te­ten Psal­men für Diens­tag und Frei­tag so­wie Mitt­woch und Sams­tag erst im An­schluß an die Le­sun­gen: Matu­tin (fol. 41), Lau­des (fol. 59v), Prim (An­fangs­blatt fehlt vor fol. 71), Terz (fol. 75), Sext (fol. 80), Non (An­fangs­blatt fehlt vor fol. 85), Ves­per (fol. 88 mit den im rö­mi­schen Ge­brauch üb­li­chen An­ti­pho­nen zu je­dem Psalm), Komp­let (fol. 96), Ad­vents­of ­fi­zi­um (fol. 101). fol. 108: Ho­ren von Hei­lig Kreuz (fol. 106) und Ho­ren von Hei­lig Geist (fol. 114). fol. 119: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 130); die sehr klei­ne Hei­li­gen­aus­wahl we­nig aus­ sa­ge­kräf­tig: die Pa­ri­ser Ger­vasius und Prot­hasius am Ende der Mär­ty­rer. ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Rom, die Schluß­ge­be­te be­zie­hen sich je­ fol. 139: To­ doch auf Or­dens­ge­mein­schaf­ten, die wie die Do­mi­ni­ka­ner und Fran­zis­ka­ner Män­ner und Frau­en um­faß­ten: Ves­per (fol. 139), Matu­tin (fol. 146: auf fol. 145v zu­tref­fen­de Rub­ rik: Ad matu­ti­nas mor­tuo­rum; un­ter dem Bild ir­re­füh­rend ad vigi­li­as mor­t vorvm): Le­sun­gen aus dem Buch auf fol. 152 (7,16-22), 153v (10,1-7), 154 (10,8-12), 160v (13,2228), 161v (14,1-6), 163 (14,13-16), 169 (17,1-3, 11-15), 170v (19,20-27), 172 (10,18-22); Lau­des (fol. 173v) nicht mar­kiert. fol. 183v: Ge­bet an Gott­va­ter, Suf­fra­gien, Ma­rien­ge­bet: Deus prop­icius esto mi­chi pec­ cat­ori (also wie­der für ei­nen Mann re­di­giert: fol. 183v); Mi­cha­el (fol. 186); Sta­bat ma­ter (fol. 187); Pet­rus (fol. 189); An­to­ni­us Ab­bas (fol. 190); Lo­renz (fol. 191); Jo­han­nes der Täu­ fer (fol. 192); Ni­ko­laus (fol. 193); Chris­topho­rus (fol. 194); Se­bas­ti­an (fol. 195v); Mar­ga­re­te (fol. 197); Ka­tha­ri­na (fol. 198); Bar­ba­ra (fol. 199); Jako­bus (fol. 200); Gen­ovefa (fol. 201); Bla­si­us (fol. 201v); Mag­da­le­na (fol. 202); Sus­an­na (fol. 202v); Ma­ria: Sal­uto te beat­iss­ima dei geni­trix, ge­folgt vom Suf­fra­gium Ave do­mi­na sanc­ta ma­ria (fol. 203). fol 205: Chris­tus­ge­be­te: Do­mine ihesu xpe fili dei vivi pone passi­onem, fol. 205v-206 text­ lo­ses Bild, fol. 206v: Qui vult ven­ire post me als Suf­fra­gium. fol 207: Ho­ren von Mariä Emp­fäng­nis, mit ab­schlie­ßen­der Rec­ommendatio und dem Ge­ bet Ave cui­us con­cepcio als Suf­fra­gium (fol. 211v); Texten­de 212v. Schrift und Schrift­de­kor Das Buch ist in ei­ner vor­züg­li­chen Bast­arda ge­schrie­ben, die mit Ober­län­gen spielt, aber mit der strik­ten Um­fas­sung durch Rand­ma­le­rei­en rech­net und des­halb an kei­ner Stel­ le zu Ka­del­len an­setzt. Die gel­be La­vie­rung und die durch­weg blau­en Rub­ri­ken in la­tei­ ni­scher Spra­che so­wie der in drei Far­ben ge­hal­te­ne Ka­len­der ent­spre­chen bes­tem Pa­ri­ ser Stan­dard der Jahr­zehn­te um 1500. Gro­ße Ini­ti­a­len, von zwei Zei­len Höhe an, sind in je­nem Akant­hus­de­kor ge­hal­ten, der sich in die­ser Zeit weit­ge­hend durch­setz­te: Die Buch­sta­ben sind aus wei­ßem Akant­hus auf Gold oder gol­de­nem auf Blau ge­bil­det; die gol­de­nen Grund­flä­chen wer­den mit Blu­men de­ko­riert, die blau­en mit wei­ßem Or­na­ment.

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Grö­ße­re wei­ße Ini­ti­a­len be­hal­ten das Gold als Fül­lung der Bin­nen­flä­che, sind aber mit ro­ten oder brau­nen Grün­den umf­aßt. Bei klei­ne­ren Ini­ti­a­len fol­gen, un­ab­hän­gig ob sie zwei oder nur eine Zei­le hoch sind, Weiß auf Gold und Gold auf Blau in der Re­gel al­ ter­nie­rend auf­ei­nan­der. Eine auf­fäl­li­ge Ei­gen­art cha­rak­te­ri­siert je­doch die­se klei­nen Ini­ti­a­len; denn bei ih­nen wech­selt die De­ko­ra­ti­on­sart: Nur die aus wei­ßem Akant­hus ge­form­ten Buch­sta­ben schrei­ben sich ins Kon­zept des neu­en Akant­hus­de­kors ein; gol­de­ne Let­tern auf Blau ge­hö­ren aber zum Flä­chen­de­kor. Eine Ka­te­go­rie für sich bil­den die Zei­len­fül­ler, die als Kno­ten­stö­cke in Ocker mit gol­de­ner Hö­hung aus­ge­bil­det sind. Im Ka­len­der fin­den sich zwar die­sel­ben Zei­len­fül­ler; doch blei­ben die Sonn­tags­buch­ sta­ben A durch­weg gol­den, wäh­rend de­ren Fond al­ter­niert. Auf ei­ner Text­sei­te je­doch, dem Rec­to von fol. 57, herrscht sol­cher Flä­chen­de­kor mit gol­de­nen Buch­sta­ben auf al­ ter­nie­rend ro­ten und brau­nen Grün­den mit ent­spre­chend ab­wech­seln­den Zei­len­fül­lern: Ver­mut­lich hat­te man beim Il­lu­mi­nie­ren die­se Sei­te zu­nächst über­se­hen; der spä­te­re Ein­griff er­folg­te dann von an­de­rer Hand ohne Rück­sicht auf den sonst im Buch herr­ schen­den Stan­dard. Ein da­von ab­wei­chen­des Sys­tem be­stimmt die bei­den Au­ßen­sei­ten der Kreuz­tra­gung, fol. 205 und 206v, wäh­rend eine von bei­dem un­ter­schie­de­ne De­ko­ra­ti­on­sart in der End­ la­ge ab fol. 207 zu fin­den ist. Alle Ini­ti­a­len auf fol. 206v sind ein­heit­lich blau, ein­zei­li­ ge in Flä­chen­de­kor, zweiz­ei­li­ge als Akant­hus­buch­sta­ben. Das Grund­prin­zip, das sonst im Buch herrscht, wird von fol. 207 an grund­sätz­lich fort­ge­setzt; doch al­ter­nie­ren nun die Zei­len­fül­ler mit plas­tisch mo­del­lier­ten Kno­ten­stö­cken in Gold und als Flä­chen­de­ kor mit gol­de­ner Zier ver­se­he­nen Strei­fen. Die Bor­dü­ren, die sonst im gan­zen Buch sehr ein­heit­lich sind, wei­chen auf den bei­den Text­sei­ten um die Kreuz­tra­gung ab, be­son­ders we­gen der här­te­ren Kontu­rie­rung, die durch Tin­ten­li­ni­en in der hin­zu­ge­füg­ten End­la­ ge noch ver­stärkt wird. Der Rand­schmuck der ein­fa­chen Text­sei­ten, eine der ein­drucks­vol­len Spe­zi­a­li­tä­ten des hier ver­ant­wort­li­chen Mart­ain­ville-Meis­ters, ge­hört zu den groß­ar­ti­gen Leis­tun­gen, mit de­nen un­ser Stun­den­buch ver­blüfft: Zwar bie­ten auch man­che an­de­ren Hand­schrif­ten der Zeit wun­der­ba­re Wir­kun­gen; doch bril­lie­ren hier zu­nächst ein­mal die Far­ben in ver­blüf­fen­der Wei­se: Die Rand­ma­le­rei­en war­ten im Wort­sin­ne mit ei­ner er­staun­li­chen Wucht auf; sie sind so kräf­tig auf das un­ge­mein zar­te Per­ga­ment ge­malt, daß die Farb­ flä­chen je­dem Blatt ei­ge­nes Ge­wicht ver­lei­hen. Am Schnitt läßt sich er­ken­nen, daß die Far­be die Di­cke des Buchs ver­än­dert hat: Mes­sen die 212 Blät­ter im Be­reich der 25 mm brei­ten Falz­strei­fen, die nur auf den 60 Bild­sei­ten be­malt sind, in ih­rer Ge­samt­heit etwa 25 mm, so nimmt der Band in der Mit­te der Sei­ten 5 mm zu! Ein ex­qui­si­tes Blau ver­bin­det sich mit dunk­lem Rot und we­ni­gen bril­lan­ten Ef­fek­ten von hel­lem Zin­no­ber. Gold spielt eine do­mi­nie­ren­de Rol­le, weil alle mit Pin­sel­gold an­ ge­leg­ten Kom­par­tim­en­te auf den um­ge­ben­den Farb­flä­chen so kon­tu­riert sind, als lie­ge das Gold in ei­ner et­was hö­he­ren Schicht. Der Ein­falls­reich­tum bei den Kom­par­tim­ent­

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for­men ist un­er­schöpf­lich; da gibt es ne­ben den schon ge­nann­ten Kö­nigs­li­li­en und den gol­de­nen Gür­teln Her­zen, Blu­men, Trop­fen, aber auch ein­fa­che ge­o­met­ri­sche Ele­men­ te un­ter­schied­li­cher Grö­ße und raf ­fi­nier­ten Zu­schnitts. Doch sind nicht alle Rand­ma­ le­rei­en in Kom­par­tim­en­te auf­ge­teilt; rei­ner Gold- oder Farb­grund kommt ge­nau­so vor. Der in der Buch­ma­le­rei der Zeit weit ver­brei­te­te Wunsch nach Ar­beits­er­leich­te­rung führt zum Ein­satz des­sel­ben Bor­dü­ren­ent­wurfs auf Vor­der- und Rück­sei­te des­sel­ben Blat­tes. Hän­de­schei­dung in­ner­halb der Mart­ain­ville-Werk­statt bie­tet sich nicht an; fi­ gür­li­che Ele­men­te hel­fen nicht, den Be­stand zu ord­nen. Men­schen oder sze­nisch auf­ei­ nan­der be­zo­ge­ne Fi­gu­ren­paa­re gibt es nir­gend­wo. Ohne schlüs­si­ge Sys­te­ma­tik tre­ten In­ sek­ten, Schmet­ter­lin­ge, vor al­lem aber gro­tes­ke Misch­we­sen auf. Die grö­ße­ren Mons­ter sind oft auf ei­nen grü­nen Bo­den­strei­fen ge­stellt, der zu­wei­len die ge­sam­te Grund­li­nie ei­ner Bor­dü­re ein­nimmt. Gen­re­haf­te Mo­ti­ve sind recht sel­ten; doch rei­tet bei­spiels­wei­ se auf fol. 78/v ein Affe ein ge­hörn­tes Phan­ta­sie­tier; und auf fol. 79/v trägt ein Affe zwei sei­ner Jun­gen in ei­ner Büt­te oder Kie­pe auf dem Rü­cken. Zu kons­ta­tie­ren ist das in­te­ res­san­te Fak­tum, daß auf Sei­ten mit fle­urs de lis nie Mons­ter ihr Un­we­sen trei­ben, wohl eine Re­ve­renz an die Ho­heit der Auf­trag­ge­ber. Die Bil­der Un­er­hör­ter Bil­der­reich­tum war schon von An­fang an ge­plant; doch hat der für den er­ staun­lich rei­chen Grund­be­stand ver­ant­wort­li­che Buch­ma­ler noch in ei­ner zwei­ten Kam­ pag­ne in die­sem Stun­den­buch leer ge­blie­be­ne Rest­fel­der am Ende der ein­zel­nen Tex­ te, so gut es ging, mit Bild­mo­ti­ven ver­se­hen; er hat sich da­bei nicht ein­mal ge­scheut, auf ku­ri­o­se Wei­se Da­vid und den Rie­sen Go­li­ath auf fol. 118v in nur zwei Zei­len un­ter­zu­ brin­gen. Wo sich wie im Ka­len­der für win­zi­ge Räu­me kein Su­jet an­bot, wur­den lee­re Zei­len mit fi­gu­ra­len Or­na­men­ten in Cam­aïeu ge­füllt. Die ir­ri­ge Rei­hen­fol­ge der Sze­ nen am Ende der in sol­chen Rest­fel­dern un­ter­ge­brach­ten Sta­ti­o­nen zur Jo­han­nes-Pas­si­ on läßt kei­nen Zwei­fel, daß es sich um Er­gän­zun­gen han­delt, die nicht zum ur­sprüng­li­ chen Kon­zept ge­hö­ren. fol. 1: Von an­de­rer Hand aus der eng stil­ver­wand­ten Pich­ore-Grup­pe wur­de das schon er­wähn­te, zu­nächst nicht ge­plan­te Blatt mit Wap­pen­ma­le­rei dem Ka­len­der vor­ge­schal­ tet: Vier­ge­teil­tes Wap­pen­schild, von zwei En­geln in ei­ner Re­nais­sance-Ar­chi­tek­tur ge­ hal­ten, zwi­schen­zeit­lich mit ro­ter Far­be über­malt, die spä­ter nicht sach­ge­recht ab­ge­wa­ schen wur­de, so daß das Rot die Wie­se un­ter dem Schild be­ein­träch­tigt. Ein Schrift­band bit­tet die En­gel um Schutz des Wap­pens: an­ges de diev qvi des hvmains es­tes se­vre gar­de: ces ar­mes q(vi) soub­stie(ne)s te­nes en v(ost)re sa­v lve gar­de. fol. 2: Im Ka­len­der sind je­weils auf Rec­to zwei recht gro­ße Bild­fel­der in die Rand­strei­fen ge­setzt; das ei­gent­li­che Mo­nats­bild fin­det in vol­ler Brei­te des Text­spie­gels un­ten Platz; zehn Zei­len hoch sind die Fel­der für Land­schafts­bil­der mit den Tier­kreis­zei­chen in den äu­ße­ren Rand­strei­fen. Die Ge­stal­ten in den Mo­nats­bil­dern sind als Halb­fi­gu­ren oder Knie­stü­cke be­grif­fen; mensch­li­che Fi­gu­ren zum Zo­diak sind meist als Ganz­fi­gu­ren ge­ zeigt, in der Re­gel je­doch un­ten ab­ge­schnit­ten.

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Beim Mahl im Ja­nu­ar sitzt ein bart­lo­ser Mann an ei­nem run­den Tisch; ein ju­gend­li­cher Die­ner tritt mit ei­ner Fleisch­plat­te hin­zu, es wirkt, als wol­le der Herr die­sem ei­nen lee­ren Tel­ler zu­rück­ge­ben. Zum Wär­men am Ka­min im Feb­ru­ar steht ein, wie die Au­monière am Gür­tel zeigt, wohl­ha­ben­der Mann am of­fe­nen Feu­er. Zum Trim­men der Wein­stö­cke im März holt ein Bau­er mit ei­ner Hippe aus. Zum Blu­men­pflü­cken im Ap­ril ge­hen zwei Mäd­chen spa­zie­ren; ihre Blu­men­zwei­ge sind ganz in Gold aus­ge­führt. Zum Aus­ritt im Mai sitzt ein jun­ges Paar auf ei­nem wei­ßen Zel­ter; die Frau trägt wie die Be­te­rin auf fol. 20v eine schwar­ze Hau­be, die ihre blon­den Lo­cken her­vor­tre­ten läßt. Die Heu­mahd im Juni ir­ri­tiert, weil der Bau­er von der Sen­se nur den Stiel schräg ins Bild hält und hin­ ter ihm nur die Fur­chen ei­nes kah­len Ackers zu se­hen sind. Zwei Bau­ern kom­men bei der Korn­ern­te im Juli mit ih­ren Si­cheln auf­ei­nan­der zu. Im Au­gust sind in ei­nem all­zu präch­tig aus­ge­stat­te­ten Stein­haus zwei Bau­ern beim Dre­schen ge­zeigt. Zur Kel­ter im Sep­tem­ber ist ein jun­ger Mann in den Bot­tich ge­stie­gen, hin­ter ihm bil­den fünf Fäs­ser eine ein­drucks­vol­le Pers­p ek­ti­ve. Wie eine Va­ri­an­te zum Schnit­ter im Juni wirkt der Sä­ mann bei der Aus­saat im Ok­to­ber, der auf kah­lem Acker steht und in ei­gen­tüm­lich ele­gi­ scher Wei­se aus dem Bild schaut. Der Schwei­ne­hirt hat zum Ab­schla­gen der Ei­cheln im No­vem­ber ei­nen wohl et­was zu fei­nen Stock in der Hand. Vor der Ku­lis­se ei­nes Dorfs spielt das Schwei­ne­schlach­ten im De­zem­ber, bei dem ein jun­ger Mann ei­nem ver­dutzt drein­bli­cken­den Schwein die Keh­le schlitzt. Auf die Tat­sa­che, daß ei­gent­lich Stern­bil­der am Him­mel erf­aßt wer­den sol­len, neh­men die ge­schickt ins­ze­nier­ten Land­schafts­bil­der zum Zo­diak kei­ne Rück­sicht; sie zei­gen Mensch oder Tier auf der Erde, meist hin­ter ei­ner Art Re­pous­soir, und wei­ten den Blick dann in der Re­gel bis zum Blau der Fer­ne: Der Was­ser­mann, ein nack­ter Kna­be, be­ gießt mit ei­nem Ton­krug ein tro­cke­nes Feld. Ein jun­ger Mann mit ei­ner An­gel sieht die Fi­sche im Fluß. Der Wid­der kommt nicht al­lein; ihm folgt ein zwei­ter. Der Stier er­weist sich als ein mäch­ti­ger brau­ner Bulle. Hin­ter ei­nem ein­far­big blau­en Schild zeigt sich das Zei­chen der Zwil­lin­ge als ein jun­ges Paar, nackt vor ei­nem dich­ten Wäld­chen. Der Krebs er­scheint wie in Frank­reich üb­lich in der Form ei­ner Lan­gus­te, die in ei­nem Ge­wäs­ser schwimmt. Der Löwe tritt von rechts ins Bild und ist so groß, daß sei­ne Hin­ter­bei­ne nicht mehr ins Bild pas­sen. Die Jung­frau schrei­tet sin­nend mit ei­ner Mär­ty­rer­pal­me ein­her. Et­was nä­her zur vor­de­ren Bild­e­be­ne ge­rückt steht ein ähn­li­ches Mäd­chen mit ei­ner gro­ ßen gol­de­nen Waa­ge, nur eine der Waag­scha­len hat Platz im Bild, und die Ge­stalt ist un­ten und so­gar am Kopf vom Bild­rand ab­ge­schnit­ten. Hin­ter ei­nem Baum, viel­leicht ei­ner Ei­che, ver­harrt der Skor­pi­on. Wie der Löwe dringt der Schüt­ze von rechts ins Bild, als Ken­taur aus ei­ner Zie­ge und ei­nem Men­schen zu­sam­men­ge­setzt; Ober­kör­per und Arme sind in ei­nen Le­der­pan­zer ge­hüllt, der die Rip­pen, Brust­bein und Brust­war­zen mit gol­de­nen Lich­tern sicht­bar macht. Der Stein­bock schließ­lich, ein wei­ßer Zie­gen­bock in ei­nem Am­mons­horn, ist das größ­te un­ter den Tier­kreis­zei­chen in die­sem Stun­den­buch, nur halb paßt er in sein Bild, das als ein­zi­ges eine Häu­ser­ku­lis­se hat. Die Zei­len, die am Ende ei­nes je­den Mo­nats leer ge­blie­ben sind, wur­den mit ge­schlos­ se­nen Farb­flä­chen, Pur­pur, Braun und Grau, ge­füllt; aus gol­de­nem Blatt­werk ent­wi­ckeln sich spie­le­risch gro­tes­ke Fi­gu­ren, Tie­re und Men­schen, de­ren Ge­sich­ter teil­wei­se

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mit Rot und Schwarz, auch Gold prä­zi­siert sind. The­ma­ti­sche Be­zü­ge zu den Mo­na­ten und ih­ren Hei­li­gen sind nicht aus­zu­ma­chen, zu­mal die Be­stim­mung der ein­zel­nen Mo­ ti­ve nicht im­mer klar wird: Zum Ja­nu­ar rin­gelt sich ein Wurm mit mensch­li­cher Frat­ze; ein nack­ter Mann wird im Feb­ru­ar von ei­nem Mons­ter ver­folgt, das schon ei­nen Mann un­ter sich be­gräbt; eine nack­te Frau und ein Mons­ter be­geg­nen sich im Ap­ril; die Halb­ fi­gur ei­nes nack­ten Kin­des er­scheint im Mai; Mons­ter zei­gen sich im Juni und Juli, ein nack­tes Kind rei­tet im Au­gust, ein nack­ter Mann in Sep­tem­ber, ein Fan­ta­sie­tier im No­ vem­ber und wohl eine Eule im De­zem­ber. fol. 14: Die Perik­open er­öff­nen mit den üb­li­chen E­van­ge­lis­ten­port­räts. Nur über vier Zei­len vom Inci­pit des Lu­kas steht ein Kopf­bild im Text­spie­gel. Voll­bil­der sind den an­ de­ren drei zu­ge­dacht; da­rauf war der Schrei­ber un­ter­schied­lich gut vor­be­rei­tet: We­ni­ge An­fangs­wor­te muß­ten bei Jo­han­nes und Mat­thä­us in die un­te­re Rah­men­leis­te ge­schrie­ ben wer­den. Bei Mar­kus er­öff­net der Text auf der Rück­sei­te mit ei­ner vierz­ei­li­gen Ini­ ti­a­le; die letz­te Zei­le des Mat­thä­us-Texts wur­de er­satz­los über­malt, ist aber un­ter der Ma­le­rei noch sicht­bar. Jo­han­nes auf Pat­mos (fol. 14) wird, wie vom Mart­ain­ville-Meis­ter ge­wohnt, auf ei­ner Fel­ sen­in­sel ge­zeigt, die vorn zum Was­ser hin rund ab­schließt. Der ju­gend­li­che Evan­ge­list beugt sich zu ei­nem be­reits ganz voll ge­schrie­be­nen Buch, mit der Fe­der in der Hand, als wol­le er kor­ri­gie­ren, links hin­ter ihm taucht der in Gold ge­mal­te Ad­ler auf. Fel­sen und Bäu­me ver­stel­len den Blick in die Land­schaft; Was­ser grenzt die In­sel zum jen­sei­ti­gen Ufer ab, über dem in der blau­en Fer­ne Fel­sen mit Bur­gen auf­ra­gen. Die Land­schaft ist men­schen­leer; und es wird kei­ne Stadt ge­zeigt, die Ephe­sus mei­nen könn­te. Un­ter ei­nem gol­de­nen Bal­da­chin, der mit blau­em Tuch aus­ge­schla­gen ist, sitzt der grei­se Lu­kas am Schreib­pult (fol. 16); auch er ar­bei­tet, nun mit Fe­der­mes­ser und Fe­der, an ei­ nem be­reits voll­ge­schrie­be­nen Buch. Der Stier hat auf dem Flie­sen­bo­den Platz ge­nom­ men, in ei­nem zur Land­schaft hin of­fe­nen Re­nais­sance-Pa­last, der mit kan­nel­lier­ten Pi­ las­tern ge­schmückt ist. Ge­gen­über, auf fol. 15v, wa­ren un­ter dem Ende des Jo­han­nes­texts sie­ben Zei­len frei; dort wird der Lu­kas-Stier aus dem Haupt­bild va­ri­iert, wie er vor zwei gro­ßen ge­öff­ne­ten Bü­chern im Frei­en liegt. Ju­gend­lich und mit ei­ner Kap­pe, die den Ge­lehr­ten be­zeich­nen könn­te, wird Mat­thä­us ge­zeigt (fol. 17v). Links steht ein En­gel in grü­ner Tu­ni­ka und hält ihm ei­nen ge­öff­ne­ten Fo­li­an­ten; den schaut der Evan­ge­list an, hebt die Fe­der und blät­tert mit der Lin­ken im auch dies­mal schon voll­ge­schrie­be­nen Buch. Eine auf­fäl­li­ge Rol­le in die­sem In­te­ri­eur, das wie­der in pa­last­ähn­li­chem Rah­men ge­ge­ben ist, spielt das Licht; denn auf das ro­sa­ far­be­ne Tuch, das den Evan­ge­lis­ten hin­ter­fängt, fällt ein Schat­ten, als sei das Haupt des En­gels die Licht­quel­le. Wie ein U­ni­ver­si­täts­leh­rer schaut Mar­kus en face aus sei­nem Bild, das letzt­lich auf eine Tra­di­ti­on von E­van­ge­lis­ten­port­räts zu­rück­geht, die be­reits in Ber­rys Bel­les Heu­res um 1408 le­ben­dig war (fol. 19); er sitzt un­ter ei­nem Bal­da­chin hin­ter ei­ner Tisch­plat­te, die auf drei­e­cki­gen Stän­dern liegt, und hat ei­nen Fo­li­an­ten auf ein grü­nes Kis­sen ge­legt. Die

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graue Kut­te läßt an ei­nen Fran­zis­ka­ner den­ken; doch trägt der bart­lo­se Evan­ge­list über Schul­tern und Haupt ein mit Weiß ge­füt­ter­tes blau­es Tuch. Von rechts ist der Löwe un­ter ei­nem Bo­gen aus der Land­schaft ein­ge­tre­ten; er ver­harrt im Mit­tel­grund; doch schiebt sich ei­ner sei­ner Flü­gel so weit nach vorn, daß er den Evan­ge­lis­ten fast be­rührt. Im Rest­feld un­ter dem Texten­de auf fol. 20 steht ein En­gel mit der Lau­te als Halb­fi­gur in ei­ner Land­schaft. fol. 20v: Zwei ganz­sei­ti­ge Mi­ni­a­tu­ren, mit de­nen be­reits der Schrei­ber rech­ne­te, als er auf fol. 21 und fol. 25 vierz­ei­li­ge Ini­ti­a­len ein­rich­te­te, schmü­cken die Ma­rien­ge­be­te: Zum Obse­cro te eine Be­te­rin mit der Ma­don­na (fol. 20v): In ei­nem Re­nais­sance­raum, der links durch ei­nen Bo­gen ins Freie bli­cken läßt, ist eine Be­te­rin vor ih­rem Bet­pult nie­ der­ge­kniet, von der hei­li­gen Ka­tha­ri­na be­glei­tet, die mit der Rech­ten ein gro­ßes Richt­ schwert an der Schnei­de faßt und mit der Lin­ken ein ver­gol­de­tes Zei­chen für ihr wich­ tigs­tes At­tri­but, das zer­bro­che­ne Rad, hoch hält. Die ganz in Schwarz ge­klei­de­te Dame trägt ein gol­de­nes Kreuz an ei­ner gol­de­nen Ket­te um den Hals; ihre schwar­ze Hau­be ist mit dem wei­ßen Bünd­chen so weit zu­rück ge­rutscht, daß ihr gol­den ge­tön­tes Blond­haar das Ant­litz rahmt. Die Be­te­rin wagt nicht auf­zu­schau­en, son­dern senkt den Blick und spricht die in gol­de­nen Let­tern ins Bild ein­ge­schrie­be­nen Wor­te s. ma­r ia pro me ora. In ih­rem blau­en Kleid wirkt Ma­ria gra­zil; ihr Man­tel, im glei­chen Blau, aber von fes­te­ rem Stoff, ist auf Hüft­hö­he he­rab­ge­sun­ken. In ei­nen mit Rot schat­tier­ten gol­de­nen Rock ist der Je­sus­kna­be ge­klei­det; freund­lich, aber ohne ech­ten Se­gens­gruß, wen­det er sich, von der Got­tes­mut­ter ge­hal­ten, zur Be­te­rin. Aus dem reich ge­fäl­tel­ten grü­nen Tuch ih­ res Bal­da­chins, der eher zu ei­nem Bett als zu ei­nem Thron ge­hört, tritt der grei­se Jo­seph her­vor, ähn­lich wie bei man­chen Bil­dern der Kö­nigs­an­be­tung. Die ju­gend­li­che Mut­ter­ got­tes trägt eine präch­ti­ge Kro­ne; die Be­te­rin hin­ge­gen hat eine be­schei­de­ner ge­stal­te­te, aber ju­we­len­be­setz­te Kö­nigs­kro­ne (!) in ih­rem Bet­pult ab­ge­legt. Am Texten­de, auf fol. 24, ist wie­der Platz für ei­nen En­gel in der Land­schaft, der mit un­ter­ge­schla­ge­nen Ar­ men nach rechts schaut. Zum O int­emer­ata er­scheint die Ma­don­na mit Kind, ohne den im Text auch an­ge­spro­ che­nen Lieb­lings­jün­ger Jo­han­nes (fol. 24v): Halb­fig­urig wird sie nahe zum Be­trach­ter ge­rückt, nun in ein grau­es Kleid un­ter dem blau­en Man­tel ge­hüllt, auf ei­nem gol­de­nen Thron und doch wie auf­recht­ste­hend. En­gel in wei­ßen und ro­sa­far­be­nen Tu­ni­ken ste­hen hin­ter ihr; da­rü­ber staf­feln sich in drei Rei­hen feu­rig und gol­den glü­hen­de Se­rap­him. Der Kna­be wird durch den gol­de­nen Ap­fel in der Hand als zwei­ter Adam ver­stan­den; er trägt nur ein wei­ßes Tuch um Scham und Knie. Die Kom­po­si­ti­on ist nicht ohne die be­rühm­te Antw­erp­ener Ma­don­na im En­gels­kreis vom Di­ptyc­hon aus Me­lun zu den­ken, die Jean Fou­quet für Étienne Che­va­li­er ge­malt hat. Deut­li­cher als dort wur­de der Bild­ ge­dan­ke für ein Di­ptyc­hon kon­zi­piert; denn der Thron und die Haupt­fi­gur sind nach rechts ge­rückt, aber nach links ge­wen­det, als wenn auf ei­ner ge­gen­ü­ber­lie­gen­den Mi­ni­a­ tur, für die aber in un­se­rem Buch kein Platz ist, eine Be­te­rin an­ge­spro­chen wer­den soll­te. fol. 27: In un­ge­wohn­ter Wei­se wird die Jo­han­nes-Pas­si­on mit ei­nem ge­ra­de­zu ein­zig­ar­ ti­gen Pas­si­ons­zyk­lus ge­glie­dert; zu­nächst wur­den acht Ab­schnit­te im lau­fen­den Text

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mit Bil­dern ver­se­hen; dazu ka­men am Ende von sie­ben Tex­ten in der zwei­ten Kam­pag­ ne hin­zu­ge­füg­te Bil­der, die den Zyk­lus er­gän­zen. Der Um­stand, daß die Auf­er­ste­hung auf fol. 39v ir­rig der Kreuz­ab­nah­me vo­raus­geht, läßt kei­nen Zwei­fel an der Tat­sa­che, daß die Res­träu­me erst nach­träg­lich, aber selbst­ver­ständ­lich noch im un­ge­bun­de­nen Zu­ stand mit Bil­dern ge­füllt wur­den. Das Er­öff­nungs­bild, of­fen­bar mit dem Ge­bet im Gar­ ten Geth­sem­ane, fehlt vor fol. 27, wo eine vierz­ei­li­ge Ini­ti­a­le den Text­an­fang Egres­sus est ihe­sus her­vor­hebt. So be­ginnt der Zyk­lus heu­te mit dem Ju­das­kuß (fol. 28), wo er sich schlüs­sig auf das Je­sus­wort Mit­te gla­dium tuum be­zieht: Malc­hus und Pet­rus ist links ne­ben der Haupt­ grup­pe aus Je­sus und Ju­das viel Platz ein­ge­räumt; Malc­hus kniet, hat die La­ter­ne fal­len las­sen, um mit der Rech­ten nach sei­ner blu­ten­den Wun­de zu fas­sen; Je­sus hält das ab­ ge­schla­ge­ne Ohr be­reits in der Hand, wäh­rend Pet­rus noch ein­mal kräf­tig mit sei­nem Schwert aus­holt. Vier­zehn Zei­len stan­den auf fol. 30 für ein Bild zur Ver­fü­gung, das Jesu Weg­füh­rung durch meh­re­re Sol­da­ten zeigt; die­ses sonst nicht mit ei­nem Bild be­dach­te Mo­tiv mag sich aus dem ers­ten Wort des nun fol­gen­den Texts er­klä­ren: Addu­cunt ergo Jh(esu)m ad cayp­ham. Die Text­wie­der­ga­be ist je­doch ir­rig, mü­ßte es doch hei­ßen a cay­pha, da vom Ver­hör be­reits auf den bei­den vo­raus­ge­hen­den Sei­ten die Rede war und Je­sus nun zu Pi­ la­tus ge­bracht wird. Das zu­ge­hö­ri­ge Kopf­bild löst sich dann ganz von der Text­fol­ge, es zeigt die Dor­nen­krö­nung (fol. 30v), von der erst nach der nächs­ten Mi­ni­a­tur die Rede ist: Je­sus sitzt en-face auf ei­nem Falt­stuhl, mit ge­fes­sel­ten Hän­den; zwei Scher­gen trei­ben die Dor­nen­kro­ne in sein blu­ten­des Haupt, wäh­rend Pi­la­tus links am Bild­rand zu­schaut. Im nur drei Zei­len ho­hen Bild auf fol. 32 schleppt sich ein Scher­ge mit Rei­sig ab; er wird es für die Gei­ße­lung brau­chen, die dann als Kopf­bild auf Ver­so ge­schil­dert wird. Das ge­ schieht in Über­ein­stim­mung mit dem Inci­pit Tunc ergo app­re­hen­dit py­la­tus ihesu(m) et fla­ gell­avit eum (fol. 32v), doch in ei­nem Wi­der­spruch zur Bild­fol­ge; denn die Dor­nen­kro­ne fehlt, wie auch bei Jo­han­nes nach­zu­le­sen: Wie­der ist die Dar­stel­lung auf zwei Pei­ni­ger be­schränkt; wie­der schaut Pi­la­tus zu, nun fast ganz vom lin­ken Scher­gen ver­deckt. Jesu Akt­fi­gur, die an die sehr dün­ne Gei­ßel­säu­le ge­bun­den ist, hebt sich zart und zer­brech­ lich von den der­ben Ge­stal­ten ab. Noch ein­mal wird eine Weg ­füh­rung Jesu in dem sechs Zei­len ho­hen Bild auf fol. 33 ge­ zeigt. Zwei Sol­da­ten zer­ren ihn nach rechts, von links gibt ihm ein drit­ter ei­nen bö­sen Tritt. Zum Text steht die­se klei­ne Mi­ni­a­tur im sel­ben Wi­der­spruch wie das Kopf­bild der Hand­wa­schung des Pi­la­tus auf fol. 33v; denn der Er­lö­ser mü­ßte nun die Dor­nen­kro­ ne tra­gen, die ihm nach der Gei­ße­lung ge­ge­ben wur­de; er wird aber bar­häup­tig ge­zeigt, ob­wohl es aus­drück­lich heißt: Exi­vit ergo ihe­sus port­ans coro­nam spi­neam. Auf ir­ri­tie­ren­ de Wei­se er­in­nert die Kom­po­si­ti­on an das Ma­don­nen­bild mit Be­te­rin auf fol. 20v: Pi­ la­tus sitzt un­ter ei­nem ähn­li­chen grü­nen Bal­da­chin, des­sen wal­len­des Tuch sei­ne Füße ver­hüllt. Von hin­ten ist der Die­ner mit Scha­le und Kan­ne ge­kom­men und ins Knie ge­ sun­ken, wäh­rend der grei­se Statt­hal­ter zu Chris­tus schaut.

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Das Prin­zip, die Rest­bil­der auf die nach­fol­gen­den Tex­te ein­zu­stel­len, gilt auch auf fol. 35: Dort wird die Her­an­schaf­fung des Kreu­zes ge­zeigt. In ei­nem schon zu Be­ginn des 15. Jahr­hun­derts ge­wohn­ten Bild­kon­zept folgt die Kreuz­tra­gung zu Sus­cepe­runt aute(m) il­lum (fol. 35v): Ma­ria, von zwei hei­li­gen Frau­en be­glei­tet, fin­det ge­ra­de noch am lin­ken Bild­rand Platz, wäh­rend Jo­han­nes fehlt. Raum­grei­fen­de Haupt­fi­gur ist Je­sus, der nun die gol­den leuch­ten­de Dor­nen­kro­ne auf dem Haupt hat und das Kreuz wie noch beim Bed­ford-Meis­ter mit dem Stamm nach vorn trägt. Ihn zerrt ein Sol­dat in gol­de­ner Rüs­ tung, der viel klei­ner als der Er­lö­ser ist, wäh­rend ein zwei­ter Sol­dat, eben­so pracht­voll ge­rüs­tet, auf Je­sus ein­schlägt; oft gilt des­sen Wut eher Si­mon von Kyr­ene, der hier je­ doch nicht ge­zeigt wird. We­der für das Stadt­tor von Je­ru­sa­lem noch für Golg­atha ist Platz; statt­des­sen drängt eine in bräun­li­ches Dun­kel ge­hüll­te Schar von Sol­da­ten hin­ter den Haupt­fi­gu­ren ins Bild. Vor dem nun fol­gen­den Kreu­zi­gungs­bild (fol. 37) ist nur eine vol­le Zei­le leer ge­blie­ben, die vom Ma­ler nicht wei­ter be­han­delt wur­de, viel­leicht weil schon ein Kno­ten­stock die vo­raus­ge­hen­de fast lee­re Zei­le füll­te. Sehr ge­nau wird dies­mal der Text­an­fang Stab­ant au­tem iuxta cru­cem um­ge­setzt, der nur von Ma­ria, Cleop­has, Mag­da­le­na und Jo­han­nes spricht. Ge­gen die ikono­gra­phi­sche Kon­ven­ti­on ist auf die Dar­stel­lung des Haupt­manns ver­zich­tet; nur ein Sol­dat taucht auf, an den rech­ten Rand ge­drängt: Al­lein ragt das Kreuz in den Boge­nab­schluß der Mi­ni­a­tur hi­nein. Ma­ria und Jo­han­nes ste­hen zu den Sei­ten, der Lieb­lings­jün­ger weist mit der Rech­ten zum Kreuz, wie ein Au­tor, der das Ge­ sche­hen er­klärt. Hin­ter ihm wie hin­ter Ma­ria sind die zwei im Text ge­nann­ten Frau­en, Cleop­has und Mag­da­le­na zur Mit­te ge­rückt, durch zar­te Nim­ben als hei­li­ge Ge­stal­ten ge­kenn­zeich­net; links drän­gen sich wei­te­re From­me, von de­ren Köp­fen nur die Ka­lot­te zu se­hen ist, und rechts eben der eine Sol­dat, des­sen Ge­sicht weit­ge­hend von Jo­han­nes über­deckt ist. Irr­tüm­lich sind die auf fol. 38v leer ge­blie­be­nen zehn Zei­len für ein Oster­bild ge­nutzt, das erst in Kon­flikt mit der Mi­ni­a­tur ge­gen­über ge­riet, als das Buch ge­bun­den vor­lag: Vor sei­nem Sar­ko­phag steht der Auf­er­stan­de­ne, mit ei­nem Kreu­zes­stab, an dem klei­ne Wim­pel be­fes­tigt sind. Von vorn links und rechts so­wie von hin­ten rechts bli­cken Sol­ da­ten zu ihm auf; ei­ner schützt die Au­gen vor der Er­schei­nung. Vom Zyk­lus her wäre an die­ser Stel­le Chris­ti Ab­stieg in den Lim­bus zu er­war­ten ge­we­sen. Auf fol. 39 folgt dann zum Text über die Bit­te an Pi­la­tus, man wol­le den Ge­kreu­zig­ten be­gra­ben (Post hec au­tem rog­avit py­la­tum ios­eph ab ari­mat­hia) mit der Kreuz­ab­nah­me die an­spruchs­volls­te Kom­po­si­ti­on des gan­zen Zyk­lus: Ma­ria ist mit ih­ren Be­glei­te­rin­nen an den lin­ken Rand ge­drängt. Auf ei­ner leicht nach links ge­dreh­ten Lei­ter steht ei­ner der bei­den Al­ten, Ni­ko­de­mus oder Jo­seph von Ari­mat­hia, und hält den Ge­kreu­zig­ten mit ei­nem Tuch, wäh­rend der an­de­re rechts steht und den Leich­nam in Emp­fang nimmt. Nur fünf Zei­len hoch ist die be­fremd­lichs­te Dar­stel­lung in die­sem Zyk­lus, die Grab­be­ rei­tung (fol. 39v): Die Zei­len, die be­rich­ten, daß Chris­ti Leich­nam, wie es bei Ju­den Sit­ te war, in Lei­chen­tü­cher ge­hüllt und mit Spe­ze­rei­en auf­be­rei­tet wur­de, wer­den in eine Schil­de­rung des christ­li­chen Brauchs um­ge­münzt, den man in der Ent­ste­hungs­zeit des

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Ma­nus­kripts in Pa­ris kann­te: Der tote Chris­tus ist hier – und ich ken­ne kein zwei­tes Bei­spiel – in wei­ßes Lei­nen ein­ge­näht. Die bei­den Al­ten ste­hen mit dem Rü­cken zum Grab und schau­en ei­nan­der ge­ra­de­zu rat­los an. Zu Erat au­tem lo­cus wird dann auf fol. 40 die Grab­le­gung in der ikono­gra­phisch ge­wohn­ ten Wei­se ge­zeigt; da­bei ge­hö­ren die ins Lei­chen­tuch ein­ge­web­ten blau­en Zier­strei­fen zu jü­di­scher Tra­di­ti­on: Nun ist der Leich­nam wie­der zu se­hen, ge­ra­de­zu auf dem Lei­ nen schwe­bend, wie er von den bei­den Al­ten in den Sar­ko­phag ge­bet­tet wird. Nur Ma­ ria und zwei hei­li­ge Frau­en tre­ten hin­zu; Jo­han­nes fehlt. Daß dem Ma­ler ein ge­wis­ser Kon­flikt zwi­schen Jesu Be­stat­tung in ei­nem Sar­ko­phag oder ei­ner Fel­sen­höh­le ge­läu­ fig war, drückt sich in der Land­schaft aus; denn wie ein hal­ber Fels­bo­gen wölbt sich von links dunk­les Ge­stein über den Ge­stal­ten. Das läßt an ober­i­ta­li­e­ni­sche Ge­mäl­de des­sel­ ben The­mas wie die leo­nar­de­ske Ta­fel von Marco d’Oggi­ono und Gio­vanni Bol­traf ­fi o in der Ber­li­ner Ge­mäl­de­ga­le­rie den­ken. fol. 41: Im Ma­rien­of ­fi­zi­um er­öff­nen alle Stun­den im heu­ti­gen Zu­stand mit ei­nem Voll­ bild, das wie ein klei­nes Tä­fel­chen mit gol­de­nen Rah­men­leis­ten umf­aßt ist. Der Schrei­ ber war da­rauf ein­ge­stellt, daß auf den Bild­sei­ten je­weils nur die ers­te Zei­le des Texts Platz fin­den soll­te; denn er be­gann die Matu­tin mit Et os meum, die fol­gen­den Stun­den durch­weg mit Do­mine ad adiu­van­dum und die Komp­let mit Et averte iram tuam. Die Ein­ gangs­for­meln muß­ten dann in Rot auf die gol­de­nen Rah­men ge­malt wer­den. Zu­nächst war nur mit je­weils ei­nem Bild ge­rech­net wor­den. Bei Matu­tin, Lau­des und Ves­p er blieb es da­bei. Die an­de­ren Stun­den aber wur­den dop­pel­sei­tig be­bil­dert; doch ist die­se Aus­ stat­tung nicht voll­stän­dig er­hal­ten ge­blie­ben. Wäh­rend der Ar­beit am Ma­rien­of ­fi­zi­um wird sich auch der Schrei­ber mit die­sem ihm frem­den Kon­zept aus­ei­nan­der­ge­setzt ha­ ben. Nach­dem auf fol. 59v zu den Lau­des ein Bild auf Ver­so ge­nüg­te, ließ er vor den an­ de­ren Stun­den – bis auf die Ves­p er – je­weils eine gan­ze Ver­so­sei­te leer. Haupt­mo­ti­ve der Ikono­grap­hie fan­den durch­wegs auf Rec­to ih­ren Platz, wäh­rend die Ver­sos mit er­ gän­zen­den Dar­stel­lun­gen ge­füllt wur­den. Die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matu­tin (fol. 41) spielt in ei­nem Re­nais­sance­raum, der nach rechts hin­ten auf eine run­de Ap­sis hin fluch­tet; dort steht ein Al­tar mit ei­ner bren­ nen­den Ker­ze und ei­nem nied­ri­gen gol­de­nen Ret­abel, des­sen Fi­gu­ren­schmuck nicht wei­ ter cha­rak­te­ri­siert ist. Das da­durch sak­ral de­fi­nier­te In­te­ri­eur ist je­doch kei­ne Ka­pel­le; denn es ist links wie eine Log­gia mit Säu­len be­setzt und zur Land­schaft ge­öff­net. Ma­ ria nimmt viel Raum ein, wie sie links vorn wohl auf ei­nem Kis­sen sitzt, die Hän­de ge­ kreuzt und den Blick auf ein gro­ßes Buch ge­senkt, das sie auf den Kni­en auf­ge­schla­gen hat. Ein zwei­tes Buch ist auf ei­nem Bet­pult hin­ter ihr in der Bild­mit­te vor dem Al­tar auf­ge­schla­gen. Von rechts, also nicht aus dem Frei­en links ist Gab­ri­el ge­kom­men und ins Knie ge­sun­ken, um mit ent­schie­de­nem Zei­ge­fin­ger die Jung­frau an­zu­spre­chen. Über ihm schwebt die Tau­be und sen­det gol­de­ne Strah­len aus. Den Ge­samt­ein­druck do­mi­niert das Blau von Ma­ri­ens Man­tel mit dem Gold der Dal­mat­ika und dem Grau der Ar­chi­ tek­tur, zu dem auch Ma­ri­ens Kleid paßt; hin­zu kom­men das Grün von Bet­pult und En­ gels­flü­geln so­wie Weiß; rot ist nur die Kan­te des Samt­ein­bands von Ma­ri­as Buch; sonst

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dient es auf Gold als Schat­tie­rung und be­lebt die Lip­pen so­wie die Füße der Tau­be des Hei­li­gen Geis­tes. Bei der Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 59v) bleibt es bei ei­nem sehr ähn­li­chen Ko­lo­ rit: Von links tritt Eli­sa­beth vor der Ku­lis­se ih­res Hau­ses ins Bild, um sich sacht vor der Jung­frau zu nei­gen; mit ih­rer Rech­ten faßt sie Ma­ri­as Lin­ke. Jo­seph und eine Be­glei­te­rin drän­gen von rechts ins Bild. Die Land­schaft türmt sich mit fel­si­gen Ber­gen nach rechts, so daß er­kenn­bar wird, daß Ma­ria über’s Ge­birg ge­kom­men ist. Nur ein klei­ner Aus­ schnitt des Him­mels ist links oben über fer­nen Burg­ber­gen zu se­hen. Dem heu­te ver­lo­re­nen Weih­nachts­bild zur Prim wur­de eine Mi­ni­a­tur mit der Su­che nach ei­ner Her­ber­ge in Beth­le­hem (fol. 70v) ge­gen­ü­ber­ge­stellt. Die­ses in Stun­den­bü­chern sehr sel­te­ne Su­jet war in der flä­mi­schen Buch­ma­le­rei um den Wie­ner Meis­ter der Ma­ria von Bur­gund um 1470 be­liebt, je­doch eher als Mo­tiv für Bild­bor­dü­ren, nur sel­ten, so im Ox­ for­der Stun­den­buch des En­gel­bert von Nas­sau, fand es in ei­ner Mi­ni­a­tur Platz: Wie dort sind Ma­ria und Jo­seph zu Fuß von links aus der Land­schaft ge­kom­men; ein jun­ger Wirt, der sei­ne Rech­te hebt und mit der Lin­ken auf den Geld­sack pocht, weist sie ab. Zu ei­ner unerhörten, so ge­schei­ten wie verblüffenden Lö­sung ins­p i­rier­te die Dop­pel­sei­ te mit der Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 74v-75): Das zu­erst ge­mal­te Bild auf Rec­to zeigt das ge­wohn­te Ge­sche­hen, auf raf ­fi­nier­te Wei­se, denn wie um ein Meer von Scha­fen sind fünf Hir­ten ver­sam­melt; sie ho­cken noch auf dem Bo­den und wa­chen wie die Sol­ da­ten des Oster­bil­des von fol. 38v auf, weil ein sehr klei­ner En­gel im Him­mel er­scheint, um ih­nen die Fro­he Bot­schaft zu über­mit­teln. Nur sel­ten wer­den sol­che Hir­ten in der christ­li­chen Ikono­grap­hie von einer Hir­tin be­glei­tet, ganz si­cher aber nie von ei­ner ganzen Schar in eigener Dar­stel­lung: ihnen ist das lin­ke Bild gewidmet; die bei­den im Vor­ der­grund prüfen die Wollfäden zum Spinnen, et­was wei­ter in den Mit­tel­grund ge­rückt steht eine Frau, auch sie mit Hir­ten­ta­sche; gol­de­ne Strah­len fallen aus dem Him­mel auf sie. Ist es spekulativ, in dieser ikonographisch alleinstehenden Miniatur eine Referenz auf Katharina von Aragon zu sehen: die Dame mit ausladender güldener Haube und zwei Halsketten (!) im Vordergrund, umgeben von ihrem weiblichen Gefolge? Es wäre unserer Überzeugung nach die schlüssigste Deutung für diese einzigartige Heraushebung. Die Kö­nigs­an­be­tung zur Sext (fol. 80) wird auf dem vor­ge­schal­te­ten Bild durch den Troß der Kö­ni­ge (fol. 79v) er­gänzt. Vorn rechts steht ein höl­zer­ner Kas­ten of­fen; ihm hat man of­fen­bar die Ga­ben ent­nom­men. Ein in bun­te Liv­ree ge­klei­de­ter Knecht hält zwei Pfer­ de, de­ren Kör­per von rechts in die­ses Bild ra­gen, wäh­rend ein zwei­ter Knap­pe ne­ben ei­nem präch­ti­gen Schim­mel steht. Über dem auf­wen­dig mit Rot ge­zäum­ten Zel­ter er­ scheint ein An­füh­rer mit gol­de­nem Helm und gol­de­ner Rüs­tung un­ter blau­em Wams; er rei­tet ei­nen Brau­nen; eine dich­te Schar von Män­nern in Rüs­tung folgt ihm. Der ganz aus Holz ge­bau­te Stall von Beth­le­hem schließt sich um die Fi­gu­ren im Bild ge­gen­über. Vom Stern ist nichts zu se­hen. Vor Ma­ria hat der äl­tes­te Kö­nig sei­ne Kro­ne ab­ge­legt, um dann ins Knie zu sin­ken und ei­nen gol­de­nen Kelch dar­zu­bie­ten, des­sen De­ckel of­fen steht. In klei­ne­rem Maß­stab drängt der jüngs­te Kö­nig über ihm ge­ra­de noch ins Bild; er trägt noch die Kro­ne auf dem Haupt und bringt ein gro­ßes Zi­borium. Auch der mitt­

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lere König in der Bildmitte is noch gekrönt; doch verschwindet seine Krone fas hinter der hohen Krempe seines blauen Huts. Joseph, ganz an den rechten Bildrand gerückt, blickt im Profil zu ihm. Maria is vor diese Gesalten gerückt und sitzt mit dem nackten Knaben, vielleicht wieder auf einem Kissen, in sich gekehrt. Zehn Zeilen blieben auf der Reco-Seite von fol. 84 leer; sie wurden für Beter in der Landschaft genutzt: Einem vornehmen Herrn folgen zwei Jünglinge mit respektvollem Absand. Auch bei Non fehlt das Anfangsblatt, auf dem zweifellos die Darbringung im Tempel zu sehen war. Doch erhalten is ein Bild von Marias Begleiterinnen und Joseph (fol. 84v), den ein zweiter Bärtiger begleitet. In einer ähnlichen Landschaft wie bei der Heimsuchung wird die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 88) gezeigt: Der Esel trottet nach rechts, trägt die Muttergottes mit dem in einen roten Rock gekleideten Jesusknaben. Im Profil schreitet Joseph in gleicher Richtung; den Strick, mit dem er den Esel führen könnte, hat er über dessen Hals gelegt; an einem krummen Stock trägt er ein schmales weißes Bündel. Auch am Ende der Vesper blieb Platz für ein Bild, nur drei Zeilen hoch; es zeigt einen Beter in der Landschaft (fol. 95), dessen Kopf vom Bildrand abgeschnitten is. Das Doppelbild der Marienkrönung zur Komplet (fol. 95v-96) beseht aus zwei Miniaturen unterschiedlichen Charakters: Die Verso-Seite is dem Engelschor gewidmet: Ersaunlich seil ragen zwei Engel auf, hinter denen sich ungezählte weitere Engel scharen, die bis auf zwei ganz gesichtslos bleiben. Einer der beiden hat die Arme untergeschlagen, während der zweite zu ihm schaut und zugleich mit der Hand auf das Geschehen rechts weis. Dort, auf Reco, verdrängt Fliesenboden den mit Steinen besäten Wiesengrund. Vor einem runden Zelt thront Jesus, mit weltlicher Krone, in der Linken die Sphaira, und segnet die vor ihm kniende jugendliche Maria, der gerade ein Engel die Krone aufgesetzt hat. Wie vor allem in der älteren Buchmalerei von Rouen üblich, begrenzt eine niedrige Mauer das Geschehen zur Landschaft. Zwischen dem Textende der Komplet und der Rubrik zum Adventsofzium blieben auf fol. 100v vier Zeilen frei; dort wird Maria auf einem Bett ruhend gezeigt, von derselben Frau angebetet, die auf fol. 20v in großer Gesalt erschienen is. Gegenüber eröfnet die Wurzel Jesse jenen Text, den die Rubrik als ofcium beate marie virginis quod dicitur per totum adventum bezeichnete (fol. 101): Auf der Grasnarbe eines schräg nach rechts abfallenden Felsens liegt der Stammvater Isai. Aus seiner Brus, nicht aus seinen Lenden sprießt in goldenem Camaïeu As werk, das Blüten mit den Halbfiguren von Königen trägt. Sie erscheinen lebhaft gesikulierend vor einheitlich blauem Grund. Namentlich erkennbar is nur David mit der Harfe. In der Mitte oben, zierlicher als die Könige, sprießt die in Weiß gekleidete Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben aus einer weißen Blüte. fol. 108: Bei den nun folgenden Horen folgt der Schreiber demselben Prinzip, die erse Zeile der Matutin auszulassen, weil er weiß, daß der Maler domine labia mea aperies auf die untere Rahmenleise seiner die ganze Seite ausfüllenden Miniaturen schreiben wird. Die Kreuzigung (fol. 106) faßt das Geschehen, anders als auf fol. 37, mit den ge-

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wohnten Bildmotiven der Mariengruppe links und dem Zenturio rechts und fügt unter das weit ausgreifende Kreuz Chrisi die Schächerkreuze mit extrem kurzen Querbalken. Zwischen einem guten und einem bösen Schacher wird nicht unterschieden, sondern auf ungewohnte Art zwischen einem Greis links und einem blonden Jüngling rechts. Beide sind von derber rötlicher Hautfarbe und ofenbar mit ihren Armen eng an ihre Kreuze gebunden, srikt frontal gegeben, mit auf die Brus gesenktem Kinn. Chrisus hingegen neigt sein Haupt zur Mutter, die betend daseht, von einer Frau, wohl Magdalena, und Johannes fankiert. Der greise Zenturio, dessen Beine graue Rüsung tragen, während Oberkörper und Helm golden glänzen, seht ohne Gesprächspartner vor seinen Soldaten und hebt den rechten Zeigefinger. Aufällig sind seine gelben Stofärmel, vielleicht irrtümlich so gefärbt, weil am linken Arm, eher in der Ellenbeuge als am Ellenbogen, eine blumenförmige Applik befesigt is, die eher zu metallenen Rüsungen gehört. Die Landschaft is fach, der Horizont liegt auf Augenhöhe Marias; von Jerusalem is nichts zu sehen. Mit nur drei Zeilen Text enden die Kreuzhoren; das führt zur Kombination von zwei Bildern der Aposelscharen bei der Ausgießung des Heiligen Geiss (auf fol. 113v und 114). Der für unser Buch verantwortliche Maler zeigt sie immer asymmetrisch: Links kniet die Aposelschar, von Petrus angeführt, der sich in monumentaler Größe vor Maria schiebt. Alle schauen zur Taube des Heiligen Geises auf; sie erscheint vor Himmel und tief blauen Wolken in einem Okulus, der in die dunkle Architektur eingeschnitten is. Nicht weiter gekennzeichnet sind die acht weiteren Aposel hinter Petrus. Auf dem vorausgehenden Verso knien insgesamt neun Aposel; sie beten in dieselbe Richtung wie jene im Hauptbild, als könnte man auch vom Verso aus die Taube erblicken. Während Johannes in keinem der beiden Bilder erkennbar is, führt der für die Iberische Halbinsel wichtige Pilger Jakobus, am breitkrempigen Hut über der Schulter erkennbar, die Schar links an. Das ungewöhnlichse Füllbild findet sich zwischen dem Textende der Geis-Komplet und der Rubrik für die Bußpsalmen auf fol. 118v: In nur zwei Zeilen bringt der Maler David und Goliath in Halbfiguren unter: Der Hirtenknabe holt mit der Schleuder aus, während der golden gerüsete Riese verdutzt, noch unverletzt, die Hand zum goldenen Helm hebt. fol. 119: Die Bußpsalmen eröfnet das Jüngse Gericht in einem Vollbild, mit dem auch der Schreiber gerechnet hat; denn er ließ die vier Anfangsworte domine ne in furore aus. Über einer fachen Landschaft, die in der Ferne von vier Burgbergen abgeschlossen wird, erhebt sich in bleichem Hellblau der Himmel, von dunkelblauen Wölkchen durchzogen, die wie durch Beleuchtung von links mit goldener Höhung belebt sind. Unten seigen die Toten in idealem Alter nackt aus der Erde; links richten sie sich betend auf, rechts wenden sie sich bis auf eine Frau schmerzerfüllt ab. Über ihnen schwebt Chrisus in sehr schlanker Erscheinung als Weltenrichter mit den Wundmalen des Schmerzensmanns, die Füße auf einem goldenen Globus, dessen Rund wie bei einem angebissenen Apfel von einer Wolke gesört wird. Statt eines Regenbogens dient ein dünner gelber Bo-

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gen als Sitz des Richters, der die Linke leicht senkt und die Rechte etwas entschiedener hebt. Auf seiner Höhe schweben als Fürbitter Maria und der Täufer; doch beschränkt sich die Darsellung nicht auf eine solche Deesis, weil Maria von Johannes dem Evangelisen begleitet wird, während nur ein weibliches Antlitz auftaucht; Katharina is wohl gemeint, die man als wichtigse Advokatin unter den Heiligen begrif. Somit wird deutlich, daß die Heiligengruppen zu Seiten des Weltenrichters allein zur Fürbitte zitiert werden, während sons oft die Aposel, dem Evangelium folgend, als Beisitzer gemeint sind. Die Figurengröße nimmt von den Aufersehenden unten schon zu Chrisus hin ab; sehr viel kleiner sind schließlich die beiden Engel gegeben, die in den oberen Ecken die Posaunen des Jüngsen Gerichts blasen. fol. 130: Nur sehr selten wird die Litanei mit einem eigenen Bild ausgesattet; es zeigt entweder wie in unserem Psalter-Stundenbuch für Langres (Tour de France, Nr. 11) die Gregors-Prozession oder wie hier Alle Heiligen in Anbetung der Gottheit. Der Schreiber hat dafür eine Seite leer gelassen; im Rahmen seht nur die Rubrik seqvitvr letania sanctorvm: Schauplatz is eine sehr viel höhere Himmelssphäre als beim Jüngsen Gericht, das ja den Weltenrichter zurück zur Erde bringt. Mit Rot modelliertes Gold bildet vor dem weißlichen Blau und den dunkelblauen Wölkchen große Wolkenschübe, um die Heiligengruppen in ein kosbareres Licht zu versetzen. Zentrum is ein rundes Zelt, vor dessen rosafarbenem Tuch die Trinität thront, Chrisus mit Dornenkrone im grauen Ungenähten Rock; Gottvater als greiser Paps in einem mit zartem Grün gefütterten Chormantel über der Albe, die im gleichen Rosa wie das Zelt gehalten is. Die Rechte des Vaters ruht auf einer goldenen Sphaira, die auf beider Knien seht; über ihr srahlt die Heilig-Geis-Taube vor einem Rund im gleichen Hellblau, das den Fond des Himmels ausmacht und damit den Anschein erweckt, das Tuch des Zelts sei durchbrochen. Auf sehr ungewöhnliche Weise sind die Heiligen zu beiden Seiten der Gottheit und in den unteren Bildecken verteilt. Halbfiguren heiliger Jungfrauen, von denen eine den Palmwedel des Martyriums trägt und eine andere den Turm, der sie als Barbara benennbar macht, eröfnen das Bild unten. Oben hingegen wird zwischen Männern und Frauen unterschieden. Ein bartloser Bischof, dessen Namen man nur zu gerne wüßte, schiebt sich oben links vor Petrus und die anderen Aposel. Maria hingegen führt eine Schar von Frauen an, die durch ihre Hauben als Matronen oder Nonnen bezeichnet sind. fol. 139: Die ungewöhnlichse spirituelle Leisung unseres Stundenbuchs liegt in der Bebilderung des Totenofziums. Nicht nur Vesper und Matutin werden durch Vollbilder eröfnet, sondern auch alle neun Lesungen. Wieder werden an Textenden leer gebliebene Zeilen mit weiteren Bildern gefüllt. Ers durch sie finden sons gewohnte Elemente der für Totenofzien verfügbaren reichen Ikonographie Platz. Von einem Zyklus im Sinne des Buchmalerbrauchs wird man nicht reden können; denn einzelne Bilder scheinen ad hoc aus den Lesungen entwickelt zu sein, die bekanntlich alle dem Buch Hiob entnommen sind. Die Bildgedanken kreisen aber nicht um den Dulder aus dem Alten Tesament, sondern lösen sich auf höchs ungewohnte Weise von dessen Geschichte, so daß sogar satt des alttesamentlichen Gottes Chrisus mit den Aposeln zu Hiob auf dem Dung sprechen kann.

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Auch hier hat sich der Schreiber auf Vollbilder eingesellt, in deren Rahmen die Anfangsworte der einzelnen Texte eingeschrieben sind. Vesper und Matutin (fol. 139 und 146) nehmen den bei der sogenannten Illusration des Totenofziums verbreiteten Brauch auf, genrehaft Sterben und Begräbnis zu schildern; ein weiteres Bild dieser Art eröfnet die fünfte Lesung (fol. 260v). Motive aus dem Totentanz finden unsysematisch in Resbildern Platz; auch an einer solchen Stelle wird das Gleichnis vom Armen Lazarus ins Bild gesetzt (fol. 145v), jedoch nur in einem Teilbild, zu dessen Versändnis man vollsändige Versionen kennen müßte. Insgesamt wird man fessellen dürfen, daß der unerhörte Ideenreichtum in unserem Totenofzium nur in sehr wenigen Bilderhandschriften, zu denen so monumentale Werke wie die Grandes Heures de Rohan, latin 9471 der Pariser Nationalbibliothek, gehören, erreicht und auch dort kaum übertrofen wird. Nach den Schlußgebeten zur Litanei blieben auf fol. 138v zwölf Zeilen frei; dort werden zwei Frauen auf dem Friedhof betend gezeigt: Die Beterin, die wir von fol. 20v kennen, erscheint in einem rosafarbenen Kleid, von einer zweiten Frau begleitet; sie kniet innerhalb von Friedhofsmauern vor einem ofenen Grab, in das drei Tote gebettet sind. In finseren Farben is das Hauptbild mit einer Sterbeszene auf fol. 139 gegenüber gehalten: Von der dunklen Wand hebt sich das schwarze Tuch des Betthimmels und der Bettdecke kaum ab, deren finsere Wirkung die goldene Höhung noch versärkt. Schwarz is auch der Mantel des Dominikaners, der vorn neben einem in seine dunkle Kutte gehüllten Franziskaner hockt. Beide haben Bücher auf ihrem Schoß, deren aufgeschlagene Seiten weiß leuchten; weiß is auch die Kutte des Dominikaners; und in weißer Bettwäsche liegt der – noch junge – Sterbende. Ihn ruft der Tod; der seht als ledriger Leichnam rechts am Fußende und hebt einladend die Rechte. Vom besonderen Witz des Malers zeugt eine aufällige Abweichung vom gewohnten Brauch: Über dem Kopfende von Prunkbetten wurden kosbare Gemälde kleinen Formats befesigt, die in anderen Bildern durchweg religiösen Charakter haben, weil sie Maria oder die Gottheit zeigen. Hier aber erblickt man im auf wendigen Goldrahmen eine Art absraktes Bild mit zwei unterschiedlich blauen Wolken vor hellem Grund; nur der Himmel als ein leerer Ort kann gemeint sein. In den zwölf Zeilen zwischen dem Ende der Vesper und der Rubrik der Matutin werden auf fol. 145v die Höllenqualen des Reichen geschildert. Am Hals angekettet sitzt er im Feuer, von Teufeln gequält, und wendet den Blick nach oben. Mit der Hand zeigt er auf seinen Mund, als erscheine über ihm Abraham mit der Seele des Armen Lazarus im Schoß. Für sie aber is auf der Buchseite kein Platz. Zitiert wird eine von unserem Maler häufig benutzte Bildvorlage, die beispielsweise im Stundenbuch des Chrisoph von Baden vollsändig wiedergegeben is (Karlsruhe, Landesbibliothek, cod. Durlach 1, fol. 66: König 1978, S. 95f; dort auch eine Erörterung der Ikonographie und ihrer Verbreitung). Für das in Lukas 16 und Johannes 11 erzählte Gleichnis wäre eigentlich ein Bilderpaar angemessen, wie es schon am romanischen Portal von Moissac zu finden is: Zunächs wird das Gasmahl des Reichen geschildert, der den Armen zurückweis, und dann der Durs des Reichen in der Hölle, der Lazarus um einen Tropfen Wasser bittet.

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Ganz in der Ge­gen­wart des Ma­lers spielt das Be­gräb­nis auf fol. 146. Aus ver­mut­li­cher Schwä­che des Ma­lers im Um­gang mit der Pers­p ek­ti­ve wird ein für mo­der­ne Au­gen fas­ zi­nie­ren­des Spiel von Schrä­gen mit ir­ri­tie­ren­den Grö­ßen­ver­hält­nis­sen zwi­schen den dar­ ge­stell­ten Fi­gu­ren: Schau­platz ist ein Fried­hof mit ho­hem bild­pa­ral­le­len Stein­tor rechts hin­ten, auf das von links die Fried­hofs­mau­er schräg zu­läuft. Über ihr er­hebt sich tem­ pel­ar­tig ein Re­nais­sance­bau, wie er zu je­ner Zeit in Frank­reich nir­gend­wo zu fin­den war. Eine Pa­ral­le­le zu die­ser Fried­hofs­mau­er bil­det ein stei­ner­ner Gra­bes­de­ckel, der ent­we­der kühn ver­kürzt oder in An­leh­nung an me­ro­win­gi­sche Sar­ko­pha­ge, die man in Frank­reich noch heu­te oft an­trifft, am Kopf­en­de deut­lich brei­ter ge­schnit­ten ist. Zwi­schen bei­den Haupt­li­ni­en sind die Men­schen an­ge­ord­net, die sich hier zur Bet­tung ei­nes in Lei­nen ein­ge­näh­ten To­ten ver­sam­melt ha­ben: Am lin­ken Bild­rand steht ein Pries­ter im Chor­ man­tel, mit ei­nem Weih­was­ser­we­del; er bil­det mit dem Leich­nam und dem ei­nen To­ ten­grä­ber, der hin­ter dem Weih­was­ser in der Gru­be steht, die Haupt­grup­pe. Ein Stück zu­rück­ge­setzt sind sechs Geist­li­che links; zu ih­nen ge­hört ein Di­a­kon, der ei­nen gol­de­ nen Kreuz­stab auf­rich­tet. Von rechts sind zwei Pleur­ants he­ran­ge­tre­ten, de­ren schwar­ze Ge­wän­der ähn­lich ir­ri­tie­rend mit Gold ge­höht sind wie das Tuch der Ster­be­sze­ne. Ge­gen den Brauch he­ben sie ihre Häup­ter und zei­gen ihre Ge­sich­ter. Ih­nen fol­gen bar­häup­ti­ ge Män­ner und fast ganz vom rech­ten Rand ab­ge­schnit­ten eine Frau mit Wit­wen­hau­be, die ein­zi­ge weib­li­che Fi­gur im gan­zen Bild. Die Bil­der zu den Le­sun­gen er­öff­nen auf fol. 152 – für ein Stundenbuch völlig einzigartig – mit dem Rad der For­tu­na (!), ne­ben dem je­doch nicht die an­ti­ke Göt­tin steht, son­ dern eine Pro­phe­ten­ge­stalt, wohl Hiob selbst, der auf ei­nen am Bo­den lie­gen­den To­ten weist, wäh­rend sich vier Fi­gu­ren auf dem Rad be­fin­den: An das Rad klam­mert sich ei­ ner, der links auf­steigt, und ein zwei­ter, der rechts ab­steigt. Zwi­schen ih­nen sitzt oben ein Kö­nig mit Kro­ne und Zep­ter, in Blau mit brei­tem Her­me­lin­kra­gen. Un­ten aber ist ein Nack­ter in ei­nem an Ix­ion oder an Mar­tern des hei­li­gen Ge­org ge­mah­nen­den Bild­ mo­tiv nur mit den Fü­ßen an das Rad ge­bun­den, wäh­rend er sich mit den Hän­den ver­ zwei­felt da­ran fest­hal­ten muß. Bei­schrif­ten im Bild stam­men aus der an­schlie­ßen­den Le­ sung: quid est ho(mo) qui(a) ma(g)nifi­cas evm steht oben, svbito pro­bas ill­vm steht ne­ben Hi­obs Haupt. Auf fol. 153 bie­ten neun leer­ge­blie­be­ne Zei­len Platz für Tod und Papst aus dem To­ten­ tanz. Das Voll­bild von Je­sus im Ge­spräch mit Hiob auf fol. 153v zeigt, wie Gott­va­ter aus dem Him­mel auf Hiob schaut, wäh­rend von links Je­sus und Pet­rus, von ei­ner A­pos­tel­ schar ge­folgt, zum Dul­der spre­chen, der nackt auf dem Dung sitzt, durch ei­nen Nim­ bus als Hei­li­ger ge­kenn­zeich­net. Sein sind die Wor­te, die di­rekt un­ter die Halb­fi­gur des Va­ters ge­schrie­ben sind, noli me­condanpn­are, in un­glück­li­cher Schreib­wei­se, wie man in glei­cher Zei­len­hö­he ge­gen­über nach­prü­fen kann, wo es rich­tig for­mu­liert ist: noli me con­de(m)pnare. In den sie­ben Zei­len am Ende von fol. 153v wird der Bild­ge­dan­ ke von Hiob mit Je­sus va­ri­iert; nun liegt der Dul­der vor der Ku­lis­se sei­nes Ge­höfts auf dem Dung und weist auf sein Haus, wäh­rend Je­sus mit Jo­han­nes dem Evan­ge­lis­ten zu ihm ge­kom­men ist.

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Der Bezug einer Erscheinung von Chrisus zwischen Maria und Johannes zur nun folgenden Lesung is nicht evident: Auf fol. 155 beten zwei Jünglinge zu einer Erscheinung des vom Tode aufersandenen Schmerzensmannes, der zwischen der Gottesmutter und dem Lieblingsjünger vor sehr niedrigem Horizont seht. Aus dem Totentanz sammt das in nur fünf Zeilen untergebrachte Bild von Bürger und Tod auf fol. 160. Ein Gespräch Gottes mit Hiob folgt als Vollbild auf fol. 160v; die Gotteserscheinung mit der päpslichen Tiara im Himmel trägt Jesu Gesichtszüge. Nur die Sphaira macht deutlich, daß er nicht einfach nur ein heiliger Paps is. Ihm gegenüber zeigt sich, ebenfalls in Halbfigur, ein Bärtiger, dessen Kappe auf einen Propheten schließen läßt. Der schon durch die Vertauschung von m und n unglücklich verfälschte Schriftzug neben ihm, der bereits bei Hiob 13,24 aus Ps. 43,24 sammt, läßt vielleicht an David denken: qvare facien tvan abscondis (gegenüber auf fol. 161: „Cur facie(m) tua(m) abscondis“). Aus der Hioblesung gegenüber sammt hingegen, was der Dulder sagt: posvisti in nervo peden meum (13,27). Die berühmte Hiobsselle (14,1-6), die über das menschliche Leben refektiert, eröfnet mit einem Bild von Kindheit und Tod (fol. 161v): Vor dem Sterbebett eines Mannes hockt eine junge Mutter mit ihrem Wickelkind, auf sie weis der Gelehrte, während rechts neben ihm ein Arzt ein Uringlas in die Höhe hält. Ein junger Mann, der ein Tuch um die Haare gebunden hat, seht hinter dem Bett und schaut vom Kopfende auf den Arzt, während Gott mit Jesu Gesichtszügen aus dem Himmel fessellt: co(n)stitvisti terminos evs (für eius) – was nicht ganz logisch is, wird mit dieser Wendung in Vers 5 im Hiob-Text doch Gott angesprochen, der die Lebensspanne des Menschen besimmt hat. Im zehn Zeilen hohen Füllbild auf fol. 162v prescht der reitende Tod auf einem nicht klar zu besimmenden Tier und bedroht mit einer Lanze zwei junge Männer. Zu Chrisi Erscheinung im Himmel richtet sich der über dem Höllenrachen kniende Hiob (fol. 163) in einem besonders eindrucksvollen Bild, in dem die Gottheit selbs die Worte Hiobs spricht: pvtas ne mortv(v)s und damit fragt, ob man glaube, daß ein Toter wieder leben könne. Über den Felsabbruch, der unten in die Hölle führt, is in goldenen Buchsaben geschrieben vt in ferno prote/gvas me (satt ut in inferno protegas me). Ähnlich unsicher sind die Buchsaben im unteren Bildrand wiederholt, ehe dann der Schreiber in seiner besser lesbaren Schrift den Text mit ut i(n) inferno protegas me auf Verso eröfnet. Der eigentliche Textanfang fehlt; er müßte eigentlich lauten Quis mihi hoc tribuat (14,13). Der Tod allein schreitet im nur dreizeiligen Füllbild auf fol. 168v durch die Landschaft. Auf fol. 169 schließt sich das einzige Bild von Hiob mit seinen Freunden an. Wie im Füllbild auf fol. 154v liegt Hiob vor einer nun etwas längeren Häuserzeile nackt auf dem Dung. Von rechts sind die Freunde gekommen, der ältese nimmt vorn viel Raum ein, er is durch die Geldbörse als wohlhabend gekennzeichnet und sinkt wie ein greiser König in einem Epiphaniebild in die Knie.

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Auf fol. 170 bieten sechs Zeilen Raum für eine Wiederholung aus dem Totentanz, wieder erscheinen Tod und Bürger. Vor einer Landschaftskulisse mit Seelen, die in Kindergesalt im Fegefeuer brennen, wird ein verderbliches Gasmahl junger Männer auf fol. 170v gezeigt, auf die gerade ein Feuersurm niederbraus, während der Tod zu ihren Füßen liegt. In falscher Orthographie wird den Seelen im Feuer zunächs nisemini beigeschrieben, das dann durch re ergänzt wurde; daneben erscheint nicht viel versändlicher niseremini: Tatsächlich gemeint is beide Male miseremini, also "erbarmt Euch", das auch im Text zweimal wiederholt wird. Dem Tod beigeschrieben is rvrsvs circv(m)dabor, aus den berühmten Versen, in denen Hiob mit den Worten "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" (19, 25-26) bekennt, daß er wieder von Haut umgeben in seinem Fleische Gott sehen werde. Damit wird die Themenwahl nicht wirklich erklärt. Das Gasmahl wird sich auf die Verse 1920 im 1. Kapitel beziehen, die berichten, wie Hiobs Söhne durch einen großen Wind von der Wüse her vernichtet werden. Drei Zeilen sehen auf fol. 171v für den Tod und eine junge Frau zur Verfügung; im gebundenen Zusand verbindet sich dieses Bild optisch mit dem Abschlußbild des TotenOfziums, das auf rätselhafte Weise die Bitte um Sündenbekenntnis noch vor dem Tode formuliert (fol. 172): Über Erdtiefen, die an mehreren Stellen zum Fegefeuer hügelig geöfnet sind, seht eine zarte jugendliche Gesalt in heller Tunika, mit ofenem Lockenhaar und einem goldenen Palmwedel in der Hand. Die menschliche Seele könnte gemeint sein; vielleicht aber auch der jugendliche Erlöser, eine mädchenhafte Jungfrau Maria oder der engelsgleiche Lieblingsjünger Johannes. Neben dieser Lichtgesalt, nicht zu ihr, betet ein vornehmer junger Mann rechts vorn, es möge ihm vergönnt sein, den Schmerz über seine Sünden noch vor dem eigenen Weggang ins Jenseits beweinen zu dürfen: dimitte (ergo me) vt pla(n)ga(m) (paululum dolorem mevm) a(nte qvod vadam). Zum mit Jesu Zügen erscheinenden Gott im Himmel sagt ein auf gleicher Höhe schwebender Prophet, es gebe keine Erlösung in der Hölle (in inferno nvlla est redemptio). Schlimmer noch is die Aussage, die unter Jesus neben der rätselhaften Gesalt in der Bildmitte seht und einen Spruch aus der Apokalypse (9,6) variiert: desiderabv(n)t mori et mors effvgiet ab eis; diese Aussage, man werde wünschen, serben zu können, der Tod aber werde fiehen, bezieht sich vielleicht auf die weiter zurückgesetzte Gruppe von Seelen im Fegefeuer. Die vordere Gruppe hingegen drückt mit vtina(m) consv(mp)tvs esse(m) die Hofnung aus, daß ihre Qual ein Ende nehme. fol. 183v: Eine dichte Serie von mit Bogen abgeschlossenen Miniaturen in Vollbordüren schmückt das Gebet an Gottvater, die Sufragien und das darin enthaltene Mariengebet: Nachdem auf fol. 183 vier Zeilen zur Verfügung sanden für die Beterin mit Gott, der sich in einer sehr schlichten Himmelserscheinung zeigt, sitzt Gottvater als Paps in einem mit Juwelen besetzten Chormantel auf einem grünen Thron vor der glühend roten Schar der Seraphim zum Deus propicius eso michi peccatori (fol. 183v). Dann rückt Michaels Drachenkampf den in Gold gerüseten Erzengel ebenso wie den Drachen in prachtvoll plasischer Weise in den Vordergrund (fol. 186). Wie so oft zeigt man zum Stabat ma-

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ter nicht die unter dem Kreuz sehende Muttergottes, sondern Maria mit Johannes und den Frauen unter dem Kreuz zusammengesunken (fol. 187); das Kreuz is nach rechts gerückt, die Soldaten sind aus dem Bild verbannt. Petrus (fol. 189) seht mit einem Schlüssel und einem aufgeschlagenen Buch in der Landschaft, in der sich ihm ein schlankes Bäumchen zugesellt; köslich is die Wirkung des leuchtenden Blaus, mit dem sein rosafarbener Mantel gefüttert is; Gold sorgt noch für weiteren optischen Zauber. Vor seiner Klause sitzt der greise Antonius Abbas (fol. 190), am Schwein erkennbar, aber nicht mit dem für ihn typischen Taukreuz. Als Diakon mit rosafarbener Dalmatika über der srahlend weißen Albe seht der jugendliche Lorenz (fol. 191) auf seinen Ros gesützt in weiter Landschaft. Die Abfolge der Heiligen irritiert; denn ers jetzt tritt Johannes der Täufer (fol. 192) auf; er trägt über dem Kamelfell einen im Wind auf wehenden rosafarbenen Mantel und zeigt auf das kleine Lamm, das mit einem goldenen Kreuzsab auf seinem Buch Platz genommen hat; dichter Wald schließt die Miniatur nach hinten ab. Nachdem auf fol. 192v in einem nur dreizeiligen Bild Nikolaus und ein junger Mann gezeigt wurden, ragt mit Nikolaus als Bischof (fol. 193) derselbe Heilige in einer prachtvoll verzierten rosafarbenen Kasel über grüner Dalmatika und Albe jugendlich so weit auf, daß er sein Haupt neigen muß, um mit der Mitra nicht allzu sehr vom Abschlußbogen abgeschnitten zu werden; er schaut zum Betrachter, segnet aber die drei nackten Knaben im Bottich. Eindrucksvoll wirkt Chrisophorus (fol. 194), der sein blaues Untergewand so geschürzt hat, daß die weiße Unterwäsche sichtbar wird; sein rosafarbener Mantel fattert nach rechts, wie er, als Riese auf einen Baumsamm gesützt, den Chrisusknaben mit der Sphaira durch einen Fluß trägt. Sebasian (fol. 195v) is als zierlicher Jüngling an einen Baum gebunden; sehr viel größer und gröber als er sind die beiden Bogenschützen links, die ihn bereits mit ihren Pfeilen geradezu gespickt haben. In ähnlich überzeugender Plasizität wie Michael und dessen Drache is Margarete (fol. 197) gesaltet; der sehr kurz geratene Beelzebub, der in Drachengesalt eigentlich im tiefsen Kerker auf sie warten müßte, seht in freier Landschaft; der Teufel hat sie verschlungen; noch hängt ein großes Stück ihres Mantels aus seinem Maul, während sie in eleganter Drehung aus seinem Rücken wieder aufseigt, das kleine Kreuz in den Händen. Nach einem nur zwei Zeilen hohen Resbild, das auf fol. 197v zwei Räder Katharinas zeigt, kniet die Heilige von Alexandrien in einer recht altertümlichen Komposition mit Katharinas Enthauptung (fol. 198) vor dem Rad, das gegen die Legende noch ganz intakt is; sie betet, während ein noch recht junger König, den man an seinem Kronhut erkennen kann, zum tödlichen Schlag ausholt. War Katharina nach rechts gewendet, so wird bei Barbaras Enthauptung (fol. 199) die Richtung umgekehrt; in dieser ebenfalls rechts altmodischen Komposition entdeckt man als Erkennungszeichen der Heiligen ihren Turm mit drei Fensern am rechten Bildrand; die Gesalt des Henkers wirkt gedreht. Als Pilger seht Jakobus der Ältere (fol. 200) vor zwei Bäumchen, am Stab und Hut der Pilger erkennbar, mit einem geöfneten Buch in der Hand, das er genauso nach unten senkt wie Petrus.

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Nach einem Resbild von vier Zeilen Höhe, das Genovefa und eine Beterin ohne die schwarze Haube zeigt (fol. 200v), gilt nicht der letzte Text, aber das letzte Bild in den Sufragien wie in manch anderem Pariser Stundenbuch der Stadtpatronin Genovefa (fol. 201); sie seht als Jungfrau mit ofenem Haar und einem Buch in der Hand in der Landschaft; um das Licht ihrer großen Kerze sreiten Teufel und Engel, die als winzige Gesalten im Bogenabschluß der Miniatur fiegen; der Engel is größer und schwebt hinter dem Kopf der Heiligen, die sinnend die Augen senkt. Wie wir in der Beschreibung gesehen haben, spielen die Resfelder nach der schon erwähnten Beterin auf fol. 183 im Sufragienteil keine große Rolle mehr. Wo sie wie auf fol. 186v, 189v, 190v und 191v sowie auf fol. 196v nur eine Zeile ausmachen, genügt ein mit Gold verzierter Farbsreifen; darin wird bei den zwei Zeilen gegenüber Chrisophorus auf fol. 193v ein Vogel angedeutet. Vor Barbara, auf fol. 197v, findet sich die einzige Leerzeile, die nicht ausgemalt wurde. Vor dem durch keine Rubrik erläuterten Christusgebet von fol. 205 war noch Platz für ein Mädchen in der Landschaft; die zwei Reszeilen gegenüber wurden hingegen nur ornamental gefüllt. Auf fol. 205v-206 folgt dann textlos das großartigse Bild des ganzen Stundenbuchs, eine monumentale Leisung des auch für den ganzen Buchblock verantwortlichen Meisers: Die Kreuztragung wird dargesellt, jedoch nicht als eine Station der Passionsgeschichte, sondern mit dem Ziel, den Grundgedanken des auf fol. 206v anschließenden Gebets Qui vult venire pos me aufzunehmen. Das am Falz zusammengeklebte Doppelblatt mag zunächs als isoliertes Andachtsbild konzipiert worden sein; Textspiegelgröße und Schrift auf fol. 205 und 206v weichen ebenso wie die farbigen Initialen leicht vom Res des Buches ab. In dem Moment, als man entschied, die Miniatur im Buch zu bergen, hat dann jedoch derselbe Illuminator, der die Bordüren im Buchblock gesaltet hat, auch die beiden Textseiten in seiner Art geschmückt. Das Bild veranschaulicht die Auforderung Jesu, wer ihm nachfolgen wolle, solle sich selbs aufgeben, sein Kreuz tragen und sich ihm anschließen. So schreitet der Erlöser im Ungenähten Rock auf seinigem Pfad nach links; er faßt das riesige Kreuz am Querbalken, wendet das mit Dornen gekrönte Haupt sacht zurück und senkt die Augen. Die malerische Qualität von Chrisi Antlitz seht auf der Höhe der besen Verwirklichungen der Zeit, zum Beispiel bei Eloy Tassart (Meiser der Claude de France) oder Jean Bourdichon. Ein Hirte oder gar Bettler mit einem langen Stab und einer Almosenschale am Gürtel schließt sich ihm an. Weitere Männer, deren Beinkleider wie beim Bettler über den Knien aufgeplatzt sind, fassen ebenfalls nach dem Kreuzessamm, der sich über beide Bildseiten ersreckt. Das Zentrum der Miniatur bildet eine Gruppe von drei durch Größe, individualisierende Darstellung und Gewandung herausgehobenen Personen: vornan eine Dame mit Witwenhaube und Halskette, ein vor der Zeit gealtert, fast ausgemergelt wirkender Mann in goldüberflossenem Mantel mit Pelzbesatz (?) und seltsamem Wikkelturban, der sein Haar vollständig verbirgt sowie dahinter ein jünglingshafter Mann mit federbesetzter Pelzkappe und prächtigem Kurzmantel aus Brokat mit geschlitzten Ärmeln und bestickten Aufschlägen. Wenn man sich die Gemälde mit den Portraits

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des jungen Heinrichs VIII . von 1509 (Denver Art Museum, Berger Collection), seines Bruders Arthur (Hever Castle), sowie das Brustbild Katharinas von Michel Sittow ansieht, so drängt sich folgende Identifizierung geradezu auf: Katharina, die Adressatin des Buchs trägt das Kreuz Christi an zentral prominenter Stelle; dahinter Arthur mit dem eingefallenen Gesicht des unzeitig früh Gestorbenen und verhülltem Haar (worin wir die zu jener Zeit übliche Sterbehaube sehen dürfen, wie sie über fast 200 Jahre zwischen 1400 und 1580 üblich war: von Rogier van der Weydens Altar der sieben Sakramente in Antwerpen bis zu Barthel Bruyns Sterbe-Diptychon in Brüssel: vergl. aber hier die Darstellung des Gestorbenen auf fol.109, Abb. S. 73!). Abschließend folgt der jünglingshafte Heinrich, dessen oben zitiertes Portrait der Darstellung in unserer Miniatur so nahe kommt, wie das bei zwei verschiedenen Künstlern und Vorlagen überhaupt möglich ist. Das Büblein (mit ähnlicher Kappe wie der Jüngling) wäre dann als Projektion des Wunschsohns anzusehen, der Katharina von Aragon nicht vergönnt war. Unter die Männer und Frauen am Ende des Zuges mischen sich Nonnen, besonders monumental wirkt ein dicker Dominikaner am Fuß des Kreuzesstamms, dem sich ein Franziskaner am rechten Bildrand anschließt. Hinter den wie ein Relief gereihten Figuren vorn scharen sich rechts ungezählte weitere Leute. Ein bemerkenswertes Vergleichsbeispiel findet sich in einem Heft mit moralisierender Dichtung, fr. 2366 der BnF, das um 1520 im Umfeld von Jean Bourdichon mit Zeichnungen versehen wurde: Dort wird fol. 14 um 90 Grad gedreht, um eine doppelseitig konzipierte Kreuztragung unterzubringen, bei der in eng mit unserer Miniatur verwandter Komposition Menschen verschiedener Stände, darunter eine Frau und ein Kind, von Mönchen gefolgt, beim Kreuz mit anfassen (Ausst.-Kat. Blois 2015, Nr. 30, worin Maxence Hermant die Zeichnung au mieux vers 1520 datiert) – bezeichnenderweise unter völligem Verzicht auf die bei uns ins Zentrum gerückte Trias von Dame und zwei Herren (Frau und – abgewandtes – Kind rangieren an vorletzter Stelle vor den Mönchen). Die Landschaft ist karg; die Ferne wird nicht so stark in Blau gehalten wie in den sonstigen Miniaturen. Ein leicht violett getöntes Weiß herrscht auch im Himmel, der von tief blauen Wolken durchzogen ist. fol. 207: Nicht von derselben Hand, der das großartige Bild der Kreuztragung und die sonstige Bebilderung unseres Stundenbuchs verdankt wird, stammt die letzte Miniatur, mit der die Horen von Mariä Empfängnis eröffnen; sie zeigt die Jung frau Maria in die Sonne gekleidet, in den Himmel erhoben, mit den Sinnbildern der Immaculata. Bilder der Immaculata spielten im Stundenbuch schon deshalb kaum eine Rolle, weil die Themen zum Marienoffizium lange Zeit schon festlagen, ehe die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis 1479 unter dem franziskanischen Papst Sixtus IV. neues Gewicht erhielt und von der Sorbonne 1496 erneut bestätigt wurde. Als Platz für ein solches Bild im Stundenbuch bot sich das Officium de conceptione beate marie virginis, also die Horen der Empfängnis, an. Dieses Stundengebet ist erst im späteren 15. Jahrhunderts zunehmend beliebt geworden; bebildert wurde es am häufigsten mit dem Kuß an der Goldenen Pforte, so noch in den 1520er Jahren in unserem Stundenbuch der Claude de France die Ikonographie.

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Abweichend von allen anderen Miniaturen in unserer Handschrift wurden drei Zeilen mit Initiale und Incipit der Matutin der Empfängnis so in die Bildfäche integriert, wie man das seit Fouquets Stundenbuch des Étienne Chevalier (die meisen Blätter im Musée Condé, Chantilly) kannte. Die Ikonographie hat uns schon mehrfach beschäftigt: Eine Miniatur desselben Themas und vielleicht sogar von derselben Hand dient zum ersen Adventssamsag als Eröfnungsbild für das Brevier des Ocovien de Saint-Gelais (Nr. 51). In einem langen, weißen Hemd, das sich zu ihren Füßen saut, schwebt die jugendliche Muttergottes vor den Strahlen der Sonne; die Mondsichel is nicht gezeigt, aber vielleicht im unteren Kontur der Gesalt angedeutet. Goldblondes Haar fießt um Haupt und Hals. Streng frontal zeigt sie sich und fügt die Hände zum Gebet. Über ihr erscheint vor goldenem Grund und von feurigen Seraphim umgeben Gottvater in Halbfigur, segnend, mit der Sphaira in der Linken. Unter seiner Erscheinung schwingt sich ein Schriftband mit den Worten tota pvlchra es amica mea et macvla no(n) est in te aus dem 7. Vers des 4. Kapitels im Hohen Lied. Der greise Gott bekennt sich damit zur Sponsa des Hohen Lieds. Vierzehn weitere Spruchbänder, zuweilen recht schwer lesbar, und nicht nur zwölf wie im Brevier des Ocovien de Saint-Gelais, begleiten einzelne Bildmotive, die um die Gesalt der Jungfrau schweben. Der vom rechten Rand halb überdeckte Baum is als oliva speciosa bezeichnet. Ihm antwortet links, ähnlich abgeschnitten, die cedrvs exaltata. Gegen den Uhrzeigersinn von links oben aus sind folgende Bildvokabeln veranschaulicht: Maria wird zunächs nach dem Hohenlied (6,9) als klar wie die Sonne (eleca vt sol) und schön wie der Mond (pvlcra vt luna) gepriesen. Dann is sie nach 4,15 Himmelspforte (porta celi) und Lilie unter Dornen (liliv(m) i(n)t(er) spina(s)), Brunnen der lebenden Wasser (pvt(eus) aq(varvm) vive(n)civ(m)) und verschlossener Garten ((h)ort(vs) co(n)clvsus). Auf der rechten Seite, nun von unten aufseigend, verseht man sie als den Gottessaat des Augustinus oder als Himmlisches Jerusalem in apokalyptischem Sinne (civitas dei); sie wird als Quelle (fons signatvs), als feckenloser Spiegel (specvlvm sine macvla) und Turm Davids (tvrris david) und dann als Rosengarten (pla(n)tacio ros(e)) bezeichnet. Kaum sichtbar is schließlich der Meersern (sella maris) direkt neben ihrer Stirn. Diese insgesamt vierzehn Motive gehören zu den berühmten Sinnbildern und Beiwörtern, die das mittelalterliche Chrisentum für die Jungfrau und Gottesgebärerin gefunden hatte. Zusammengesellt hat sie Anselm Salzer (Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters mit Berücksichtigung der patrisischen Literatur, Linz 1893). Aus dem Hohen Lied sammen der Vergleich mit Sonne und Mond, Davids Turm, die Quelle lebendigen Wassers, der verschlossene Garten, die Gartenquelle und die Lilie unter Dornen. Aus Ecclesiasicus (Jesus Sirach) sind die Zeder im Libanon, die Rosensöcke von Jericho und der Ölbaum entlehnt. Der Spiegel ohne Makel geht hingegen auf Sapientia, Weisheit 7, 26, zurück. Himmelspforte und Meersern sind nicht biblischen Ursprungs, sondern sammen aus der Mariendichtung des Mittelalters.

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Eine derartige Darsellung seht am Ende des Breviarium Grimani (fol. 831); dort antwortet sie auf ein prächtiges Bild der Madonna mit Kind auf dem vorausgehenden Verso. Da dort kein Text folgt, kann das Bild mit den goldenen Beischriften selbs gleichsam als Endtext des Breviers gelten. Dort wird zusätzlich noch die virga iesse gezeigt und damit jener Grundbesand aus fünfzehn Motiven vereinigt, die im frühen 16. Jahrhundert als Symbole und Beiwörter Marias in entsprechenden Bildern der Immaculata geradezu kanonisch werden sollten. Vom Meiser der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle entworfen wurde die ältese Pariser Druckplatte dieses Themas, ein Metallschnitt, mit dem sich Ina Nettekoven in unserem Katalog Horae von 2003 und in ihrer Monographie über den letzten großen Vertreter der Spätgotik in Paris auseinandergesetzt hat (Horae I, S. 231 f.). Dazu lieferte sie biblische Quellen (Nettekoven 2004, S. 93, Anm. 498-509), und sie diskutierte auch, ob die Civitas Dei auf Augusinus oder die Apokalypse verweis. Den Metallschnitt konnte sie bis zu einem Stundenbuch für Rom, Paris: Thielmann Kerver, 1. Dezember 1502, zurückführen (Horae I, 2003, Nr. 35). Für sie gehört die Platte aber zu einer Serie für Kerver, die schon in den Jahren 1497 – 1500, also noch in der Inkunabelzeit, entsanden sein dürfte. In einem von uns vorgesellten Stundenbuch-Manuskript (Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI , Nr. 24, in diesem Katalog Nr. 52) eröfnet eine solche Miniatur auf fol. 28 das Mariengebet Obsecro te. Der Meiser der Philippa von Geldern hat dort einen ausgeprägten Sinn für Präzision bewiesen. Caroline Zöhl hat ihrerseits, in ihrer Pichore-Monographie von 2004, die gedankliche Verwandtschaft der Graphik mit den Marienbildern des Puy Notre-Dame in Amiens untersrichen. Maler wie Jean Pichore haben schon bald die Strenge der Graphik für Kerver aufgebrochen und das Bildfeld, ja sogar die Hauptfigur erheblich seiler angelegt. Wie in dem hier besprochenen Stundenbuch hat er die einzelnen Elemente ebenso wie die Schriftbänder mit den Beiworten särker als räumliche Motive und nicht nur als Bildvokabeln begrifen. Die beteiligten Buchmaler Dieses Manuskript, von dem wir annehmen, es sei um 1504 – 1507 in Paris entsanden, um als ein diplomatisches Geschenk für Katharina von Aragon zu dienen, die verwitwet in England unter wenig würdigen Bedingungen zurückgehalten wurde, is in Kalender und Buchblock ganz und gar einheitlich von einem der führenden Vertreter eines neuen Stils gesaltet worden, der mit den in Paris noch nach 1500 wirkenden spätgotischen Konventionen silisisch wie ikonographisch bricht. Als Martainville-Meiser bezeichnet man den Künsler, ausgehend von dem bilderreichen und äußers faszinierenden Stundenbuch Ms. 183, das mit der Bibliothek aus dem Schloß Martainville im gleichnamigen Ort weslich von Rouen inzwischen in die Stadtbibliothek von Rouen überführt wurde. Im Vergleich mit zwei dem Grundbesand hinzugefügten Bildseiten aus der Werksatt von Jean Pichore, der vorgeschalteten Wappenmalerei mit Engeln und der Immaculata zu den Horen der Empfängnis Mariä am Ende des Bandes, tritt das Temperament des

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Malers deutlich hervor: Beide Künsler sehen für den vitalen Neubeginn der Buchmalerei in Paris um 1500, arbeiten großfigurig und mit kräftigem Farbauftrag; doch während Pichore bei allem Sinn für eine neue Monumentalität graphische Qualitäten betont, überspielt der Martainville-Meiser, der unseres Wissens weder Entwürfe noch Illuminierung für den Pariser Bilddruck geliefert hat, die Konturen. Während es Pichore auf eine gewisse Ruhe und einen äshetischen Ausgleich ankommt, setzt er sich entschiedener von bis dahin gültigen Konventionen ab. Deshalb zog man wohl auch den etwas klassischer vorgehenden Pichore für das Bild der Beterin auf fol. 20v heran. Seine platzgreifenden Figuren legt der Martainville-Meiser zuweilen so an, als wolle er Bildformate sprengen; aus diesem Grundzug seiner Kuns erklärt sich die wichtigse Eigenschaft unseres Stundenbuchs: Der Maler kann noch den ungewöhnlichsen Bildformaten etwas abgewinnen. Dazu paßt sein höchs ersaunlicher Sinn für ikonographisch ausgefallene Bildideen, der sich in den Miniaturen zum Totenofzium in unserer Handschrift brillant ausdrückt. Zugleich geht der Künsler neue Wege; dafür seht in doppeltem Sinne die großartigse Miniatur in unserem Stundenbuch: Seine doppelseitige Kreuztragung setzt sich über alle vertrauten Bildformate ebenso hinweg, wie sie die Zeitebenen durchbricht. Schon in unserem Katalog 20 (Illumination und Illusration, Rotthalmünser 1987) wurde ein herausragendes Werk derselben Hand als Nr. 21 vorgesellt. Zum besseren Versändnis des verantwortlichen Künslers hat Mara Hofmann in ihrer unveröfentlichten Berliner Magiserarbeit über das seinerzeit von uns angebotene Panisse-Stundenbuch beigetragen (Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, 2000, Nr. 23). Das geschah in enger Absimmung mit den Forschungen von Ina Nettekoven und Caroline Zöhl, die ebenfalls für uns gearbeitet haben, und bezog auch die Leisungen von Isabelle Delaunay mit ein, die bereits 1993 in der Revue du Louvre unser Panisse-Stundenbuch erwähnt hatte. Das hier vorgestellte Buch sprengt fast in jeder Hinsicht die Normen, die man von Pariser Stundenbüchern um 1500 gewohnt ist: Als ein Hauptwerk des Martain­ ville­Meisters ist es überwältigend reich mit figürlicher Buchmalerei ausgestattet, die in wenigstens zwei Arbeitsschritten versucht, auch kleine Restfelder mit Bil­ dern zu füllen. Die inhaltlich ungemein faszinierenden Miniaturen verbinden sich zu sonst kaum zu findenden Szenenfolgen, beispielsweise der Passion, die in vielen einzigartigen Stationen geschildert wird. Sie fügen sich aber im Totenoffizium zu einer kontemplativen Serie, deren einzelne Themen genial aus dem Text entwickelt sind. Damit beansprucht die Buchmalerei einen ungewohnten Platz auch als Motor oder wenigstens Interpretin neuer Spiritualität: Aus der gewohnten Ansiedlung des Passionsgeschehens in eine imaginäre Lebenszeit Jesu führt die doppelseitig ange­ legte Kreuztragung in die Gegenwart von Künstler und Auftraggeber und eröf net für die Malerei ein neues Feld: Man sollte darin eine Vorahnung der erst eine Gene­ ration später entwickelten Verlebendigung des Passionsgeschehens durch Ignatius von Loyola und den von ihm – übrigens in Paris – begründeten Jesuitenorden sehen.

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Zum un­er­hör­ten Reiz die­ses Ma­nus­kripts ge­hört der farb­lich fas­zi­nie­ren­de Rand­ de­kor mit sei­nen viel­f äl­ti­gen Be­zü­gen zu den fran­zö­si­schen fle­urs de lis. Ein sol­ches Buch ver­langt auch von den mo­der­nen In­ter­pre­ten Mut: Des­halb be­haup­ten wir, die un­ge­wöhn­li­che Dar­stel­lung ei­ner Be­te­rin, die von der hei­li­gen Ka­tha­ri­na be­glei­tet wird und eine Kö­ni­gin­nen-Kro­ne in ih­rem Bet­pult ver­wahrt, be­zie­he sich auf eine der wich­tigs­t en Fi­gu­ren in den po­li­ti­schen Macht­spie­len um 1500: Ka­tha­ri­na von Ar­agon, der das Ma­nus­kript dem­nach als dip­lo­ma­ti­sche Gabe Kö­nig Lud­wigs XII . und sei­ner Gat­tin Anne de Bre­tag­ne zu­ge­dacht war, nach­dem sie ih­ren ers­t en Ehe­ mann, den Prin­zen von Wales, Ar­thur, ver­lo­ren hat­te. Die beeindruckende, im Pro­ venienzeintrag ebenso wie in der Einleitung namhaft gemachte Reihe weiterer Indi­ zien legt diese Zuschreibung nicht nur nahe, sondern drängt sie geradezu auf. Li­te­ra­tur Das Manuskript ist bislang unveröffentlicht, allerdings planen wir für den Frühling 2019 eine Faksimileausgabe mit deutschem und englischem Kommentar. Zu Ka­tha­ri­na von Ar­agon sie­he: Gar­rett Mat­tin­gly, Ka­tha­ri­na von Ar­agon, Stutt­gart 1962; Gi­les Trem­lett, Cath­erine of Ar­agon: The Spa­nish Queen of Hen­ry VIII, Lon­don 2010; Pa­trick Will­iams, Cath­erine of Ar­agon, Am­ber­ley 2012. James P. Car­ley, The Books of King Hen­ry VIII and his Wives, Lon­don 2004, bes. S. 109-123. Hin­wei­se auf Buch­be­sitz von Ka­tha­ri­na von Ar­agon bie­tet Li­eve de Kesel, New Per­spect­ives on De­vo­ti­on­al Manu­scripts Asso­cia­ted with Marga­ret of Aust­ria and Her Re­la­ tions: The Role of the Prayer Book Mas­ter, in: Les Fe­mmes, la cult­ure et les arts en Eur­ ope en­tre Mo­yen Âge et Re­nais­sance (auch mit eng­li­schem Ti­tel: Women, Art and Cult­ure in Medi­eval and Early Re­nais­sance Eur­ope, hrsg. von Cynt­hia J. Brown und Anne-Ma­rie Le­garé, Turnh­out 2016, S. 89-117, bes. S. 95 mit Hin­weis auf die Mu­sik­hand­schrift Ro­yal Ms. 6 G vii der Bri­tish Lib­rary, dort wird auch das flä­mi­sche Stun­den­buch ih­rer Schwä­ge­rin Marga­ret Tu­dor (Chats­worth, Duke of De­vons­hire) er­wähnt. Zum Mart­ain­ville-Meis­ter: noch ohne die­se Be­zeich­nung: Eber­hard Kö­nig (mit Ger­hard Stamm), Das Stun­den­buch des Mark­gra­fen Chris­toph I. von Ba­den. Co­dex Dur­lach I der Ba­di­schen Lan­des­bib­li­o­thek, hrsg. von El­mar Mitt­ler und Ger­hard Stamm. Kom­men­tar­ band zum Fak­si­mi­le, Karls­ru­he 1978; so­dann Isa­bel­le Del­aunay, Les Heu­res d’Éco­uen du mus­ée na­ti­o­nal de la Re­nais­sance : échan­ges en­tre ma­nusc­rits et imp­rimés au­tour de 1500, in: Re­vue du Louv­re 1993, S. 11-24; Mara Hof­mann, Stu­di­en zum Pa­nis­se-Stun­den­ buch, un­ver­öf­fent­lich­te Ma­gis­ter­ar­beit, Ber­lin, Freie Uni­ver­si­tät 1998.

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48 Ein nach 1461 im Poi­tou oder der LoireRe­gi­on ge­schrie­benes Stundenbuch, gegen 1500 vom Pa­ri­ser Mart­ain­ville-Meis­ter voll­en­det


S. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom mit Pariser Kalender. Lateinische Handschrift mit Kalender in Französisch, auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Blau und Rot, die Feste in Gold, in brauner Bastarda. Loiregebiet, Bourges oder Tours, nach 1461: zwei Meister, davon einer aus dem nächsten Umkreis von Georges Trubert; vollendet um 1500 in Paris vom MartainvilleMeister 43 große Miniaturen mit Bogenabschluß, bis auf eine Ausnahme in Vollbordüren aus Blattwerk und Blumen über vierzeiligen Incipits mit dreizeiligen Akanthus-Initialen in Blau auf Rot oder umgekehrt. Der Buchschmuck in zwei verschiedenen Kampagnen, aber mit Beibehaltung der Dekorationsart sowie auf den meisten Bildseiten mit jeweils einem goldenen und einem blauen M in ausgesparten Räumen. Alle Textseiten mit reichen vegetabilen Bordürenstreifen außen. Kleinere Initialen als Goldbuchstaben auf mit Gold verzierten abwechselnd blauen und weinroten Flächen, zweizeilig für Psalmenanfänge, einzeilig für Psalmenverse, die am Zeilenbeginn stehen; prachtvolle Zeilenfüller der ersten Kampagne. Versalien nicht laviert. 267 Blatt Pergament, dazu vorne und hinten je drei fliegende Vorsätze Pergament, mit kräftiger schwarzer Tinte foliiert, der Kalender jedoch nicht. Das feine Pergament ist im Buchblock so eng gebunden, daß sich jede Kollationierung verbietet. Duodez (122 x 86 mm; Textspiegel: 62 x 40 mm). Rot regliert, zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen. Fast unbeschnitten und brillant erhalten. Nach einer ersten Arbeitsphase in den 1460er Jahren unvollendet liegen geblieben; bei der zweiten Kampagne textlich umgearbeitet; dabei wurden Texte wie die Psalmengruppen in der Marien-Matutin entfernt und verändert. Der um 1500 erreichte Bestand blieb bis auf zwei Blatt, deren Texte schon im Barock nachgetragen wurden, vollständig. Vorzüglicher dunkelgrüner Maroquin-Einband des frühen 17. Jahrhunderts, den Nrn. 74, 75 und 77 bei Esmérian II verwandt, die dort unter „Ateliers non identifiés“ geführt und mit Lyon verbunden werden: Rücken und Deckel mit reicher Vergoldung, darin ein Monogramm RB . Zwei ausgezeichnete mit Silber beschlagene Schließen. Goldschnitt. In moderner Lederkassette. Je zwei große M schmücken die meisten Vollbordüren in dafür frei gelassenen Räumen; es wird sich nicht auf die Muttergottes Maria beziehen, sondern einen Namen bezeichnen. Doch der läßt sich ebenso wenig bestimmen wie das fünf Generationen später auf dem Einband festgehaltene Monogramm RB . Exlibris A. Brölemann, jedoch nicht in dessen Katalog 1926. Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 70. Zuletzt Schweizer Privatbesitz.

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Text Unfoliiert: Kalender in französischer Sprache; jeder Tag besetzt: Goldene Zahl und Fese in Blau; Sonntagsbuchsaben A als goldene Initialen abwechselnd auf braunroten und roten Flächen; einfache Heiligentage abwechselnd schwarz und rot; Heiligenauswahl mit dem Fes der Genovefa am 3. Januar pariserisch. Vermutlich nicht aus der ersen Arbeitskampagne, zumindes im Dekor ganz der zweiten Kampagne zugehörig. fol. 1: Perikopen: Johannes (fol. 1; das zweite Blatt bei der Foliierung ausgelassen), Lukas (fol. 2v), Matthäus (fol. 5) und Markus (fol. 7v; Textende entfernt und im Barock auf fol. 8v nachgetragen). fol. 9: Verse des heiligen Gregor: Anfang (Adoro te in crucem pendentem) entfernt, aber im Barock am Rand nachgetragen; fol. 23: Gregor-Suffragium. fol. 11: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom, mit eingeschalteten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 11; auf 14v werden Psalmengruppen für die Wochentage angekündigt; deren Text aber auf fol. 18-24 vom zweiten Schreiber ersetzt; der an die erse Nokturn das Te deum anschließt und die Psalmengruppen unterdrückt), Laudes (fol. 26v, deren Schluß vom zweiten Schreiber ersetzt), Kreuz-Matutin (fol. 43), Geist-Matutin (fol. 45), Marien-Prim (fol. 47), Kreuz-Prim (fol. 53), Geist-Prim (fol. 54v), Marien-Terz (fol. 55v), Kreuz-Terz (fol. 61v), Geist-Terz (fol. 62v), Marien-Sext (fol. 64), Kreuz-Sext (fol. 69v), Geist-Sext (fol. 71), Marien-Non (fol. 72), Kreuz-Non (77v), GeistNon (fol. 78v), Marien-Vesper (fol. 80, fas der ganze Text vom zweiten Schreiber auf fol. 81-90 ersetzt), Kreuz-Vesper (fol. 91v), Geist-Vesper (fol. 92v), Marien-Komplet (fol. 94), Kreuz-Komplet (fol. 100), Geist-Komplet (fol. 102). fol. 103: Mariengebete und Marien-Horen, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 103). Aus der zweiten Arbeitskampagne: Stabat Mater (fol. 109), Horen der Empfängnis Mariä (fol. 113), Rosenkranzgebet mit Ave Maria: Missus est angelus (fol. 124), Te deprecor (fol. 134), O intemerata (fol. 136); fol. 140v: leer. fol. 141: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 158); Heiligenauswahl für Paris mit Gervasius und Prothasius sowie Dionysius ebenso wie Genovefa. fol. 167: Totenoffizium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 167: Anfangsblatt verloren, die fehlenden Passagen auf fol. 166v und 167 vom Foliator im Barock nachgetragen), Matutin (fol. 177); Laudes (nicht markiert fol. 224v). fol. 236: Suffragien in ungewohnter Reihenfolge, die sich von der Ordnung der Litanei lös, wohl auch schon um 1500 verändert: Michael und Anna sind an den Schluß gesetzt, nur ein Aposel und nur zwei Märtyrer werden angerufen. Neben Franziskus fehlt Dominikus; doch die ers 1461 heiliggesprochene Dominikanerin Katharina von Siena, die ebenfalls die Stigmata trug, is aufgenommen; ers im späten 15. Jahrhundert findet sich in solche Gebetsfolgen Susanna aus den Daniel-Apokryphen: Jakobus (fol. 236), Sebastian (fol. 237); Julian (fol. 238), Nikolaus, in der Rubrik auf fol. 240v angekündigt, vielleicht

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schon der Revision um 1500 zum Opfer gefallen; Christophorus (fol. 241); Franziskus (fol. 242v); Magdalena (fol. 244); Katharina (fol. 245v); Katharina von Siena (fol. 246v); Barbara (fol. 248); Avia (fol. 249v); Susanna (fol. 251); Michael (fol. 252v). Als Nachtrag in der zweiten Arbeitskampagne: Anna (fol. 253v). Textende: fol. 254. Schrift und Schriftdekor Das Buch wurde von zwei Schreibern zu unterschiedlichen Zeiten in recht ähnlicher Basarda geschrieben. Die Schrift is so gleichmäßig, daß die Schreiberhände weniger klar getrennt werden können als die gemalten Elemente. Der Unterschied wird dort am deutlichsen, wo ganze Passagen um 1500 verändert oder ergänzt wurden. Aus der zweiten Kampagne sammt vermutlich der Kalender ebenso wie die Mariengebete in den vier Quaternionen von fol. 109 – 140 und jene Partien im Marien-Offizium, die wie auf fol. 81 – 90 den älteren Text verändern und ersetzen. Der Grundbesand wurde mit einheitlichem Buchschmuck versehen: Die meisen kleineren Initialen waren bei der Unterbrechung der Arbeit ebenso vollendet wie die dreizeiligen Zierbuchsaben der Incipits, für die Bildflächen vorgesehen waren. Die Randsreifen zu den im ersen Zusand belassenen Texten und die Vollbordüren sammen aus dieser Phase. Die erse Kampagne is von einer ausgezeichneten Buchkultur geprägt, die in der Loiregegend um 1450 vor allem in den Kleinen Stundenbüchern des Jouvenel-Meisers, wohl in Angers, entwickelt worden is: Kräf tig dunk les Rot oder Blau wird für plasische Akanthusbuchsaben auf Flächen der jeweiligen Gegenfarbe eingesetzt; sarke schwarze Konturen und Ornamentierung mit Pinselgold schaffen eindrucksvolle Wirkung. Die plasische Kraft bleibt auch bei den kleineren Zierbuchsaben erhalten; denn selbs wenn sie nur goldene Lettern auf einfarbigen Gründen sind, so sorgt die sarke Konturierung der Felder und die Modellierung mit Gold für Plasizität. Der Randschmuck der ersen Kampagne erreicht hingegen durch lockere Streuung von Blütenzweigen eine zierliche Leichtigkeit, die untersützt wird durch den Wechsel von Gold und hellem Grün in dem aus goldenen Zweigen sprießenden Blattwerk. Das kleine Format lädt dazu ein, jede einzelne Bordüre nur auf jeweils eine Pflanzensorte, meis Blumen, bei der Kreuztragung aber beispielsweise auch dunkle Trauben zu beschränken. Die Neigung, das Rankenwerk aus einem zentralen Punkt am unteren Rand der Bordüre aufschwingen zu lassen, gibt dem Dekor emphatische Qualität. Akanthus kommt nicht vor. Von der eleganten Schmuckfreude zeugt der Umsand, daß sich die Randsreifen zum Text nicht an die Grenzen des Textspiegels halten, sondern großzügig nach oben und unten ausgreifen. Sogar diese Eigenart galt noch in der zweiten Kampagne, die prinzipiell den Prinzipien der ersen verpflichtet bleibt. Die kleinen Initialen werden nun als einfache Goldbuch-

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saben auf einfarbige blaue oder rote Flächen gesetzt; das genügt auch bei zwei der dreizeiligen Incipits (fol. 124 und 253v). Der Randschmuck is nicht nur särker silisiert, sondern auffällig mit Rot umrandet. Diese Eigenart hilft zugleich, die Bordüren der ersten Kampagne besser zu begreifen: Dazu wurden vermutlich zwei verschiedene Hände herangezogen, die im Grad der Stilisierung abweichen; die härtere Manier, z.B. auf fol. 251, sammt somit nicht aus der Abschlußphase der Arbeiten. Die Bilder Drei Maler sehr unterschiedlichen Temperaments schufen die vorzügliche Bebilderung dieses Manuskripts. Zwei von ihnen werden in den 1460er Jahren gearbeitet haben, ehe der Martainville-Meiser um 1500 alle bis dahin leer gebliebenen Bildfelder ausfüllte sowie auch die ers zu diesem Zeitpunkt hinzugekommenen Partien von fol. 109 – 140 illuminierte und das Annenbild auf fol. 253v einmalte. Die Beschreibung muß bereits die Unterschiede berücksichtigen. fol. 1: Vom zunächs mit der Bebilderung betrauten Buchmaler sammen die ausgezeichneten Evangelisen-Porträts zu den Perikopen: Mädchenhaft jung sitzt Johannes (fol. 1) auf einer Wiese; hinter Buschwerk fließen Gewässer, über denen sich Hügel und Berge des Feslands im Blau der Ferne erheben. Das gesenkte Haupt des auf ein geöffnetes Buch schauenden Evangelisen, der dabei vom Adler aufmerksam betrachtet wird, bezeichnet die Horizonthöhe dieses konzeptionell und in seiner zarten Farbigkeit ungemein fortschrittlichen Bildes, in dem noch goldene Strahlen aus dem Himmel göttliche Inspiration ausdrücken. Im Raumeckmotiv is das Studio des Evangelisen Lukas (fol. 2v) als gewölbter Steinbau perspektivisch geschickt angelegt; doch sind die Wände in befremdlichem Violett gefärbt, das wie eine Variation der Gewandfarben wirkt. Lukas, mit dunkelrotem Kittel, blauem Mantel und einer Kappe in Altrosa sitzt auf einer Bank vor einer hohen Rückenlehne, neigt sich nach rechts über eine Schreibrolle, die er auf einem schrägen Pult abgelegt hat, mit Feder und Federmesser in den Händen, während der in einer Art Goldcamaïeu gezeigte Stier von rechts neben dem Fenser zuschaut. Mit entsprechend ungewohntem, aber viel dunklerem Kolorit is das Interieur für Matthäus (fol. 5) gesaltet: Das Raumeckmotiv is nun mit Seitenwand rechts eingerichtet. Der Evangelis, ein graubärtiger Greis in dunkelgrünem Gewand und dunkelrotem Mantel, hat ein Pult mit einem offenen Buch rechts hinter die Lehne seiner Bank gesellt, sitzt nun zum Betrachter gedreht, prüft die Feder und wirkt, als erwarte er Inspiration, während links neben ihm der jugendliche Engel mit untergeschlagenen Armen aus dem Bild schaut. Wie Matthäus als Mann im besen Alter und nach rechts gewendet erscheint Markus (fol. 7v), jedoch in einem geräumigeren Palasraum, dessen parallele Rückwand mit klassischer Architektur insrumentiert is und der durch ein rundbogiges Fenser rechts in die Landschaft blicken läßt. Wieder arbeitet das Kolorit exquisit mit Altrosa und Blau-

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tönen sowie dem Goldcamaïeu der Möbel und dem aufmerksam zum Betrachter schauenden Löwen. fol. 11: Zu jeder Stunde bebildert sind das Marienoffizium und die Horen von Heilig Kreuz, nicht jedoch die von Heilig Geist, die neben dem Erkennungsbild zur Matutin nur zur Non eine weitere Miniatur erhalten. Durch seine hohe Qualität, nicht aber im Layout is das Bild der Verkündigung zur Marien-Matutin (fol. 11) hervorgehoben: Vor einer dunkelblauen Muschelnische in Renaissance-Stil kniet mit seinem Lilienzepter der Erzengel Gabriel, dessen Botschaft in schlecht lesbaren goldenen Lettern als waagerechte Linie vom Mund ausgeht. Ihm gegenüber kniet Maria, die zwar über keine Bank verfügt, aber wie die drei Evangelisen in Interieurs vor einer Holzvertäfelung erscheint, auf die sie einen eindrucksvollen Schatten wirft. In der leicht nach links verschobenen Mittelachse seht dort das gotische Betpult unter einer Gloriole mit Gottvater in Halbfigur, von dem die Taube des Heiligen Geises zu Marias Haupt herabfliegt. Goldcamaïeu von Gabriels Dalmatika, den Möbeln und dem Fond der Gotteserscheinung besimmt das Kolorit, in dem aber auch leuchtendes Rot und Blau in Marias und Gottes Gewandung mitspielen. Eine Generation später wurde die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 26v) als Begegnung von Maria und Elisabeth vor einem Felsen konzipiert. Die Gefangennahme Christi zur Kreuz-Matutin (fol. 43) dürfte noch in der ersen Arbeitskampagne entworfen worden sein, war wohl schon ein wenig mit Farben angelegt und is, vielleicht ers viel später, wenig glücklich als Nachtbild vollendet worden. Links vorn kniet Malchus zu den Hauptfiguren gewendet; dessen blutiges Ohr hält Jesus, vom Judaskuß bedrängt, in der Hand, während Petrus noch einmal mit dem Schwert ausholt. Ganz im Stil der Abschlußkampagne gehalten is hingegen das Pfingstwunder zur GeisMatutin (fol. 45): Um 1500 konkurrierten im Umfeld des Martainville-Meisers zwei Konzepte für die Ausgießung des Heiligen Geises: Statt der schräg ausgerichteten Version (siehe Nr. 49) is die zentrale Komposition eingesetzt, die Maria ins Zentrum der Aposel setzt; folgerichtig wird die Architektur als Zentralbau konzipiert, unter dessen Renaissance-Kuppel die Taube des Heiligen Geises schwebt. Bei der Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 47) wird die Krippe, wie beim Martainville-Meiser häufig, als Weidengeflecht gezeigt; in dem sehr geräumigen Stall kniet Maria, mit Ochs und Esel zum Kind gewendet, während Joseph mit untergeschlagenen Armen rechts kniet und in die Höhe schaut. Über ihm schwebt ein Himmelsrund mit dunkelblauen Wolken vor hellem Fond, eher wie eine Erscheinung, die als Öffnung in der schadhaften aus Brettern gezimmerten Rückwand nicht überzeugen kann. Vor einer dunkel gehaltenen Renaissance-Wand beim Verhör zur Kreuz-Prim (fol. 53) tritt Jesus, von zwei Männern gehalten, vor den Thron des Pilatus: Die drei weißen Thronsufen ragen weit nach links ins Bild; Pilatus nimmt mehr als die Hälfte des Bil-

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des ein, wie er im Profil nach links blickt und mit dem Zeigefinder seiner Linken auf den Gefangenen weis. Nachdem man das ganze 15. Jahrhundert Hirten in aller Regel in fröhlich bunten Kleidern zeigte, setzt sich beim Martainville-Meiser die Erkenntnis durch, daß solche armen Leute in geradezu schmutzigen Tönen gekleidet waren. So sitzen drei Hirten fas ebenso eng zusammengedrängt wie ihre Herde bei der Hirtenverkündigung zur Marien-Terz (fol. 55v) auf einem nach rechts abfallenden Hang, über dem sich links Felsen türmen, als habe der Maler bei diesem Thema an Moses am Fuße des Sinai gedacht. Prächtig is der Gegensatz aus nahsichtig gegebener Wiese mit Felsen und dem Blau der Ferne, in dem der Engel erscheint. Immer wieder beeindruckt beim Martainville-Meiser seine Art, wie er die Kreuztragung, hier zur Kreuz-Terz (fol. 61v), gesaltet: Die Miniatur is auf wenige Figuren beschränkt; die Handlung richtet sich nun anders als in der auf zwei Seiten ausgebreiteten Version in Nr. 47 nach rechts. Einer älteren Tradition entsprechend, die im 15. Jahrhundert zurückgedrängt wurde, wird das Kreuz mit dem Stamm nach vorn getragen. In der heftigen Bewegung Chrisi wirkt es, als drehe sich die Figurengruppe mit Maria und Johannes, die ihm von links folgen, und dem in Goldcamaïeu gerüseten Kriegsknecht, der ihn zerrt; diese Wirkung wird durch den Verzicht auf Tor und Stadtmauer vor einer Landschaftskulisse im Blau der Ferne versärkt. Ähnlich weiträumig wie bei der Marien-Prim wirkt der Stall bei der Anbetung der Könige zur Marien-Sext (fol. 64): Die Szene is auf Maria mit dem Kind und die drei Weisen aus dem Morgenland beschränkt, die wie gewohnt als Könige auftreten. Dem Text zufolge müßte zur Kreuz-Sext die Vorbereitung der Kreuzigung geschildert werden; doch gab es Stundenbücher, die wie hier schon die Kreuzigung (fol. 69v) zeigen; noch müßte der Gekreuzigte wie in unserem Stundenbuch mit den Limburgzeichnungen (siehe die Abb. von Stephaton mit dem Essigschwamm auf fol. 122 und Longinus nach dem Lanzensich auf fol. 124 in unserem Katalog 77 von 2016) lebendig sein; hier aber bezeugt die Seitenwunde bereits den Tod. In dem kleinen Bildraum sind Chrisus und die zu seinen Seiten gekreuzigten Schächer kleiner als die am Fuß der Kreuze sehenden Gesalten: Maria seht mit den heiligen Frauen links, der Lieblingsjünger Johannes rechts. Kein Soldat wird gezeigt. Inkonsequent hat man Raum für ein Bild des Apostelabschieds zur Geis-Sext (fol. 71) freigehalten. Bildzyklen zu diesen Horen sind selten und haben, soweit wir wissen, keine echte Tradition entwickelt. Die Darsellung ersaunt: Ein greiser Aposel seht unter einem Felsen an einem Abhang aufrecht und grüßt den ebenfalls greisen Petrus, der vor ihm ins Knie gesunken is. Man könnte an Paulus denken; doch hat er eigentlich in diesem Thema keinen Platz. Wer gemeint is, bleibt unklar. Die übrigen Aposel haben sich bereits mit langen Stäben auf den Weg gemacht, sechs von ihnen schreiten im Mittelgrund nach links vor weiter Fernlandschaft.

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Bei der Darbringung im Tempel zur Marien-Non (fol. 72) wird die Muttergottes von ihrer Magd mit der Kerze und dem greisen Joseph begleitet, der drei Tauben im Korb mitbringt. So kniet Maria mit bedeckten Händen vor dem Altar, über dem Simeon unter einem grünen Baldachin den nackten Knaben ebenfalls auf einem weißen Tuch hält. Bei der Kreuz-Non wird der Lanzenstich (77v) gezeigt: Daß rechts nur Soldaten sehen, war eher Brauch. Doch nicht, daß der wie ein geislicher Würdenträger gekleidete greise Longinus, der gerade Jesu Seite geöffnet hat, die Frauengruppe in den Hintergrund drängt; nur Maria is noch zu erkennen. Hier seht in Goldcamaïeu gerüset der ebenfalls greise Hauptmann vor Lanzenträgern und weis auf den am Kreuz Hingeschiedenen. Diesmal is kein Platz für die Schächerkreuze. Die Flucht nach Ägypten zur Marien-Vesper (fol. 80) gehört zu den Bildern, in denen der Martainville-Meiser seinen internationalen Rang beweis: Wie Cosimo Tura im Tondo des New Yorker Metropolitan Museums (und ein paar Generationen später Tintoretto im berühmten Gemälde der Scuola di San Rocco) zeigt er, wie der Esel mit Maria und dem Kind en-face auf den Betrachter zuschreitet, und rückt den Ziehvater wie bei Cosimo Tura vor einen Felsen, während hinter Maria ein tiefer Blick zurück in die Landschaft führt, aus der sie gekommen is. Auch die Komposition der Kreuzabnahme zur Kreuz-Vesper (fol. 91v) ersaunt: Maria hockt mit Johannes am Fuße der Leiter, auf die einer der beiden Alten, eher Nikodemus als Joseph von Arimathia, gesiegen is, um vom anderen, der rechts seht, untersützt den in einer Schräge ersarrten Leichnam zur Erde hinab gleiten zu lassen. Die Art, wie der Tote präsentiert wird, soll eher die Ehrfurcht vor dem Leib Chrisi als den Schrecken des Todes ins Zentrum des Bildes sellen. Eigentümlich beengt wirkt die Marienkrönung zur Marien-Komplet (fol. 94): Links seht der Thron für Jesus, schräg nach vorn ragend. Rechts kniet die Muttergottes, der ein Engel, der hinter ihr seht, gerade die Krone auf das Haupt gesetzt hat. Über einer Steinbrüsung im Hintergrund erblickt man rotglühende Seraphim, die wie in Nr. 49 geradezu eine Mauer bilden. Sehr schlicht komponiert is die Grablegung Christi zur Kreuz-Komplet (fol. 100): Der Sarkophag seht bildparallel vor einem Felsen links und dem Blick in die Ferne rechts. Zwei Greise, die ganz anders aussehen als die beiden Alten bei der Kreuzabnahme und doch wieder Nikodemus und Joseph von Arimathia meinen, betten den recht klein dargesellten Toten mit dem Haupt links. Zwischen sie is Maria als beherrschende Hauptfigur getreten, von Johannes und Magdalena begleitet. fol. 103: Marienklage formulieren die Bilder zu den Mariengebeten, die vom Maler eingetragen wurden, nachdem der erse Text durch die anderen ergänzt worden war: Zum Obsecro te is es die Pietà (fol. 103), bei der die Muttergottes unter dem Kreuz sitzt, den toten Sohn auf dem Schoß, dessen Haupt Johannes sützt. Beim Stabat Mater (fol. 109), dessen Bebilderung selten auf das Incipit (es sand die Mutter) Rücksicht nimmt, knien hingegen Maria und Johannes unter dem leeren Kreuz.

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Die Horen von Mariä Empfängnis werden hier wie so oft durch den Kuß an der Goldenen Pforte (fol. 173) eröffnet: Das Gold der Pforte wird hier genauso wenig gezeigt wie in den meisen Bildern des Themas: Anna und Joachim werden in ihrer Umarmung nach links gedrängt, vor die Tortürme, während rechts ein Blick auf Mauer und Dächer gegeben wird. Der greise Vater is energischen Schrittes von rechts herangetreten. In bemerkenswertem Bezug zur italienischen Malerei der 1470er Jahre seht die halbfigurige Annunziata zum Rosenkranzgebet (fol. 124): Vor grau-violettem Fond erscheint Maria betend – das geschieht eigentlich so, wie sie der Erzengel Gabriel bei der Verkündigung gesehen haben dürfte – und von den goldenen Strahlen des Heiligen Geises erfüllt; doch hat sie ihr Haupt verhüllt. Entsprechend hat Antonello da Messina zwei halbfigurige Tafeln der Verkündigungsmaria als Andachtsbilder (in Palermo und München) gesaltet. Das offene Haar kennzeichnet die zukünftige Muttergottes als Magd Gottes; deshalb verhüllt Maria ihr Haupt weder bei Antonello (in Messina) noch bei unseren Buchmalern, wenn Bilder den gesamten Vorgang schildern. Zum O intemerata wird schließlich Maria thronend zwischen Engeln gezeigt (fol. 136); der Thron öffnet sich weit, als habe sich der Maler an einer spätesens um 1400 entsandenen Darsellung orientiert. fol. 141: Bei Davids Buße zu den Bußpsalmen wird das Landschaftsmotiv, das von der Hirtenverkündigung schon bekannt is, noch einmal dynamisch eingesetzt: Am nach rechts abfallenden Hang kniet König David, nicht unter einem Felsen, sondern unter Buschwerk. Über der weiten Landschaft rechts erscheint Gott als Halbfigur im Himmel. Der greise König, mit breitem Hermelinkragen über dem goldenen Mantel und einem wie Goldbrokat gesalteten blauen Gewand, hat zum Beten Harfe und Kronhut abgelegt. fol. 167: Das Bild zum Totenoffizium war schon im Barock gesohlen. fol. 236: Jakobus (fol. 236) seht im knielangen Pilgerrock mit Hut und Stab in der Landschaft und weis auf ein Buch. Zu Sebastians Pfeilmarter (fol. 237) wird der jugendliche Heilige nur in Lendenschurz an einen Baum gefesselt; sein Peiniger, hinter dem noch ein zweiter ins Bild drängt, greift mit seinem Bogen so weit ins Bild, daß die Hand fas den mit Pfeilen Gespickten berührt. Nach diesen beiden Miniaturen des Martainville-Meisers zeigt sich, daß für die Suffragien neben den beiden Malern aus verschiedenen Generationen noch ein dritter herangezogen wurde: Julian (fol. 238) seht in Rüsung mit den königlichen fleurs de lis auf seinem Schild mit Blick auf den Altar in einer Kirche. Ihn hat derselbe Maler gesaltet, der auch Christophorus (fol. 241) dargesellt hat: In dunsiger Landschaft hält der riesenhafte Heilige neben einem Felsenriff im Wasser an; sein goldfarbener Mantel schwingt fas in die Waagerechte, wie er sich aufrichtet, um den Chrisusknaben auf seiner Schulter zu schauen. Der nun beherrscht das Bild, im Zentrum des Bogenabschlusses mit goldenen Strahlen des Kreuznimbus und der Sphaira, die recht selten in der Ikonographie dieses Heiligen vorkommt, aber zur Legende paßt, Chrisophorus habe gespürt, daß er mit dem Chrisusknaben die ganze Welt trägt.

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Bei den Stigmatisation des Franziskus (fol. 242v), die unter einem Felsen am für den Martainville-Meiser charakterisischen nach rechts abfallenden Berghang geschieht, rückt der Heilige ganz nach vorn; die Erscheinung des Seraphen, von dessen Kreuzeswunden die Stigmata ausgehen, is sark zurückgesetzt. Mehr Gewicht bekommt die Einsiedelei am rechten Rand, vor der der Mitbruder eingeschlafen is. Bezaubernd zart hat der Maler der ersen fünf Miniaturen Magdalenas Entrückung (fol. 244) dargesellt: Die Reuerin, die in den Jahrzehnten ihrer Buße ihre Kleider verloren hatte und deshalb vom eigenen Haar eingehüllt is, wird in der Bildmitte von vier Engeln in die Lüfte entrückt; damit man sie erkennt, seht unten ihr Salbfaß. Zweimal wird Katharina gezeigt: Das Martyrium der Katharina von Alexandrien (fol. 245v) hat der Maler von Chrisophorus und Julian mit seinen kleinen Figuren in recht dunklen Farben gemalt: Ganz logisch is die Darsellung nicht; denn man sieht im Mittelgrund neben dem Herrscher, der die Jungfrau töten läßt, das intakte Rad, das eigentlich von Engeln zerschmettert sein müßte; denn vorn kniet die Heilige bereits nieder, um den erlösenden Tod durch das Schwert zu finden. Die Stigmata der Katharina von Siena (fol. 246v) machen deutlich, warum diese Dominikanerin gemeinsam mit Franziskus in unserem Manuskript berücksichtigt wurde: Die ers 1461 heiliggesprochene Nonne hat der Martainville-Meiser sehr groß in einem seinernen Gebäude vor ihr Lesepult gesellt. Unter ihren Füßen windet sich Tod oder Teufel, während sie verzückt die Hände hebt, in der Rechten ihr glühendes Herz, und zum Seraphen blickt, der ihr die gleichen fünf Wundmale zufügt, die Franziskus trug. Derweil sind zwei kleine Engel gekommen, um ihr eine Krone aufzusetzen. Im späten Stil sind dann auch wieder die letzten fünf Miniaturen gehalten: Barbara (fol. 248) seht mit der Märtyrerpalme vor ihrem Turm, der kein Zeichen der Trinität aufweis. Maria tritt, von einem Engel begleitet, zum Turm, in dem Avia (fol. 249v) eingekerkert is; hier bringt sie offenbar ein Brot und nicht, wie in der Bildtradition gewohnt, eine Hosie. Susanna (fol. 251) nimmt in einem Bottich unter einem Baum ihr Bad, nackt aufgerichtet und betend, während die beiden Alten von rechts herannahen. Der Erzengel Michael hat den Teufel bereits überwunden (fol. 252v). Als würdige Lehrerin sitzt Anna bei der Erziehung der Jung frau (fol. 253v) unter einem grünen Baldachin, hält ein Buch im Schoß; nach ihm greift die kleine Maria. Dieses is die einzige Miniatur, die nur von einem Bordürensreifen außen begleitet wird; offenbar war die Miniatur nicht vorgesehen; doch hatte man schon in der ersen Kampagne die leere Seite mit dem für Textseiten gewohnten Randschmuck versehen. Die beteiligten Buchmaler Drei verschiedene Buchmaler sind auch für ungeschulte Augen leicht zu unterscheiden: Aus den 1460er Jahren sammen die Evangelisenbilder und die Verkündigung. Ihr Schöpfer bevorzugt violette Töne, selbs Rot und Blau unterwirft er seiner Vorliebe für subtile Farbwerte zwischen den reinen Farben. Eindrucksvoll arbeitet er mit unterschied-

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lich dunklem Rot; reines Blau kommt kaum vor. Grau und Weiß werden mit Lila oder Violett abgetönt; selbs im Inkarnat spielen violette Töne mit. Der Maler setzt auch ein sehr schönes zartes Grün ein und hat seine eigene Art von Goldcamaïeu entwickelt. Die Wirkung des Kolorits wird durch den Pinselsrich versärkt: Zart, zuweilen geradezu nervös wirken die vielen kleinen Striche; sie erlauben vor allem, den Gesichtern subtilen Ausdruck zu verleihen. Licht und Schatten spielen eine ersaunliche Rolle: Hintergründe können im Dunkeln geradezu verschwinden oder sich durch Helligkeit wie bei Lukas ersaunlich weiten. Die Figuren werfen Schatten; gekachelte Böden sind perspektivisch gesaltet; der Horizont folgt bei Johannes, der auf Patmos sitzt, den von Leon Battisa Alberti entwickelten Prinzipien. Damit nimmt diese Malerei einen hervorragenden Platz in der Erschließung von Prinzipien der italienischen Frührenaissance für die französische Buchmalerei ein; das verbindet sie mit Jean Fouquet in Tours, der in den 1450er Jahren mit dem Stundenbuch für Étienne Chevalier (davon 40 Einzelblätter in Chantilly, Musée Condé) aus Erfahrungen seiner Italienreise eine europaweit einzigartige Bandbreite von Möglichkeiten entwickelt hat, Raum im Licht zu gesalten. Doch während Fouquet die Insel Patmos noch als vom Meer umspieltes Eiland begreift, wird in diesem Manuskript nur im Hintergrund angedeutet, daß der Schauplatz weit vom Fesland entfernt is. Damit geht unser Maler über den berühmten Meiser hinaus. Fouquets Kuns der 1450er Jahre is Voraussetzung für den Hauptmaler der ersen Arbeitskampagne; die Kanonisation der heiligen Katharina von Siena 1461 datiert unser Manuskript frühesens in die 1460er Jahre. Zwar findet sich die Tendenz zum Violetten auch beim späten Fouquet und prägt entschieden schwächere Nachfolger im Loiregebiet. Doch davon is die hier erreichte Virtuosität noch weit entfernt. Es will nicht leichtfallen, auch nur einzelne Miniaturen derselben Hand zu ermitteln. Bei unserer ersen Auseinandersetzung mit diesen Miniaturen haben wir 1989 an den Meiser des Charles de France in Bourges gedacht. Grundsätzlich seht diese Malerei ihm nahe; an eine Zuschreibung is jedoch nicht zu denken. Zwar is in den fas dreißig Jahren, die seither vergangen sind, nicht ohne essentielle Mitwirkung des Antiquariats Bibermühle, die Kenntnis französischer Buchmalerei vital gewachsen. Über Bourges und Tours, Poitiers und Angers wissen wir inzwischen sehr viel mehr; doch nicht einmal eine vernünftige Ortung des Malers will gelingen. Heribert Tenschert denkt an den jungen Georges Trubert; und in der Tat besehen nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeiten mit dessen frühesem Werk, der Probeseite der Bible moralisée, fr. 166, fol. 48, in der Pariser BnF: Das Kolorit und die geniale Raumgesaltung haben vieles gemein; nur überzeugt die Verbindung über die Physiognomien nicht im wünschenswerten Maße. Trubert muß im Umfeld der großen Maler Jean Fouquet und Barthélemy d’Eyck seine Kuns entwickelt haben; das wird an der Loire geschehen sein, in Tours und wohl auch in Angers, wo der junge Maler vielleicht eingeladen war, eine Probeseite für die von den Brüdern Limburg unvollendet hinterlassene Bible moralisée zu liefern, nachdem die Hauptvertreter des Jouvenel-Stils den Versuch abgebrochen hatten, die Bebilderung zu liefern.

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Aus demselben Kunskreis sammt auch der zweite Maler unseres Stundenbuchs, der nur drei Miniaturen in den Suffragien gesaltet hat, die einzelnen Gesalten von Julian und Chrisophorus sowie die ungemein dichte, aber nicht ganz logische Schilderung des Martyriums der Katharina von Alexandrien. Auch er bewegt sich bei Lichtgebung und Perspektive sowie der Einrichtung des Horizonts ganz auf der Höhe der von Fouquet bewirkten Umwälzungen. Sein Kolorit is dunkel; herkömmliche Rot- und Blautöne kommen särker zu ihrem Recht. Die gedrungenen Figuren sind schwerfällig, hart umrissen. Diese Kuns seht zwischen dem Maler, den man nach dem Wiener Mamerot oder dem Yale-Missale nennt, einerseits und Künslern in Poitiers – so wirkt das Kolorit den kleinen Miniaturen in der Pariser Handschrift Rothschild 2534 verwandt; doch konkrete Zuschreibungen verbieten sich. Viel einfacher is die Besimmung der zweiten Arbeitskampagne: Alle Miniaturen sind einheitlich von einem der führenden Künsler zwischen Tours, Rouen und Paris gesaltet worden: Sie sammen vom Martainville-Meiser. In seinem Fall hat sich unsere Kenntnis der künslerischen Bezüge sehr viel entschiedener verbessert: Durfte man 1989 noch an den Petrarca-Meiser denken, der für uns seit 1978 ebenso wie für John Plummer 1982 der bese Maler der sogenannten Schule von Rouen war, die damals schon für uns nach Paris wanderte, so haben viele Schritte – von François Avril, von uns selbs und den Schülerinnen Mara Hofmann und Caroline Zöhl – dafür gesorgt, daß sich Paris als Lokalisierung durchsetzte und das ungewöhnliche Genie des hier verantwortlichen Malers ins Bewußtsein trat: Es is der Martainville-Meiser, dessen Kuns – und das sei hier angesichts der im Manuskript enthaltenen älteren Miniaturen als besondere Qualität hervorgehoben – vor allem durch das Verhältnis von Figur und Landschaft monumental wirkt. Er setzt den Horizont so ein, daß Figuren wie Jakobus majesätisch vor dem Himmel erscheinen, während man sich bei der Flucht nach Ägypten leicht bücken muß, um wie Joseph demütig zur Muttergottes aufzublicken, oder bei Susanna am besten sich hinkniet, um die falsche Macht der beiden Ältesen zu begreifen. Die Ehre einer Monographie is ihm anders als seinem Zeitgenossen Jean Pichore noch nicht zuteil geworden; doch liefert der hier vorgelegte Katalog Elemente dazu. Drei bemerkenswerte Phasen der französischen Buchkultur werden in dieser eindrucksvollen Handschrift anschaulich: Sie schließt an die sogenannten Kleinen Stundenbücher des Jouvenel-Kreises an, zeigt zugleich, wie zwei bedeutende Buchmaler, deren Werk noch weitgehend im Dunkeln liegt, vital und einfallsreich auf die Neuerungen reagieren, die Jean Fouquet nach seiner Rückkehr aus Italien seinen französischen Zeitgenossen, vor allem im Loiregebiet, aber auch in Bourges und Poitiers vermittelt hat. Der zunächst mit der Arbeit betraute Maler steht dem jungen Georges Trubert nahe; neben ihn tritt ein zweites Temperament aus demselben Stilkreis. Doch im hier vorgelegten Katalog hat dieses Stundenbuch seinen Platz, weil der Martainville-Meister, ein Künstler, der wohl aus dem Loiregebiet nach Norden ge-

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kommen ist und sicher in Paris, vielleicht auch in Rouen gearbeitet hat, die Ausmalung der vielen leer gebliebenen Bildfelder besorgt hat. Dabei brillierte er insbesondere mit der überraschenden Sicht der Flucht nach Ägypten. Als dritte Phase der großen Buchkultur Frankreichs muß dann aber auch die Zeit kurz nach 1600 geachtet werden, in der man sich nach einem Jahrhundert der religiösen Wirren wieder auf Stundenbücher besann und solche Schätze aus der Vergangenheit durch Einbände wie diesen würdigte, um sich dann auch persönlich durch ein Monogramm mit ihnen zu identifizieren. Literatur Zur Malerei in Bourges haben Robert Schindler, Die bebilderte Enea Silvio Piccolomini Handschrift des Charles de France, Turnhout 2016, und noch ertragreicher Chrisine Seidel, Zwischen Tradition und Innovation. Die Anfänge des Buchmalers Jean Colombe und die Kunst in Bourges zur Zeit Karls VII. von Frankreich, Simbach 2017, wesentliche Aufschlüsse erbracht. Zum Martainville-Meiser siehe die Literatur zu Nr. 47.


49 Das Pel­ée-Chape­ron-Stun­den­buch vom Mart­ain­ville-Meis­ter aus dem Besitz des Comte de Paris


STUNDENBUCH. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Rot und Blau, Festtage in Gold, in dunkelbrauner Textura. Paris, um 1500 – 1505: Martainville­Meiser 57 Miniaturen, davon 3 auf Doppelseiten mit Miniaturen ohne Text oder Randschmuck und Incipits in Vollbordüren auf Pinselgoldgrund, 17 große Kopfminiaturen in Vollbor­ düren mit Kompartimenten oder Goldgrund über vier Zeilen Text; alle diese 20 Mini­ aturen mit vierzeiligen Dornblatt­Initialen; dazu 13 Kleinbilder im Text für die Sufra­ gien, acht Zeilen, in einem Fall sechs Zeilen hoch; jede dieser Bildseiten mit vierseitiger Kompartimentbordüre, 24 Kalenderbilder in Bordürensreifen außen, alle Textseiten mit einem Bordürensreifen gleicher Art am äußeren Rand, belebt mit bunten Grotesken und Vögeln. Initialdekor durchweg altertümlich: vier­ bis zweizeilige Dornblatt­Initialen, zu den Psalmenversen, die am Zeilenbeginn einsetzen, einzeilige Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 174 Blatt Pergament, Vorsätze aus Pergament: vorne 5, hinten 3 fliegende und je ein festes Vor­ satz, mit zahlreichen Besitzeinträgen. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlagen 1­2 (6), 13 (6), 14 (8+1, 1. Blatt hinzugefügt) und die Endlage 22 (2+1, das dritte Blatt hinzugefügt); Reste vertikaler Reklamanten in Bastarda. Rot regliert zu 18, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (175 x 122 mm, Textsiegel: 95 x 54 mm). Vollständig, breitrandig und insgesamt vorzüglich erhalten. Brauner Ledereinband mit fünf erhabenen Bünden, wohl aus dem letzten Jahrzehnt des 16. Jhs., mit Goldprägung: gestempelte Lorbeerranken in den Zwickeln; auf dem vorderen Deckel ein Medaillon mit der Kreuzigung, darüber der Name C. PELEE; auf dem hinteren Deckel die Verkündigung, AVE GRATIA / PLENA und der Name C. CHAPERON. Reste von Goldschnitt. Den Eintragungen auf den Vorsätzen zufolge blieb die Handschrift über viele Generationen im Besitz der Familie Pelée: Ein Eintrag unter „Nota“ auf dem zweiten fliegenden Vorsatz vorn erläutert die Namen auf dem Einband; denn er stellt fest, das Buch sei von Claude Pelée, bourgeois de Sens, seiner zweiten Ehefrau Claude Chaperon, die er 1592 ehelichte, geschenkt worden. Auf dem ersten Vorsatz stehen dann Besitzeinträge von Blaise Pelée le Jeune aus dem Jahr 1646, Marie Année (sic!) Pelée 1701 und schließlich Monsieur Pelée de Valencourt, Élu de Sens 1736. Zuletzt, bis 2000, in der Sammlung des Comte de Paris. Von uns aus europä­ ischem Privatbesitz erworben.

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Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, Hei­li­gen­na­men in Rot und Blau, Gol­de­ne Zahl in Gold, Sonn­tags­buch­sta­be A in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g braun, Fest­ta­ge in Gold. Die Hei­li­gen­aus­wahl deu­tet auf Pa­ris. fol. 13: Perik­open: Jo­han­nes, als Suf­fra­gium (fol. 13), Lu­kas (fol. 15), Mat­thä­us (fol. 17) und Mar­kus (fol. 19). fol. 20v: Ma­rien­ge­be­te re­di­giert für ei­nen Mann: Obse­cro te (fol. 20v), O int­emer­ata (24v). fol. 27v: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matu­tin (fol. 27v), Lau­des (fol. 49v), Prim (fol. 60), Terz (fol. 65v), Sext (fol. 69v), Non (fol. 73), Ves­per (fol. 77), Komp­let (fol. 83). fol. 80: Ho­ren des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 88), des Hei­li­gen Geis­tes (fol. 94). fol. 100 (mit ei­ner vo­raus­ge­hen­den Mi­ni­a­tur auf dem Ver­so): Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 111v), Hei­li­gen­aus­wahl deu­tet auf Pa­ris. fol. 117 (mit ei­ner vo­raus­ge­hen­den Mi­ni­a­tur auf Ver­so): To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 117), die an­de­ren Stun­den nicht mar­kiert: Matu­tin (fol. 123v), Lau­ des (fol. 147). fol. 158v: Fran­zö­si­sche Ge­be­te: XV Freu­den Mariä Dou­lce dame (fol. 158v); VII Kla­gen des Herrn: Dou­lx dieu (fol. 164). fol. 167v: Suf­fra­gien: Tri­ni­tät (fol. 167v), Mi­cha­el (fol. 168), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 168v), Jo­han­nes der Evan­ge­list (fol. 169), Pet­rus und Pau­lus (fol. 169v), Jako­bus (fol. 170), Ni­ko­ laus (fol. 171), Anna (fol. 171v), Mag­da­le­na (fol. 172), Ka­tha­ri­na (fol. 172v), Bar­ba­ra (fol. 173), Gen­ovefa (fol. 174). fol. 174v Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Zwar erst ge­gen 1500 ge­schrie­ben, setzt das Ma­nus­kript im­mer noch die tra­di­ti­o­nel­le Text­ura ein, frei­lich in ei­ner für die spä­te Ent­ste­hungs­zeit cha­rak­te­ris­ti­schen Va­ri­an­te: Die Schrift ist recht nied­rig, wirkt ge­staucht. Blau sind die Rub­ri­ken, auch das ein In­ diz für die Zeit­stel­lung am Ende der Spät­go­tik. Doch ent­spre­chend al­ter­tüm­lich ist der Schrift­de­kor; denn Flä­chen­de­kor mit Let­tern aus Blatt­gold auf Rot und Blau für die ein­zei­li­gen Ini­ti­a­len, die durch­weg am Zei­len­an­fang ste­hen, und sehr sorg­fäl­tig ge­stal­ te­tes Dorn­blatt für die grö­ße­ren Buch­sta­ben be­stim­men den Text­de­kor. Der Rah­men aus bril­lan­tem Blatt­gold mit dich­tem Dorn­blatt­schmuck aus­ge­rech­net für das Bild von Hiob im Elend zeigt zu­gleich, wie fremd und al­ter­tüm­lich sol­cher Buch­schmuck für die Werk­statt ge­wor­den war; denn so hät­te man in den vo­raus­ge­hen­den Ge­ne­ra­ti­o­nen nie ein gro­ßes Bild ge­rahmt. Die Werk­statt des Mart­ain­ville-Meis­ters hat sich im­mer wie­der im Rand­de­kor be­währt: Groß­ar­tig ist auch hier die Fül­le der Mög­lich­kei­ten; be­son­ders be­ein­dru­ckend sind Bor­

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dü­ren mit dunk­len, zu­wei­len schwar­zen Grün­den so­wie die vie­len Va­ri­an­ten in der Ge­ stal­tung der Kom­par­tim­en­te. Wit­zig wird im Ka­len­der mit der Tei­lung der Rand­fel­der in drei Ab­schnit­te ge­spielt; denn das Bild­feld ist je­weils zwi­schen zwei Or­na­men­te ge­ setzt, die dann oben und un­ten den­sel­ben Grund­ge­dan­ken auf­neh­men, aber nicht ge­nau wie­der­ho­len. Rec­to und Ver­so fol­gen meist dem­sel­ben Ent­wurf, die hef­ti­gen Farb­wech­ sel aber schaf­fen dann vier Va­ri­an­ten und sor­gen da­mit für den Ein­druck er­staun­li­cher Viel­falt. Ei­ni­ge Voll­bor­dü­ren er­hal­ten ihre Kom­par­tim­en­te durch ge­schwun­ge­ne Bän­der, die mal wie beim Ma­ri­en­bild zum Dou­lce dame mit les­ba­ren For­meln be­schrif­tet sind, dann aber auch wie bei der Dar­brin­gung im Tem­pel ver­wirr­te Buch­sta­ben­fol­gen tra­gen. Die Bil­der Den Ka­len­der be­glei­ten Bor­dü­ren­strei­fen au­ßen, in ih­nen sind recht­e­cki­ge Bild­fel­der von etwa fünf Zei­len aus­ge­spart, auf Rec­to für die Mo­nats­bil­der, auf Ver­so für die Tier­kreis­ zei­chen. Im Ja­nu­ar sitzt ein Herr zu Tisch (fol. 1), der Was­ser­mann (fol. 1v) als nack­ter blon­der Kna­be schüt­tet sei­nen Was­ser­krug in ei­nen Fluß. Im Feb­ru­ar wärmt ein jun­ger Edel­mann sei­ne Füße am Ka­min (fol. 2), die Fi­sche (fol. 2v) schwim­men in ei­nem ru­hi­gen Ge­wäs­ser. Im März wer­den die Wein­stö­cke zu­rück­ge­schnit­ten (fol. 3), der Wid­der (fol. 3v) hüpft über die Wie­sen. Im Ap­ril flech­tet eine jun­ge Dame ei­nen Blu­men­kranz (fol. 4), der Stier (fol. 4v) schrei­tet ein­drucks­voll durch die Land­schaft. Im Mai wird der Aus­ ritt ei­nes jun­gen Edel­man­nes ge­zeigt (fol. 5), die Zwil­lin­ge (fol. 5v) leh­nen sich als nack­ tes Paar aus Mann und Frau fröh­lich ei­nan­der zu. Im Juni Heu­mahd (fol. 6), der run­de Krebs (fol. 6v) liegt auf ei­ner Wie­se. Zum Juli folgt die Korn­mahd (fol. 7), an­griffs­lus­ tig blickt ein klei­ner Löwe aus dem Bild (fol. 7v). Im Au­gust wird das Korn ge­dro­schen (fol. 8), die Jung­frau (fol. 8v) er­scheint als Mär­ty­re­rin mit Pal­men­zweig und ge­öff­ne­tem Buch. Im Sep­tem­ber Wein­kel­ter (fol. 9), und die Waa­ge wird von ei­ner blon­den Frau in gol­de­nem Ge­wand ge­tra­gen (fol. 9v). Im Ok­to­ber dann be­ginnt die Aus­saat (fol. 10), der Skor­pi­on sieht fast aus wie der Krebs (fol. 10v). Im No­vem­ber wer­den die Ei­cheln von den Bäu­men ge­schla­gen (fol. 11), die Schwei­ne gie­rig hi­nun­ter­schlin­gen, der Schüt­ze (fol. 11v) wird wie üb­lich als bo­gen­schie­ßen­der Ken­taur dar­ge­stellt. Im De­zem­ber schließ­lich folgt das Schwei­ne­schlach­ten (fol. 12), das recht blu­tig dar­ge­stellt wird, der Stein­bock (fol. 12v) kriecht lang­ge­hörnt aus ei­ner Mu­schel. Die Perik­open wer­den von gro­ßen E­van­ge­lis­ten­bil­dern ein­ge­lei­tet, am An­fang wie üb­ lich Jo­han­nes auf Pat­mos (fol. 13): Mit aus­ge­brei­te­tem Man­tel sitzt er über eine Schrift­ rol­le auf sei­nem Schoß ge­beugt und schreibt. Dy­na­misch stei­gen von links hin­ten Fel­sen an, um dann rechts sei­ner Ge­stalt kom­po­si­to­risch Kraft zu ge­ben. Daß Jo­han­nes, wie in sol­chen Bil­dern ge­wohnt, auf ei­ner In­sel ist, wird nur vorn durch ei­nen Strei­fen Was­ser un­ter fel­si­gem Ufer an­ge­deu­tet. Der grei­se Lu­kas (fol. 15) sitzt un­ter ei­nem präch­ti­gen Bal­da­chin an sei­nem dreh­ba­ren Schreib­pult, hält im Schrei­ben inne; denn er ist un­ge­wöhn­li­cher Wei­se da­bei, mit ei­ner Klin­ge den Text zu ra­sie­ren, also eine Kor­rek­tur vor­zu­neh­men, auf­merk­sam vom Stier

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mit ausgebreiteten violetten Flügeln beobachtet. Matthäus (fol. 17), bartlos und noch recht jung, sitzt rechts unter einem runden grünen Baldachin an einem kasenförmigen Pult und blickt von seinem Buch auf, zu dem größeren Buch, das ihm würdevoll ein jugendlicher Engel präsentiert. Markus (fol. 19) hat sich auf einem prächtigen, von rotem Damas hinterfangenen Thron niedergelassen und eine Pergamentrolle so auf dem Knie ausgebreitet, daß der Maler ihn fas frontal darsellt. Der Löwe, sein Attributswesen, liegt mit spitzen grünen Flügeln ruhig neben ihm. Zu den Mariengebeten wird beim Obsecro te die Thronende Madonna mit Kind und zwei musizierenden Engeln (fol. 20v) gezeigt: Maria hat auf einer Art Faldisorium mit Rückenlehne Platz genommen, ähnlich wie man in der französischen Buchmalerei der Zeit gern auch Könige darsellt. Neben ihr sehen weiß gekleidete Engel, der linke spielt Harfe, der rechte Laute. Wie so oft eröfnet das O intemerata hingegen mit einem Bild der Marienklage, der Beweinung Chrisi (fol. 24v). Vor dem zentral gesellten Kreuzessamm sitzt hoch aufragend Maria mit dem schmerzhaft gekrümmten Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß. Sie hat die Hände zum Gebet gefügt, blickt nicht auf ihn herab, sondern ersarrt zu uns. Als ganzseitige Miniatur eröfnet die Verkündigung (fol. 27v) zur Matutin das Marienoffizium. In einem großzügig konzipierten Raum wenden sich die beiden Figuren, der Engel links und Maria rechts, beide kniend, einander zu. Die klare und srenge Komposition wird meiserhaft durch das Farbspiel des Malers in Spannung versetzt. Vor dem Grau der mit Renaissanceformen verzierten Steinwand links breiten sich die grünen Flügel des goldgewandeten Engels, während Marias Bildhälfte vom kraftvollen Blau ihres Mantels und dem matten Rot des Baldachins besimmt is. Die Laudes werden traditionell mit der Heimsuchung (fol. 49v) bebildert. Hier kniet die Base Elisabeth links vor dem Landschaftsausblick so, als sei sie zur Jungfrau gekommen, die von einem Felsen hinterfangen is. Imposant seht diese rechts im Bild und nimmt den demütigen Gruß der Alten entgegen, die mit verhülltem Haar kniet, um die zukünftige Gottesmutter zu begrüßen. Als properer Knabe liegt der Heiland zur Anbetung des Kindes (fol. 60) am Beginn der Prim auf dem blauen Mantelsaum seiner Mutter. Vom Stall zeigt der Maler nur die hölzerne Wand und Ochs und Esel, die hinter der Heiligen Familie ruhen. Während Maria den Blick in siller Anbetung auf den Knaben senkt, umfaßt Joseph seinen Stock und blickt nach links aus dem Bild, als ahne er, was auf die Heilige Familie zukommt. In einer lichtdurchfluteten idyllischen flachen Landschaft, in der die Schaf herde im Mittelgrund weidet, findet die Hirtenverkündigung (fol. 65v) zur Terz satt. Während am Himmel ein nur in Pinselgold angegebener Engel erscheint, hocken die beiden Hirten am Boden und vernehmen die frohe Botschaft. Erneut vor der Rückwand des Stalls hat sich die Jungfrau mit dem Kinde bei der An­ betung der Könige (fol. 69v) zur Sext niedergelassen. Der ältese König hat seine Krone vom schütteren weißen Haupthaar genommen und bietet dem Knaben seine Gabe dar,

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während die beiden jüngeren hinten verharren. Auch hier zeigt der Maler raffiniertes Talent im Farbenspiel. Dem kräftigen Blau und Rot des Vordergrunds setzt er mit dem Hellgrün einen leuchtsarken Akzent vor dunklem Grund entgegen. Für die Darbringung im Tempel (fol. 73) zur Non hat Simeon, der unter grünem Baldachin hinter dem schräg gesellten Altar seht, die Hände mit einem Tuch verhüllt, um den Knaben entgegenzunehmen. Maria, die nur von Joseph begleitet im Tempel erscheint, hat ihr Haupt demütig gesenkt und reicht Jesus dem Prieser; weder Kerze noch Taubenopfer sind dargesellt. In der Bordüre ein Schriftband mit nicht gut deutbaren, wohl lateinischen Formeln, auf die ein silisierter Afe hinweis. Bei der Flucht nach Ägypten (fol. 77) zur Vesper ragt Joseph ersaunlich energisch auf. Die kosbare Fracht auf den Rücken des Esels gesetzt, den er nach links aus dem Bild führt, blickt er erns auf Mutter und Kind. Das Marienoffizium schließt wie gewohnt zur Komplet mit der Marienkrönung (fol. 83). Hier thront Gottvater links unter einem Baldachin und segnet die Muttergottes, die demütig kniet, die Hände zum Gebet gefügt. Hinter einer halbhohen Balusrade, die der himmlischen Sphäre ein königlich-höfisches Ambiente verleiht, erscheinen Scharen von leuchtend roten Seraphim zum Lob der Himmelskönigin. Die Horen des Heiligen Kreuzes eröfnet die Kreuzigung (fol. 88) vor einer Landschaft mit sehr tiefem Horizont, die ähnlich lichtdurchflutet wie bei der Hirtenverkündigung is. Das Kreuz is hoch aufgerichtet und erscheint vor goldenen Zirruswolken an einem leuchtend blauen Himmel, der sich über einer fernen Stadtkulisse öfnet. Maria und Johannes sehen in siller Trauer unter dem Kreuz; sie rücken so weit nach außen, daß Johannes vom Bildrand abgeschnitten is; doch hinter Maria is gerade noch Platz, eine Begleiterin anzudeuten. Die Horen des Heiligen Geises eröfnen mit der traditionellen Darsellung des Pfings­ wunders (fol. 94), das nicht zentral, sondern wie zuweilen beim Martainville-Meiser nach rechts ausgerichtet is. Mit Maria knien in einem Renaissance-Interieur die Aposel, vorn der greise Petrus zu ihrer Rechten, hinten zu ihrer Linken der jugendliche Johannes; alle blicken auf zur Taube. Auch hier zeigt der Maler in dem wunderbaren Wechsel von kräftigen Farben und Mischtönen sein Gespür für harmonisch-leichtes Kolorit. Die Bußpsalmen eröfnet eine ganzseitige Miniatur von Bathseba im Bade (fol. 99v). Wieder ersaunt die Weite der Landschaft, in deren Mittelgrund, srikt bildparallel, eine Loggia des königlichen Palass von links hineinragt. Von dort blickt König David, den Kopf weit zurückgelehnt, zu einem Berater. Reizvoll verbirgt die schöne Nackte ihre Scham vor ihm mit einem transparenten Tuch, vor dem Betrachter der Miniatur aber mit ihrer Hand. Ein breiter Rahmen aus Dornblatt auf Blattgold, dessen altertümlicher Dekor in dieser Stilgruppe einzigartig is, umgibt die ganzseitige Darsellung von Hiob auf dem Dung (fol. 116v), die das Totenofzium eröfnet. Die Szene spielt vor einem Steinhaus in der

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Landschaft. Den Unterkörper ganz im Mis vergraben, verschränkt der Dulder wie zur Abwehr die Arme angesichts der kosbar gekleideten drei Freunde, die zu ihm treten. Größer könnte der Kontras zwischen dem in Brauntönen gesalteten Dung und der srahlenden Pracht der Gewänder kaum sein! Zu den XV Freuden Marias sitzt die Thronende Maria mit Kind (fol. 158v) zentral auf einem rot bespannten Thron. Den Knaben hat sie so auf ihrem Schoß, als wolle er sich nach rechts zu einem Gegenüber wenden, ebenso wie die beiden Engel, die dem Thron der Muttergottes wie zwei Pagen zugeordnet sind. Schriftbänder in der Bordüre tragen die Namen IeSVS und marIa sowie ausgerechnet bei diesem Gebet in französischer Sprache die lateinische Bitte mater DeI mem(ento meI). Zum Herrengebet entwirft der Maler die Trinität (fol. 164) als Gnadensuhl: Die große Gesalt von Gottvater präsentiert den Sohn sehr viel kleiner als eine Art Kruzifix, dessen Kreuzsamm vorn auf dem Boden seht. Er thront vor einer Renaissancewand und vor hellgrünem Ehrentuch. Zu den Sufragien werden bemerkenswerte Kleinbilder mit Halbfiguren geschaltet: Tri­ nität mit allen drei Personen in Gesalt des Sohns (fol. 167v), Michael in goldener Rüsung (fol. 168), Johannes der Täufer mit dem Lamm vor dunklem Buschwerk (fol. 168v), Johannes der Evangelis mit dem Kelch vor leichter Landschaft (fol. 169), Petrus und Paulus mit Schlüssel und Schwert (fol. 169v), Jakobus als Pilger (fol. 170), Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich (fol. 171), Anna lehrt Maria lesen (fol. 171v), Maria Mag­ dalena mit dem Salbtopf (fol. 172), Katharina mit dem Schwert (fol. 172v), Barbara mit dem Turm, in einem nur sechs Zeilen hohen Bildfeld am Ende der Seite (fol. 173), Ge­ novefa mit Buch und Kerze, jedoch Engel und Teufel, die um das Licht sreiten (fol. 174). Der Buchmaler Der Buchblock is silisisch ganz einheitlich vom Martainville-Meiser gesaltet. Ihn nennt man nach einem ungemein dicht bebilderten Stundenbuch der Stadtbibliothek von Rouen aus dem gleichnamigen Schloß, Ms. Martainville 183. Der Umsand, daß ein solches Manuskript aus normannischer Provenienz in die Metropole der Normandie gelangt is, untersützte die Vorsellung, man habe es mit einer „Schule von Rouen“ zu tun, die durch die Monographie von Ritter und Lafond aus dem Jahre 1913 definiert wurde. Ers in den letzten Jahrzehnten hat sich in der Literatur, vor allem angeregt durch John Plummers Aussellung The Last Flowering, New York 1982, eine zunehmende Differenzierung durchgesetzt. So seht nun der Martainville-Meiser als ein eigensändiger Charakter aus Paris da, der vor allem durch seine Bildphantasie und den hinreißenden Dekor seiner Manuskripte fasziniert. Die verschiedenen Bildformate erlauben ihm hier, die ganze Bandbreite der gesalterischen Möglichkeiten auszubreiten. In Szenen unter freiem Himmel zeigt er sich durchweg im besen Sinne auf der Höhe seiner Zeit, indem er mit der Horizonthöhe spielt: Hauptfiguren wie Bathseba im Bade sellt er entweder mit ihrer Kopf höhe auf den Ho-

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ri­zont ein; er kann aber auch in recht schlich­ten Bil­dern wie der Kreu­zi­gung durch ext­rem nied­ri­ge Blick­hö­he eine er­staun­li­che Wei­te er­rei­chen. Der Mart­ain­ville-Meis­ter malt mit feuch­ten Far­ben recht rasch; das führt zu un­ter­ schied­lich dich­ten Er­geb­nis­sen und könn­te zur Dif­fe­ren­zie­rung ver­schie­de­ner Hän­de in sei­ner Werk­statt ver­lei­ten. Für den Buch­block füh­ren sol­che Spiel­chen aber kaum zu et­was. Doch mag man im Ka­len­der eine zwei­te Hand er­ken­nen, die je­doch dem Meis­ter in Ko­lo­rit, Schat­tie­rung und Pin­sel­füh­rung recht nahe steht. Ge­nau da­tie­ren las­sen sich sol­che Ar­bei­ten nicht. Vom Mart­ain­ville-Meis­ter, der wohl aus der Loire­ge­gend stammt, viel­leicht auch in Rou­en ge­ar­bei­tet hat, je­doch im we­sent­li­chen zur Pa­ri­ser Buch­kul­tur um 1500 ge­ hört, ist die­ses Ma­nus­kript ge­stal­tet: Es ist voll­stän­dig er­hal­ten, bil­der­reich, in et­ was al­ter­tüm­li­cher Text­ura mit ent­spre­chend tra­di­ti­o­nel­lem Buch­sta­ben­de­kor ge­ schrie­ben, auf je­der Sei­te mit über­aus ein­falls­rei­chem Rand­schmuck ver­se­hen und mit Bil­dern un­ter­schied­li­cher Grö­ße aus­ge­stat­tet, in de­nen die gan­ze Band­brei­te deut­lich wird, über die man in der ver­ant­wort­li­chen Werk­statt ver­fügt. Cha­rak­te­ris­tisch sind die gleich­mä­ßig mit Klein­bil­dern ver­se­he­nen Suf­f ra­gien in ein­falls­rei­chen Voll­bor­dü­ren eben­so wie die Bild­sei­ten mit Mi­ni­a­tu­ren über dem Inci­pit in ent­spre­ chend über­bor­den­dem Rand­schmuck. Nicht so häu­fig hat der Mart­ain­ville-Meis­ter Voll­bil­der wie klei­ne Ge­mäl­de in Kas­ten­rah­men prä­sen­tiert, sehr un­ge­wöhn­lich ist schließ­lich das Hi­obs­bild mit sei­nem brei­ten Dorn­blatt­rah­men. Da­mit prä­sen­tiert sich hier Pa­ri­ser Buch­kunst in ei­ner wün­schens­wer­ten Fül­le von farb­star­ker und i­ n­ten­siv ge­stal­te­ter Ma­le­rei. Li­te­ra­tur Das Ma­nus­kript ist bis­her nicht pub­li­ziert.

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50 Ein Stun­den­buch vom Mart­ain­ville-Meis­ter: Eines seiner früheren Werke?


Stun­den­buch. Horae B.M.V. für den Ge­brauch von Tours. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Rub­ri­ken in Rot, mit ei­nem Ka­len­der in Rot und Blau, ge­schrie­ben in dun­kel­brau­ner Bast­arda. Pa­ris oder Tours, um 1490 – 1500: Mart­ain­ville-Meis­ter 27 Bil­der, da­von eine ganz­sei­ti­ge Dar­stel­lung, vier gro­ße Mi­ni­a­tu­ren, die das Text­feld ein­fas­sen, acht Kopf­bil­der mit Rund­bo­gen­ab­schluss und 14 Klein­bil­der; die ganz­sei­ti­gen Mi­ni­a­tu­ren mit ein­fa­chen Zier­rah­men, zu den Buß­psal­men mit 4 Ver­sen des Inci­pits in gol­de­nen Let­tern am Rand, zu den üb­ri­gen Text­an­fän­gen mit Klein­bil­dern, Voll­bor­dü­ ren mit Kom­par­tim­ent-De­kor, teils mit schwar­zen Grün­den, alle Text­sei­ten mit ei­nem Rand­strei­fen au­ßen, meist als Kom­par­tim­ent-Bor­dü­ren, zu den Suf­fra­gien als Akant­ hus­bor­dü­ren auf Gold­grund. Akant­hus­de­kor für alle Ini­ti­a­len von zwei Zei­len an: Weiß auf braun­ro­ten Fonds mit gol­de­nen Bin­nen­fel­dern be­herr­schen die Bild­sei­ten; da­ne­ben in ein­zel­nen Par­ti­en des Ma­nus­kripts blaue Akant­hus­buch­sta­ben auf Rot. Wo die wei­ßen Ini­ti­a­len auch zweiz­ei­lig die Psal­men­an­fän­ge er­öff­nen fin­den sich ein­zei­li­ge zu den Psal­men­ver­ sen (die je­weils am Zei­len­an­fang ste­hen) in Pin­sel­gold auf ab­wech­selnd braun­ro­ten und dun­ kel­brau­nen Flä­chen; zu den blau­en Ini­ti­a­len auf Rot ge­hö­ren hin­ge­gen ein­zei­li­ge Gold­buch­ sta­ben auf al­ter­nie­rend ro­ten und blau­en Flä­chen; bei­des steht im Ka­len­der ne­ben­ei­nan­der; Zei­len­fül­ler in je­weils glei­cher Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 57 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten je ein fes­tes und ein flie­gen­des Vor­satz aus mo­der­nem Per­ga­ment. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend Lage 3 (2), die durch ein End­blatt er­gänz­te Lage 5 (8+1), die durch zwei End­blät­ter er­gänz­te Lage 7 (4+2), so­wie die durch ein Ein­gangs­blatt er­wei­ter­te Lage 8 (8+1); kei­ne Rekl­aman­ten. Zu 31, im Ka­len­der zu 33 Zei­len in zwei Spal­ten; rot reg­liert. Hoch-Ok­tav (176 x106 mm, Text­spie­gel: 120 x 60 mm). Voll­stän­dig, der De­kor nicht ge­trimmt, farb­stark und gut er­hal­ten. Mo­der­ner au­ber­gi­ne­farb­ener Samt­ein­band über Holz­de­ckeln. Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che: je­der Tag be­setzt, zwei­spal­tig mit je­weils ei­nem Mo­nat pro Spal­te. Hei­li­gen­na­men in Rot und Blau, Gol­de­ne Zahl in Blau, Sonn­tags­ buch­sta­be A in Pin­sel­gold auf Rot, Sonn­tags­buch­sta­be b-g in Braun, Fest­ta­ge nicht her­ vor­ge­ho­ben, vie­le Pa­ri­ser Hei­li­ge, aber auch der Fest­tag des Hei­li­gen Ga­tian am 18.12., der Vi­gil des Hei­li­gen Mar­tin von Tours am 10.11 und des­sen Trans­latio am 4.7. fol. 4 leer. fol. 4v: Perik­open: Jo­han­nes (fol. 4v), Lu­kas (fol. 5), Mat­thä­us (fol. 5v) und Mar­kus (fol. 6). fol. 6v: Ma­rien­ge­bet, re­di­giert für ei­nen Mann: Obse­cro te (fol. 6v).

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fol. 8v: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Tours: Ave Ma­ria mit An­ru­fung der Mut­ ter­got­tes (fol. 8v), Matu­tin (fol. 9), Lau­des (fol. 14), Prim (fol. 19), Terz (fol. 21), Sext (fol. 22v), Non (fol. 24), Ves­per (fol. 25v), Komp­let (fol. 27); fol. 29 leer. fol. 30: Ho­ren des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 30), des Hei­li­gen Geis­tes (fol. 32). fol. 34: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 39), da­run­ter die hei­li­gen Mau­ri­ti­us, Mar­tin von Tours, Gu­il­ler­mus und Aman­tius (Am­ane), ein au­ver­gnati­scher Mär­ty­rer, des­sen Fest­ tag am 7. Feb­ru­ar auch im Ka­len­der er­scheint. fol. 40v: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für un­be­kann­ten Ge­brauch: Ves­per (fol. 40v), Matu­tin (fol. 42, nicht her­vor­ge­ho­ben), Lau­des, mit ei­ner Rub­rik ein­ge­lei­tet (fol. 52v); fol. 54 leer. fol. 117: Ma­rien­ge­bet, re­di­giert für ei­nen Mann: Obse­cro te. fol. 54v: Suf­fra­gien: Tri­ni­tät (fol. 54v), Mi­cha­el, Jo­han­nes der Täu­fer, Pet­rus und Pau­lus (fol. 55), Jako­bus, Steph­a­nus (fol. 55v), Lau­ren­ti­us, Ni­ko­laus, Anth­onius Ab­bas (fol. 56), Mag­da­ le­na, Bar­ba­ra (fol. 56v), Gen­ovefa (fol. 57). Schrift und Schrift­de­kor Ge­gen 1500 hat man eine gan­ze An­zahl be­deu­ten­der Ge­bet­bü­cher in stei­lem For­mat so an­ge­legt, daß statt der ge­wohn­ten etwa zwei­hun­dert Blatt ein sehr viel schlan­ke­rer Um­ fang er­reicht wer­den konn­te. Dazu wur­de die Zei­len­zahl pro Sei­te er­heb­lich er­höht; ein bril­lan­tes Bei­spiel da­für sind die so­ge­nann­ten Peti­tes Heu­res der Kö­ni­gin Anne de Bre­ tag­ne, ein Haupt­werk des Stils, den man frü­her als Schu­le von Rou­en sah (Pa­ris, NAL 3093), heu­te als Werk des Petr­arca-Meis­ters be­trach­tet, der nach fr. 594 mit der Über­ set­zung der Trio­nfi aus Rou­en be­nannt wird. Un­ser Ma­nus­kript ist noch ext­re­mer ein­ge­rich­tet; be­son­ders auf­fäl­lig sind die sehr ver­ schie­de­nen For­ma­te für die Mi­ni­a­tu­ren, die viel­leicht so­gar an der Kon­zent­ra­ti­on des Schrei­bers zwei­feln las­sen, wenn er die Ma­ri­en-Prim al­len an­de­ren Ho­ren hint­an­stellt. Un­ge­wohnt in­kon­se­quent ist auch die Wie­der­ho­lung des Ma­rien­ge­bets Obse­cro te, die bes­ser er­klär­bar wäre, wenn das Buch aus nor­mier­ten Par­ti­en be­stün­de, die dann ir­rig zu­sam­men­ge­setzt wä­ren. Das aber ist nicht der Fall. Am engs­ten ver­wandt in all sei­ nen Be­son­der­hei­ten ist das für den Mart­ain­ville-Meis­ter na­men­ge­ben­de Ma­nus­kript in ­Rou­en (Bi­bli­othè­que mun­icip­ale, Ms. Mart­ain­ville 183). Wir ha­ben ein mit 132 x 85 mm deut­lich klei­ne­res Ma­nus­kript mit der­sel­ben Zei­len­ zahl in Text und Ka­len­der so­wie Mi­ni­a­tu­ren des­sel­ben Ma­lers als Nr. 15 in un­se­rem Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter. Neue Fol­ge VI von 2009 vor­ge­stellt. Das dor­ti­ge Bei­spiel war auch für den Brauch von Tours be­stimmt und fand sich in schö­ner Nach­bar­schaft zu ei­nem Stun­den­buch für Pa­ri­ser Ge­brauch aus Bour­dic­hons frü­hen Jah­ren, das ähn­ lich klein und mit 30 Zei­len für den Text so­wie 33 für den Ka­len­der auch fast ge­nau­so an­ge­legt war (dort Nr. 14).

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Während die wenig attraktive geduckte Basarda mit den hellroten Rubriken durchweg einheitlich wirkt, gehört zu den befremdlichen Eigenschaften der Buchsabendekor, der innerhalb einer überall geltenden Konzeption unterschiedliche Farben einsetzt. Gewohnt war man, beispielsweise Rot und Blau bei Initialen abzuwechseln; hier aber sind ganze Textblöcke in sich einheitlich und dann von anderen unterschieden. Grundsätzlich is Akanthus als Hauptform eingesetzt; doch kann er weiß auf Braunrot oder blau auf einem vertrauteren Rotton sein. Zu den weißen großen Buchsaben, die beispielsweise fas alle Bildseiten dominieren, gehören einzeilige Lettern in Pinselgold auf abwechselnd braunroten und dunkelbraunen Flächen, während zu den blauen Initialen, die selten größer als zwei Zeilen sind, ein särker traditionell wirkender Flächendekor für einzeilige Zierbuchsaben und Zeilenfüller kommt. Vermutlich geht der Unterschied auf zwei verschiedene Hände zurück, deren Arbeitsverteilung keine erkennbare Logik verrät. Daß beide Arten von Dekor im Kalender nebeneinander sehen, wird am Wechsel von Recto zu Verso liegen; dann hätte der eine den anderen bei dieser Arbeit abgelös, als eine Blattseite getrocknet war. Der Randschmuck wird durch die Ambitionen des Malers geprägt, seine Kompositionen auf volle Seitenbreite und dann sogar auf ganze Seiten auszudehnen, wobei es weniger wirkt, als umgebe die Malerei die Schriftfelder; eher wirkt es so, als seien die Incipits vor die Bilder gesetzt. Dabei wird jedoch, anders als bei Jean Fouquet, keine Ansrengung unternommen, diese Schriftfelder plasisch und räumlich zu definieren. Bildfolge Dem Marienoffizium wird eine bemerkenswerte Szene vorangesellt, die den heilsgeschichtlichen Grundgedanken des Marienlebens betont: Als ganzseitige Miniatur, die einen kurzen Text mit dem Ave Maria umschließt, das so gut wie nie im Stundenbuch ähnlich ausformuliert wird, seht der Göttliche Ratschluß (fol. 8v). Vor dem Fond aus Pinselgold erscheinen die drei Personen der Trinität mit Chrisi Antlitz als Halbfiguren über einer Wolkenbank. Auf einer breiteren Wolkenbank am unteren Bildrand sehen der Erzengel Gabriel und neben ihm vier gekrönte Jungfrauen mit Märtyrerpalmen, alle fünf weiß gewandet. Diese Szene eröfnet die Heilsgeschichte und geht der Verkündigung voraus: Der dreieinige Gott entscheidet nach einem Gespräch mit den vier Tugenden, die hier als Märtyrerinnen dargesellt sind, den Sohn zur Erlösung der Menschen auf die Erde zu senden. Man kennt solche Darsellungen aus der Serie von Metallschnitten der Pichore-Werksatt für Gillet und Germain Hardouin aus den Jahren 1505 – 1509 (Horae IX , Nr. 25, S. 4013). Die vier Gesalten sind dort ebenso wenig benannt oder durch Attribute charakterisiert wie in unserer Miniatur; das hat zur Folge, daß sie in den zahlreichen Drucken zuweilen abweichend bezeichnet sind (vgl. dazu die zahlreichen Beispiele in Horae I – IX , 2003 – 2015).

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Die Verkündigung erscheint dann als siebenzeiliges Kleinbild (fol. 9) zum Textbeginn. Weil an dieser Stelle ofenbar nur eine Initiale vorgesehen war, schiebt der Maler das rundbogige Bildchen mit den beiden Halbfiguren weit nach oben und rechts in die Bordüre. Die Paarung mit dem Göttlichen Ratschluß entsammt den Meditationes vitae chris­ ti. Als Grundgedanke findet sie sich schon bei Jean Colombe (so mit Jusitia und Misericordia im Stundenbuch des Louis de Laval, Paris, BnF, Ms. lat. 920, fol. 51v–52). Auch die Heimsuchung (fol. 14) zu den Laudes wird in Halbfiguren gezeigt; diesmal is Platz für ein textbreites Bild mit rundbogigem Abschluß, über 14 Zeilen Incipit: Elisabeth is zum Gruß leicht in die Knie gesunken; ihr eindrucksvolles Profil betont die Spuren ihres Alters. Sanft legt sie beide Hände auf den Leib der werdenden Gottesmutter, die sie mit mildem Blick und edlem Schwung gewähren läss. Marias blondes Haar schimmert in der Sonne, mit feiner Goldhöhung betont. Zur Prim war nur eine Initiale geplant, die für ein Bild genutzt wurde, so daß nun der Anfangsbuchsabe D fehlt. Diesmal beschränkt sich die Miniatur auf das siebenzeilige Feld im Textspiegel. Der Maler nutzt den beschränkten Platz, um eine besonders lebendige und zugleich intime Anbetung des Kindes (fol. 19) zu zeigen. Der nackte Knabe wird in der linken unteren Ecke vom Bildrand abgeschnitten, zu ihm wendet sich Maria, kniend wie Joseph hinter ihr, lieblich und mit raschem Pinsel gemalt, in siller Anbetung. Zur Terz is für die Hirtenverkündigung (fol. 21) wieder ein großes Bildfeld vorgesehen. Als Halbfigur ragt ein wundersam nach vorn gereckter Hirte ins Bild und greift an seine Hutkrempe, während ein zweiter auf den Grund der Aufregung zeigt: Am Himmel srahlt ein nur in leichtem Pinselgold auf Blau angedeuteter Kopf eines Cherubs und simmt das glorIa In eXCelSIS an, das im Wolkensaum der Erscheinung seht. Auch zur Sext is eine große Kopfminiatur vorgesehen. Unter einem schadhaften Pultdach vor der Stallwand spielt die Anbetung der Könige (fol. 22v) mit eindrucksvoll großen Figuren: Maria hat den Knaben auf ihren Schoß gesetzt; den ältesen König wach anblickend greift er nach dessen Gabe. Dahinter folgen die zwei jüngeren Könige, vom Alter kaum unterschieden. Ein wunderbares Charakterisikum des Malers is in dieser Miniatur besonders hübsch zu sehen: Er malt gern markant blaue Augen. Die Non erhält mit der Darbringung im Tempel (fol. 24) ebenfalls eine Kopfminiatur. Den engen Bildausschnitt in einem Zentralbau der Renaissance nehmen riesenhaf te Halbfiguren selbsbewußt ein. An einem runden Altartisch hat der Hoheprieser die Hände zum Gebet gefaltet, bereit, den Chrisusknaben zu empfangen, den Maria ihm soeben reicht. Begleitet wird sie von der Magd und dem Ziehvater Joseph. Insbesondere in den Gesichtern von Simeon und Joseph zeigt der Maler, wie ersaunlich gut er greise Physiognomien erfinden und in Szene setzen kann. Eher in Flandern als in Frankreich zu erwarten is der Kindermord (fol. 25v), der hier die Vesper eröfnet. In einer dramatischen Szene umfaßt das Bild ganzseitig den Textbeginn und zeigt links die klagende Mutter, die ein totes Kind in den Armen hält. Rechts

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sehen die Soldaten des Herodes, von denen einer ein Kind auf seiner Lanze aufgespießt hat. Der König verschränkt die Arme und blickt voller Trotz zum Himmel. Einen leuchtenden Abschluß des Marienoffiziums bildet die Marienkrönung (fol. 27) zur Komplet. Vor einem goldenen Strahlengrund, umgeben von Cherubim, seigt die in einen weißen Mantel gekleidete Maria als Halbfigur betend in den Himmel auf. Sie is jugendlich mit ofenem Haar als Magd Gottes begrifen und trägt bereits die Himmelskrone, die der über ihr als kleine Halbfigur erscheinende Chrisus verliehen hat. Als reizvolle Kombination von Mariä Himmelfahrt und Krönung, ganz auf die Muttergottes konzentriert, wurde diese Ikonographie in Jean Fouquets Zeiten in Tours entwickelt und dann auch nach Paris gebracht; Jean Bourdichon hat sie besonders geliebt. Alles bisher Betrachtete wird durch die Eröfnung der Horen des Heiligen Kreuzes übertrofen. Als ganzseitige Miniatur is die Kreuztragung (fol. 29v) vorangesellt. Mächtig erscheint Chrisus, der das Kreuz wie in unserer Nr. 48 mit dem Stamm nach vorn gerichtet trägt, also in der älteren Ikonographie, in der seine Las erschwert is. Ein Scherge, der ihn am Seil führt, holt zum Schlag mit dem Knotensock aus, während Maria und Johannes den Soldaten schmerzerfüllt folgen. Das Incipit auf der gegenüberliegenden Seite wird eingebettet in eine große Darsellung der Passionswerkzeuge (fol. 30), die in einer Landschaft um das hoch aufgerichtete Kreuz verteilt sind. Ein Blick auf eine Miniatur Fouquets für Étienne Chevalier in Chantilly macht deutlich, wie sich die Vorsellung von den Arma Chrisi gewandelt hat: Fouquet sellt unter der Pietà Engel um das Grab Chrisi, gibt ihnen die Werkzeuge in die Hand und legt den Rock über den Rand des Sarkophags. Hier herrscht ein herberer Ton: Da werden die Gegensände über den waagerechten Kreuzbalken gehängt, als blicke man nach dem Weg hoch zum Kalvarienberg in der Miniatur links nun auf den desolaten Zusand nach der Kreuzabnahme. Doch ganz so realisisch is die Szenerie dann doch nicht, weil auch die Geißelsäule links in diesem Bild erscheint, das nicht schildern will, sondern Meditation anregen soll. Die ungewöhnliche Bildphantasie des Malers zeigt sich auch im Pfingsbild (fol. 32) zur Matutin des Heiligen Geises. Nicht Maria, sondern ein langbärtiger Alter, der wie Paulus aussieht, der hier aber nicht erscheinen dürfte, drängt als mächtige Halbfigur im Vordergrund den links erkennbaren Petrus und die rechts hinten gezeigte Maria und noch särker den jugendlichen Johannes zurück. Sie alle blicken hoch zur Taube des Heiligen Geises, die rechts oben Goldsrahlen aussendet. Das Bildfeld nimmt über dem Textspiegel fas die gesamte Breite der Seite ein, sie wird von zwei mächtigen Säulen getragen, die das Incipit einfassen. Diese typische Verbreiterung der Bildfelder sammt ebenfalls aus der Loireregion, findet sich zunächs bei Barthélemy d’Eyck in Angers und Jean Fouquet in Tours; ers um 1500 kommt es auch nach Paris und Rouen. Auf einer Verso-Seite unter dem Textende der Heilig-Geis-Horen sollten die Bußpsalmen beginnen, die sons meis nach einer Zäsur einen neuen Textblock eröfnen. Nur für ein kleines Bild war Platz gelassen; damit aber war der Martainville-Meiser nicht zufrieden: Er tilgte die ersen vier Verse des Incipits (auf der Seite gegenüber beginnt Ps. 6,5 mit Convertere) und malte sie in goldenen Lettern in die vier Ränder von Text- und Bild-

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feld. Ohne Rücksicht auf den Textspiegel füllte er den dadurch gewonnenen Platz, der nur durch fünf Zeilen und ein Wort eingeschränkt war, mit einem eindrucksvollen Bild von David und Goliath (fol. 33v): Im Mittelgrund links taucht David als Hirtenjunge auf, schon durch die Zurücksetzung im Raum recht klein, während Goliath rechts, mit einem Felsen im Rücken, in seiner goldenen Rüsung kniet und dabei die ganze Höhe dieses ohnehin eingezwängten Bildfeldes beansprucht. Mit einem wilden Schwung schleudert der Knabe einen Stein gegen die Stirn des Riesen, der soeben zu Boden geht. Zur Vesper des Totenoffiziums erscheint, nun wieder in einer Kopfminiatur mit Bogenabschluß, eine Komposition aus kraftvoll gebildeten Halbfiguren. Hiob auf dem Dung (fol. 40v) ragt nur mit dem Oberkörper aus dem Mishaufen. An ihn richtet sich ein kosbar gewandeter Freund, dem die beiden anderen folgen, ohne recht ins Bild zu passen. Hiob verschränkt die Arme und schaut sarr vor sich hin. Wie in Nr. 49 erhebt sich hinter ihm das sattliche Haus, hier noch mit einem Wehrturm. Die Sufragien eröfnen mit einer großen Gottvater-Pietà (fol. 54v), die als Kopfminiatur wie das Pfingsbild die ganze Breite über dem Incipit einnimmt. Vor goldenem Grund hat Gottvater den toten Sohn wie bei einer Beweinung durch Maria auf den Schoß genommen, zwischen ihnen erscheint die Taube des Heiligen Geises. Zu ihm sind vier Engel getreten, die in siller Andacht auf den trauernden Vater blicken. Die folgenden Texte werden durch halbfigurige Kleinbilder in den Bordüren bebildert, dabei finden wie in späten Kalendarien jeweils mehrere in einem Randsreifen übereinander Platz: Michael, Johannes der Täufer, Petrus und Paulus (fol. 55), Jakobus und Stephanus (fol. 55v), Laurentius, Nikolaus und Antonius (fol. 56), Maria Magdalena und Barbara (fol. 56v) und Genovefa (fol. 57). Der Buchmaler Schon die enge Verwandtschaft mit dem namengebenden Manuskript in der Rouenneser Bibliothek untersreicht: Wir haben es hier mit einem eindrucksvollen Werk des Martainville-Meisers zu tun. Anders als in den drei hier schon besprochenen Büchern fühlt er sich nicht an srikte Regeln traditionellen Layouts gebunden. Da sich schon der Band als Ganzes von Konventionen lös, kann er mit Bildformen experimentieren und dabei seine ersaunliche Bildphantasie sprühen lassen. Noch einmal, von ferne vergleichbar unserer Nr. 47, erreicht diese Kuns bei einer Darsellung der Kreuztragung ihren Höhepunkt; sie is diesmal mit einem meditativen Bild des Kreuzes und der Arma Chrisi kombiniert. Dabei beweis der Künsler eine Dynamik, die bei der Gesaltung von Büchern eine Grundeigenschaft des Mediums zu nutzen weiß: Die Abfolge im Buch, das Nebeneinander von Verso und Recto lassen sich so einsetzen, als ziele die Kreuztragung auf das bittere, menschenleere und dann nur noch meditative Ergebnis. Buchmalerei is dabei nicht „Kuns des Erzählens“, die Hans Belting und Dagmar Eichberger in ihrem Van-Eyck-Buch von 1983 fassen wollten, sondern

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auf ein An­hal­ten des Nar­rati­ven in ei­ner po­e­ti­schen Si­tu­a­ti­on ge­zielt, die in die­sem Fall auf die Auf­he­bung des Gesch­ehens in der zeit­lo­sen Trau­er über die Pas­si­on re­a­giert. Der li­tur­gi­sche Ge­brauch von Tours, der die­ses Stun­den­buch prägt, mü­ßte ei­gent­lich ver­bie­ten, ein sol­ches Ma­nus­kript mit Pa­ri­ser Wer­ken zu prä­sen­tie­ren. Ver­mut­lich ent­ stan­den die Mi­ni­a­tu­ren, ehe der Ma­ler den Weg nach Pa­ris fand, noch in le­ben­di­gem Aus­tausch mit der Kunst in Tours zwi­schen Jean Fou­quets Tod (1478/83) und dem Auf­ blü­hen von Jean Bour­dic­hon, also etwa zeit­gleich mit Jean Po­yer und dem Meis­ter der Missa­lien del­la Rov­ere. Schlank und von stei­lem For­mat, mit ho­her Zei­len­zahl und ge­rin­gem Um­fang er­ staunt die­ses Stun­den­buch. Es er­weist sich als ein ext­re­mes Bei­spiel ei­ner ge­gen 1500 auf ­kom­men­den Ten­denz, sol­che Ge­bet­bü­cher er­heb­lich hand­li­cher zu ma­ chen. Ge­schrie­ben und de­ko­riert wur­de es von ei­nem Team, das viel­leicht nicht in al­len Punk­ten ei­ner kon­se­quen­ten Kon­zep­ti­on fol­gen moch­te: Ein wich­ti­ges Ge­bet kommt zwei­mal vor; zwei Il­lu­mi­na­to­ren schei­nen ne­ben­ei­nan­der ge­ar­bei­tet zu ha­ ben. Sie be­glei­ten den Ma­ler der Bil­der nicht in sei­nen an­de­ren hier vor­ge­stell­ten Ma­nus­krip­ten. Die un­kon­ven­ti­o­nel­le Ge­stal­tung des Buchs er­mun­tert zu Ex­pe­ri­men­ten; und kaum ein Ma­ler um 1500 war dazu so gern be­reit wie der hier ver­ant­wort­li­che Künst­ler: Es ist der Mart­ain­ville-Meis­t er, wohl noch in sei­ner Früh­zeit in Tours oder auf dem Sprung nach Pa­ris. Ver­blüf­fen­de Bild­lö­sun­gen bie­tet er hier, die die­ses Stun­den­buch zum ganz und gar un­ge­wöhn­li­chen Bei­spie­l ei­ner Spi­ri­tu­a­li­tät zwi­schen Spät­mit­tel­ al­ter und Neu­zeit ma­chen. Li­te­ra­tur Das Ma­nus­kript ist bis­her nicht pub­li­ziert.

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51 Das Bre­vier des Dich­ters Oc­to­vien de Saint-Ge­lais: Ein ungewöhnlich frü­hes Haupt­werk von Jean Pich­ore und seiner Werkstatt aus der Zeit um 1494 - 1500


Bre­viarium roma­num, aus der un­ter Six­tus IV. er­folg­ten fran­zis­ka­ni­schen Re­vi­si­on. La­tei­ni­sche Hand­schrift in Schwarz, mit ro­ten Rub­ri­ken, im Ka­len­der mit Blau, auf Per­ga­ ment, in ei­ner hu­ma­nis­ti­schen Buch­schrift. Pa­ris, um 1494 – 1500: Jean Pich­ore und sein Ate­li­er Ein­und­drei­ßig Pracht­sei­ten, da­von drei­ßig mit Voll­bor­dü­ren, vor­wie­gend aus Blu­men und Akant­hus auf Pin­sel­gold oder auf Kom­par­tim­en­ten aus Far­be und Pin­sel­gold, drei mit Kan­de­la­ber-Bor­dü­ren in Gold auf blau­em Grund, da­run­ter zwei bild­lo­se Sei­ten mit gro­ßen Ini­ti­a­len in Voll­bor­dü­ren. Neun­und­zwan­zig Bil­der: ein text­lo­ses Voll­bild in Ar­ chi­tek­tur­rah­men; die an­de­ren in ent­spre­chen­den Voll­bor­dü­ren: vier­zehn gro­ße zwei­spal­ ti­ge Mi­ni­a­tu­ren mit Seg­ment­bo­gen über acht Zei­len Text mit fünfz­ei­li­ger Ini­ti­a­le; drei­ zehn ein­spal­ti­ge Mi­ni­a­tu­ren: wo sie am Ko­lum­nen­be­ginn ste­hen, mit Bo­gen­ab­schluss; eine 10-zei­li­ge Bild­i­ni­ti­a­le. Der Be­ginn der meis­t en Of ­fi­zi­en vor dem Sonn­tag Tri­ni­ta­tis (fol. 319) und zahl­rei­che an­de­re Inci­pits mit gro­ßen Ini­ti­a­len, 4 oder 5, sel­te­ner 3 Zei­ len hoch, mit un­ter­schied­li­chem De­kor: als far­bi­ge Akant­hus-Buch­sta­ben mit Blu­men im Gold­grund der Bin­nen­fel­der oder als Gold­buch­sta­ben, teils als Dra­chen auf ro­tem oder blau­em, zu­wei­len zwei­far­big ge­teil­tem Grund. Ent­spre­chend die zweiz­ei­li­gen Ini­ti­a­len für die Psal­men­an­fän­ge. Das KL in Gold­buch­sta­ben, mit Aus­nah­me des Ja­nu­ars auf schräg ge­teil­tem ro­ten und blau­en Fond, im Ja­nu­ar auf blau­em Fond und grö­ßer di­men­si­o­niert. Die ein­zei­li­ gen Zier­buch­sta­ben zu den am Zei­len­be­ginn ein­set­zen­den Psal­men­ver­sen als Gold­buch­sta­ben auf ab­wech­selnd ro­tem und blau­em Grund, die zahl­rei­chen Zei­len­fül­ler mit ent­spre­chen­dem De­kor. Von Lage 4 an wer­den blaue Zei­len­fül­ler nur noch mit Weiß mo­del­liert. Nach der ers­ten Lage im zwei­ten Teil des Tem­po­ra­le, von fol. 327 an, wer­den Zei­len­fül­ler ver­mie­den. Sie keh­ren in den bei­den Of­fi­zi­en am Ende, von fol. 423 an, wie­der. Ver­sa­li­en nicht mar­kiert. Sei­ten­ti­tel in der­sel­ben Schrift wie der Text, erst von Lage 18 an; sie set­zen auf fol. 380v aus und keh­ren im To­ten­of­fi­zi­um, von fol. 429 an, wie­der. 432 Blatt fei­nes Per­ga­ment mit je zwei Vor­sät­zen aus wei­ßem Pa­pier. Ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (6), die End­la­ge des Psal­ters 14 (6), die um ein Blatt zwi­schen fol. 137 und 138 be­raub­te Lage 18 (8-1), die nur aus drei Blät­ tern be­ste­hen­de End­la­ge der ers­ten Hälf­te des Tem­po­ra­les 41 (4-1) so­wie die aus un­er­find­li­ chen Grün­den un­re­gel­mä­ßi­ge Lage 45 (6) und schließ­lich am Über­gang von Tem­po­ra­le zu Comm­une die End­la­ge 49 (8+1, ein text­lo­ses un­re­glier­tes Blatt mit Voll­bild am Ende hin­zu­ ge­fügt) und die An­fangs­la­ge 50 (8-1, das ers­te Blatt ohne er­kenn­ba­ren Ver­lust ent­fernt) so­wie schließ­lich die End­la­ge des Ma­nus­kripts 46 (4). Kei­ne Rekl­aman­ten. Zwei­spal­tig, zu 32 Zei­len, im Ka­len­der mit 33 lan­gen Zei­len, rot reg­liert. Quart: 200 × 138 mm (Text­spie­gel: 127 × 85 mm, Ko­lum­nen­brei­te 38 mm). Bis auf ein Blatt mit Text und klei­nem Bild voll­stän­dig; ein zwei­tes Blatt of­fen­bar wäh­rend der Ar­beit ent­fernt und durch ein an­de­res er­setzt. Die Wap­pen in al­len Bor­dü­ren mehr oder we­ni­ger ef­fi­zi­ent ge­tilgt, ein­mal nach zu hef­ti­ger Ra­sur auf der Rück­sei­te durch Per­ga­ment­ strei­fen ver­stärkt. Ohne Ge­brauchs­spu­ren, ma­kel­los frisch er­hal­ten.

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Ge­bun­den in ei­nen eng­li­schen Ein­band von 1825-30: ro­tes Ma­ro­quin auf glat­ten Rü­cken mit Be­zeich­nung Mis­sale Roma­num, spar­sa­me Gold­prä­gung, auf den De­ckeln nur je­weils Au­ßen­ li­ni­en; pracht­voll hin­ge­gen die flie­gen­den Vor­sät­ze aus Mar­mor­pa­pier, die nach au­ßen und im In­nen­de­ckel mit hell­grü­ner Sei­de be­spannt und mit gold­ge­präg­ten Dou­blü­ren ge­schmückt sind. Pro­ve­ni­enz: 28 Sei­ten zei­gen Wap­pen in den Bor­dü­ren, die spä­ter aus­ge­kratzt wur­den, de­ren In­halt aber zwei­fels­frei be­stimmt wer­den kann. Ge­viert: im ers­ten und vier­ten Vier­tel ein sil­ ber­nes Kreuz auf blau­em Grund (Saint-Ge­lais); im zwei­ten und drit­ten ein stei­gen­der ro­ter Löwe auf Strei­fen von Sil­ber und Blau (Lu­sig­nan) – écar­telé: au 1er et 4e d’azur à la croix al­ ésiée d’ar­gent; au 2 et 3 bu­re­lée d’ar­gent et azur au lion de gueu­les broc­hant sur le bu­re­lé. Da­ mit wird die Fa­mi­lie Saint-Ge­lais aus der Graf­schaft Ang­oulême be­zeich­net, die sich auf die Lu­sig­nan zu­rück­führ­te und des­halb das ei­ge­ne Wap­pen im 1. und 4. Vier­tel mit dem der Lu­ sig­nan im 2. und 3. ver­band (Riet­stap, S. 649, Taf. ccxxiv). Die De­vi­se non plvs, die in fast al­len Bor­dü­ren mehr­fach er­scheint, ver­wen­de­te Oc­to­vien de Saint-Ge­lais als Bi­schof (Hen­ri Tau­sin, Dict­ionn­aire des devi­ses ec­clési­as­ti­ques, Pa­ris 1907, S. 133, Nr. 1337; Jean-Jacques Larti­gue und Oli­vier de Pont­bri­and, Dict­ionn­aire des devi­ses héraldi­ques & hist­ori­ques de l’Eur­ope, Pa­ris 2000, 17815). Oc­to­vien de Saint-Ge­lais wur­de 1468 in Mont­lieu bei Co­gnac ge­bo­ren und ist 1502 in Vars bei Ang­oulême ge­stor­ben; seit Juli 1494 war er Bi­schof von Ang­ oulême. Er­folg­reich war er als Über­set­zer Ovids; er lie­fer­te die ers­te Ae­neis auf Fran­zö­sisch und gen­oß am Hof Kö­nig Karls VIII. als Dich­ter hohe Ach­tung. Viel­leicht war er der Va­ ter von Mel­lin de Saint-Ge­lais, den er im Bi­schofs­p a­last von Ang­oulême er­zo­gen hat und der Hof­dich­ter bei Kö­nig Fran­çois Ier war. Auf fol. 74 ist Oc­to­vien de Saint-Ge­lais of­fen­bar als ju­ gend­li­cher Bi­schof von Ang­oulême beim Chor­ge­bet ge­zeigt. Ba­ro­cke Ein­tra­gun­gen ei­ner Re­nee Lem­per­eur auf der ers­ten und letz­ten Sei­te. Mit gro­ßer Si­cher­heit han­delt es sich bei un­se­rem Ma­nus­kript um je­nes „Mis­sal“, das im Ka­ ta­log des Font­hill Sale von Will­iam Beck­ford, 1823, fol­gen­der­ma­ßen be­schrie­ben wird: 249: "Mis­sal. A Most Splen­did Mis­sal, on Vel­lum, Il­lu­mi­na­ted by 30 Min­iatu­res and a pro­fu­si­on of De­vices in the Capi­tals, Bord­ers, &c. &c. rich­ly co­lou­red, in the ori­gi­nal and cur­ious old bin­ding, 8vo". Die­sen Ein­band wird der nächs­te Be­sit­zer (der Earl de Grey) durch den heu­ti­gen er­setzt ha­ben; erst nach­dem das Buch Beck­fords Bib­li­o­thek ver­las­sen hat, ging das Blatt mit dem Weih­nachts-Inci­pit ver­lo­ren. So­mit er­weist sich die­se Hand­schrift als ehe­ma­li­ger Be­sitz des be­rühm­ten Samm­lers, des­sen Ma­xi­me „no­thing se­cond rate ent­ers here“ auch für un­se­re Hand­schrift gilt (sie­he zu­letzt Frau­ke Steen­bock, „No­thing se­cond rate ent­ers here“, in: Von Kunst und Tem­pe­ra­ment, hrsg. von Ca­ro­li­ne Zöhl und Mara Hof­mann, Turnh­out 2007, S. 253-267). Im Vor­der­de­ckel das Kup­fer­stich-Ex­lib­ris des Tho­mas Phi­lip Earl de Grey, Wrest Park (1781 - 1859, siehe zu ihm auch Nr. 21 in HORAE 2003); auf dem Ver­so ei­nes Vor­sat­zes vorn: „For Mi­cha­el from Dad, Van­cou­ver 3/87“. Mit Ein­tra­gun­gen aus dem An­ti­qua­ri­at, un­ter an­de­rem: ex-Quar­itch 1968.

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Text- und Bild­fol­ge Der Text folgt wie die meis­t en pracht­vol­len Bre­vie­re der Jahr­zehn­te um 1500 (da­run­ter la­tin 1058 in der Pa­ri­ser BnF, das Bre­viarium May­er van den Bergh und das Bre­viarium Grim­ani) der Re­form des Fran­zis­ka­ner­bre­viers nach rö­mi­schem Ge­brauch, wie es un­ ter Papst Six­tus IV. kon­zi­piert wor­den war. Ver­mut­lich dien­te eine nicht iden­ti­fi­zier­te Inku­na­bel als Vor­la­ge. Auf­fäl­lig ist der auch zu­wei­len im Buch­druck zu fin­den­de Ver­ zicht auf ein Sanct­o­ra­le, viel­leicht aus ei­ner Ge­sin­nung he­raus, die Zwei­fel am Hei­li­gen­ kult im Vor­feld der Re­for­ma­ti­on heg­te, viel­leicht aber auch mit dem prak­ti­schen Sinn, bei Hei­li­gen­ta­gen ein­fach das Comm­une sanc­to­rum zu be­nut­zen. Je­doch fin­den sich an­ de­rer­seits am Ende der Ves­per im Psal­ter­ium (fol. 104) aus­drück­lich an die Hei­li­gen der Mino­ri­ten ge­rich­te­te Suf­fra­gien, die in den Ver­gleichs­hand­schrif­ten feh­len. Norm für die Be­bil­de­rung war of­fen­bar die zwei­spal­ti­ge Mi­ni­a­tur mit fla­chem Boge­nab­ schluß. Im Fol­gen­den wer­den nur ab­wei­chen­de Bild­grö­ßen ein­zeln ge­nannt. Ka­len­der fol. 1: Ka­len­der in la­tei­ni­scher Spra­che, nicht je­der Tag be­setzt; die ein­fa­che­re Ka­te­go­rie in Schwarz, hö­he­re Fest­ta­ge in Rot; die An­ga­be zum Mo­nat in Blau. Die Gol­de­ne Zahl und die aus­ge­schrie­be­nen Be­zeich­nun­gen der rö­mi­schen Ta­ges­zäh­lung in Rot; Sonn­ tags­buch­sta­ben b-c und die Zah­len der rö­mi­schen Ta­ges­zäh­lung in Schwarz; Sonn­tags­ buch­sta­ben A als Gold-Ini­ti­a­len auf ab­wech­selnd ro­ter und blau­er Flä­che. Der Ka­len­der ist un­be­bil­dert; doch sind in schwar­zer Schrift von der­sel­ben Hand, die auch sonst hier wirk­te, im obe­ren Rand, ohne Hilfs­li­ni­en kur­ze An­ga­ben ein­ge­tra­gen, die als eine Art Bild-Er­satz zu ver­ste­hen sind, weil sie die The­men der Mo­nats­bil­der evo­ zie­ren. Der Ka­len­der ent­spricht im we­sent­li­chen dem re­for­mier­ten fran­zis­ka­ni­schen Ka­len­der aus der Re­gie­rungs­zeit des 1484 ver­stor­be­nen Paps­t es Six­tus IV. Das ge­schieht in ei­nem Wort­laut, der eng mit den For­mu­lie­run­gen des Bre­viarium Grim­ani über­ein­stimmt. Er­ gän­zun­gen, die auf das Um­feld des Hofs in Amb­oise und auf das Bis­tum Ang­oulême aus­ge­rich­tet sein könn­ten, sind nicht fest­zu­stel­len. Fest­psalterium fol. 7: All­ge­mei­ne Ge­be­te: Pa­ter noster, Ave Ma­ria, Cre­do, Ven­ite ex­ult­emus mit Voll­bor­ dü­re und Wap­pen. fol. 7v: Ordo psalt­erii se­cun­dum mo­rem et cons­uetudinem Ro­ma­ne cu­rie: In­vit­ato­rien und Hym­nen für ver­schie­de­ne Zei­ten des Jah­res. fol. 9: Dom­inica: Da­vid als Harf­ner auf sei­nem Thron zu Psalm 1: Bea­tus vir. fol. 30: Fe­ria sec­unda: Da­vid weist auf sei­ne Au­gen zum Hym­nus Som­no ref­ectis; dann folgt Psalm 26: Do­mi­nus ill­uminatio mea.

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fol. 40: Fe­ria ter­tia: Da­vid weist auf sei­nen Mund zu Psalm 38: Dixi cus­tod­iam. fol. 47v: Fe­ria quar­ta: Da­vid und der Narr zu Psalm 52: Dix­it ins­ipiens. fol. 55: Fe­ria quin­ta: Da­vid auf ei­nem Schim­mel rei­tend zu Gott ge­wen­det zu Psalm 68: Sal­vum me fac. fol. 65v: Fe­ria sex­ta: Da­vid mit fünf wei­te­ren Mu­si­kan­ten zum Hym­nus Tu tri­ni­ta­tis uni­ tas, vor dem Psalm 80: Exul­tate. fol. 74: Sabb­ato: Jun­ger Bi­schof beim Chor­ge­sang zu Psalm 97: Can­tate. fol. 85: Die an Wo­chen­ta­gen zu le­sen­den Klei­nen Ho­ren: Sequi­tur ordo prime per to­tum an­num ex­ceptis die­bus do­mi­ni­cis: Zur Prim nur die Inci­pits des Hym­nus Iam lu­cis orto und von drei Psal­men (Deus in no­mine, Beati imm­acu­lati, Re­tri­bue) ohne wei­te­re An­ga­ben. rech­te Spal­te: Ad terc­iam: Klein­bild der Dor­nen­krö­nung zum Hym­nus Nunc sanc­te no­ bis spi­ri­tus; auf fol. 85v dann Psalm 118, 33: Le­gem pone. fol. 87v: Ad sex­tam: Klein­bild der Kreuz­tra­gung zum Hym­nus Rec­tor po­tens verax deus, dann Psalm 118, 81: Defe­cit in sa­lut­are an­ima tua. fol. 89: Ad no­nam: Klein­bild der Kreu­zi­gung zum Hym­nus Re­rum deus tenax vigor, dann Psalm 118, 129: Mir­abi­lia te­stimo­nia tua. fol. 91: In do­mi­ni­cis die­bus ad vesp­eras: Kreuz­ab­nah­me zu Ps. 109: Dix­it do­mi­nus do­ mi­no meo. fol. 104: Fran­zis­ka­ner-Suf­fra­gien: ei­nes in matu­ti­na ge­rich­tet an alle Hei­li­gen de or­dine mino­rum, ge­folgt auf fol. 104v von ei­nem zwei­ten Suf­fra­gium pe­tri, ber­ardi, acc­ursii, adi­uti & ot­to­nis marti­rum, bona­vent­urae ac ludo­vici pon­tifi­cum, anth­onii & bern­ard­ini conf­es­ so­rum ac clare vir­gi­nis. fol. 105: Ad comp­leto (sic): Klein­bild der Grab­le­gung zu Ps. 4: Cum in­vo­care exa­udi­vit me deus. fol. 108: Schluß­ge­be­te in fine om­nium hora­rum: Klein­bild der Ve­ro­ni­ka mit dem Schweiß­ tuch zu Fi­del­ium anime per mis­eri­cord­iam dei requi­esc­ant in pace. Tem­po­ra­le mit Of ­fi­zi­en für Hei­li­gen­ta­ge zwi­schen Weih­nach­ten und Epi­pha­ni­as fol. 109: Ordo brevi­arii se­cun­dum cons­uetudinem Ro­ma­ne cu­rie. fol. 109: In primo sabb­ato de ad­ventu do­mi­ni: Ma­ria als Im­ma­cul­ata mit ih­ren Sym­bo­len und Bei­wor­ten. fol. 135/136: Blatt mit dem Be­ginn des Weih­nachts-Of ­fi­zi­ums fehlt. fol. 140v: Ad lau­des: Klein­bild der Hir­ten­ver­kün­di­gung.

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fol. 141v: Zum Of ­fi­zi­um des hei­li­gen Steph­a­nus: Klein­bild von Steph­a­nus mit Stei­nen und Mär­ty­rer­pal­me. ­fi­zi­um: Klein­bild: Jo­han­nes der Evan­ge­list mit dem Kelch. fol. 145: Zum Jo­han­nes-Of fol. 151v: Zum Of ­fi­zi­um des Tho­mas von Can­ter­bu­ry (Pro sanc­to thoma mar­tyre): Klein­ bild irr­tüm­lich mit dem Apos­t el Tho­mas. fol. 159v: Sanc­ti Silve­stri pape et conf­es­so­ris (statt marty­ris). fol. 169: In die Epi­pha­nie: Klein­bild der An­be­tung der Kö­ni­ge. fol. 205v: Fe­ria iiii. Cine­rum (Ascher­mitt­woch) mit Li­ta­nei (fol. 207), da­rin un­ter den Mär­ty­rern sanc­ti ber­arde, pe­tre, acc­ursi, adi­ute et otto (fran­zis­ka­ni­sche Mär­ty­rer, die 1481 ­fi­zi­um in la­tin 1058, vol. 369; Lero­quais 1934, hei­lig­ge­spro­chen wur­den; sie­he de­ren Of 3, S. 63); un­ter den Be­ken­nern Fran­zis­kus, An­to­ni­us von Pa­dua, Bona­vent­ura (1482 kan­ onisiert) und Lud­wig IX . von Frank­reich; un­ter den Frau­en Clara. fol. 243: Dom­inica de passi­one: Klein­bild Chris­t us und die Schrift­ge­lehr­ten. fol. 267v: Oster­bild mit Auf­er­ste­hung Chris­t i zum Text­an­fang auf der fol­gen­den Sei­te. fol. 268: Dom­inica res­urrectio­nis. fol. 296v: In vigi­lia as­censio­nis: Him­mel­fahrt Chris­t i. fol. 310: In vigi­lia pen­the­cos­tes: Bild auf fol. 310v: Ausg­ießung des hei­li­gen Geis­t es. fol. 318v leer. fol. 319: Off­i cium sanc­tis­sime tri­ni­ta­tis: Chris­tus und Gott­va­ter thro­nend mit der Tau­be. fol. 325: In vigi­lia corpo­ris Chris­ti, mit Klein­bild der Hos­t ie über dem Kelch, von zwei En­ geln prä­sen­tiert, zum Hym­nus Pange lin­gua, auf fol. 325v. fol. 361: Ende des Of ­fi­zi­ums zum 24. Sonn­tag nach Tri­ni­ta­tis. fol. 361v: Le­sun­gen aus dem Al­ten Tes­t a­ment, den Rub­ri­ken zu­fol­ge ein­zel­nen Ta­gen zu­ge­ord­net, in den Sei­ten­ti­teln nur noch nach den Bi­bel­bü­chern ver­zeich­net, aus de­nen sie stam­men. Comm­une sanc­to­rum fol. 381: leer. fol. 381v: Text­lo­ses Voll­bild: Alle Hei­li­gen, zum fol­gen­den Text­an­fang. fol. 382: Comm­une sanc­to­rum: In nat­aliciis apo­stolo­rum. fol. 387v: In nat­ali uni­us marty­ris: Bild­i­ni­ti­a­le mit Lo­renz. fol. 395v: In nat­aliciis plu­rimo­rum marty­rum.

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fol. 402: In nat­ali uni­us conf­es­so­ris pon­tifi­cis. fol. 407: In nat­ali conf­es­so­ris non pon­tifi­cis. fol. 411: In nat­aliciis vir­gi­nis. fol. 416v: In fe­sto ali­cuius sanc­te vir­gi­nis non marty­ris. ­fi­zi­en für Ma­ria und die To­ten Of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom, stark ab­ge­kürzt, mit fol. 422v: Ma­ri­en-Of Pietà. ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom, stark ab­ge­kürzt, mit fol. 428v: To­ten-Of Klein­bild Hiob und sei­ne Freun­de. fol. 432v: Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor In sei­ner Ge­samt­er­schei­nung ver­eint das Bre­vier des Oc­to­vien de Saint-Ge­lais Grund­zü­ge mit­tel­al­ter­li­cher Buch­kunst mit ei­nem aus­ge­präg­ten Sinn für das Neue, das vor al­lem aus Ita­li­en und viel­leicht auch be­reits vom Buch­druck kam. Ge­schrie­ben ist das Ma­nus­kript in ei­ner hu­ma­nis­t i­schen Buch­schrift, die noch nicht ganz der spä­ter in Frank­reich tri­um­phie­ren­den An­ti­qua ent­spricht. Es ist wie sol­che li­tur­gi­schen Bü­cher zwei­spal­tig an­ge­legt; noch herrscht der Hor­ror va­ cui, der nach 1500 in an­spruchs­vol­len fran­zö­si­schen Hand­schrif­ten zu­neh­mend über­ wun­den wird. Psal­men­ver­se set­zen am Zei­len­be­ginn ein; das er­for­dert zahl­rei­che Zei­ len­fül­ler, die in den ers­ten drei La­gen durch­weg mit Gold mo­del­liert wer­den, bis man von Lage 4 an be­schloß, das Blau nur noch mit Weiß zu mo­del­lie­ren und da­mit zu­gleich eine plas­t i­sche­re Form ein­führ­te. Es mag we­nigs­t ens zum Teil an dem ge­wan­del­ten Ge­ schmack, zu­gleich an ei­nem zu­neh­men­den Sinn für Spar­sam­keit lie­gen, daß man im zwei­ten Teil des Tem­po­ra­le, vom Sonn­tag Tri­ni­ta­tis an, nur noch in der ers­t en Lage Zei­ len­fül­ler ein­setz­te und von fol. 327 an schon den Text so an­leg­te, daß sie nicht mehr er­ for­der­lich sind. Daß da­bei auch die Text­sor­te eine Rol­le spiel­te, zeigt sich in den bei­den Of ­fi­zi­en am Ende, wo sich von fol. 423 an wie­der Zei­len­fül­ler fin­den. In Pa­ri­ser Tra­di­ti­on der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts ste­hen die ein­zei­li­gen Gold­ buch­sta­ben auf ab­wech­selnd ro­tem und blau­em Grund. Im Ka­len­der ist der Über­gang zur hö­he­ren De­ko­ra­ti­ons­stu­fe flie­ßend: Die zweiz­ei­lig be­rech­ne­ten li­gier­ten Buch­sta­ben KL wer­den in der Art der ein­zei­li­gen Ini­ti­a­len ge­stal­tet, je­doch mit ei­nem di­a­go­nal ge­ teil­ten Grund­feld aus Blau und Rot ver­se­hen. Beim Ja­nu­ar sind Buch­sta­ben und Fond grö­ßer be­mes­sen und ein­far­big, er­rei­chen aber nicht die im Text für zweiz­ei­li­ge Ini­ti­a­ len gel­ten­de Ka­te­go­rie.

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Für grö­ße­re Zier­buch­sta­ben be­dient man sich ver­schie­de­ner For­men. Zu­meist setzt man auf far­bi­ge Buch­sta­ben­kör­per mit der um 1500 noch recht neu­en Art von far­bi­gem Akant­hus mit wei­ßer Mo­del­lie­rung auf gol­de­nem Grund, der bei grö­ße­ren Buch­sta­ben mit Blu­men ge­füllt wird. Da­ne­ben setzt man Gold­buch­sta­ben ein, die plas­t isch mo­del­ liert sind und auf eben­falls mo­del­lier­tem ein­far­bi­gen Fond ste­hen. Eine Viel­zahl von Va­ ri­a­ti­o­nen ist mög­lich, ohne daß da­bei hie­rar­chi­sche Un­ter­schie­de ge­macht wür­den. Ty­ pisch da­für ist die ers­t e Sei­te des Text­blocks mit ei­nem vierz­ei­li­gen Zier­buch­sta­ben aus weiß-grau­em Akant­hus auf ei­nem blau­en Fond, des­sen Bin­nen­feld mit ei­nem Erd­beer­ zweig auf Pin­sel­gold ver­ziert ist. Die grö­ße­re Ini­ti­a­le, mit sechs Zei­len Höhe, ist hin­ ge­gen als gol­de­ner Kör­per mit aus­strah­len­den ve­ge­ta­bi­li­schen Zwei­gen und sti­li­sier­ten blau­en Blü­ten ge­bil­det und auf tief­blau­en Fond mit ei­nem ro­ten Bin­nen­feld ge­setzt. Die in Blatt­gold aus­ge­führ­ten Rän­der ver­ste­hen sich an die­ser Stel­le of­fen­bar als be­son­de­re Aus­zeich­nung der ei­nen Buch­sei­te, die eine von nur zwei­en mit Bor­dü­re ist. Zum mo­der­nen Ge­prä­ge des Buchs ge­hört die Be­schrän­kung des Rand­schmucks im Prin­zip auf Bild­sei­ten. Wäh­rend die­se durch­weg mit Voll­bor­dü­ren ver­se­hen sind, wird nur zu Be­ginn des Psal­ters und zu Be­ginn des Comm­une sanc­to­rum eine rei­ne Text­sei­ te mit ent­spre­chen­der Voll­bor­dü­re aus­ge­zeich­net. In den Bor­dü­ren herrscht noch weit­ ge­hend das für das letz­te Drit­tel des 15. Jahr­hun­derts in Pa­ris cha­rak­te­ris­t i­sche Sys­t em des Rand­schmucks aus Blu­men und Akant­hus auf Pin­sel­gold, meist mit ei­nem schma­ len Bo­den­strei­fen un­ten, zu­wei­len mit Gro­tes­ken be­lebt; sel­te­ner ein­ge­setzt der viel­leicht hie­rar­chisch ge­rin­ger be­wer­te­te Fond aus Kom­par­tim­en­ten. Das Ma­nus­kript wur­de of­fen­bar in der Ab­fol­ge der Tex­te de­ko­riert, weil Rand­schmuck neu­er Art erst ge­gen Ende des Tem­po­ra­le und zu Be­ginn des Comm­une ein­setzt: Drei Bor­dü­ren, zu Pfings­ten, Tri­ni­ta­tis und Fron­leich­nam ar­bei­ten mit den zu je­ner Zeit hoch­mo­der­nen Kan­de­la­ber­for­men, die in Gold auf blau­en Fond ge­setzt wer­den. Das Ein­gangs­bild zum Comm­une, das si­cher der letz­ten Ar­beits­pha­se an­ge­hört, weil man da­ für of­fen­bar das ers­t e Blatt der Lage 50 ent­fernt hat und ein Er­satz­blatt be­nutz­te, zeigt als ein­zi­ges ein text­lo­ses Bild, das über­dies in eine Ädik­ula-Rah­mung ge­setzt ist, wie sie im Buch­druck erst mit den Stun­den­buch­dru­cken vor­kommt, die Jean Pich­ore und Remy de Lai­stre 1504 he­raus­ge­ge­ben ha­ben. Zum Stil So ein­heit­lich sich Schrift und Schrift­de­kor er­wei­sen, so schlüs­sig ist der Stil von ei­ nem ein­zi­gen Meis­ter ge­prägt, auch wenn nicht über­all das­sel­be Tem­pe­ra­ment bei der Aus­füh­rung zu er­ken­nen ist. Das Ma­nus­kript wur­de zwei­fel­los bei Jean Pich­ore in Pa­ ris aus­ge­malt, der kurz nach 1500 für den Kar­di­nal Georges d’Amb­oise und auf des­sen Kos­t en auch für Lud­wig XII . be­deu­ten­de Fo­li­an­ten ge­stal­tet hat und der noch 1518 im Auf­trag der Schöf­fen von Ami­ens für die Kö­nigs­mut­ter Lou­ise von Sa­voy­en die Bil­der zu den Chants roya­ux du Puy Not­re-Dame der Ka­thed­ra­le von Ami­ens in fr. 145 der Pa­ ri­ser Na­ti­o­nal­bib­li­o­thek lie­fer­te.

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Un­se­re Hand­schrift, die man bis um 1990 ohne Zö­gern in Rou­en an­ge­setzt hät­te, weil Pich­ore den Stil bei­spiel­haft ver­kör­pert, den Rit­ter und La­fond 1913 als École de Rou­ en de­fi­niert ha­ben, wur­de in Pa­ris ge­schaf­fen; das wird heu­te nie­mand mehr be­strei­ten. Die Le­bens­um­stän­de von Oc­to­vien de Saint-Ge­lais las­sen nur eine Ent­ste­hung anl­äß­lich sei­ner Er­he­bung zum Bi­schof von Ang­oulême im Juli 1494 zu. Sei­ne Wap­pen wa­ren von vorn­her­ein vor­ge­se­hen; doch scheint die Krüm­me nicht in je­der Bor­dü­re ge­plant ge­we­ sen zu sein. Des­halb wird die Ar­beit kurz vor dem Amts­an­tritt, also wohl erst 1494 be­ gon­nen wor­den sein. Mit ei­nem solch frü­hen An­satz rückt das Buch in eine bis­her kaum er­forsch­te Pha­se der künst­le­ri­schen Ent­wick­lung von Jean Pich­ore. Er ver­füg­te, wie das Bre­vier für Oc­to­vien de Saint-Ge­lais zeigt, über eine Werk­statt mit meh­re­ren be­mer­kens­wer­ten Tem­pe­ra­men­ ten. Das zeigt sich an sti­lis­t i­schen Un­ter­schie­den, die das ers­t e Bild, Da­vid als Harf­ner, auf fol. 9, von der dich­tes­ten Haupt­grup­pe trennt, die fol. 30 an­setzt. Mit dem Pfingst­ bild er­gibt sich eine wei­te­re Va­ri­an­te von Pi­cho­res Stil. Die Zu­ord­nung ein­zel­ner Mi­ ni­a­tu­ren an den Meis­ter ist seit 1992/1993 strit­tig; auch durch das Bre­vier für Oc­to­vien de Saint-Ge­lais will das Rät­sel, wel­che Hand denn nun als die des ver­ant­wort­li­chen Meis­t ers an­ge­spro­chen wer­den kann, sich nach mei­ner An­sicht nicht lö­sen. Der ers­t e Ver­such ei­ner De­fi­ni­ti­on der Hand des Meis­t ers, den wir in Leuch­ten­des Mit­ tel­al­ter IV lie­fer­ten, hält der Über­prü­fung von die­sem Ma­nus­kript eben­so we­nig stand wie die von Av­ril, Reyn­aud und Zöhl ver­tre­te­ne Po­si­ti­on: Den vor­nehms­ten Platz be­ haup­tet jene Hand von Pi­cho­res Werk­statt, die das Front­is­piz zum Fla­vius Jo­sep­hus der Bi­bli­othè­que Ma­za­rine ge­malt hat und die mit des­sen Ge­stal­tung aus der Stil­ein­heit der sons­t i­gen Haupt­mi­ni­a­tu­ren in den mo­nu­men­ta­len Hand­schrif­ten für Georges d’Amb­oise, Lud­wig XII . und Lou­ise von Sa­voy­en aus­bricht. Da­mit trä­fe man nach mei­nen Vor­stel­lun­gen von 1992 auf den Fla­vius-Jo­sep­hus-Meis­t er, den Av­ril und Reyn­aud 1993 als Jean Pich­ore selbst an­spra­chen. Des­sen Œuvre, wie ich es da­mals zu­sam­men­ge­stellt habe, zer­bricht aber, wenn man die dann fol­gen­den Bil­der zu den Psal­men ein­be­zieht; die ste­hen näm­lich of­fen­bar dem ei­gent­li­chen Kern­be­stand des so de­fi­nier­ten Werks sehr viel nä­her als un­ser Da­vid als Harf­ner oder Fla­vius Jo­sep­hus als Au­tor zwi­schen sei­nen Kriegs­t ro­phä­en. Der Meis­t er der Tri­um­phe Pet­rar­cas hin­ge­gen kommt gar nicht ins Spiel, wenn es um das Bre­vier des Oc­to­vien de Saint-Ge­lais geht. Eine neue Kon­zep­ti­on von Meis­t er und Mit­ar­bei­tern wird so­mit er­for­der­lich; und man ver­steht Ca­ro­li­ne Zö­hls Ver­zicht auf eine de­tail­lier­te Hän­de­schei­dung. Den Grund­te­ nor von Pi­cho­res Stil trifft das Chor­ge­bet mit Oc­to­vien de Saint-Ge­lais auf fol. 74 eben­so wie die Da­vid­bil­der (von fol. 30 an) sehr viel bes­ser als das Er­öff­nungs­bild zum Psal­ter. Von hier aus könn­te man das Ver­hält­nis der Fronti­spi­zien und der an­de­ren Haupt­bil­ der zum Ge­samt­schaf­fen des Ate­li­ers neu durch­den­ken und fol­gern, daß Pich­ore zu­wei­ len für die wich­tigs­t en Bil­der, so wie hier für fol. 9, be­son­de­re Kräf­te in sei­ner Werk­statt ein­ge­setzt hat: Er hät­te da­für Leu­te wie den Meis­ter der Tri­um­phe Pet­rar­cas oder den Meis­t er des Fronti­spi­zes zum Fla­vius Jo­sep­hus ein­ge­setzt, die dort auch eine Pro­be ih­rer ei­ge­nen Kunst lie­fern durf­ten, wäh­rend der fe­der­füh­ren­de Meis­t er selbst für die Ge­samt­

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qua­li­tät der Be­bil­de­rung ei­ner sol­chen Lu­xus­hand­schrift bürg­te. Pich­ore wäre dann, wie sich das Av­ril und Reyn­aud dach­ten, nicht der Ma­ler aus­ge­fal­le­ner Raf ­fi­nes­se ge­we­sen, son­dern an­ders als der Petr­arca-Meis­ter, den ich als Pich­ore an­sprach, ein ent­schie­den gra­phisch ori­en­tier­ter Il­lu­mi­na­tor, der mit die­ser Ei­gen­schaft für eine um­wäl­zen­de Er­ neu­e­rung der Stun­den­buch­gra­phik von 1504 an ge­sorgt hat. Durch das Motto und das Wap­pen des be­deu­ten­den Dich­ters Oc­to­vien de Saint-Ge­ lais er­weist sich das Bre­vier für rö­mi­schen Ge­brauch in fran­zisk­ani­scher Ver­si­on als ein in vie­ler Hin­sicht be­mer­kens­wer­tes Mo­nu­ment: Der­art bil­der­rei­che fran­zö­ si­sche Bre­vie­re aus den Jahr­zehn­ten um 1500 sind über­aus sel­ten. Un­ser Ma­nus­kript mar­kiert im Le­ben des früh ver­stor­be­nen Dich­ters den Mo­ment, da der aus der Graf­schaft Ang­oulême stam­men­de jun­ge Mann im Juli 1494 dort zum Bi­schof er­ho­ ben wur­de, und zeigt ihn per­sön­lich, wohl in ei­nem I­de­al­port­rät, beim Chor­ge­sang auf fol. 74. Das Bre­vier be­weist text­lich eine mo­der­ne Hal­tung durch die Ver­nach­ läs­si­gung des Hei­li­gen­kults. Es ist zwar wie sol­che li­tur­gi­schen Bü­cher noch zwei­ spal­tig ge­schrie­ben, aber in ei­ner stark vom Hu­ma­nis­mus ge­präg­ten Buch­schrift. Rand­schmuck be­schränkt sich auf be­bil­der­te Inci­pits und zwei Text­sei­ten, die je­ weils gro­ße Text­blö­cke er­öff­nen. In den Bor­dü­ren deu­tet sich der epo­cha­le Wan­del von her­kömm­li­chen spät­go­ti­schen For­men der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei zu Kan­de­la­berBor­dü­ren ita­li­e­ni­scher Ins­p i­ra­ti­on und Ädik­ula-Rah­mung an. Mit dem Beginn sei­ner Ent­ste­hungs­zeit um 1494 ge­hört das Ma­nus­kript zu den frü­ hes­t en Wer­ken aus dem Pa­ri­ser Ate­li­er von Jean Pich­ore, des­sen Stil lan­ge der École de Rou­en zu­ge­ord­net wur­de. Der Ma­ler, der 1504 ge­mein­sam mit Remy de Lai­stre auch als Buch­dru­cker in Pa­ris auf­trat, war Chef ei­nes grö­ße­ren Ate­li­ers, des­sen Ar­ beit er­kenn­bar von Pi­cho­res Stil­wil­len ge­prägt wur­de, das aber über un­ter­schied­ li­che Tem­pe­ra­men­te ver­füg­te. So be­haup­ten in Oc­to­viens Bre­vier Mit­ar­bei­ter der Werk­statt ih­ren ei­ge­nen Cha­rak­ter, wenn man die Ein­gangs­mi­ni­a­tur mit den üb­ri­ gen Bil­dern zum Psal­ter ver­gleicht. Bei der Iden­ti­fi­zie­rung von Oc­to­vien de Saint-Ge­lais bleibt of­fen, ob der jun­ge Prä­ lat das kost­ba­re Ma­nus­kript selbst be­zahlt hat oder ob es sich um ein Ge­schenk sei­ ner För­de­rer han­delt; da die Hand­schrift in Pa­ris be­stellt wur­de, käme für ein Ge­ schenk der Kö­nigs­hof Karls VIII . in Amb­oise mit sei­nen en­gen Be­zie­hun­gen zum Pa­ri­ser Buch­we­sen eher als der Hof des Charles d’Ang­oulême in Co­gnac in Fra­ge. Das Ma­nus­kript, das bis auf ein Blatt voll­stän­dig und ma­kel­los er­hal­ten ist, er­weist sich als ein be­deu­ten­der Zu­ge­winn für un­se­re Kennt­nis der Pa­ri­ser Buch­kunst der 1490er Jah­re eben­so wie für un­ser Ver­ständ­nis der Si­tu­a­ti­on des jun­gen Li­te­ra­ten, der nach schwe­rer Krank­heit in den geist­li­chen Stand ein­trat und non plus woll­te als ein Bis­tum, wie er es dann in sei­ner Hei­mat­di­ö­ze­se Ang­oulême auch er­hal­ten hat. Der er­staun­lich fri­sche Zu­stand des Ma­nus­kripts, des­sen An­f än­ge wir in die Zeit da­tie­ren, als Oc­to­vien noch um sein Amt kämpf­te, er­k lärt sich eventuell aus dem Cha­rak­ter des Be­sit­zers: Er mag fromm ge­wor­den sein; aber hat si­cher nur so em­sig ge­be­tet wie die gro­ßen Prä­la­ten sei­ner Epo­che, zu de­nen er dann schließ­lich

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auch ge­hör­te. Denkbar wäre auch – angesichts des riesigen Umfangs des Kodex mit 850 eng und zweispaltig beschriebenen Seiten – daß er erst kurz vor dem Tod des Octovien de St. Gelais fertig gestellt wurde und sich seine jungfräuliche Erhaltung dadurch erklärt. Li­te­ra­tur Eber­hard Kö­nig, Ein un­be­kann­tes Meis­ter­werk. Das Bre­vier des Dich­ters Oc­to­vien de SaintGe­lais. Ver­such über das Phä­no­men Jean Pich­ore in Pa­ris 1490-1520. Da­bei ein Stun­den­buch aus sei­ner Pro­duk­ti­on mit 112 Mi­ni­a­tu­ren (Il­lu­mi­na­ti­o­nen 21, Stu­di­en und Mo­no­gra­phi­en, hrsg. von Heri­bert Ten­schert), Bi­ber­müh­le 2014, re­zen­siert von Al­bert Châ­te­let in: art de l’en­lu­min­ure 50, 2014, S. 75 f. Die Kennt­nis die­ses Buchs hat ent­schei­dend dazu bei­ge­tra­gen, das Bre­viarium Grim­ani bes­ser zu ver­ste­hen; das schlägt sich in den bei­den Ver­si­o­nen mei­nes Kom­men­tar­bands zum Fak­si­mi­le nie­der: (mit Jo­ris Co­rin Hey­der) Das Bre­viarium Grim­ani, Sim­bach am Inn 2016; (über­setzt von Ele­na Span­gen­berg Ya­nes), Il Brevi­ario Grim­ani. Ve­ne­zia, Bi­ blio­teca Na­zi­on­ale Marci­ana, Ms. lat. I.99 = 2138, Rom 2017, je­weils pas­sim.

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52 Ein Stun­den­buch als Pa­no­ra­ma der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei um 1500 – mit Mi­ni­a­tu­ren von Jean Pich­ore, Jean Co­ene, dem Meis­ter der Phili­ppa von Gel­dern und ei­nem über­ra­gen­den wei­te­ren Ma­ler


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, in schwar­zer An­ti­qua, mit blau­en Rub­ri­ken. Pa­ris, um 1500-1505: Jean Pich­ore, Jean Co­ene, der Meis­ter der Phili­ppa von Gel­dern und zwei wei­te­re Künst­ler 41 Bil­der, da­run­ter eine ganz­sei­ti­ge Dar­stel­lung und neun gro­ße Mi­ni­a­tu­ren über Text mit Ini­ti­a­len von zwei Zei­len Höhe in Re­nais­sance-Ar­chi­tek­tu­ren oder in Voll­bor­dü­ren mit Blu­men und Akant­hus auf far­bi­gen Grün­den; drei­ßig hoch­recht­e­cki­ge Bild­fel­der im Text­spie­gel, meist neun Zei­len hoch, so­wie eine vierz­ei­li­ge his­to­ri­sier­te Ini­ti­a­le. Klei­ne­ re Zier­buch­sta­ben mit Gold­let­tern auf blau­en oder, sel­te­ner, rost­ro­ten Grün­den mit Gold­zier: Psal­men­an­fän­ge zweiz­ei­lig, vor­wie­gend auf blau­em Grund; Psal­men­ver­se ein­zei­lig; Zei­len­fül­ ler der­sel­ben Art oder als gol­de­ne Zwei­ge. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 169 Blatt Per­ga­ment; je zwei Blatt neu­e­res Per­ga­ment als flie­gen­de Vor­sät­ze; die In­nen­de­ckel mit rau­er wei­ßer Sei­de be­zo­gen. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die La­ gen 1(6), 2(4), 5(4), 7(8+1; das ers­te Blatt mit dem vo­raus­ge­hen­den Texten­de vorn an­ge­fügt), 13(6), 21(8-1 – das ers­te Blatt viel­leicht im Zuge ei­nes Plan­wech­sels ent­fernt; denn die Re­ klam­an­te „An­ge­le“ ist zu­tref­fend), und die End­la­ge 23(8-3; die ers­ten drei Blät­ter feh­len, ver­ mut­lich mit Text- und evtl. Bild­ver­lust). Zu 18, in Lage 13 zu 17, im Ka­len­der zu 33 Zei­len, reg­liert in Rot. Ok­tav (180 x 120 mm; Text­spie­gel: 105 x 61 mm). Na­he­zu voll­stän­dig und sehr gut er­hal­ten. Ro­ter fran­zö­si­scher Ma­ro­quin-Ein­band des 17. Jahr­hun­derts mit Kas­t en­ver­gol­dung auf Rü­cken und De­ckeln, fes­t e Vor­sät­ze mit hel­ler Sei­de be­zo­gen, Gold­schnitt. Zwei Be­ter auf fol. 167 mö­gen auf die Be­stel­ler, aber wohl eher auf de­ren Nach­fah­ren hin­wei­ sen. Kei­ne wei­te­ren Hin­wei­se auf frü­he­re Be­sit­zer; An­ga­ben auf den Vor­satz­blät­tern durch Til­ gung un­les­bar ge­macht. Der Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, ein­fa­che Tage schwarz; Fes­te, Gol­de­ne Zahl und Sonn­tags­buch­sta­ben a blau; Sonn­tags­buch­sta­ben b-g schwarz; Kür­ zel der rö­mi­schen Ta­ges­zäh­lung mit Aus­nah­me des in Blau ge­schrie­be­nen Mo­nats-Ers­ ten schwarz. Die Hei­li­gen­aus­wahl mit Fes­ten von Gen­ovefa (3.1.) und Di­o­ny­si­us (9.10.) weist auf Pa­ris. fol. 7: Perik­open: Jo­han­nes (fol. 7), Lu­kas (fol. 8), Mat­thä­us (fol. 9), Mar­kus (fol. 10). fol. 11: Ablaß­ge­bet: Ave sanct­iss­ima ma­ter, mit Ablaß von 1000 Jah­ren durch Papst Six­tus.

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fol. 12: Jo­han­nes-Pas­si­on als Suf­fra­gium. fol. 20v: Ge­bets­fol­ge: da­run­ter Sal­ve sanc­t a fac­ies als Suf­fra­gium (fol. 20v), vom hei­li­gen Gre­gor: O do­mine ihesu ad­oro te in cru­ce pen­den­tem (fol. 22v), Suf­fra­gien: Tri­ni­tät (fol. 23), Gott­va­ter (fol. 23v), Je­sus (fol. 24), Hei­li­ger Geist (fol. 24v); zwei­tes Gre­gors­ge­bet: Do­mine deus pa­ter om­nipo­tens rex crea­tor (fol. 25); fol. 27v leer. fol. 28: Ma­rien­ge­be­te re­di­giert für ei­nen Mann: Obse­cro (fol. 28), O int­emer­ata (fol. 31), Ge­bet über die VII Kör­per­li­chen Freu­den Mariä: Vir­go tem­plum tri­ni­ta­tis (fol. 35) und Sta­bat ma­ter (fol. 38). ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom mit den Ho­ren von Hei­lig Kreuz fol. 40: Ma­rien­of und Hei­lig Geist: Ma­ri­en-Matu­tin (fol. 40, mit drei Psal­men­grup­pen), Lau­des (fol. 52), Kreuz-Matu­tin (fol. 60), Geist-Matu­tin (fol. 61), Ma­ri­en-Prim (fol. 62), Terz (fol. 66v), Sext (fol. 70), Non (fol. 72v), Ves­per (fol. 75v), Komp­let (fol. 80v); Ad­vents-Of ­fi­zi­um (fol. 85); fol. 92v-93v leer. fol. 94: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 103); die vie­len Hei­li­gen wei­sen auf Pa­ris. fol. 112: To­ten­of ­fi­zi­um: Ves­per (fol. 112), Matu­tin (fol. 116), Lau­des (fol. 135v). fol. 143v: Ord­inatio de be­ata ma­ria: Eine Art Ad­vents-Of ­fi­zi­um, mit Tex­ten für die acht Stun­den; zu­nächst für den Ad­vent (fol. 143v), dann für Weih­nach­ten bis zur Ok­tav von Licht­meß (fol. 148), schließ­lich für die Os­ter­zeit (fol. 150); ge­folgt von ei­nem Ge­bet ge­gen schlech­te Ge­dan­ken (con­tre les mau­vai­ses pens­ées): Om­nipo­tens mit­is­sime deus (fol. 150v). fol. 150: Suf­fra­gien mit Pa­ri­ser Hei­li­gen und ei­ni­gen in der Haupt­stadt und am Kö­nigs­ hof erst um 1500 ak­tu­el­len Kul­ten wie Clau­di­us und Ro­chus: Mi­cha­el (fol. 150), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 151), Jo­han­nes der Evan­ge­list (fol. 151v), Pe­ter und Paul (fol. 152), And­re­as (fol. 152v), Jako­bus der Äl­te­re (fol. 153), Steph­a­nus (fol. 153v), Lau­ren­ti­us (fol. 154), Chris­ topho­rus (fol. 154v), Se­bas­t i­an (fol. 156), Ad­ri­an (fol. 157), Di­o­ny­si­us (fol. 158), Mar­tin (fol. 159), Ni­ko­laus (fol. 159v), Clau­di­us (fol. 160), Hi­e­ro­ny­mus (fol. 161v), Be­ne­dikt (fol. 162), An­to­ni­us Ab­bas (fol. 162v), Fia­crius (fol. 163), Ro­chus (fol. 163v), Lud­wig IX . (fol. 164v), Bar­ba­ra (fol. 165), A­pol­lo­nia (fol. 166), Ur­su­la und die 11.000 Jung­frau­en (fol. 167), für die be­er­dig­ten To­ten (Ora­tio pro fi­deli­bus def­unctis in cym­ite­rio inh­umatis): Av­ete om­nes anime fi­de­les – fol. 167v). Schrift und Schrift­de­kor Die­ses Stun­den­buch ge­hört in un­se­rer Aus­wahl zu den frü­hes­ten Bei­spie­len für ein fran­ zö­si­sches Ge­bet­buch in ei­ner fast rein hu­ma­nis­ti­schen Schrift. Myra Orth hat de­ren Ver­ brei­tung un­ter­sucht. Zum ita­li­e­ni­schen Ge­schmack ge­hört der Ver­zicht auf Bor­dü­ren bei Bil­dern im Text­spie­gel. Da­bei wird in bes­ter Tra­di­ti­on streng die Schrift­grö­ße für die Psal­men und ent­spre­chen­de Tex­te von den klei­ne­ren Buch­sta­ben für An­ti­pho­nen und ver­wand­te Pas­sa­gen ge­schie­den

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Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien Spätgotik und Humanismus is in gebrochenen Buchsabenformen zu spüren; sie prägt auch die Randzier der großen Bilder: Diese sind entweder wie kleine Ädikulen umgeben von ockerfarbenen Architekturen, die überreich mit Gold gehöht sind, oder in älterer Weise von Bordüren, auf deren meis farbigen Gründen ein flach silisiertes Blattwerk liegt. Die Bildfolge fol. 7: Von den Perikopen is nur die Johannes-Passion bebildert mit einer großen Miniatur, die den Schmerzensmann mit den Passionsinsrumenten zeigt (fol. 11v): Chrisus seht im Lendentuch mit der Dornenkrone und den fünf Wunden, zeigt auf die Seitenwunde und umfaßt den Kreuzessamm. Auf dem grünen Steinboden liegen der Ungenähte Rock und die Geißel. Links seht der Sarkophag, dahinter die Geißelsäule mit zwei Reisigbündeln; auf ihr sitzt der Hahn. Vor dem Stab mit dem Essigschwamm erscheint das Schweißtuch der Veronika, unter Chrisi rechtem Arm der Hammer. Rechts is die Lanze des Longinus aufgerichtet. Dazu erkennt man Petri Schwert mit dem blutenden Ohr des Malchus und die Laterne aus der Gefangennahme. Dieselbe Komposition, vom Meiser der Apokalypsenrose, findet sich in gedruckten Pariser Stundenbüchern seit 1498 (Horae IX , Nr. 18,16, Abb. S. 3978); ein großformatiger Einblattholzschnitt vom Meiser der Apokalypsenrose kommt hinzu (Paul-André Lemoisne, Les xylographies du XIVe et du XVe siècle au cabinet des estampes de la Bibliothèque nationale, Paris/Brüssel 1930, Taf. CIX – zu den Zusammenhängen siehe auch Horae I, S. 230), die Zange und schließlich das Haupt des Judas mit dem Geldbeutel um den Hals. fol. 20: Kleinbilder genügen zur Gebetsfolge: Das Gebet Salve sancta facies eröfnet mit dem Schweißtuch der heiligen Veronika (fol. 20v): Vor einem purpurnen Brokat als Ehrentuch seht Veronika und präsentiert das Tuch mit dem übergroßen Antlitz des Erlösers mit der Dornenkrone und einem aus goldenen Strahlen besehenden Kreuznimbus. Die Gregorsmesse verweis auf Autor und Inhalt des anschließenden Passionsgebets (fol. 22v): Links erscheint im Sarg der Schmerzensmann, nicht unähnlich der Darsellung auf fol. 11v, die Rückwand des Bildes is mit den Passionsinsrumenten, den sogenannten Arma Chrisi um das Kreuz besetzt. Am Altar mit dem aufgeschlagenen Meßbuch, dem Kelch, in den aus der Seitenwunde Chrisi Blut srömt, und der rotgrundigen goldenen Mitra des Papses kniet der Kirchenvater Gregor als junger Mann, tonsuriert, und von zwei jungen Akolythen begleitet. Die Darsellung der Trinität (fol. 23) zum Sufragium greift auf die Illusration von Psalm 109, Dixit dominus domino meo, zurück und zeigt Vater und Sohn, selbs mit dem Kreuznimbus nicht unterscheidbar jeweils mit Jesu Antlitz, das Buch des Lebens mit je einer Hand aufgeschlagen vorweisend; zwischen ihren Häuptern schwebt die Taube des Heiligen Geis in großer leuchtend weißer Gesalt. fol. 28: Die Mariengebete werden unterschiedlich gewichtet: Eine große Miniatur, die dem Bildvorrat der gedruckten Stundenbücher entlehnt is, eröfnet das Obsecro mit einem Bild der Maria Immaculata (fol. 28): Ebenfalls seit 1498 is die Verwendung eines

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seitengleich angelegten Metallschnitts vom Meiser der Apokalypsenrose nachweisbar (Horae IX , Nr. 18,17, Abb. S. 3978). Gezeigt wird die Jungfrau Maria in weißem Kleid, mit goldenen Strahlen, die aus der Vorsellung des apokalyptischen Weibes amicta in sole sammt. Gottvater, mit der päpslichen Tiara auf dem Haupt und der Sphaira in der Linken, erscheint als Halbfigur segnend über der schwebenden Marienerscheinung. Sie is umgeben von Bildmotiven, die eine möglichs umfassende Zusammensellung der Mariensymbole bieten: Die Zeder vom Libanon und der Ölbaum flankieren sie unter der Sonne und dem Meersern. Von der Porta clausa links oben geht es über die Rose zur Wurzel Jesse, dem Brunnen und dem Beschlossenen Garten, um rechts unten, beginnend mit der Himmelssadt über den Paradiesesbrunnen zum fleckenlosen Spiegel und dem Turm Davids, zur Lilie zu gelangen. In gedruckten Stundenbüchern eröfnet dieses Bild die Horen der Empfängnis Mariä. Die Darsellung lebt fort bis zu bedeutenden spanischen Gemälden des 17. Jahrhunderts, z.B. in der Berliner Gemäldegalerie (zu den Zusammenhängen mit den gedruckten Stundenbüchern siehe Horae I, S. 230 sowie König mit Heyder, Breviarium Grimani, Simbach 2016, S. 191-197). Bildlos bleiben das O intemerata (fol. 31) und die VII Freuden Mariä (fol. 35). Ein Kleinbild mit Maria unter dem Kreuz, von Johannes und Magdalena begleitet, weis auf das Stabat mater (fol. 38) hin. fol. 40: Das Marien-Ofzium wie die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geis eröfnen zur Matutin mit großen Miniaturen; vier Mariensunden (Laudes, Terz, Sext und Non) sind nicht bebildert; Prim und Vesper werden von der Bildgröße der Matutin gleichgesellt; für Komplet genügt ein sechs Zeilen hohes Kleinbild. Die großen Miniaturen erscheinen in einer Renaissance-Architektur, die den Textanfang und gegebenenfalls auch das Textende mit einschließt. Als Trompe-l’œil versehen sich die Schriftfelder mit dem Incipit; ihre vertikalen Enden sollen eingerollt erscheinen. Für die Marienverkündigung zur Marien-Matutin (fol. 40) hat der Maler die Illusion eines Einheitsraums hinter dem Incipit hier nicht gut durchzuhalten vermocht: Er läßt den Fliesenboden zu Seiten des Textfeldes unverkürzt, nimmt die Verkürzung ers unten wieder auf und zeigt dort den Unterteil der vergoldeten Metallvase, in der über dem Incipit die Lilie seckt. Der Engel kniet und hält die Rechte weisend erhoben; Maria kniet ihm gegenüber mit verschränkten Armen über ihrem Betpult, während die Taube von links in goldenen Strahlen auf sie zufliegt. Am Seitenende über nur zwei Zeilen Incipit seht die Kreuzigung mit Maria und Johannes zur Kreuz-Matutin (fol. 60): Unten blickt man auf Schädel und Knochen zur Kennzeichnung von Golgatha, den Fuß des Kreuzes und die untere Partie der beiden Beifiguren. Maria und Johannes erscheinen dann groß vor schlichter Landschaft, während der Gekreuzigte vermutlich aus Platzgründen recht klein wiedergegeben is, um seine Gesalt nicht vom Schriftfeld überschneiden zu lassen. Auch das Bild von Pfingsen zur Geis-Matutin (fol. 61) erscheint unter einem Textende mit nur zwei Zeilen Incipit. Wieder setzen die Figuren darunter an und auch diesmal

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wirkt ihre Disposition sehr viel organischer als bei der Verkündigung. Maria sitzt links unter einem üppigen purpurroten Goldbrokat; neben ihr Petrus und ein zweiter Aposel, weitgehend verdeckt, während der jugendliche Lieblingsjünger Johannes rechts seinen Heiligenschein so gedreht hat, als wolle er sich im verlorenen Profil zu Maria wenden. Die Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 62) folgt auf nur zwei Zeilen Restext, die in einen fesen architektonischen Rahmen eingeschlossen sind. So ergibt sich um die vier Zeilen des Incipits eine recht große Bildfläche. In ihr hat der Stall mit seinen monumentalen Bögen und dem schadhaften Dach über der eingebrochenen Rückwand Platz. Maria und Joseph knien um den nackten Jesusknaben, der auf einem rechteckigen weißen Tuch liegt, während der Ochse hinter Maria verharrt und sich der Esel vordrängt, um das Neugeborene zu sehen. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 75v) schreitet die Heilige Familie nach links. Der Esel scheint sie anzuführen, denn dynamisch sreckt er den Kopf vor. Maria mit dem rot gekleideten Jesuskind hat im Damensitz auf ihm Platz genommen. Joseph, nimbiert, kommt mit einem Bündel hinterdrein. Im Kleinbild der Marienkrönung (fol. 80v) sitzt Gottvater als barhäuptiger Greis links in Rot vor blauem Grund, während Maria in Blau vor Rot erscheint; kniend taucht sie nur in der rechten Ecke auf, weil dann doch ein Blick auf Himmel und Wolken über ihr gegeben wird. fol. 94: Eine besonders großartige Miniatur is den Bußpsalmen vorgeschaltet mit Davids Buße: Über acht Zeilen Text bleibt nicht viel Platz; doch gerade das nutzt der Maler für eine dramatische Wirkung: Indem er das benutzt, was Sixten Ringbom als Dramatic Close-Up bezeichnet hat, beschränkt er den Blick auf die Halbfigur des Königs, der aus einer Felsspalte herausgetreten zu sein scheint. Die Hände fügt der König zum Gebet und wendet sein Antlitz zur Erscheinung Gottes, der sich mit den Zügen Chrisi in kleiner Gesalt über einer Wolke zeigt. Auch David is noch recht jung, mit braunem Bart und üppig wallendem Haupthaar. Kronhut und Harfe hat er links vor sich abgelegt. fol. 112: Einer Tendenz, die sich ers zum Ende des 15. Jahrhunderts hin durchsetzt, folgt die Bebilderung des Toten-Ofziums: Als ein nun besonders beliebtes Thema sorgen die Drei Lebenden und Drei Toten dafür, daß man ihre Darsellung nicht wie in den Nrn. 6 und 22 der Neuen Folge VI von Leuchtendes Mittelalter, 2009, in eine Miniatur preßt, sondern – wie dort in Nr. 21 und häufig in frühen Stundenbuchdrucken – zwei große Bilder auf eine Doppelseite verteilt. Dabei muß die linke Miniatur unter vier Zeilen Text untergebracht werden: Ein Vergleich mit jenen doppelseitigen Metallschnitten des Meisers der Grandes Heures royales bietet sich an, die für Ausgaben von 1491 an Simon Vosre, A. Verard und die Brüder Hardouin und andere in verschiedenen Auflagen verwendet haben (siehe Horae IX , Nr-12, Abb. 14-15 auf S. 3953, und Nr. 13, Abb. 16-17 auf S. 3961). Doch wird hier der Ausschnitt kühner genommen; der vorderse Reiter dreht dem Betrachter den Rücken zu; die Art, wie die Gesalten vom Bildrand beschnitten sind, sorgt für größere Spannung. Im Toten-Ofzium is auch die Matutin mit

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ei­nem Bild ver­se­hen, ei­ner his­to­ri­sier­ten Ini­ti­a­le: Hiob und sei­ne Freun­de (fol. 116), die von links kom­men und in­ten­siv auf den Dul­der ein­re­den, des­sen ein­drucks­voll ge­stal­te­ ter Kopf und Ober­kör­per in schöns­tem Licht er­schei­nen. fol. 150: Die Suf­fra­gien er­hal­ten durch­weg Klein­bil­der, die an­zei­gen, wer im ein­zel­nen an­ge­ru­fen wird: Mi­cha­els Kampf mit dem Teu­fel (fol. 150) in pracht­voll aus­grei­fen­dem Schwung, vor ei­ner ganz ins Blau der Fer­ne ge­tauch­ten Land­schaft. Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 151) mit dem Lamm auf sei­nem Buch, vor ei­nem Wald; der pur­pur­ne Man­tel wird von wil­dem Wind auf­ge­wühlt. Jo­han­nes der Evan­ge­list (fol. 151v) mit dem win­zi­gen Dra­ chen, der aus sei­nem Kelch ent­weicht. Pe­ter und Paul (fol. 152) in ei­ner be­leb­ten Dis­kus­ si­on, Schlüs­sel und Schwert wie Waf­fen er­ho­ben. And­re­as (fol. 152v) mit dem X-förmi­ gen Kreuz. Jako­bus der Äl­te­re (fol. 153) mit Buch, Pil­ger­stab und Mu­schel­hut als Pil­ger. Steph­a­nus (fol. 153v) mit Mär­tyer­pal­me und Buch, ei­nen Stein auf der Ton­sur, in pur­ pur­ner Dal­mat­ika. Lau­ren­ti­us (fol. 154) in der glei­chen Dal­mat­ika, mit dem Rost in der Hand, der frei­lich nur dem Ken­ner auf­fällt. Chris­topho­rus (fol. 154v) mit dem Chris­tus­ kna­ben, der eine gol­de­ne Spha­ira hält, auf ei­nen kah­len Baum­stamm ge­stützt, im Was­ ser. Se­bas­ti­an (fol. 156) an ei­nen grü­nen Baum ge­bun­den, mit ei­nem mo­disch ge­klei­de­ ten jun­gen Pei­ni­ger links, von dem er das Ant­litz ab­wen­det. Ad­ri­an (fol. 157) in gol­de­ner Rüs­tung mit gol­de­nem Helm, ein Schwert ge­schul­tert, zwi­schen Amboß links und Lö­ wen rechts. Di­o­ny­si­us (fol. 158) mit dem ab­ge­schla­ge­nen Haupt, das noch die wei­ße Mit­ra trägt, in bei­den Hän­den. Mar­tin (fol. 159) in der schöns­ten klei­nen Mi­ni­a­tur die­ses Ma­nus­kripts, mit dem Bett­ler links vorn, der schon ganz in den Pur­pur­man­tel ge­hüllt ist, auf ei­nem Schim­mel, ju­gend­lich und mit hüb­schen Far­ben, ei­nem blau­en Wams über vi­o­let­tem Un­ter­kleid so­wie Kap­pe, Bein­klei­dern und Zaum­zeug in Rot, vor der Ku­lis­ se von Stadt­tor und Tür­men von Tours. Ni­ko­laus (fol. 159v) vor ei­nem Tuch in Alt­ro­sa, halb er­staunt, halb seg­nend zum Bot­tich mit den drei nack­ten Knäb­lein bli­ckend. Clau­ di­us (fol. 160) als Bi­schof vor pur­pur­nem Tuch, ei­nen nack­ten Jüng­ling seg­nend, der vor ihm in der Land­schaft nie­der­ge­kniet ist. Hi­e­ro­ny­mus (fol. 161v) als Kar­di­nal mit Kreuz­ stab und dem fla­chen ro­ten Kar­di­nals­hut, den Lö­wen krau­lend, in der Land­schaft nach links ge­wandt. Be­ne­dikt (fol. 162) als noch recht jun­ger Mönch in schwar­zer Kut­te mit Abts­krüm­me und ro­tem Buch, auch er un­ter frei­em Him­mel. An­to­ni­us Ab­bas (fol. 162v) vor sei­ner Klau­se im Wald, in blau­er Kut­te mit Man­tel und Ka­pu­ze in Schwarz; ohne er­kenn­ba­re At­tri­bu­te; nicht ein­mal der Stab hat die spe­zi­fi­sche Form mit dem Tau­kreuz als Be­krö­nung. Fia­crius (fol. 163) als Mönch in wei­ßer Kut­te mit Schwarz da­rü­ber und ei­ner schwar­zen Kap­pe, vor ei­ner Klau­se in der Land­schaft. Ro­chus (fol. 163v) als Pil­ger, vom En­gel be­sucht, dem er die Wun­de an sei­nem Bein zeigt. Kö­nig Lud­wig der Hei­li­ ge mit brei­tem Her­me­lin­kra­gen, das Ge­wand in Alt­ro­sa, der Man­tel in Blau mit gol­de­ nen fle­urs de lis sem­ées, also Li­li­en in un­end­li­chem Rap­port (fol. 164v). Bar­ba­ra (fol. 165) mit gol­de­ner Mär­ty­rer­pal­me, das Mo­dell ei­nes run­den Turms mit drei Fens­tern auf der Rech­ten. A­pol­lo­nia (fol. 166) mit Buch und Zahn­zan­ge in der Land­schaft. Ur­su­la und ihre Jung­frau­en (fol. 167), die alle gol­de­ne Mär­ty­rer­pal­men tra­gen, dicht ge­drängt, un­ ter frei­em Him­mel. Zum See­len­ge­bet auf dem Fried­hof Zwei Män­ner, die für die be­

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er­dig­ten To­ten auf dem Fried­hof be­ten (fol. 167v), vor ei­ner Bo­gen­rei­he, wie man sie für die Ge­bei­ne um Fried­hö­fe wie je­nen der Un­schul­di­gen Kind­lein in Pa­ris er­rich­tet hat. Zum Stil Die Hän­de­schei­dung steht in die­sem Buch vor nicht un­er­heb­li­chen Prob­le­men. Am leich­tes­ten zu er­ken­nen ist Jean Pich­ore, des­sen Rol­le seit un­se­rem Ka­ta­log Leuch­ ten­des Mit­tel­al­ter IV (1992) und Av­ril und Reyn­aud 1993 in­zwi­schen kla­rer de­fi­niert wur­de, bis hin zu un­se­rer Aus­ei­nan­der­set­zung mit den ge­druck­ten Stun­den­bü­chern in Horae und der ver­dienst­vol­len Mo­no­gra­phie von Ca­ro­li­ne Zöhl aus dem Jah­re 2005. Pich­ore kommt in die­sem Ma­nus­kript je­doch nur eine nach­ge­ord­ne­te Rol­le zu; denn so gut sei­ne Bei­trä­ge auch sind, so be­schrän­ken sie sich auf klei­ne Bil­der: Man fin­det ihn beim Sta­bat ma­ter auf fol. 38 und dann am Ende der Hand­schrift, wo er alle Bil­der zu den Suf­fra­gien (fol. 150-167v) ge­stal­tet hat. Ein Meis­ter von min­des­tens glei­chem, wohl noch hö­he­rem Rang ist je­ner Künst­ler, des­ sen Tem­pe­ra­ment sich in der un­ge­mein dra­ma­ti­schen Dar­stel­lung der Drei Le­ben­den und Drei To­ten (fol. 112) ge­gen die Vor­ga­be aus den ge­druck­ten Stun­den­bü­chern bril­ lant durch­setzt. Von ihm stammt auch das Da­vids­bild auf fol. 94 und viel­leicht die bril­ lan­te Bild-Ini­ti­a­le mit Hiob (fol. 116). Wir konn­ten die­sen Künst­ler bis­lang nir­gend­wo an­ders nach­wei­sen. Ne­ben die­sen bei­den Meis­tern der groß­zü­gi­gen Form, die ihre Kunst ent­schie­den den Ein­flüs­sen der ita­li­e­ni­schen Re­nais­sance ge­gen­über öff­ne­ten, tre­ten in drei Ma­ler auf, de­ren An­tei­le sonst kla­rer zu schei­den sind als hier: Bei den bei­den Mi­ni­a­tu­ren mit engs­ten Be­zü­gen zu den ge­druck­ten Stun­den­bü­chern mag das teil­wei­se auch an dem prä­gen­den Ein­fluß des Vor­bilds lie­gen: Ge­gen un­se­re Ge­ pflo­gen­heit, auch in schwie­ri­gen Fäl­len we­nigs­tens ei­nen Vor­schlag zu wa­gen, ver­za­gen wir hier an­ge­sichts der Ma­ria Im­ma­cul­ata auf fol. 28; sie kann von Jean Co­ene eben­so aus­ge­führt sein wie – wohl noch eher – vom Meis­ter der Phili­ppa von Gel­dern. Ähn­lich schwie­rig wird es beim Schmer­zens­mann, des­sen Zu­ge­hö­rig­keit wir hef­tig dis­ ku­tiert ha­ben: Der eine hält das Bild für eine cha­rak­te­ris­ti­sche Ar­beit vom Meis­ter der Phili­ppa von Gel­dern, der an­de­re schwört auf Jean Co­ene. Da­bei schei­nen uns die bei­ den an­schlie­ßen­den Bil­der, Ve­ro­ni­ka und die Tri­ni­tät, vor­züg­li­che Ar­bei­ten vom Meis­ ter der Phili­ppa von Gel­dern sein. Jean Coe­nes Iden­ti­tät ist von ei­nem Ein­zel­blatt mit der Kreu­zi­gung, aus ei­nem Mis­sale in Quart­for­mat, aus be­stimmt, die der Ma­ler aus der al­ten flä­mi­schen Fa­mi­lie in Pa­ris im Rah­men rechts un­ten sorg­fäl­tig sig­niert hat (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter NF I, S. 306309, und Abb. S. 320, s. Abb. hier in der Einleitung). Wir fin­den ihn hier wie­der von der Kreu­zi­gung bis zur Ma­rien­krö­nung. Die Ma­ria im Bild zur Prim er­laubt al­ler­dings nicht, ihm auch die schwer zu be­stim­men­de Ma­rien­ver­kün­di­gung zu­schrei­ben, die al­lein steht.

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Für ein An­ti­qua­ri­at, das sich mit Nach­druck um die Er­for­schung der ge­druck­ten Stun­den­bü­cher küm­mert, ist die­ser Ko­dex von ganz be­son­de­rem In­te­res­se, denn er ent­hält Mi­ni­a­tu­ren, in de­nen ein­drucks­vol­le Bild­fin­dun­gen aus ge­druck­ten Pa­ri­ser Stun­den­bü­chern wie­der­holt sind: der Schmer­zens­mann mit den Arma Chris­t i und die Ma­ria Im­ma­cul­ata eben­so wie die auf zwei Sei­ten ver­teil­te Dar­stel­lung der Drei Le­ben­den und Drei To­ten. Au­ßer­or­dent­lich be­mer­kens­wert ist die­ses Ma­nus­kript noch in an­de­rer Wei­se: Man er­kennt, wie un­ter­schied­li­che Ar­ten, Bil­der auf Buch­ sei­ten un­ter­zu­brin­gen, ne­ben­ei­nan­der be­ste­hen kön­nen: Da gibt es die ganz­fig­u­ri­ge Dar­stel­lung in gold­grundi­ger Voll­bor­dü­re eben­so wie die bo­gen­för­mig ab­ge­schlos­ se­ne tra­di­ti­o­nel­le Mi­ni­at­ ur, eben­falls ganz von Rand­schmuck umf­aßt, aber auch das Klein­bild mit macht­vol­ler Halb­fi­g ur von sehr viel fort­schritt­li­che­rem Zu­schnitt. In ganz an­de­rer Wei­se kön­nen Bil­der mit Text­fel­dern in Ädik­ulen aus der Re­nais­ sance-Ar­chi­tek­tur un­ter­ge­bracht wer­den. Hin­ge­gen ver­zich­tet man bei den klei­nen im Text­spie­gel un­ter­ge­brach­ten Mi­ni­a­tu­ren auf je­den Rand­schmuck. Zur Aus­ma­lung hat man eine gan­ze An­zahl gu­ter Pa­ri­ser Buch­ma­ler he­ran­ge­zo­ gen und je­den of­fen­bar auf sei­ne Wei­se ar­bei­ten las­sen. Da­bei ha­ben viel­leicht Jean Co­ene und der Meis­t er der Phili­ppa von Gel­dern den Haupt­part in­ne­ge­habt, wäh­ rend Jean Pich­ore nur klei­ne Bil­der, al­ler­dings von bril­lan­ter Qua­li­tät, bei­steu­er­ te. Ein Rät­sel für die Zu­schrei­bung blei­ben aber die bes­t en Mi­ni­a­tu­ren des Ma­nus­ kripts: Da­vid und das To­ten­bild. Li­te­ra­tur Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter. Neue Fol­ge VI , 2009, Nr. 24.

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53 Ein Stun­den­buch für den Ge­brauch von Cou­tances vom Mart­ain­ville-Meis­ter in Zu­sam­men­ar­beit mit Jean Pi­cho­res Werk­statt


Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Cou­tances. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Rub­ri­ken in Rot, ge­schrie­ben in Text­ura. Pa­ris, um 1500: Mart­ain­ville-Meis­ter, zu­sam­men mit ei­nem Ma­ler aus der Werk­ statt von Jean Pich­ore 22 Bil­der: 17 gro­ße Mi­ni­a­tu­ren, da­von zwei text­los, die an­de­ren über fünf Zei­len Inci­ pit mit vierz­ei­li­gen blau­en Akant­hus-Ini­ti­a­len auf braun­ro­ten Fel­dern. Ohne hie­rar­chi­ sche Un­ter­schei­dung rich­tet sich die Bild­form nach In­te­ri­eur oder Land­schaft: 9 Kopf­bil­ der mit In­te­ri­eurs, in Voll­bor­dü­ren vor­wie­gend aus fran­zö­si­schen Kö­nigs­li­li­en auf Blau mit lee­ren Schrift­bän­dern, sel­te­ner Gold­grund oder Kom­par­tim­en­te aus Per­ga­ment und Gold­g rund; 8 mit Bild­fel­dern in Ar­chi­tek­tur­rah­men, bis auf eine aus un­ter­schied­lich di­cken gol­de­nen Säu­len, dazu ge­hö­ren die bei­den text­lo­sen Bil­der auf Ver­so­sei­ten; die üb­ri­gen mit Inci­pit und Ini­ti­a­le il­lu­si­o­nis­tisch vor­ge­blen­det. Ein 19 Zei­len ho­hes Bild und ein 13 Zei­len ho­hes Wap­pen­bild in Rest­fel­dern an Texten­den; das Fi­gu­ren­bild ohne Rand­schmuck, das Wap­pen in Voll­bor­dü­re. Zwei Voll­bor­dü­ren als Bild­fel­der; ein Rand­ bild in vol­ler Höhe des Text­spie­gels. Eine vierz­ei­li­ge Ini­ti­a­le ohne Bild oder Bor­dü­re, blau auf Rot; die zweiz­ei­li­gen Ini­ti­a­len zu den Psal­men­an­fän­gen von der­sel­ben Art, vor­wie­gend blau auf Rot, sel­te­ner in Pin­sel­gold auf Rot; ein­zei­li­ge Ini­ti­a­len zu den am Zei­len­an­fang ste­hen­den Psal­men­ver­sen in Gold auf Rot, sel­te­ner auf Blau mit Pin­sel­gold­de­kor; Zei­len­fül­ler der­sel­ben Art. Ver­sa­li­en nicht far­big her­vor­ge­ho­ben. 146 Blatt Per­ga­ment; je ein fes­ter und flie­gen­der Vor­satz vor­ne und hin­ten aus mo­der­nem Per­ ga­ment. Bei Res­t au­rie­rung vie­le Blät­ter durch neue Fäl­ze ver­stärkt; des­halb heu­te vor­wie­gend ge­bun­den in La­gen zu sechs Blatt, da­von ab­wei­chend die La­gen 1 (6-1: An­fangs­blatt ent­fernt), 2 (8), 7 (4), 9-10 (4), 12 (8), 19 (8), 22 (4) und die End­la­ge 25 (4-1, das text­lo­se End­blatt ent­ fernt); am Ende zwei­er ori­gi­na­ler Qua­ter­ni­o­nen, Lage 3 und 19, fin­den sich Res­te ver­ti­ka­ler Rekl­aman­ten, ge­schrie­ben in der Schrift des Buch­blocks. Rot reg­liert zu 20 Zei­len. Ok­tav (168 x 115 mm; Text­spie­gel: 108 x 64 mm). Ei­ni­ge Bor­dü­ren vom Buch­bin­der ge­trimmt; der Ka­len­der und drei Inci­pits (Jo­han­nesp­erik­ope so­wie Ma­ri­en-Sext und -Ves­p er) feh­len. Mo­dern ge­bun­den in au­ber­gi­ne­far­be­nen Samt auf Holz­de­ckeln; Schnitt rot ge­färbt. Das Wap­pen des Be­stel­lers auf fol. 10v ist un­ge­deu­tet: Auf Blau ein sil­ber­ner Spar­ren und drei gol­de­ne T über stei­gen­den gol­de­nen Mond­si­cheln. Von wei­ßen Wind­hun­den prä­sen­tiert und mit der Büs­te ei­nes wei­ßen Wind­hun­des als Helm­zier. Zu­letzt Kat. Fleury, Pa­ris 1990 (frs. 625.000). Der Text fol. 1: Perik­open: Jo­han­nes (An­fang fehlt, fol. 1), Lu­kas (fol. 1v), Mat­thä­us (fol. 3) und Mar­kus (fol. 4v).

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fol. 5v: Ma­rien­ge­be­te: Obse­cro te, re­di­giert für ei­nen Mann (fol. 5v), O int­emer­ata, an Ma­ ria und Jo­han­nes ge­rich­tet (fol. 8v). ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Cou­tances mit den ein­ge­schal­te­ten Ho­ fol. 11: Ma­rien­of ren von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist: Matu­tin (fol. 11), Lau­des (fol. 19), Kreuz-Matu­ tin (fol. 27), Geist-Matu­tin (fol. 29v), Ma­ri­en-Prim (fol. 29v), Terz (fol. 34v), Sext (An­fang fehlt auf Ver­so vor fol. 38), Non (fol. 41v), Ves­per (An­fang fehlt auf Ver­so vor fol. 45), Komp­let (fol. 50v). fol. 57: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 65v); mit vor­wie­gend Pa­ri­ser Hei­li­gen. ­fi­zi­um für ei­nen nicht zu be­stim­men­den nord­fran­zö­si­schen oder eng­li­ fol. 69: To­ten­of schen Ge­brauch: Ves­per (fol. 69), Matu­tin (ein­ge­lei­tet von ei­ner Rub­rik, fol. 75), Lau­des (fol. 92v, nicht mar­kiert). fol. 103v: Ma­rien­ge­be­te: Sal­ve re­gi­na ma­ter mis­eri­cor­die vita dulc­edo…, Ave re­gi­na celo­rum (fol. 105), Sta­bat ma­ter dolo­ro­sa als Suf­fra­gium (fol. 105), Con­cepcio tua dei geni­trix (fol. 106), Ave cui­us con­cepcio als Suf­fra­gium (fol. 106v), Ave anc­illa tri­ni­ta­tis (fol. 107), Sal­uto te sanc­ta vir­go ma­ria (fol. 107v), Gaude flo­re vir­gin­ale (fol. 108). fol. 109: Suf­fra­gien: Se­bas­t i­an (fol. 109), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 111), Chris­t opho­rus (fol. 112), Bar­ba­ra (fol. 113), Mi­cha­el (fol. 113v), Clau­di­us (fol. 115), Mag­da­le­na (fol. 116). fol. 118: Her­ren­ge­be­te: Sum­me mis­eri­cors om­nipo­tens sem­pit­erne trinus et unus deus imm­ ort­alis…, Te in­vo­ca­mus te adora­mus te lauda­mus (fol. 118v), Gra­tias et­iam tibi ago (fol. 119). fol. 120: Suf­fra­gien: Mar­tin (fol. 120), Cos­mas (fol. 121v), Fia­crius (fol. 122 und fol. 124), Ni­ko­laus (fol. 124v), Gen­ovefa (fol. 126 und fol. 127). fol. 128v (mit ei­nem Voll­bild auf Rec­to): Kreuz­ge­bet: Sal­ve crux preci­osa o bona crux. fol. 130 (mit ei­nem auf 129v vor­ge­schal­te­ten Voll­bild): Jo­han­nes­p as­si­on: Egres­sus est do­ mi­nus. fol. 138: Lu­kas­p as­si­on: Ap­pro­pin­qua­bat dies fes­t us. fol. 146v: Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor In die­sem Ma­nus­kript ist eine Art von Text­ura ver­wen­det, die sich durch ihre nied­ri­ gen und brei­ten For­men völ­lig aus der Tra­di­ti­on die­ser Schrift­sor­te löst. So wirkt es, als habe man sich an der mo­der­ne­ren rund­li­chen Fere-hum­anis­tica ori­en­tiert, aber durch die vie­len Bre­chun­gen den Grund­cha­rak­ter der äl­te­ren Schreib­kul­tu­ren wah­ren wol­len. Dem ent­spricht auch die kon­se­quen­te Un­ter­schei­dung der Schrift­grö­ßen mit den nied­ ri­gen Let­tern für An­ti­pho­nen und ent­spre­chen­de Tex­te. Un­ge­wohnt ist die Viel­falt von Bild­for­men, in der hie­rar­chi­sche Un­ter­schei­dung au­ßer Kraft ge­setzt ist. Die bei­den Voll­bil­der ohne Text ste­hen am Ende des Bu­ches und wir­ken

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ebenso wie die zugehörigen Texte wie Nachträge. Gewohnt war man, nach verwendeten Flächen Bilder hierarchisch zu ordnen; sattdessen orientiert sich die Bildform daran, ob Interieur oder Landschaft die Darsellung besimmen. Deshalb wirkt das Kopf bild der Verkündigung zur Marienmatutin hinter die Heimsuchung zu den Laudes, wo Landschaft seitengroß das Incipit hinterfängt, zurückgesetzt. Dreimal hat der Schreiber keinen Platz gelassen, der Maler aber zwei Szenen in Vollbordüren und eine große Figur in einen Randsreifen gemalt. Bilder in Resfeldern belegen in ähnlicher Weise, wie weit man sich von der gewohnten Zuordnung von Bildern zu Incipits gelös hat. Noch särker lös sich der Bildschmuck dort von den Konventionen, wo er in Resfelder und in die Ränder ausweicht. Die Zierbuchsaben mit den vierzeiligen blauen Akanthus-Buchsaben auf braunroten Feldern für die großen Incipits sowie für die zweizeiligen Psalmen-Initialen nehmen ältere Formen auf; denn sie sind vorwiegend in blauem Akanthus auf Rot, seltener in Pinselgold gesaltet wie die am Zeilenanfang sehenden Psalmenverse, die wiederum nur selten auf Blau erscheinen; auch bei den Zeilenfüllern wird mit Blau gespart. Daß Versalien nicht farbig hervorgehoben werden, mag an der fortschrittlichen Grundgesinnung der Schrift liegen. Unklar bleibt, ob man die ungewöhnlichen Züge des Buchblocks mit der Besimmung des Marien-Offiziums für Coutances verbinden darf. Möglich is immerhin, daß der Schreiber in der Normandie ansässig war und das Manuskript wie Werke für den Kardinal Georges d’Amboise zur Illuminierung nach Paris geschickt wurde. Die Bildfolge fol. 1: Den Perikopen sind große Evangelisenbilder vorangesellt, die von doppelten bunten Säulen gerahmt sind; in die flachen Rundbögen is feines Maßwerk einbeschrieben. Durch einen hängenden Schlußsein in der Mitte bilden sich Doppelbögen, die jeweils dazu anregen, die Bilder zweiteilig zu gliedern; dabei nimmt der Evangelis nur jeweils eine der Hälften ein. Alle drei Incipits sind mit Goldgrundbordüren versehen. Lukas (fol. 1v) sitzt als älterer Mann mit weißen Haarkranz, Petrus ähnlich, auf einem hohen Lehnsuhl, mit einem klappbaren Schreibpult vor fas schwarzem Fond; rechts neben ihm lagert der Stier vor einer mit Pilasern und bunten Steinspiegeln gesalteten Apsis, ganz in Renaissance-Dekor, und schaut aufmerksam zu dem Evangelisen, dessen Arbeit ganz vom Pult verdeckt is. Matthäus (fol. 3), mit roter Kappe auf dem grauen Haar, hat vor einem blauen Ehrentuch auf einer Bank Platz genommen und sein Schriftband auf dem Schoß ausgebreitet. Ihm gegenüber seht ein jugendlicher Engel mit zart hellgrünen Flügeln und präsentiert ihm ein Buch; eine bildparallele Rückwand wird hinter ihm sichtbar. Markus (fol. 4v), mit langem Bart und einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß, erscheint diesmal ohne sein Attributswesen, den Löwen. Dessen Bildhälfte wird ganz vom Buchpult vor Renaissance-Architektur eingenommen. Auf das dort liegende Doppelblatt

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blickt der wohl vom Martainville-Meiser gemalte Evangelis konzentriert. Seine eindrucksvolle Gesalt wird von einem hellgrünen Ehrentuch hinterfangen. fol. 5v: Von einem Säulenpaar gerahmt, werden die Vollbilder hinter die fünfzeiligen Incipits der beiden Mariengebete gebreitet; dabei wird dem im Layout gewohnten Ungleichgewicht zwischen Falz und Außenseite geschuldet, daß die äußeren Säulen deutlich dicker als die inneren sind. Schon die prächtige Bildaussattung versößt gegen den Brauch. Das Obsecro te wird, abweichend von der Tradition, mit dem Kuß an der Goldenen Pforte eröfnet (fol. 5v). Die rahmenden Säulen regen an, auch die Pforte der Stadtmauer von Jerusalem ähnlich zu rahmen; dazu dienen goldene Türme gleichen Ausmaßes, die entschieden gegen die hellbraunen und nur schulterhohen Mauern sich abheben. Dadurch werden die beiden Hauptfiguren Anna und Joachim majesätisch hinterfangen, wie sie sich da hinter einem kleinen Flußlauf begegnen, Anna, wie Maria in Blau gekleidet, wirkt, als trete sie wie ihre Tochter bei der Heimsuchung von links hinzu; Joachim, ein prächtig aussaffierter Greis, nimmt damit einen größeren Raum ein, obwohl er der Legende nach ja von den Hirten in die Stadt zurückkehrte, um dort seine Gemahlin zum Kuß an der Pforte zu trefen. Behutsam nimmt der in Rot gekleidete Joachim die sich an ihn schmiegende Anna in den Arm. Der Maler findet so ein besonders zärtliches Bild für die Verbindung der beiden solzen Figuren. Das O intemerata, das sich in der hier verwendeten Version an Maria und Johannes richtet, ziert eine ganzfigurige Darsellung von Johannes dem Evangelisen mit dem Giftkelch und Maria (fol. 8v). Die beiden Heiligen sehen monumental vor einer Landschaft, die im himmlischen Glanz ersrahlt. Auf dem letzten Textblatt vor dem Beginn des Marienoffiziums erscheint eine Wappenminiatur auf rotem Grund (fol. 10v). Zwei weiße Windhunde halten ein Wappen, das auf blauem Grund einen silbernen Sparren trägt und drei seigende goldene Monde jeweils unter einem T. Als Helmzier prangt die Büse eines weißen Windhundes nach links¸ feiner Golddekor geht davon aus und schmückt den weinroten Grund, der wohl Purpur assoziieren soll. fol. 11: Bildgröße allein bildet kein Kriterium der Dekorationshierarchie: Das Marienoffizium eröfnet mit einem Kopf bild derselben Art wie die Perikopen; nun mit Kompartimentbordüren aus fleurs de lis und einer Art Purpur. Über die ganzen Seiten ausgebreitete Bildfelder hinterfangen hingegen in der Hierarchie minder bewertete Stundenanfänge wie die Laudes. Bei der Verkündigung (fol. 11) zur Matutin sorgt der doppelte Bogen des Maßwerks wieder für eine Halbierung des Raums: Hauptfigur is Maria, die links in Blau vor ihrem in Altrosa gehaltenen Baldachin kniet, während der Erzengel Gabriel wie die Attributswesen vor den Renaissanceformen der Rückwand erscheint. Mit erhobenem Zeigefinger und Liliensab, begleitet von der Taube des Heiligen Geises, kniet er vor dem Betpult Marias, die andächtig die Hände zum Gebet gefügt hat.

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Zur Heimsuchung (fol. 19), die die Laudes eröfnet, is die in Blau gewandete Maria über’s Gebirg gekommen, vor dem sie nun ihre Base, die greise Elisabeth trif t, die ebenfalls ein Kind erwartet, Johannes den Täufer. Diese hat als verheiratete Frau die Haare unter einem weißen Tuch verborgen, ihr mit Gold besicktes blaues Gewand schaut unter ihrem roten Überkleid hervor. Lichtdurchflutet is die Landschaft, für die die ganze Fläche der Seite beansprucht wird, so daß das Incipit wieder von Malerei umflossen is; nichts weis auf das Haus von Elisabeth und Zacharias hin. Imposant ragen die beiden Frauen auf; göttliches Licht srahlt in Gold aus den Wolken auf das Spiel ihrer Hände. Die eingesellten Heilig-Kreuz-Horen eröfnen zur Matutin mit einer ungewöhnlichen Darsellung in einem Kopf bild. Vor schwarzem Grund, gerahmt von den Werkzeugen seiner Marter, erhebt sich die Figur des gegeißelten, mit Dornen gekrönten Schmerzensmannes (fol. 27). Die Hände zum Gebet gefaltet, blickt er nicht direkt zum Betrachter, sondern klagend aus dem Bild, als seien hier die Darsellungsraditionen des jeglicher Hofnung entbehrenden Chrisus auf der Ras mit jener des Schmerzensmannes ineinander verwoben. Auf dem blauen Grund der Bordüre sind fleurs de lis in unendlichem Rapport gezeigt, auf denen goldene und rote Schriftbänder liegen, die hier allerdings leer geblieben sind. Vielleicht wollte man hier wie im Stundenbuch der Marguerite de Coesmes (Nr. 55) Incipits von an den Salvator gerichteten Fürbittgebeten eintragen. Das Pfingsbild (fol. 29v) zur Matutin der Heilig-Geis-Horen is ganz auf Maria konzentriert. Sie kniet im Vordergrund an einem Betpult, leicht nach rechts gerichtet, und hat die Arme vor der Brus gefaltet. Würdig senkt sie das Haupt, während Petrus und die älteren Aposel zur Taube des Heiligen Geises aufschauen, zwei für Johannes in Frage kommende jüngere aber die Muttergottes flankieren und, ohne das Antlitz zu heben, doch leicht nach oben blicken. Die Marien-Prim eröfnet mit der Anbetung des Kindes (fol. 29v). Unter dem schadhaften Dach des Stalls kniet Maria im Gebet; sie hat den winzigen Jesusknaben auf den Saum ihres blauen Mantels gebettet. Geradezu schmerzerfüllt blickt Joseph auf, die Hände hilflos ausgesreckt, in die Knie gesunken und deutlich kleiner als die Jungfrau, hinter der links der Esel, rechts der Ochse mit großen Augen blicken. Landschaft und nicht Dekorationshierarchie entscheidet, ob die Malerei die ganze Seite hinter dem Incipit einnimmt, so auch bei der Marien-Terz für die Hirtenverkündigung (fol. 34v), bei der das Textfeld wieder vorgeblendet is. Zwei große bärtige Männer haben sich an einem Gewässer mit ihrer Herde niedergelassen. Während einer bereits die Hände zum Gebet gefaltet hat, schützt der andere noch die Augen vor den Goldsrahlen, die von dem Engel ausgehen, der in Halbfigur mit leeren Spruchband erscheint. Die Darbringung im Tempel eröfnet die Non (fol. 41v). Maria kniet im Profil vor dem Altar, begleitet von zwei Frauen und Joseph, der den Korb mit drei Tauben trägt. Unter dem rosafarbenen Baldachin seht Simeon und hält den nackten Knaben in einem Tuch über der Mensa des Altars, ersaunlich klein und inaktiv; die Arme gar nicht sichtbar; doch auf ihn richten sich alle Blicke im Bild. Eine ähnliche Komposition, die den Fokus

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auf Maria und Jesus satt auf den Hoheprieser legt, findet sich in einem Stundenbuch vom Gotha-Meiser (unsere Nr. 58). Wie der Schmerzensmann auf fol. 27 is das Kopfbild von fleurs de lis auf blauem Grund umgeben; die Schriftbänder sind auch hier leer. In der gleichen Bordüre mit den Königslilien, somit auch als Kopf bild, erscheint zur Komplet des Marienoffiziums srahlend schön die Mondsichelmadonna (fol. 50v). Vor einer flammenden gelb-roten Mandorla, gerahmt von Cherubim, seht die in einen weißen Mantel gehüllte Madonna mit dem Chrisuskind auf einer silbernen Mondsichel. Auf dem Kopf trägt sie die Krone und is durch die Position des Bildes im Buch eine raffinierte ikonographische Kombination von Assunta und Apokalyptischem Weib. Zur gleichen Zeit hat Jean Bourdichon in Tours das Bildthema der Assunta mit der wieder jugendlichen Jungfrau Maria besetzt, so im sogenannten Stundenbuch Karls VIII . in der Pariser Nationalbibliothek (latin 1370) und in seinem kleinen vatikanischen Stundenbuch (Vat. lat. 3781; siehe meinen Kommentarband von 1984). fol. 57v: Ein Moment aus der Davidgeschichte, das in französischen Stundenbüchern sons so gut wie nie vorkommt und eher aus flämischen Brevieren wie dem Breviarium Grimani bekannt is, eröfnet die Bußpsalmen: Samuel salbt David. Diese erse Salbung spielt im Freien, also wieder in einer ganzseitig konzipierten Miniatur. Als Hirtenknabe sinkt David vor seiner Herde in die Knie, um aus einem Horn die Salbung durch den würdigen Alten – eine solze aufrechte Figur, wie sie charakterisisch für den Maler is – zu empfangen. Die beiden Figuren sehen nicht auf einer Ebene; denn David taucht hinter dem Schriftfeld etwas ungeschickt auf. Das Bildthema hatte die Werksatt des Meisters der Apokalypsenrose in die Metallschnitte für Gillet und Germain Hardouin von 1503 für die Bußpsalmen aufgenommen (Horae IX , Nr. 21, S. 3992, Abb. 11). Durch die mächtige Statuarik aber seht der zwischen 1504 und 1506 entsandene Metallschnitt aus der Pichore-Werksatt für Thielman Kerver (ebenda, Nr. 23, S. 4003, Abb. 12) unserer Miniatur näher. Die Vesper des Totenoffiziums eröfnet mit Hiob auf dem Dung mit seinen Freunden (fol. 69). Fas schamhaft scheint sich Hiob, in Lumpen gehüllt, abzuwenden und im Dung zu knien, zurückgewendet zum ältesen der Besucher, der weißbärtig und in ein langes rotes Gewand gekleidet, die Arme vor der Brus verschränkt und den Blick zu Goldsrahlen aus dem Himmel wendet. Die Anlage des Bildes im Freien vor dem sattlichen Gehöft Hiobs verlangt die ganze Buchseite. Da der Schreiber in den Sufragien keine Räume für Bilder freigelassen hat, nutzten die Maler an einigen Stellen die Randsreifen. Eröfnet wird die Bebilderung zu Beginn der Sufragien mit einem bartlosen, ofenbar jugendlichen Bischofsheiligen (fol. 108v), der keinem Text zugeordnet werden kann und am Seitenende nach fünf Zeilen Text ein großes Bildfeld erhielt, das nach unten vier Zeilen über den Rand der Reglierung hinausragt. Darauf folgt in voller Höhe des Textspiegels als Bildfeld im äußeren Randsreifen: Sebasian als Edelmann in hermelin-besetztem Mantel und einem Hut, mit einem Pfeil in

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der Hand (fol. 109) als Hinweis auf sein Martyrium; damit wird die gewohnte Darsellung der Pfeilmarter durch ein seltenes Bild ersetzt, das den jungen Heiligen wie einen Vertreter der gens de robe longue behandelt. Johannes der Täufer (fol. 111) seht mit dem Lamm in einer Landschaft, die als vierseitige Bildbordüre um den Text geführt wird. Das Gleiche hat der Maler auf dem Folgeblatt mit Chrisophorus zu dessen Sufragium (fol. 112) gemacht; doch ausgerechnet der Riese wird in den unteren Rand verbannt, wo er als recht kleine Figur den Chrisusknaben durch das Wasser trägt: Derweil erhebt sich im rechten Randsreifen eine seile Felskante, auf deren Spitze der Eremit mit seiner Lampe den Weg leuchtet. Dem Kreuzgebet wird eine ganzseitige textlose Miniatur mit den Passionswerkzeugen Chrisi vor dunklem Grund (fol. 128) vorangesellt. Es is das erse die ganze Buchseite bedeckende Bild, bei dem die goldene Säule außen durch einen polygonalen Pilaser in Brauntönen ersetzt is, in dessen Bogenfeldern übereinander zwei Prophetenfiguren in Goldcamaïeu sehen. Die untere Kante wird scheinbar von einem hohen Sockel gebildet, der sich jedoch als Chrisi Sarkophag erweis. Vielleicht dadurch angeregt, sehen auch in der breiteren Säule der letzten Miniatur Statuetten von zwei Propheten. Ungewöhnlicherweise wird die Johannespassion von einer nun textlosen, ganzseitigen Miniatur mit dem büßenden Hieronymus in der Einöde (fol. 129v) eingeleitet. Seinen für Kardinalspurpur viel zu hellroten Habit hat der Heilige im Gebüsch abgelegt; über dem Bauch hat er die Knöpfe des Hemdes geöfnet, um den eigenen Leib im Angesicht des Kruzifixes zu kaseien. Zum Stil Das Marienoffizium in diesem Stundenbuch is für den Gebrauch der normannischen Diözese Coutance besimmt; aber es entsand in einer Zeit, da Pariser Verleger für solche teilweise weit entfernten Gegenden gedruckte Stundenbücher lieferten. Bei der Diskussion der Schrift war nicht ausgeschlossen worden, daß das Buch in der Normandie angelegt wurde. Die beiden wesentlichen Stiltendenzen in den Miniaturen aber weisen auf Paris. Deshalb wird zumindes die Bebilderung mit dem Randschmuck aus der Hauptsadt sammen. Weder der Stil des Martainville-Meisers noch der Jean Pichores tritt in den Miniaturen mit wünschenswerter Klarheit zu Tage, dabei enthält dieses Buch bemerkenswerte Bilder und beweis zugleich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber herrschenden Konventionen. Die Rahmung einzelner Miniaturen mit Maßwerk, das durch hängende Schlußseine die Bildfelder in zwei Hälften teilt, folgt Motiven der beiden François Le Barbier, die wir im dritten Band diskutiert haben. Bei den Evangelisenbildern irritiert die Nähe des Matthäus-Engels zu Pichore und die ausgeprägte Charakterisik des Markus in der Manier des Martainville-Meisers. Pichores Stil, nicht seine Hand besimmen dann die folgenden Miniaturen. Hingegen wird man den Schmerzensmann mit der intensiven Passionsfrömmigkeit des Martainville-Meisers verbinden.

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Das Nebeneinander beider Stiltendenzen in diesem Buch belegt in bemerkenswerter Weise gleich zwei verschiedene Aspekte: Es besätigt die Ausmalung des Manuskripts in der Hauptsadt und särkt die Lokalisierung des Martainville-Meisers in Paris. Mit 22 Bildern, darunter 17 großen Miniaturen, von denen zwei textlos sind, ist dieses in einer schönen modernisierten Textura geschriebene Stundenbuch ein eindrucksvolles Beispiel der Pariser Buchmalerei zwischen Jean Pichore und dem Martainville-Meister. Es überrascht durch die Tatsache, daß die hierarchische Unterscheidung der Bildformen durch eine Orientierung nach Bildräumen – Interieur oder Landschaft – ersetzt wird. Mit dem Schmerzensmann, dem Apokalyptischen Weib und den Passionsinstrumenten ebenso wie mit der eindrucksvollen Einsiedlerlandschaft des Kirchenvaters Hieronymus bietet das Manuskript bemerkenswerte Bilder – die Spiritualität wie auch die Buchkunst betreffend. Literatur Das Manuskript is unveröfentlicht.

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54 Ein Stun­den­buch für den Ge­brauch von Pa­ris mit mehr als 100 Bil­dern von Jean Pich­ore und sei­ner Werk­statt


Stun­den­buch, Horae B. M. V., für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift in Schwarz, mit blau­en Rub­ri­ken, im Ka­len­der ab­ wech­selnd mit Rot und Blau, Fes­te in Gold, auf Per­ga­ment, in nied­ri­ger Text­ura. Pa­ris, der Buch­block noch aus dem letz­ten Drit­tel des 15. Jahr­hun­derts, die Ma­le­rei in zwei Plan­stu­fen: die frü­he­re vor 1500, die spä­te­re wohl ge­gen 1520: Jean Pich­ore und Werk­statt Ein­hun­dert­zwölf Bil­der, da­run­ter fünf text­lo­se Mi­ni­a­tu­ren; fünf Bild­sei­ten mit Kopf­bild über fünf Zei­len Text mit vierz­ei­li­ger Ini­ti­a­le, mit je zwei Bild­fel­dern in den Bor­dü­ren; zehn Bild­sei­ten über ent­spre­chen­den Inci­pits in Voll­bor­dü­ren mit Blu­men und Akant­ hus auf Pin­sel­gold­grund; zwei­und­zwan­zig Klein­bil­der von acht bis neun Zei­len Höhe in Voll­bor­dü­ren der­sel­ben Art mit drei­sei­ti­ger Bor­dü­re von au­ßen und ei­nem schlich­ten Gold­strei­fen zum Falz hin, sech­zig Bil­der in den ar­chi­tek­to­nisch als Ädik­ulen ge­stal­te­ten Rand­leis­t en des Ka­len­ders. Mit Aus­nah­me der Blu­men-Ini­ti­a­le zur Ma­ri­en-Matu­tin alle grö­ße­ren Zier­buch­sta­ben in Dorn­blatt­de­kor; dazu ge­hö­ren auch die zweiz­ei­li­gen Ini­ti­a­len für die Psal­men­an­fän­ge; ein­zei­li­ge Gold­buch­sta­ben hin­ge­gen für Psal­men­ver­se, die am Zei­len­an­ fang ste­hen, auf wein­ro­ten und blau­en Flä­chen. Alle Text­sei­ten mit Bor­dü­ren­strei­fen au­ßen in der Höhe des Text­spie­gels. Ver­sa­li­en gelb la­viert; die An­ti­pho­nen in den Suf­fra­gien nur mit sol­chen Ver­sa­li­en. 130 Blatt Per­ga­ment, dazu je drei Blät­ter Pa­pier als flie­gen­de Vor­sät­ze vorn und hin­ten; In­ nen­de­ckel und ers­tes Vor­satz mit ro­sa­far­be­nem Pa­pier be­zo­gen. Ge­bun­den vor­wie­gend in La­ gen zu acht Blatt; da­von ab­wei­chend die La­gen mit dem Ka­len­der: 1 (6) und jene mit den fünf Voll­bil­dern auf ein­ge­schal­te­ten Blät­tern so­wie ein Ter­nio mit ein­ge­schal­te­tem Blatt: 2 (8+1), 3 (8+1), 8 (6+1; fol. 59 nach dem zwei­ten Blatt ein­ge­fügt), 9(6+1), 10 (8+1), 11 (8+1) so­wie die bei­den End­la­gen 16 (6) und 17 (4). Kei­ne Rekl­aman­ten. Zu 21 Zei­len; der Ka­len­der zwei­spal­tig zu 16 Zei­len; rot reg­liert. Ok­tav (176 × 120 mm, Text­spie­gel 100 × 59 mm). Voll­stän­dig, breit­ran­dig und sehr schön er­hal­ten. In rot­brau­nem eng­li­schen Ma­ro­quin des frü­hen 19. Jahr­hun­derts, auf vier fal­sche Bünde, mit mehr­fa­cher Rah­men­ver­gol­dung auf den De­ckeln, Gold­schnitt. Ohne Spu­ren äl­te­rer Be­sit­zer. Im vor­de­ren De­ckel ein Kup­fer­stich mit dem Wap­pen­ex­lib­ris des Right Ho­nor­able Will­iam Hen­ry Smith. Der Text fol. 1: Ka­len­der fol. 7: leer/ fol. 7v: text­lo­ses Bild. fol. 8: Perik­open: Jo­han­nes (fol. 8), Lu­kas (fol. 9), Mat­thä­us (fol. 10), Mar­kus (fol. 11v).

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fol. 12: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann kon­zi­piert: Obse­cro te (fol. 12), O int­emer­ata, für Ma­ria und Jo­han­nes (fol. 15). fol. 17: leer/ fol. 17v: text­lo­ses Bild. fol. 18: Ma­ri­en-Of ­fi­zi­um: Matu­tin (fol. 18, mit Psal­men­grup­pen für die Wo­chen­ta­ge), Lau­des (fol. 34), Prim (fol. 42), Terz (fol. 46), Sext (fol. 49), Non (fol. 52), Ves­per (fol. 55), fol. 59v leer, Komp­let (fol. 60), fol. 63v leer. fol. 64: leer/ fol. 64v: text­lo­ses Bild. fol. 65: Ho­ren in stark ver­kürz­ter Form: des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 65, fol. 67v leer), des Hei­li­gen Geis­t es (fol. 68); fol. 70v leer. fol. 71: leer/ fol. 71v: text­lo­ses Bild. fol. 72: Buß­psal­men mit Li­ta­nei (fol. 80v). fol. 85: leer/ fol. 85v: text­lo­ses Bild. fol. 86: To­ ten-Of ­fi­ zi­ um: Ves­per (fol. 86), die an­de­ren Stun­den nicht mar­kiert: Matu­tin (fol. 91v), Lau­des (fol. 107), fol. 117v leer. fol. 118: Ge­be­te in fran­zö­si­scher Spra­che: XV Jo­yes: Dou­lce dame (fol. 118), VII Re­ques­ tes: Dou­lx dieu (fol. 122). fol. 124v: Suf­fra­gien: Tri­ni­tät (fol. 124v), Mi­cha­el (fol. 125), Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 125v), Pe­ter und Paul (fol. 126), Se­bas­ti­an (fol. 126v), Ni­ko­laus (fol. 127), An­to­ni­us Ab­bas (fol. 127v), Anna (fol. 128), Mag­da­le­na (fol. 128v), Ka­tha­ri­na (fol. 129), Mar­ga­re­ta (fol. 129v), Gen­ovefa (fol. 130), fol. 130v: leer. Schrift und Schrift­de­kor In die­sem Buch tref­fen Cha­rak­te­ris­t i­ka ver­schie­de­ner Pe­ri­o­den der Pa­ri­ser Buch­kunst auf­ei­nan­der: Der Text ist in ei­ner nied­ri­gen Text­ura ge­schrie­ben und mit blau­en Rub­ri­ ken ver­se­hen. Die Schrift steht nicht mehr in der gro­ßen Tra­di­ti­on stren­ger und da­mit oft schwer les­ba­rer Sti­li­sie­rung, son­dern er­weist sich mo­der­ne­ren For­men ge­gen­über auf­ge­schlos­sen. Al­tem Brauch folgt der Buch­sta­ben­de­kor: Psal­men­ver­se, durch­weg noch am Zei­len­be­ ginn, er­öff­nen mit Blatt­gold­buch­sta­ben auf ro­ten und blau­en Flä­chen. Ganz der ers­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts ver­pflich­tet ist der Dorn­blatt­de­kor der grö­ße­ren Ini­ti­a­len. Der Ka­len­der ist zwei­spal­tig an­ge­legt und bie­tet in Pa­ri­ser Tra­di­ti­on die fran­zö­si­schen An­ga­ben mit dem präch­ti­gen Farb­wech­sel von Rot und Blau so­wie den Fes­t en mit bom­ bier­ten Gold­buch­sta­ben. Die Zu­sam­men­fas­sung der Mo­na­te auf je­weils ei­ner Sei­te mit dop­pel­tem Bild­feld über dem Text fin­det sich in Rou­en und Pa­ris be­reits um 1470. Alle Text­sei­ten sind mit Bor­dü­ren­strei­fen in der Höhe des Text­spie­gels aus­ge­stat­tet. Glän­zen­der Gold­grund trägt Blu­men und Akant­hus in der ge­wohn­ten Sti­li­sie­rung. Bei

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den Klein­bil­dern wer­den die glei­chen Bor­dü­ren als Klam­mer von au­ßen um das Text­ feld he­rum­ge­führt und zum Falz hin durch eine Gold­leis­te ge­schlos­sen. Ent­spre­chend ge­stal­tet sind auch die Bor­dü­ren der Sei­ten mit Kopf­bil­dern über Inci­pits, nun aber mit ein­zel­nen Vö­geln be­lebt. Schon von der Kol­la­ti­on­ie­rung her tre­ten beim Buch­block zwei Pha­sen der Ar­beit zu Tage: Zu­nächst war der Band mit ei­nem hie­rar­chi­schen Ge­fü­ge kon­zi­piert: Klein­bil­der sind für drei der Perik­open eben­so wie für die Ma­rien­ge­be­te und die Suf­fra­gien vor­ge­ se­hen; Kopf­bil­der über fünf Zei­len Text er­öff­nen die be­deu­ten­de­ren Text­an­fän­ge und sind da­bei so an­ge­legt, daß je zwei Bil­der in den Bor­dü­ren fünf Inci­pits her­vor­he­ben: die Jo­han­nes-Perik­ope so­wie Ma­ri­en-Matu­tin, Kreuz-Matu­tin, Buß­psal­men und To­ ten-Ves­p er. Nur an die­sen fünf Stel­len hat man dann Blät­ter ein­ge­schal­tet, die auf Rec­to leer blie­ben und auf Ver­so Voll­bil­der zei­gen. Da die Ver­mäh­lung Mariä auf die­se Wei­ se dop­pelt dar­ge­stellt ist, wird schon von der Grund­kon­zep­ti­on her deut­lich, daß die­se präch­ti­gen Ge­gen­ü­ber­stel­lun­gen von Voll­bild und Kopf­bild erst ei­nem Plan­wech­sel ver­ dankt wer­den. Wäh­rend der Buch­block so­mit be­reits im letz­ten Drit­tel des 15. Jahr­hun­derts an­ge­legt und weit­ge­hend voll­en­det war, ge­hen die fünf text­lo­sen Voll­bil­der si­cher aus ei­ner spä­ te­ren Plan­stu­fe her­vor; sie sind mit brei­ten gol­de­nen Rah­men ver­se­hen ohne ar­chi­tek­ to­ni­sche Ins­t ru­men­tie­rung und erst recht ohne Bor­dü­ren; das ge­schah zu­min­dest nach 1504, wie der Rück­be­zug des Sün­den­falls auf Dür­ers da­tier­ten Kup­fer­stich mit Adam und Eva be­weist. Die Bild­fol­ge Ka­len­der Am Kopf ei­ner je­den Ko­lum­ne steht eine Mi­ni­a­tur, links das Mo­nats­bild und rechts das Tier­kreis­zei­chen, da die Stern­zei­chen in der Mo­nats­mit­te an­fin­gen. Da die Stern­zei­chen auf der Erde blei­ben, ver­eint man zu­wei­len den Land­schafts­p ros­p ekt; so steht ne­ben der Korn­ern­te im Au­gust die Jung­frau zwi­schen zwei auf­ge­rich­te­ten Korn­gar­ben. Die Mo­nats­bil­der fol­gen nicht ganz dem ge­wohn­ten Sche­ma; dar­ge­stellt sind: ein Herr am Spei­se­tisch, ein Greis am Ka­min, das Trim­men der Wein­stö­cke, ein Falk­ner, ein jun­ ges Paar beim Aus­ritt, eine Frau bei der Schaf­schur, ein Schnit­ter mit der Sen­se, dem eine Frau zu trin­ken ge­bracht hat, Frau und Mann beim Si­cheln des ho­hen Korns, die Aus­ saat (schon im Sep­tem­ber), die Wein­kel­ter, der Schwei­ne­hirt im Wald, der Schlach­ter. Die Tier­kreis­zei­chen rich­ten sich nach der ge­wohn­ten Rei­hen­fol­ge: Was­ser­mann als nack­ter Kna­be mit zwei Krü­gen, die Fi­sche, der Wid­der, der Stier, die Zwil­lin­ge als ein nack­tes Paar aus Mann und Frau beim Rin­gen, der rote Krebs schwe­bend vor der Land­ schaft, der Löwe, die Jung­frau zwi­schen zwei Korn­gar­ben, die Waa­ge in ei­nem lee­ren Raum mit mo­nu­men­ta­ler Ar­chi­tek­tur an der Bal­ken­de­cke be­fes­t igt, der Skor­pi­on, der Schüt­ze als Ken­taur, der Stein­bock als Halb­fi­gur aus ei­nem Am­mons­horn ent­sprin­gend.

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In der Ar­chi­tek­tur der Au­ßen­bor­dü­ren bie­ten zwei Ni­schen Platz für klei­ne Sze­nen aus dem Heils­ge­sche­hen oder ein­zel­ne Hei­li­ge, die z. B. im Feb­ru­ar durch­ge­paust und sei­ ten­ver­kehrt nur mit an­de­ren At­tri­bu­ten wie­der­holt wer­den. Im un­te­ren Rand wird in der Brei­te des Text­spie­gels ein nied­ri­ges Bild­feld ein­ge­rich­tet, in dem zwei ein­zel­ne Hei­li­ge zu se­hen sind oder klei­ne Sze­nen ent­wi­ckelt wer­den. Da der Hei­li­gen­ka­len­der in zwei Ko­lum­nen an­ge­legt ist, aber nur au­ßen und un­ten Platz für Bild­chen ist, stellt die Rei­hen­ fol­ge ein Pro­blem dar. Nicht alle hier Dar­ge­stell­ten sind auch im Ka­len­der ver­zeich­net. fol. 1: Ja­nu­ar: un­ten die An­be­tung der Kö­ni­ge (6.1.); am Rand Dar­brin­gung im Tem­pel (irr­tüm­lich zum 1.1., an dem die Be­schnei­dung ge­fei­ert wird), Pau­lus mit Schwert (Be­ keh­rung, 25.1.). fol. 1v: Feb­ru­ar: un­ten A­pol­lo­nia (ei­gent­lich am 9.2.) und Mat­thi­as (24.2.); Dar­brin­ gung im Tem­pel (durch­ge­paust vom Rec­to 2.2.), Pet­rus mit Schlüs­sel (Ge­wand und Buch durch­ge­paust von Pau­lus, 22.2.). fol. 2: März: un­ten Mes­se mit Hos­t i­en­er­he­bung (ohne Gre­gors­vi­si­on, je­doch wohl für den Gre­gor­stag 12.3.), Ma­don­na mit Kind (ir­re­füh­rend zu Mariä Ver­kün­di­gung, die hier als Nostre dame be­zeich­net ist: 25.3.), Be­ne­dik­ti­ner­abt. fol. 2v: Ap­ril: un­ten Ge­orgs Dra­chen­kampf (23.4.), Mar­kus mit dem Lö­wen in Schreib­ stu­be (25.4.), Op­por­tuna als Be­ne­dik­ti­ne­rin mit ei­nem fest­ge­bun­de­nen Hahn (22.4.). fol. 3: Mai: un­ten ohne prä­zi­se Be­stim­mung ein Bi­schof und ein Apos­tel mit Kreuz; am Rand Jako­bus (1.5.), Jo­han­nes der Evan­ge­list mit dem ver­gif­te­ten Kelch (6.5.). fol. 3v: Juni: un­ten Pe­ter und Paul (29.6., nur mit s. pi­erre aus­ge­wie­sen), Bi­schof (Zu­ord­ nung un­klar), Jo­han­nes der Täu­fer mit Lamm auf dem Buch (25.6.). fol. 4: Juli: un­ten Anna lehrt Ma­ria das Le­sen (28.7.), Mag­da­le­na mit Salb­ge­fäß (22.7.), Jako­bus (25.7.). fol. 4v: Au­gust: un­ten Lo­renz (9.7.) und Bar­tho­lo­mä­us (24.7.), Ma­don­na mit Kind (ir­re­ füh­rend zu Mariä Him­mel­fahrt, die hier als N(ost)re dame be­zeich­net ist: 15.8.), Pet­rus mit päpst­li­cher Ti­a­ra (1.8.). fol. 5: Sep­tem­ber: un­ten Mi­cha­els Kampf mit dem Teu­fel (29.9.), Ma­don­na mit Kind (ir­ re­füh­rend zur Ma­rien­ge­burt, die hier als N(ost)re dame be­zeich­net ist: 8.9.), Mat­thä­us (21.9.). fol. 5v: Ok­to­ber: un­ten Ent­haup­tung ei­nes Apos­t els (wohl zu Si­mon und Juda 28.10.), Di­o­ny­si­us mit dem ab­ge­schla­ge­nen Kopf (9.10.), Lu­kas (18.10.). fol. 6: No­vem­ber: un­ten Alle Hei­li­gen, von And­re­as, Pet­rus, Jo­han­nes und Jako­bus an­ ge­führt, ohne Frau­en (1.11.), Ka­tha­ri­na (25.11.), ein Bi­schof, wohl Mar­tin (11.11.). fol. 6v: un­ten zu Weih­nach­ten die An­be­tung des Kin­des (25.12.), Thro­nen­de Ma­don­na mit Kind (ir­re­füh­rend zu Mariä Emp­fäng­nis, die wie der 25.3. als Nostre dame be­zeich­ net ist: 8.12.), Tho­mas (21.12.).

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Perik­open und Ma­rien­ge­be­te Je­der grö­ße­ren Text­grup­pe ist je­weils ein text­lo­ses Voll­bild auf Ver­so vor­ge­schal­tet, des­ sen Rec­to leer bleibt. fol. 7v: Beim Sün­den­fall ste­hen Adam und Eva mit dem Baum der Er­kennt­nis in ih­rer Mit­te, um den sich der Schlan­gen­leib Sa­tans win­det. Des­sen mensch­li­cher Ober­kör­per mit wal­len­den Lo­cken er­scheint in der Baum­kro­ne, mit Fle­der­maus­flü­geln aus­ge­stat­tet. Der­ge­stalt reicht das zwi­schen Mann und Frau un­ent­schie­de­ne We­sen eine der vie­len gol­de­nen Früch­te hi­nab. Adam ist be­reits im Be­griff, aus Evas Hand eine sol­che Frucht ent­ge­gen­zu­neh­men, in die noch nicht ge­bis­sen wur­de. Er wird als Rü­cken­fi­gur ge­se­hen, wen­det sein Haupt ins Pro­fil und scheint be­reits sei­ne Nackt­heit zu be­grei­fen, in­dem sei­ ne Rech­te das oh­ne­hin für die Be­trach­ter nicht sicht­ba­re Ge­schlecht ver­deckt. Eva hin­ ge­gen dreht sich aus dem en-face ins Pro­fil, das Ge­schlecht von ei­nem Schlei­er ver­hüllt. Die Fi­gu­ren­grup­pe va­ri­iert ei­nen be­rühm­ten Kup­fer­stich Dür­ers von 1504. Die Sze­ne spielt aber an­ders als bei Dür­er nicht bei den wil­den Tie­ren des Pa­ra­die­ses, son­dern in ei­ner zi­vi­li­sier­ten Land­schaft, die auf Kopf­hö­he des ers­t en Men­schen­paa­res be­reits eine turm­be­wehr­te Stadt­mau­er zeigt. fol. 8: Die Bil­der zu den Perik­open ver­tre­ten be­währ­te Pa­ri­ser Tra­di­ti­on; die At­tri­buts­ we­sen sind durch­weg in Gold-Cam­aïeu ge­malt: Jo­han­nes auf Pat­mos (fol. 8) sitzt in ei­ ner wei­ten Land­schaft und schreibt auf ein Spruch­band, wäh­rend der Ad­ler von links ins Bild ragt. In der Bor­dü­re wird rechts die Öl­mar­ter und un­ten die recht sel­te­ne Ein­schif­fung nach Pat­mos ge­zeigt. Die drei an­de­ren Evan­ge­lis­ten sind in Klein­bil­dern als Knie­stü­cke ge­ zeigt: Lu­kas (fol. 9) malt Ma­ria, in Halb­fi­gur als An­nunzi­ata oder Schmer­zens­mut­ter; der Stier ragt nur mit dem Kopf in die Mi­ni­a­tur. Mat­thä­us (fol. 10), der ei­nen Tur­ban und, als ge­hö­re er im­mer noch zu den Wechs­lern, eine Geld­kat­ze trägt, dreht sich beim Schrei­ben zum En­gel um, der ihm ein of­fe­nes Buch hin­hält. Mar­kus (fol. 11v) sitzt in ei­ner zur Land­schaft of­fe­nen Log­gia und schreibt, wäh­rend der Löwe zum Be­trach­ter blickt. fol. 12: Auch die Ma­rien­ge­be­te er­hal­ten Klein­bil­der mit Halb­fi­gu­ren: Zum Obse­cro te die Mut­ter­got­tes als Für­bit­te­rin (fol. 12), wie sie in Di­pty­chen aus Tours ge­mein­sam mit dem Er­lö­ser dar­ge­stellt wur­de (so in Ta­feln vom Meis­ter des Münch­ner Boc­ca­ccio, die für das dor­ti­ge Stadt­mu­se­um er­wor­ben wur­den und dort als Wer­ke Jean Bour­dic­hons gel­ten. Da sich das O int­emer­ata an bei­de rich­tet, sind Ma­ria und Jo­han­nes (fol. 15) ge­ zeigt, zwi­schen ih­nen das Kreuz, ohne Chris­ti Leib als Er­in­ne­rung an das Ge­sche­hen von Golg­atha. Das Ma­ri­en-Of ­fi­zi­um fol. 17v: Die Ver­mäh­lung Ma­ri­ens wird wie in Fou­quets Stun­den­buch des Étienne Che­ ­fi­zi­um am Ende der va­li­er (Chan­tilly, Mus­ée Con­dé), wo das Bild je­doch das Ad­vents-Of Ma­rien­stun­den er­öff­ne­te, vor ei­ner mo­nu­men­ta­len Ar­chi­tek­tur voll­zo­gen, in die drei

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rund­bo­gi­ge Por­ta­le füh­ren. Re­nais­sance-For­men be­herr­schen die gro­ße Struk­tur; go­ tisch ins­tru­men­tiert sind hin­ge­gen die bei­den klei­nen Ni­schen, die das Haupt­por­tal in Höhe des Ab­schluß­bo­gens flan­kie­ren. Da­rin ste­hen stein­farb­ene Fi­gu­ren mit ro­ten Män­ teln. Durch die zent­ra­le Tür blickt man auf den Al­tar, in des­sen nied­ri­gem Ret­abel ein Got­tes­bild vage er­kenn­bar wird; da­rü­ber hängt ein run­des Zi­borium mit ei­ner Lam­pe. Vie­le Men­schen drän­gen sich im dich­ten Fi­gu­ren­re­li­ef vorn um Jo­seph und Ma­ria, de­ ren Hän­de von ei­nem grei­sen Pries­ter zu­sam­men­ge­führt wer­den. Jo­seph, ein Mann in bes­tem Al­ter, wird von Män­nern be­glei­tet; mit of­fe­nem Haar be­glei­ten Jung­frau­en die Jung­frau Ma­ria. Nach die­sem un­ge­wohn­ten Er­öff­nungs­bild ent­spricht der Bil­der­zyk­lus dem Pa­ri­ser Brauch; nur die Matu­tin wird wie die Perik­open durch zwei Sze­nen in der Bor­dü­re vor den an­de­ren Bild­sei­ten aus­ge­zeich­net; dort war in äl­te­rem Stil be­reits die Ver­mäh­lung Ma­ri­ens ge­zeigt wor­den, die dann wohl fast eine Ge­ne­ra­ti­on spä­ter als Voll­bild noch ein­ mal ge­malt wur­de. Die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matu­tin (fol. 18) spielt in ei­nem sak­ra­len Raum, der rechts hin­ten in ei­ner klei­nen Ap­sis mit Musche­lka­lot­te en­det: Ma­ria sitzt vorn links, ihr Ge­ bet­buch auf dem Schoß, die Hän­de ge­fal­tet; der En­gel ist von rechts ge­kom­men und nie­der­ge­kniet, die Arme ge­kreuzt. An­ders als Fou­quets ent­spre­chen­de Kom­po­si­ti­on für Étienne Che­va­li­er (Chan­tilly) spielt die Sze­ne in ei­nem knapp be­mes­se­nen Raum. Des­ sen nach rechts fluch­ten­de Sei­ten­wand ist mit ei­ner grü­nen und ei­ner blau­en Säu­le be­ setzt. Dem Ma­ler ist die er­staun­li­che Idee ge­kom­men, den Wand­ab­schnitt hin­ter der Jung­frau ganz zu ver­gol­den, als gäl­ten hier Prin­zi­pi­en, die Mill­ard Me­iss in sei­nem Auf­ satz „Light as Form and Sym­bol in Some Fif­te­enth Cen­tury Pain­tings“ er­läu­tert hat (Art Bulle­tin 27, 1945, S. 175-181). In der Au­ßen­bor­dü­re wird beim Tem­pel­gang Ma­ri­ens das jun­ge Mäd­chen von ei­nem Pries­t er in Emp­fang ge­nom­men, der eine wei­ße Mit­ra trägt, vor ei­nem Al­tar mit gol­de­ nem Ret­abel. Da­run­ter wird die Ver­mäh­lung Ma­ri­ens ge­zeigt, ähn­lich, aber in an­de­ren Far­ben als das Voll­bild auf ein­ge­schal­te­tem Blatt ge­gen­über. Bei der Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 34) wird Ma­ria von der be­tag­ten Eli­sa­beth be­grüßt, die ihr of­fen­bar aus dem teil­wei­se be­fes­tig­ten Ge­höft auf dem fel­si­gen Hü­gel rechts hin­ten ent­ge­gen­ge­kom­men ist und nun mit bei­den Hän­den den Leib der Schwan­ ge­ren be­tas­t et, wäh­rend die Jung­frau ihre Lin­ke zu Eli­sa­beth aus­streckt. Dem leuch­ten­ den Blau von Ma­ri­as Man­tel über dem grau­en Kleid be­geg­net das Gold von Eli­sa­beths Ober­kleid, un­ter dem ein wei­ßer Rock sicht­bar wird. Die­ser Farb­klang wirkt gran­di­os in ei­ner sonst nur von hell­brau­nen und grü­nen Tö­nen be­stimm­ten Land­schaft un­ter zart­ blau­em Him­mel. Rot ist aus der Mi­ni­a­tur ver­bannt. Die An­be­tung des Kin­des zur Prim (fol. 42) hat nichts mit dem Weih­nachts­bild im Ka­ len­der auf fol. 6v ge­mein: Der Stall öff­net sich nach rechts; vor den durch ei­nen Zaun zu­rück­ge­hal­te­nen Ochs und Esel kniet Ma­ria, be­tend zum nack­ten Kna­ben ge­neigt, des­sen gol­de­ne Strah­len dem blau­en Man­tel­zip­fel ein ku­ri­o­ses Strei­fen­mus­t er ge­ben.

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Vor dem Pfos­t en der Ru­i­ne von Da­vids Pa­last kniet Jo­seph in zar­tem Alt­ro­sa und hebt über­rascht die Hän­de, in ei­ner Ges­te, die zum Ge­bet ei­nes Dop­pel­oran­ten wird. Er ist jung, mit brau­nem Haar. Auf­fäl­lig ist der stei­ner­ne Bo­gen rechts un­ten; Ro­gier van der Wey­den hat­te schon um die Mit­te des 15. Jahr­hun­derts sol­che ver­schüt­te­ten Ge­wöl­be un­ter der Weih­nachts­sze­ne im Ber­li­ner Blade­lin-Al­tar an­ge­deu­tet. Die Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 46) spielt vor ei­ner Stadt­ku­lis­se in der Fer­ne un­ter­halb ei­nes Hü­gels rechts, auf dem ein Ge­höft steht. Die Schaf­her­de drängt sich im Mit­tel­grund, da­vor ruht der Hund ein­ge­rollt. Der­weil re­a­gie­ren drei Hir­ten in un­ ter­schied­li­cher Wei­se auf die Bot­schaft des En­gels, der als Halb­fi­gur im Bo­gen oben er­scheint, mit leuch­tend grü­nen Flü­geln vor gol­de­nem Grund, in Wol­ken, die ih­rer­ seits gol­de­ne Strah­len aus­sen­den. Ein jun­ger Mann, der im Pro­fil links un­ten sitzt, schützt die Au­gen vor dem himm­li­schen Licht; hin­ter ihm hat sich ein äl­te­rer Hir­te mit ­fas­sungs­los er­ho­be­nen Hän­den auf­ge­rich­tet; rechts sitzt ein drit­ter, die Hän­de zum Ge­bet ge­fügt. Das Spruch­band des En­gels blieb eben­so leer wie die Bän­der der Evan­ ge­lis­ten. Die An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 49) spielt nicht in dem­sel­ben Stall wie das Weih­ nachts­bild: Nun wird eine Holz­kons­t­ruk­ti­on ge­zeigt, eben­falls schad­haft, aber ohne Spu­ren mo­nu­men­ta­ler Ver­gan­gen­heit. Die Sze­ne spielt vor ei­ner Wand, die von links steil in die Tie­fe führt, wo der Blick durch ein Tor zur Land­schaft mit Stadt­pros­p ekt in die Höhe führt. Links sitzt Ma­ria, wie­der in grau­em Kleid un­ter blau­em Man­tel; doch über ihre Knie ist ein grü­nes Tuch ge­brei­tet, von der­sel­ben Art wie über dem Al­tar bei Ma­ri­as Tem­pel­gang auf fol. 18! Die Mut­ter­got­tes wird mit­hin als der Al­tar ver­stan­den, auf dem der äl­tes­te Kö­nig, in gol­de­nem Ge­wand kni­end, das Fleisch ge­wor­de­ne Wort ver­ehrt. Hin­ter Ma­ria drängt sich Jo­seph, der schon das Ge­schenk des äl­tes­t en Kö­nigs in sei­nen Hän­den hält, zu­sam­men mit Ochs und Esel; hin­ten spre­chen die bei­den jün­ge­ren Kö­ni­ge mit­ei­nan­der; ei­ner von ih­nen hat ei­nen schwe­ren schwar­zen Sä­bel am Gür­tel. Bei der Dar­brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 52) hat der grei­se Sim­eon, mit gol­de­ner Mit­ra und Nim­bus un­ter ei­nem in­nen mit Grün, au­ßen mit Alt­ro­sa aus­ge­schla­ge­nen Bal­da­chin am kreis­run­den Al­tar, der wie ein mo­nu­men­ta­ler Kelch ge­stal­tet ist, auf sei­ nen ver­deck­ten Hän­den den nack­ten Chris­t us­kna­ben emp­fan­gen. Ma­ria kniet rechts vorn, wäh­rend der hier ge­ra­de­zu ju­gend­lich wir­ken­de Jo­seph mit ei­ner gro­ßen bren­ nen­den Ker­ze und dem Tau­ben­körb­chen zwi­schen bei­den im Hin­ter­grund steht. Eine zwei­te Frau mit pracht­vol­lem Kopf­putz hat Ma­ria be­glei­tet und kniet hin­ter ihr in der of­fe­nen Tür. Bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 55) ist die Hei­li­ge Fa­mi­lie von links ge­ kom­men; der Esel trot­tet mit ge­senk­tem Kopf; Ma­ria sitzt im Da­men­sitz und schmiegt ihre Wan­ge an die des Kna­ben, der, in Gold ge­klei­det, mit sei­nem lin­ken Ärm­chen ih­ ren Man­tel­saum faßt. Jo­seph, der hin­ter dem Esels­kopf en face er­scheint, wen­det sich, eben­falls mit ge­neig­tem Haupt zu ih­nen um. Ein Wäld­chen hin­ter­fängt die­se Grup­pe und ver­stärkt den in­ti­men Cha­rak­ter; nur am rech­ten Bild­rand wird ein knap­per Blick in die bläu­li­che Bild­tie­fe ge­währt.

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Auch die Ma­rien­krö­nung zur Komp­let (fol. 60) kommt nicht ohne das Blau der Fer­ne aus, spielt also auf Er­den und nicht im Him­mel. Auf der mit gro­ßen Flie­sen be­deck­ten Ter­ras­se ei­nes Pa­lasts, des­sen Mau­ern rechts auf­ra­gen, steht Got­tes Thron, wie der Bal­ da­chin der Dar­brin­gung im Tem­pel in­nen mit Grün und au­ßen mit Alt­ro­sa. Links kniet Ma­ria, grö­ßer als ihr thro­nen­der Sohn, der ein we­nig in die Tie­fe ge­rückt ist. Ein En­gel mit gel­ben, au­ßen grü­nen Flü­geln setzt ihr die Kro­ne aufs Haupt; da­durch wird sie als Kö­ni­gin, durch die Ti­a­ra aber Chris­t us als Papst de­fi­niert. Die Ho­ren Da schon die Tex­te der nur je­weils vier Sei­ten lan­gen Ho­ren bis auf die Hym­nen stark ab­ge­kürzt sind, muß­ten zu­nächst die ge­wohn­ten Er­ken­nungs­bil­der ge­nü­gen; doch auch die­se Par­tie er­hielt nach­träg­lich ein text­lo­ses Bild auf ei­nem vor­ge­schal­te­ten Blatt. Daß die bei­den Bil­der die­ser klei­nen Text­grup­pe eine Ein­heit bil­den soll­ten, die zu­dem hier­ ar­chisch ge­staf­felt ist, zeigt sich an der Her­vor­he­bung der Kreuz-Matu­tin durch zwei Bor­dü­ren­bil­der. fol. 64v: Mit mo­nu­men­ta­len Fi­gu­ren wird die Gei­ße­lung Chris­t i in ei­ner Art Tem­pel ge­ zeigt: An ei­nen grü­nen Säu­len­schaft ist Chris­t us ge­bun­den, auf der Stirn be­reits die blu­ ti­gen Spu­ren der nun wie­der ab­ge­nom­me­nen Dor­nen­kro­ne. Der­be Ge­sel­len, zwei links, ei­ner rechts, schla­gen auf ihn ein; sie sind et­was bun­ter ge­klei­det als in die­sem Buch sonst üb­lich: Rot-gelb ge­streif­tes Wams bei dem vor­de­ren links und ent­spre­chend ge­färb­tes Bein­kleid beim rech­ten er­in­nern auf eine si­cher un­pas­sen­de Wei­se an die Liv­ree Lud­ wigs XII . von Frank­reich. Die Kreu­zi­gung zur Matu­tin des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 65) stellt wie so oft Ma­ria und den Zentu­rio un­ter dem Kreuz als Haupt­fi­gu­ren ei­nan­der ge­gen­über: Die Mut­ter­got­tes wen­det sich im Schmerz ab, wird von Jo­han­nes ge­hal­ten und von zwei Frau­en be­glei­tet. Der Haupt­mann trägt gol­de­ne Rüs­t ung und wie der Evan­ge­list Mat­thä­us ei­nen präch­ ti­gen Tur­ban. Er blickt vom Kreuz weg, wie er dem hin­ter ihm drän­gen­den Sol­da­ten den Got­tes­sohn weist. Vor chan­gie­ren­dem Him­mel, der am Ho­ri­zont röt­lich be­ginnt, in Gelb und dann Weiß um­schlägt, ehe er das Blau im Boge­nab­schluß er­reicht, wird auf Kopf­hö­he der Fi­gu­ren in grau­em Dunst eine Stadt­ku­lis­se aus­ge­brei­tet. Im un­te­ren Rand­strei­fen wird die Kreuz­tra­gung, mit nach links schrei­ten­den Fi­gu­ren ge­zeigt, die aus dem Stadt­tor rechts kom­men; ein Sol­dat schrei­tet vo­raus; Jo­han­nes, Ma­ ria und wohl Mag­da­le­na fol­gen. Eine wei­te­re Ge­stalt könn­te Si­mon von Kyr­ene sein; so recht ans Kreuz fas­sen kann der aber nicht, weil der Kreu­zes­stamm hier al­ter­tüm­lich nach vor­ne weist. Nach die­ser Sze­ne, die dem Haupt­bild vo­raus­geht, wird im Au­ßen­rand der Ab­stieg in die Vor­höl­le ge­schil­dert: Aus ei­nem rie­si­gen Maul mit sti­li­sier­ten Zäh­nen, des­sen Tie­fe glü­hend rot ist, stei­gen Adam und hin­ter ihm Eva auf zu Chris­t us, der mit sei­nem Kreuz­stab den Un­ter­kie­fer des Höl­len­mauls zu Bo­den drückt. Das Pfingst­wun­der zur Matu­tin des Hei­li­gen Geis­t es (fol. 68) spielt in ei­nem pa­last­ähn­ li­chen Raum, in dem Ma­ria vor ih­rem Bet­pult kniet. Pet­rus nimmt zu ih­rer Lin­ken mit

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un­ter­ge­schla­ge­nen Ar­men die mäch­tigs­t e Po­si­ti­on in der nach links ge­rich­te­ten Kom­ po­si­ti­on ein. Von rechts, wo man ins Freie blickt, ist eine gro­ße Schar von From­men ge­ kom­men, nur ei­ner von ih­nen sieht noch wie ein Apos­t el aus. Sie kni­en alle in Isok­eph­alie und bli­cken auf zur Tau­be, die vor dunk­le­rem Blau mit ih­rem leuch­ten­den Licht­schein, der nach au­ßen röt­lich flammt, in ei­ner Öff­nung links oben er­schie­nen ist. Da­vid­sze­nen zu den Buß­psal­men Erst zu Zei­ten, als ge­druck­te Stun­den­bü­cher mit Gra­phi­ken des Meis­ters der A­po­ka­ lyp­sen­ro­se und dann in Pi­cho­res Stil ver­wen­det wur­den, tau­chen Bild­fol­gen aus der Ge­ schich­te Da­vids auf, de­ren Ge­samt­zahl im Stun­den­buch gar nicht recht ein­setz­bar war, weil dort bes­ten­falls ein Bild­paar ge­schal­tet wer­den konn­te. So hat man die Ge­schich­ te von Da­vids Ehe­bruch mit Bath­seba und die Er­mor­dung von de­ren Ehe­mann Urias, der als Hethi­ter für den Kö­nig kämpf­te, bis hin zur Er­mah­nung durch Na­than und zur Buße of­fen­bar so an­ge­legt, daß je­weils aus­ge­wählt wer­den konn­te, was dann im Ein­zel­ fall ein­ge­setzt wur­de. fol. 71v: Sti­lis­t isch das fort­schritt­lich­ste Bild ist Bath­se­bas Bad im Gar­ten: Vor ei­ner von links vorn in die Bild­tie­fe ver­kürz­ten Häu­ser­front, aus der Kö­nig Da­vid schaut, steht ein Stuhl für die un­be­klei­de­te Bath­seba, die nur eine schwar­ze Hau­be trägt, wie sie von Anne de Bre­tag­ne bei Hofe ein­ge­führt und auch von Lou­ise de Savoie, der Mut­ter Franz’ I. ge­tra­gen wur­de. Mit ähn­li­chem Kopf­putz ver­se­hen sind die bei­den Dien­er­in­nen, de­ ren eine mit ge­kreuz­ten Ar­men ne­ben Bath­seba steht und zu ihr blickt, wäh­rend die an­ de­re auf dem Bo­den hockt und den rech­ten Fuß der Schö­nen trock­net. Der­weil kommt aus der Tie­fe des in klei­ne Ra­bat­ten auf­ge­teil­ten Gar­tens ein jun­ger Die­ner; er hat den Hut ge­zückt und hält in sei­ner Lin­ken Da­vids Brief, der Bath­seba auf­for­dert, zu ihm zu kom­men. Der Urias­brief als Kopf­mi­ni­a­tur zu den Buß­psal­men (fol. 72) schafft eine be­mer­ kenswerte Ana­lo­gie zur ge­gen­ü­ber­lie­gen­den Mi­ni­a­tur. In gol­de­ner Rüs­t ung kniet Bath­ se­bas Ehe­mann, der Hethi­ter Urias, vor Da­vids Thron und nimmt je­nes Schrei­ben ­ent­ge­gen, das den Feld­herrn Joas auf­for­dert, ihn selbst so auf­zu­stel­len, daß er beim nächs­t en Kampf fällt. Im Hin­ter­grund vor mo­nu­men­ta­ler Ar­chi­tek­tur ver­har­ren vier Rats­her­ren. Wäh­rend im un­te­ren Rand mit Da­vid und Go­li­ath wie­der eine vo­raus­ge­hen­de Sze­ne ge­ zeigt wird, bie­tet das Bild im Au­ßen­rand die Fol­ge, Goli­aths Tod: Der Rie­se stürzt, vom Stein des Hir­ten­kna­ben auf der Stirn ge­trof­fen und hebt da­bei noch je­nes Schwert, mit dem ihm Da­vid dann das Haupt ab­schla­gen wird. Rechts hin­ge­gen ist Da­vids Buße vor auf­ge­türm­ten Fel­sen ge­zeigt. ­fi­zi­um Bil­der zum To­ten-Of Wie in den meis­t en Stun­den­bü­chern ge­nügt es, die To­ten-Ves­p er mit ei­ner Bild­sei­te aus­ zu­stat­ten; die ist wie die üb­ri­gen Haupt-Inic­pits mit zwei Rand­sze­nen ver­se­hen.

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fol. 85v: Der Rei­che in der Höl­le ge­hört zu ei­ner Bild­fol­ge, die eben­falls erst um 1500 in fran­zö­si­schen Stun­den­bü­chern auf­taucht; man hielt zu die­sem bib­li­schen Gleich­nis, das be­reits am ro­ma­ni­schen Por­tal von Mois­sac dar­ge­stellt ist, wie zur Ge­schich­te von Da­vid und Bath­seba mehr Sze­nen vor, als im Stun­den­buch Platz fan­den. Hier wird ge­zeigt, wie bun­te Teu­fel in ei­ner Höl­len­gru­be, aus der man den­noch weit übers Land bli­cken kann, ei­nen an­ge­ket­te­ten Nack­ten pei­ni­gen und über das Feu­er hal­ten. Es ist der Rei­che, der den ar­men La­za­rus beim Gast­mahl ver­ja­gen ließ; nun weist er in sei­nem un­er­träg­li­chen Durst auf sei­nen Mund, wie er zum Him­mel auf­blickt, wo die zum Säug­ling ge­wan­del­ te See­le des ar­men La­za­rus auf Ab­ra­hams Arm er­scheint. Das Jüngs­t e Ge­richt ist ein sel­te­nes Bild­the­ma zur To­ten-Ves­p er (fol. 86). In frü­he­ren Ge­ne­ra­ti­o­nen, vor al­lem um 1400, zeig­te man den Wel­ten­rich­ter selbst lie­ber zu den Buß­psal­men. Hier thront er als Schmer­zens­mann in ro­tem Man­tel auf dem Re­gen­bo­ gen; sei­ne Füße ru­hen auf der Ku­gel, in der die Erde noch als Schei­be mit dem Him­ mels­ge­wöl­be ab­ge­bil­det ist. Nackt tau­chen die Ver­stor­be­nen aus ih­ren Grä­bern auf; dies­mal wer­den Frau­en be­vor­zugt; sie er­schei­nen un­ten zur Rech­ten (also links) im Ge­ bet zum Rich­ter ge­wen­det, wäh­rend die Män­ner rechts Schlim­mes be­fürch­tend sich ab­ wen­den. Da die Le­sun­gen der To­ten-Matu­tin aus dem ent­spre­chen­den Bi­bel­buch stam­men, hat man ge­gen 1500 das Of ­fi­zi­um im­mer häu­fi­ger mit Hi­obs­sze­nen er­öff­net. Meist stell­te man den Dul­der auf dem Dung im Ge­spräch mit sei­nen Freun­den dar; so auch im Bre­ vier des Oc­to­vien de Saint-Ge­lais, (Nr. 51, fol. 428v). In un­se­rem Stun­den­buch wur­den zwei nicht sehr üb­li­che Mo­ti­ve ge­wählt: Der nack­te Hiob von zwei Teu­feln ge­schla­gen im un­te­ren Rand­strei­fen und der eben­so nack­te Hiob im Ge­bet zu Gott im äu­ße­ren Rand. Die bei­den Ge­be­te in fran­zö­si­scher Spra­che Die in den Jahr­zehn­ten nach 1400 über­aus be­lieb­ten Ge­be­te, mit de­nen die Volks­spra­ che Ein­zug ins Stun­den­buch nahm, wur­den meist mit ei­ner Ma­don­na und ei­nem Bild von Got­tes Herr­lich­keit er­öff­net. Bei­de sind hier auf neue Wei­se be­han­delt: Die Ma­don­na in der Glo­rie zu den XV Freu­den Ma­ri­as (fol. 118) steht in der Bild­tra­di­ ti­on des Apo­ka­lyp­ti­schen Wei­bes, das mit sei­nem Sohn flieht. Die Ge­stalt ist dem Of­ fen­ba­rungs­text zu­fol­ge in die Son­ne ge­klei­det und steht auf dem Mond. So er­scheint sie hier vor gol­de­nem Grund, der zum Kon­tur hin feu­er­rot wird, in ei­nen dich­ten Wol­ ken­kranz ein­ge­bet­tet. Ma­ria steht wie man­che Sta­tue aus der Ent­ste­hungs­zeit un­se­res Buchs auf der sil­ber­nen Mond­si­chel und trägt die­sel­be Ge­wan­dung wie sonst und dazu eine gol­de­ne Kro­ne. Ge­gen den Brauch ver­stößt sehr viel stär­ker das Ecce homo zu den VII Kla­gen des Herrn (fol. 122): Bild­quel­le ist wohl eine Kom­po­si­ti­on aus Tours, die in ei­ner Ein­zel­mi­ni­a­tur von Jean Po­yer im Pa­ri­ser Mus­ée Mar­mot­tan über­lie­fert ist und die Pich­ore von Po­yer an an­de­rer Stel­le noch ge­nau­er wie­der­holt hat (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter VI , Nr. 75; Zöhl 2004, Abb. 244 und 245): Vor ei­nem gro­ßen dunk­len Tor­bo­gen steht der Schmer­zens­

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mann mit Dor­nen­kro­ne im Pur­pur­man­tel, links von ei­nem Sol­da­ten ge­führt, der auf ei­ gen­tüm­li­che Wei­se schmerz­ver­zerrt sein Haupt neigt. Pi­la­tus auf der an­de­ren Sei­te weist auf Chris­t us und spricht die Wor­te, die man heu­te als Bild­ti­tel ver­wen­det: Ecce homo. Suf­fra­gien Klein­bil­der von acht bis neun Zei­len Höhe ge­ben Ge­le­gen­heit, die an­ge­spro­che­nen Hei­li­ gen in un­ter­schied­li­chem Zu­schnitt zwi­schen Ganz­fi­gur und Büs­t e zu zei­gen. Die Text­ an­fän­ge er­hal­ten statt Ini­ti­a­len nur mit Gelb la­vier­te Ver­sa­li­en. Das Bild der Tri­ni­tät (fol. 124v) folgt dem für Psalm 109 ent­wi­ckel­ten Sche­ma der bei­ den gro­ßen Ge­stal­ten in ei­ner ein­heit­li­chen Man­tel­far­be; Chris­t us ist hier bar­häup­tig mit der Blut­spur der Dor­nen­kro­ne; Gott­va­ter trägt die Ti­a­ra. Mi­cha­els Kampf mit dem Teu­fel (fol. 125). Jo­han­nes der Täu­fer in der Ein­ö­de (fol. 125v) sit­zend und auf eine Er­schei­nung des Lam­mes in gol­de­nem Him­mels­seg­ment wei­send. Pe­ter und Paul in der Land­schaft (fol. 126). Se­bas­t i­ans Pfeil­mar­ter (fol. 126v) mit ei­nem Bo­gen­schüt­zen. Ni­ko­laus und die drei Kna­ben im Bot­tich, die zu ihm auf­schau­en (fol. 127). An­to­ni­us Ab­bas mit dem Schwein­chen vor der Ein­sie­de­lei (fol. 127v). Anna lehrt Ma­ria le­sen (fol. 128), von der Rand­mi­ni­a­tur auf fol. 4 ab­wei­chend. Mag­da­le­na mit dem Salb­ge­fäß in der Land­schaft (fol. 128v). Ka­tha­ri­na, ge­krönt, mit Schwert, Rad und Buch in der Land­schaft (fol. 129). Mar­ga­re­ta aus dem Dra­chen­leib auf­stei­gend, im ver­git­ter­ ten Ker­ker (fol. 129v). Gen­ovefa mit der Ker­ze in der Land­schaft (fol. 130), ohne En­gel und Teu­fel. Zum Stil Das Buch ist völ­lig ge­prägt vom Stil Jean Pi­cho­res. Doch sind die ers­ten Bil­der im Ka­ len­der ohne Mühe von der Il­lu­mi­nie­rung des Buch­blocks zu un­ter­schei­den. Die Ar­beit ist we­ni­ger sorg­fäl­tig, und bei glei­chen Bild­the­men wei­chen die Bild­for­meln ab; doch ver­ tre­ten auch die­se Ma­le­rei­en Pi­cho­res Werk­statt­stil. Mit dem Plan­wech­sel wird auch ein Wech­sel der Bild­for­men voll­zo­gen: Wäh­rend die Mi­ni­a­tu­ren im Buch­block gut zu den Gra­phi­ken vor al­lem der Ok­tav-Aus­ga­be von Pich­ ore und de Lai­stre aus dem Herbst 1504 pas­sen, wei­sen die Voll­bil­der fort­schritt­li­chere Züge auf. Das mag aber zu­gleich an die son­der­ba­re Si­tu­a­ti­on aus dem Jahr 1504 er­in­ nern, als Pich­ore mit sei­nem Kom­pag­non im frü­her er­schie­ne­nen Quart­druck be­reits drei Voll­bil­der schal­te­te, die sti­lis­t isch ent­wi­ckel­ter wa­ren. Für die An­be­tung der Kö­ni­ ge konn­te Ca­ro­li­ne Zöhl in ih­rem Buch von 2004 Rück­be­zü­ge auf Dür­er nach­wei­sen, wie sie auch beim ers­t en Voll­bild un­se­res Stun­den­buchs zu Tage tre­ten: War es dort ein Holz­schnitt aus Dür­ers Apo­ka­lyp­se, so ist es hier der be­rühm­te Kup­fer­stich des Nürn­ ber­ger Meis­t ers aus dem Jah­re 1504! Den­noch er­weist sich die Ma­le­rei im Buch­block als ko­hä­rent; das er­schwert die Ein­schät­ zung des zeit­li­chen Ab­stands un­ge­mein. Am wei­tes­t en ent­wi­ckelt, si­cher auch vom The­

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ma her, ist Bath­se­bas Bad. In der Wei­te des Gar­ten­pa­no­ra­mas kom­men As­so­zi­a­ti­o­nen be­reits zur Buch­ma­le­rei der 1520er Jah­re auf. Es ge­hört zu den We­sens­zü­gen der Ar­bei­ten aus Jean Pi­cho­res Pa­ri­ser Werk­statt, daß kaum ein Ma­nus­kript völ­lig ein­heit­lich durch­ge­stal­tet wur­de – mit Aus­nah­me der Tri­ um­phe Pet­rar­cas, fr. 594 der Na­ti­o­nal­bib­li­o­thek, und ei­ni­ger we­ni­ger Stun­den­bü­cher wie der Peti­tes Heu­res d’Anne de Bre­tag­ne, la­tin 3027 eben­da, die das Pro­blem der Un­ter­schei­ dung von Pich­ore und dem Petr­arca-Meis­t er in­ner­halb des Stil­krei­ses auf­wer­fen. Zu­gleich trifft man wie im Bre­vier des Oc­to­vien de Saint-Ge­lais im­mer wie­der auf um­ fang­rei­che­re Bild­fol­gen, die in sich ein­heit­lich wir­ken. Das­sel­be ist hier der Fall: Nach der re­la­ti­ven Bunt­heit der Bil­der zum ers­t en Text­block fol­gen die Mi­ni­a­tu­ren zum Ma­ ri­en-Of ­fi­zi­um mit ei­nem über­ra­schend zu­rück­ge­nom­me­nen Ko­lo­rit, das auf Beige­tö­nen, hel­lem Rosa, Grün, Rot und hel­lem Blau auf­baut und je­den kräf­ti­gen Farb­ton ver­mei­det. Da­durch ent­steht ein sehr zar­ter Ge­samt­ein­druck, der so­gar bei der in die Tie­fe ge­staf­fel­ ten An­be­tung der Kö­ni­ge eine er­staun­li­che Flä­chen­wir­kung er­zeugt. Da­rin scheint sich aber nicht die zwin­gen­de Ei­gen­art ei­nes ein­zel­nen Mit­ar­bei­ters aus­zu­drü­cken, son­dern eher eine be­wußte Sti­li­sie­rung, also gleich­sam ein Spiel mit den künst­le­ri­schen Mit­teln. In­ner­halb der Pich­ore-Werk­statt bie­tet sich ge­ra­de für die­se Bil­der ein Ver­gleich mit den Ma­ri­en des Ban­des von 1517 an, der die Chants roya­ux mit den Ge­mäl­den des Puy Not­reDame der Ka­thed­ra­le von Ami­ens wie­der­gibt (fr. 145). Die zier­li­che Füh­rung der Lo­cken und die Phy­si­og­no­mie der Mut­ter­got­tes keh­ren in vie­len Bil­dern am An­fang des Ban­des wie­der. Da­mit trä­fe man hier auf den wich­tigs­t en Mit­ar­bei­ter in Pi­cho­res Werk­statt bei der von den Amien­ser Schöf­fen fi­nan­zier­ten Ar­beit für Lou­ise von Sa­voy­en. Und man kommt wie­der zu dem Punkt, daß wir es mit ei­ner über­aus viel­stim­mi­gen Ge­mein­schaft von Künst­lern zu tun ha­ben. Ein über­aus bil­der­rei­ches Stun­den­buch, das im Stil des 15. Jahr­hun­derts ge­schrie­ ben und noch mit Ini­ti­a­len im Dorn­blatt­de­kor aus­ge­stat­tet ist. Mit rei­chem Bor­ dü­ren­schmuck, der hie­rar­chisch auf­ge­baut ist, alle Text­sei­ten be­rück­sich­tigt, den Klein­bil­dern ei­nen vol­len De­kor zu­bil­ligt und bei den Kopf­mi­ni­a­tu­ren zwi­schen den ein­fa­che­ren Inci­pits und fünf Haupt­tex­ten un­ter­schei­det, die noch mit Rand­sze­nen aus­ge­zeich­net wer­den. Grund­sätz­lich wäre die­ser De­kor schon im 15. Jahr­hun­dert mög­lich; doch könn­te er auch für eine tra­di­ti­ons­ge­bun­de­ne Hal­tung spre­chen, die noch spä­ter mög­lich war. In ei­nem zwei­ten Schritt er­hielt die Hand­schrift fünf Voll­ bil­der fort­schritt­li­cher­er Ma­nier. Ei­nes von ih­nen geht auf Dür­ers Kup­fer­stich mit Adam und Eva von 1504 zu­rück; ein an­de­res ver­bin­det be­reits mit dem Stil fran­zö­ si­scher Buch­ma­le­rei, der erst in den 1520er Jah­ren voll ent­wi­ckelt war. Die Ma­le­rei­en, die, wie der Ka­len­der zeigt, nicht durch­weg von ei­ner Hand sind, ver­ bin­den sich in ers­t er Li­nie mit den Ma­ri­en­bil­dern für Lou­ise von Sa­voy­en, die 1518 von den Schöf­fen von Ami­ens bei Jean Pich­ore in Pa­ris in Emp­fang ge­nom­men wur­

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den. Da­mit ge­hört die­ses Stun­den­buch zum genui­nen Be­stand der Wer­ke, die etwa zur glei­chen Zeit Jean Pi­cho­res Ate­li­er ver­las­sen ha­ben. Durch ihren Bil­der­reich­tum und die komp­le­xe Ge­schich­te der Aus­stat­tung zeich­net sich die­se kom­plett und vor­züg­lich er­hal­te­ne Hand­schrift in ein­zig­ar­ti­ger Wei­se aus. Li­te­ra­tur Un­ser Ka­ta­log 74, 2014, Nr. II .

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55 Stun­den­buch der Marg­uer­ite de Co­ës­mes und des Charles d’An­gen­nes: Mit 54 Bildern von Jean Coene


STUNDENBUCH. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken, in Rot, mit einem Kalender in Braun, in brauner Textura, die ergänzten Partien in schwarzer Antiqua. Paris, um 1491 – 1500: Jean Coene (drei große Miniaturen aus der Zeit um 1520) 54 Bilder, davon 18 große Miniaturen über vier bis fünf Zeilen mit meis dreizeiligen weißen Akanthus­Initialen auf braunrotem Fond und goldenen Binnenfeldern mit bun­ ten Früchten oder Vögeln: im ursprünglichen Buchblock 15 in Architekturrahmen und Vollbordüren, davon zwei blaugrundig mit goldenen Schriftbändern, die anderen mit Pin­ selgoldgrund, belebt von Vögeln, Insekten und kleinen, teils grotesken Tieren, drei mit Wappen; 36 achtzeilige Kleinbilder in doppelten Pinselgoldrahmen links, oben und rechts. Die drei ers später hingekommenen Bildseiten in goldenen Architekturrahmen mit Kar­ tuschen, die das Textfeld umschließen. Kleinere Initialen von Kalender bis Totenoffizium in Pinselgold auf Rot und Blau, in den Suffragien auf aus Rot und Blau zusammengesetzten Flächen: zweizeilig zu den Psalmenanfängen, einzeilig zu den Psalmenversen, die am Zeilenanfang stehen. In den Hinzufügungen (fol. 1-16v und 144-155v) die zweizeiligen Initialen in weißen Akanthusformen auf Gold mit Früchten. Zeilenfüller als rot- oder blaugrundige Flächen oder als Knotenstock. Versalien gelb laviert. 158 Blatt Pergament, vorne ein festes und ein fliegendes, hinten ein festes Vorsatz aus altem Pergament. Wegen der engen Bindung Kollationierung nicht möglich; der Buchblock ohne markante Zäsuren; selbst die Bußpsalmen im Lagenverlauf vermutlich recht einheitlich in Quaternionen angelegt. Eine vertikale Reklamante. Rot regliert, zu 19, im Kalender zu 33 Zeilen. Sedez (112 x 68 mm, Textspiegel: 68 x 42 mm). Vollständig und mit Ausnahme des Wappens auf fol. 34 unbeschnitten, sehr gut erhalten. Roter Maroquinband der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf drei erhabene Bünde; Rücken mit Goldprägung; Deckel mit doppelten Fileten gerahmt, in den Ecken zwei verschränkte C, in der Mitte ein Kranz aus zwei unterschiedlichen Zweigen. Reste von Schließen. Das Monogramm deutet darauf hin, daß das Manuskript wohl noch für Jahrzehnte im Besitz der Coësmes war. Das Buch ist ausdrücklich für eine MARGUER ITE DE COA ESMES bestimmt gewesen, enthält aber, wie gewohnt, auch rein männlich redigierte Formeln für das Herrengebet auf fol. 14v und für die beiden Mariengebete. Coësmes ist ein bretonisches Dorf im Arrondissement Rennes; als Familienwappen gilt der nach links aufgerichtete blaue Löwe mit roten Krallen und roter Zunge auf Gold, der jedoch meist ohne die hier gezeigte rote Krone auftritt. Am 10. Juli 1491 heiratete diese Marguerite de Coësmes Charles d’Angennes, Seigneur de Rambouillet. Dieser starb am 10. Februar 1514 und wurde in der Kirche von Rambouillet begraben (siehe Père Anselme, Histoire généalogique…, 3e Ed., Band II, 1726, S. 424).

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Im Allianzwappen tritt für Charles d’Angennes das silberne Andreaskreuz auf Schwarz hinzu: In ungewohnter Kombination schmücken drei Schilde den unteren Rand des Verkündigungsbildes, wo das Wappen des Mannes dem Allianzwappen gegenübersteht und vor beiden, weit unter den Rand der Bordüre hinausgreifend, der Schild von Coësmes steht; einzelne Schilde werden zu den Bußpsalmen und das Allianzwappen allein unter der Trinität wiederholt. Das Monogramm CM mit Liebesknoten, das im Randschmuck vorkommt, repräsentiert die Vornamen der Wappenträger. Nicht eindeutig zu verstehen ist der Eintrag S. MICHELLE,BOUCHER.M.CC. am unteren Rand von fol. 1. Er wirkt gedruckt, setzt mit einem wohl als sœur zu lesenden S. ein und gibt eine irreführende Jahreszahl an. 1907 war das Manuskript im Besitz von Edouard Rahir (Librairie Morgand), siehe dessen Bulletin Mensuel, N. S. 7, Nr. 350: 4.000,- Goldfrancs. Dort kaufte es der Bibliophile Pierre Bidoire, siehe seine Vente am 15. Juni 1927, Nr. 3: 12.000,- Francs, an Belin. Zuletzt französische Privatsammlung. Text Unfoliiertes Vorsatz: Gebet aus der Zeit um 1600. Dem Kalender vorgeschaltet sind Passionstexte, die wohl einer etwas späteren Arbeits­ phase entstammen. fol. 1: Johannespassion: Egressus est. fol. 9v: Passionshoren, gefolgt von dem Gebet Deus propitius esto mihi peccatori, also für einen Mann redigiert, nachdem der Buchblock für Marguerite de Coësmes bestimmt war (fol. 14v). fol. 16: Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos. fol. 17: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, jeder Monat auf einer Seite, Heiligentage in Braun, Festtage in blassem Rot, Goldene Zahl und Sonntagsbuch­ staben A rot, Sonntagsbuchstaben b­g braun. Die Heiligenauswahl unspezifisch. fol. 23: Perikopen: Johannes (fol. 23), Lukas (fol. 24v), Matthäus (fol. 25v) und Markus (fol. 27). fol. 28: Mariengebete, für einen Mann redigiert, obwohl diese Partie wohl für Margue­ rite de Coësmes bestimmt war: Obsecro te (fol. 28), O intemerata (fol. 31). fol. 33v: Margareten­Suffragium. fol. 34: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom, mit eingeschalteten Horen von Hei­ lig Kreuz und Heilig Geis: Matutin (fol. 34), Laudes (fol. 45), Matutin von Heilig-Kreuz (fol. 55), Matutin von Heilig Geist (fol. 56v), Prim (fol. 58), Terz (fol. 62), Sext (fol. 66), Non (fol. 69v), Vesper (fol. 73), Komplet (fol. 79v). fol. 83v: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 93); die Heiligenauswahl unspezifisch. fol. 96: Totenoffizium: Vesper (fol. 96), Matutin, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 99v), Laudes, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 115).

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fol. 122: Suffragien: Trinität (fol. 122), Gottvater (fol. 122v), Sohn (fol. 123v), Heiliger Geist (fol. 124), Salve sancta facies (fol. 124v), Stabat mater (fol. 125v), Mariä Empfängnis (fol. 127), Michael (fol. 128), Johannes der Täufer (fol. 128v), Johannes der Evangelist (fol. 129), Petrus und Paulus (fol. 129v), Jakobus (fol. 130), Alle Heiligen (fol. 130v), Stephanus (fol. 131), Laurentius (fol. 131v), Christophorus (fol. 132), Sebastian (fol. 133), Rochus (fol. 133v), Leobin (fol. 134), Antonius Abbas (fol. 135), Hieronymus (fol. 135v), Fiacrius (fol. 136), Ambrosius (fol. 136v), Augustinus (fol. 137), Anna (fol. 137v), Magdalena (fol. 138v), Katharina (fol. 139), Barbara (fol. 139v), Apollonia (fol. 140), Genovefa (fol. 140v), Schwestern Mariens (fol. 141v), Alle Heiligen (fol. 143). fol. 144v: Sieben Gebete des heiligen Gregor: Adoro te in crucem pendentem. fol. 146v: Verschiedene Gebete: Fünf Gebete zu den Leiden Mariens: Oratio prima: Mediatrix hominum et fons vivus; Oratio secunda: Auxiliatrix dei; Oratio tertia: Reparatrix debilium; Oratio quarta: Illuminatrix caecorum; Oratio quinta: Alleviatrix peccatorum. Gebet, das vor der Beichte zu sprechen ist: Per sanctorum angelorum (fol. 150), Gebet für die vergessenen Seelen: Miserere pie iesu super acerbissimam passionem tuam (fol. 150v). fol. 152: Gebet für die Versorbenen (Prosa de deffunctis): Panguentibus in purgatorio. fol. 153: Gebet der Sieben Schmerzen Mariens: Ave dulcis mater christi. fol. 158v: Textende. Schrift und Schriftdekor Der Grundbestand des Buches für Marguerite de Coësmes wurde in einer niedrigen braunen Textura geschrieben und mit hellroter Tinte rubriziert. Die kleineren Zier­ buchstaben sind durchweg in Pinselgold ausgeführt. Vom Kalender bis zum Totenof­ zium stehen einzeilige wie zweizeilige Initialen auf abwechselnd braunroten und blauen Gründen; in den Sufragien sind beide Farben für zweizeilige Initialen nebeneinander eingesetzt, diagonal von links unten nach rechts oben getrennt. Die beiden Lagen vor dem Kalender sind ebenso wie die Texte von fol. 144v an in der erst um 1520 allgemein verbreiteten Antiqua geschrieben. Weiße Initialen, die grau modelliert werden, stehen nun auf Pinselgold. Der Verzicht auf Randschmuck zum Text gilt für alle Arbeitsphasen. Alle kleinen Bilder gehören zum Buchblock; sie bauen auf einer schwarzen Grundlinie auf und sind an den Seiten und oben mit getreppt zu verstehenden goldenen Leisten ge­ rahmt. Die Kopfminiaturen stehen über vier, bei den Bußpsalmen und dem Totenof­ zium fünf Zeilen Text. 15 davon gehören zum Buchblock; dort erhalten meist dreizei­ lige, seltener zweizeilige Initialen weiße Buchstabenkörper auf braunrotem Grund mit einem Binnenfeld, das auf Pinselgold meist Blüten, seltener einen Vogel, einmal einen Frosch zeigt. Die Bildfelder werden von Säulen und einem Bogen gerahmt; von dieser Rahmung ab­ gesetzt sind die Bordüren, die durch Tiere oder Grotesken belebt sind. In der Regel ist

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Goldgrund mit einem Bodenstreifen verwendet; zweimal jedoch, zur Kreuz­Matutin und den Bußpsalmen, sorgen breite goldene Spruchbänder auf blauem Grund für eine mo­ dernere Wirkung. Der Sonderstellung der Sufragien entspricht, daß das Trinitätsbild eine stabilere Rahmenarchitektur und eine Bordüre erhält, die mit krautigem Akanthus, jedoch mit den sonst gültigen Wappen auf wartet. In den später hinzugefügten Partien erscheinen drei Bildseiten in Architekturrahmen, mit dem Incipit in Kartuschen. Damit repräsentiert das Layout zwei Phasen der Pariser Buchkunst, die für die Zeit um 1500 und die Jahre um 1520 charakteristisch sind. Bildfolge fol. 1: In einer Renaissance­Architektur für die ganze Seite, vor die illusionistisch das Incipit, von einer Kartusche gerahmt, geblendet ist, eröfnet die Passion nach Johannes mit Chrisus am Ölberg. Der Tag ist schon angebrochen, während der Heiland betend gen Himmel blickt und die drei Lieblingsjünger schlafend zu seinen Füßen liegen. Durch das Tor im Hintergrund sind bereits die Soldaten in den Garten Gethsemane gedrun­ gen; sie sind in dunklem Camaïeu dargestellt. fol. 23: Die Perikopen eröfnen mit dem jugendlichen Johannes auf Patmos (fol. 23). Während der Adler das Tintenfaß im Schnabel hält, blickt der Evangelist von seinem Schriftband auf und wendet die Augen zum Himmel, wo sich ihm das siebenköpfige Un­ geheuer aus seiner apokalyptischen Vision zeigt. Für die drei folgenden Perikopen und Mariengebete genügen achtzeilige Kleinbilder mit Halbfiguren: Alle drei Evangelisten tragen Hüte mit unterschiedlichen Krempen; sie schreiben auf lange Schriftrollen, deren oberer Teil über die schrägen Schriftpulte hin­ abfällt. Unter einem runden Baldachin, in dessen blauem Tuch kreisförmig ausstrahlend eine goldene Sonne erscheint, die an den Thronbaldachin Karls VII . im Louvre gemahnt, neigt sich der greise Lukas (fol. 24v) nach rechts, vom Stier begleitet, vor einer Renais­ sancewand. Matthäus (fol. 25v) schreibt vor einer grauen Wand unter purpurnem Bal­ dachin, während der Engel links steht und ihm ein geöfnetes Buch präsentiert. Markus (fol. 27), ein bartloser junger Mann, ist nach rechts gewandt, vor rosafarbener Draperie und Renaissancedekor, mit dem Löwen rechts vorn, der zu ihm nach oben äugt. Vor mit goldenen Flammen besetztem rosafarbenen Ehrentuch wird die gekrönte Maria mit Kind (fol. 28) gezeigt, der das Jesuskind eine weiße Blume reicht. Eng drängen sich bei der Pietà (fol. 31) von links Johannes mit einer weiteren Trauernden und von rechts Maria Magdalena, am Salbtopf erkennbar, zur Schmerzensmutter mit dem Sohn unter das Kreuz, an dem zwei Leitern lehnen. fol. 33v: Sufragien folgen in Pariser Stundenbüchern so gut wie immer dem Totenof­ zium am Ende des Bandes, wo sich auch in diesem Manuskript ein großer Block solcher Texte findet; in der Normandie stehen sie hingegen bevorzugt zwischen Laudes und Prim des Marienofziums. Gegen beide Bräuche wird das Margareten­Sufragium hier dem Marienofzium vorangestellt, um die Namenspatronin der Dame hervorzuheben,

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für die das Buch bestimmt war: Eine Kopfminiatur in Vollbordüre zeigt Margarete, die aus dem Drachen seigt. Siegreich steigt die Heilige aus dem Untier hervor und richtet sich betend nach links zu den goldenen Lichtstrahlen, die durch die großen vergitterten Bögen fallen und ihren Kerker zu einer Art Renaissance­Loggia machen. Vor dem Gold­ grund der Bordüre fehlt das Monogramm CM; doch kräuselt sich eine blaue Banderole mit ihrem Namen: marguer ite de coaesmes ist dort in goldenen Lettern zu lesen. fol. 35: Ein bezauberndes Bild der Verkündigung (fol. 35) eröfnet das Marienofzium: Links, unter einem runden Zelt­Baldachin, dessen Tuch sich wie durch Zauber öfnet, da keine Hand oder Stange die Bahnen hochhält, hockt Maria am Boden, während von rechts der Engel mit erhobenem Lilienzepter weisend vor ihr in die Knie sinkt. Eine un­ gewöhnliche Erscheinung Gottes, bartlos, aber mit Kreuznimbus, segnet die Taube des Heiligen Geistes, die gerade durch das Fenster des palastartigen Baus fliegt, in dem die Jungfrau weilt; vermutlich ist mit dem Gott der Heilige Geist gemeint, der somit selbst seine Taube zu Maria sendet. In der Bordüre sind nicht nur die Vornamen­Initialen C und M mit Liebesknoten zu se­ hen, sondern drei Wappenschilde, ein silbernes Andreaskreuz auf Schwarz (Angennes) und der nach links aufgerichtete blaue Löwe auf Gold von Coësmes, in ungewohnter Weise durch einen weit ausgreifenden Liebesknoten verbunden. Dem Schild mit dem Andreaskreuz der Angennes antwortet rechts ein Allianzwappen, während der Löwen­ schild unter beiden mittig steht und weit nach unten über den Bordürenrand hinaus­ greift. Bei der Heimsuchung (fol. 45) zu den Laudes tritt Maria von links auf die Base Elisabeth zu, die demütig kniend nach der Hand der werdenden Gottesmutter greift. Die Greisin ist aus dem stattlichen Haus rechts oben herabgestiegen, um Maria entgegenzugehen. Im kleinen Format des Manuskripts entwickelt die Kreuzigung (fol. 55) zu den Heilig­ Kreuz­Horen eine erstaunliche Figurendichte: Am Fuß des Kreuzes kniet Maria Mag­ dalena, unter den hoch oben aufgespannten blutenden Armen Christi trauern Maria und Johannes. Hinter ihnen hat sich eine ganze Heerschar, teils beritten, aufgestellt und zahlreiche Lanzen gen Himmel gerichtet; einer von ihnen, links hinter dem Kreuz, deu­ tet mit seiner Hand so, als sei er der Zenturio. Seine ungewohnte Position dürfte ebenso wie die Einrichtung der Isokephalie in entfernter Nachfolge von Jean Fouquets berühm­ ter Kreuzigungsminiatur für Étienne Chevalier stehen. Durch die blaugrundige Bordüre läuft eine Banderole um die goldenen Akanthusranken mit Fürbitten, die sich an Jesus und Maria richten: iesvs naZarenvs rex iudeorvm miser ere noBis und sancta maria mater dei memento mei. amen. Ein dicker grüner Frosch besetzt die Initiale. Beim Pfingswunder (fol. 56v) zu den Horen von Heilig Geist kniet vorn die Gottesmut­ ter vor ihrem Betpult, nach rechts gewandt, während hinter ihr vor grünem Ehrentuch zwei Apostelscharen, von der Mitte nach außen an Größe zunehmend, einander sym­ metrisch gegenübergestellt sind. Petrus und Johannes sind rechts zu erkennen. Betend blicken alle hoch zur Taube des Heiligen Geistes, die flammende Strahlen aussendet.

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In der Initiale erscheint die Taube ein zweites Mal, während sich in der Bordüre ein Bär mit Halsband die Pfoten leckt. Die Prim des Marienofziums eröfnet die Geburt Chrisi (fol. 58). Unter dem schad­ haften Dach des Stalls ist ein rosafarbener Baldachin gespannt. Maria hat das Jesuskind ins kleine Oval einer geflochtenen Krippe gelegt, um es anzubeten. Joseph hat den Hut abgelegt, aber das Haupt noch von einem Tuch bedeckt; so kniet er rechts betend, wäh­ rend der Esel sanft am improvisierten Bettchen des nackten Knaben schnuppert und der Ochse aus dem Bild schaut. Über die aus groben Brettern gezimmerte und oben abbre­ chende Wand blicken zwei Hirten, viel zu klein im Vergleich zu den Hauptfiguren vorn. Bei der Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 62) erscheint ein goldener Engel als Halbfigur im Himmel, um den Hirten die Geburt des Heilands zu verkünden. Zwei Männer links und rechts beugen die Knie; ein dritter links schützt seine Augen vor dem Glanz der Himmelserscheinung, während sich ihre Herde beim Weiden davon nicht stö­ ren läßt. Man lagert an einer Wasserstelle, nicht weit von dörflichen Häusern im Mit­ telgrund. Bei der Sext hat sich der Stall der Heiligen Familie zur Anbetung der Könige (fol. 66) nicht verändert; doch ist weder für Joseph noch gar für Ochs und Esel Platz: Maria sitzt nun unter dem Baldachin; sie hat den Sohn so auf ihren Schoß gesetzt, daß er die Gaben der Könige entgegennehmen kann. Der älteste König ist bereits zur Anbetung niederge­ kniet, während die anderen beiden mit ihren Gaben weiter hinten verweilen. Bei der Darbringung im Tempel (fol. 69v) zur Non wird die Heilige Familie von zwei Frauen begleitet. Joseph, der die Täubchen in einem Korb mitgeführt hat, präsentiert sie dem Priester, der seine Hände zum Gebet gefügt hat. Links vor dem runden Altartisch kniet Maria, um den nackten Knaben, der aufmerksam über die Mensa hinweg Simeon anblickt, als Gabe darzureichen (vgl. auch unsere Nr. 63). Die Vesper des Marienofziums eröfnet mit der Flucht nach Ägypten (fol. 73). Jeus ist in dieser Variante bereits so groß, daß er auf dem Schoß seiner Mutter die Zügel des Esels selbst halten kann. Joseph hat ihm diese Aufgabe überlassen und schreitet kraft­ voll im Profil nach links. Die Heilige Familie hat das steinige Gebirge rechts hinter sich gelassen und nun eine weite Landschaft vor sich. Zur Komplet hat der Maler die Marienkrönung (fol. 79v) ungewohnt symmetrisch an­ gelegt. Auf einer zwischen Wolkenbänken schwebenden Thronbank, vor deren blauem Tuch zentral die sehr große Taube des Heiligen Geistes ihre Flügel breitet, sitzen zwei Gottesgestalten mit Jesu Zügen. Beide greifen nach der Krone, um sie der zum Betrach­ ter gewandten betenden Maria, die am unteren Bildrand mittig kniet, aufs Haupt zu set­ zen. Diese Form der Marienkrönung ist in Frankreich so selten, daß man eines der be­ rühmtesten Beispiele der französischen Kunst des 15. Jahrhunderts heranziehen muß. Enguerrand Quarton hat die Marienkrönung mit der Dreifaltigkeit in Gestalt des Soh­ nes und des Heiligen Geistes kurz nach 1450 auf eine durchaus vergleichbare Weise dar­ gestellt (Villeneuve­lès­Avignon).

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fol. 83v: Zu den Buß­psal­men er­scheint Bath­seba im Bade. In ei­ner run­den Brun­nen­scha­ le mit ei­nem zent­ra­len Was­ser­spen­der steht Bath­seba, den Leib zur Hälf­te ver­hüllt, und blickt – of­fen­bar vol­ler Ver­lan­gen – hi­nauf zu Kö­nig Da­vid, der über ei­ner Brüs­t ung sei­ nes Pa­las­t es lehnt. Sie ist be­glei­tet von ei­ner auf­wen­dig ge­klei­de­ten Die­ne­rin, die mit ei­ nem wei­ßen Ba­de­tuch am Brun­nen hockt. Am Gat­ter des Gar­tens ste­hen hin­ten zwei un­be­tei­lig­te Män­ner. Auf den gol­de­nen Ban­de­ro­len in der mit Schmuck­stü­cken be­setz­ ten Bor­dü­re über den ge­trenn­ten Wap­pen mit And­re­as­kreuz und Lö­wen win­det sich ein la­tei­ni­sches Ma­rien­ge­bet: ave re­gi­na celi let­are al­lel­via qvia qvem mer­vi­sti port­are al­lel­via re­ssvr­exit sic­vt. Da­rauf folgt, or­tho­gra­phisch ir­ri­tie­rend, mit Be­to­nung auf dem Be­griff „désir“: de­sir me pese. Et­was bes­ser zu ver­ste­hen, aber or­ tho­gra­phisch un­si­cher: diev me doi­ent ce qve mon – klei­nes ro­tes Herz für cver – dess­ire. Das Wort doi­ent könn­te „doit“ oder „donne“ mei­nen; dann hie­ße es: Gott schul­det (oder: gebe) mir, was mein Herz be­gehrt – in heik­ler Nähe zu dem sünd­haf­ten Be­geh­ren, das Bath­seba im Bild und Da­vid in der bib­li­schen Ge­schich­te zu ih­rem Tun an­treibt. Das To­ten­of ­fi­zi­um, in des­sen Bor­dü­re wie­der das Al­li­anz­wap­pen der Be­sit­ze­rin er­ scheint, er­öff­net eine Dar­stel­lung von Hiob auf dem Dung (fol. 96). Vier Freun­de tre­ten an den Mist­hau­fen, in den Hiob sich so tief ein­ge­gra­ben hat, daß sein Un­ter­leib nicht mehr zu er­ken­nen ist. Wäh­rend sei­ne Freun­de wild zu dis­ku­tie­ren schei­nen, un­ter­strei­ chen Hi­obs ver­schränk­te Arme sei­ne Gott­er­ge­ben­heit und Skep­sis ge­gen­über de­ren gut ge­mein­tem Rat. Die Suf­fra­gien er­öff­nen mit ei­nem gro­ßen Bild der Tri­ni­tät (fol. 122). Über Se­rap­him un­ten und von wei­te­ren Se­rap­him ge­rahmt, er­scheint un­ge­mein breit der Got­tes­t hron, mit be­stirn­tem blau­en Tuch aus­ge­schla­gen; des­sen schlan­ke Rück­leh­ne führt zu ei­nem Bal­da­chin, der au­ßen mit Rosa be­zo­gen ist und des­sen zwei hell­grü­ne Vor­hän­ge zu Beu­ teln ge­rafft sind. Dort sitzt Chris­t us mit dem Kreuz und Gott­va­ter mit der Spha­ira, je­ doch mit Chris­t i Zü­gen, sie hal­ten das Buch des Le­bens, über dem, recht groß, die Tau­be schwebt. In der flä­misch wir­ken­den Bor­dü­re spielt ein Affe mit ei­ner Weint­rau­be; un­ten prangt das Al­li­anz­wap­pen. Die nun fol­gen­den Suf­fra­gien er­hal­ten achtz­ei­li­ge Klein­bil­der und Halb­fi­gu­ren: Gott­ va­ter (fol. 122v), Chris­tus als Sa­lva­tor mundi (fol. 123v), Hei­li­ger Geist (fol. 124), Ve­ro­ ni­ka mit dem Schweiß­tuch (fol. 124v), Pietà mit Jo­han­nes und Mag­da­le­na (fol. 125v), Kuß an der Gol­de­nen Pfor­te (fol. 127), Mi­cha­el (fol. 128), Jo­han­nes der Täu­fer mit dem Lamm (fol. 128v), Jo­han­nes der Evan­ge­list mit dem Kelch (fol. 129), Pet­rus und Pau­ lus (fol. 129v), Jako­bus als Pil­ger (fol. 130), Alle Apos­tel mit Pet­rus und Jo­han­nes vorn (fol. 130v), Stei­ni­gung des Steph­a­nus (fol. 131), Lau­ren­ti­us als Di­a­kon (fol. 131v), Chris­ topho­rus mit dem Chris­t us­kna­ben (fol. 132), Se­bas­ti­ans Pfeil­mar­ter (fol. 133), Ro­chus als Pil­ger mit Hund und En­gel (fol. 133v), Leob­inus als Bi­schof (fol. 134), An­to­ni­us Ab­bas mit dem Schwein vor der Ein­sie­de­lei (fol. 135), Hi­e­ro­ny­mus als Kar­di­nal mit dem Lö­ wen beim Schrei­ben (fol. 135v), Fia­crius als Mönch in Land­schaft (fol. 136), Amb­ro­si­ us als Bi­schof (fol. 136v), Au­gust­inus im schwar­zen Ha­bit der Au­gus­t i­ner, mit Krüm­me

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(fol. 137), Anna lehrt Ma­ria le­sen (fol. 137v), Ma­ria Mag­da­le­na (fol. 138v), Ka­tha­ri­na (fol. 139), Bar­ba­ra (fol. 139v), A­pol­lo­nia (fol. 140), Gen­ovefa mit der Ker­ze, um die Teu­ fel und En­gel strei­ten (fol. 140v), die drei Schwes­tern Ma­ri­as (fol. 141v), Alle Hei­li­gen, an­ge­führt vom seg­nen­den Sa­lva­tor, ei­nem Mönch in schwar­zem Ha­bit, also Be­ne­dikt oder Au­gust­inus, Jo­han­nes, ei­nem Bi­schof und Pet­rus (fol. 143). fol. 144v: Zu den Ver­sen des Kir­chen­va­ters Gre­gor die Gre­gors­mes­se als Kopf­bild in Ar­chi­tek­tur­rah­men: Der Papst kniet mit zwei Akoly­then vor ei­nem Al­tar, über des­sen Men­sa rechts vor Gold­grund sich der Schmer­zens­mann aus dem Grab­kas­ten er­hebt und vor sei­nem Kreuz er­scheint; links spannt sich be­stirn­ter blau­er Grund, vor dem die Arma Chris­t i aus­ge­brei­tet sind. fol. 146v: Ein letz­tes Kopf­bild in Ar­chi­tek­tur­rah­men zeigt die Mut­ter­got­tes mit den sie­ ben Schwer­tern ih­rer Schmer­zen vor ro­sa­far­be­nem Grund. So hat sie der Ango-Meis­t er in Rou­en (Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter I, Nr. 79) ge­malt. Zum Stil Die­ses zier­li­che Buch mit sei­ner er­staun­li­chen An­zahl von Bil­dern könn­te zu den Bü­ chern ge­hö­ren, die – un­ab­hän­gig da­von, ob Ma­nus­kript oder Früh­druck – in Pa­ris für Be­stel­ler aus ganz Frank­reich ge­schaf­fen wur­den. Marg­uer­ite de Co­ës­mes hät­te dann von der Bre­tag­ne aus ihr Buch in der Haupt­stadt be­stellt, wo ja auch die Dru­cker Stun­den­ bü­cher mit li­tur­gi­schen Ge­bräu­chen von weit ent­fern­ten Di­ö­ze­sen im Pro­gramm hat­ ten. Dem wi­der­spricht je­doch der Um­stand, daß der Band of­fen­bar in zwei ge­trenn­ten Pha­sen ent­stan­den ist, die jede für sich Pa­ri­ser Her­kunft be­zeugt. Der Buch­block ist ein so­li­des Werk je­nes Il­lu­mi­na­tors, den wir von ei­nem sig­nier­ten Bild der Kreu­zi­gung als Jean Co­ene er­kannt ha­ben (LM NF I, Abb. S. 320, und hier in der Einleitung). Die hel­le Far­big­keit, die cha­rak­te­ris­t i­sche Ver­an­ke­rung in äl­te­rer Pa­ri­ser Kunst, die viel­leicht bis zu dem in­zwi­schen als Phi­lip­pe de Ma­zer­ol­les er­kann­ten Meis­ter des Har­ley Frois­sart (sie­he hier Nr. 18 in Band I) zu­rück­geht, eben­so wie die Of­fen­heit für Re­nais­sance-De­kor zeich­nen die­sen Ma­ler aus, des­sen Name be­reits eine lan­ge Tra­di­ti­on in Pa­ris hat­te, tauch­te doch ein Jacques Co­ene aus Brüg­ge schon vor 1400 in der Haupt­stadt auf, um neue Ma­le­rei­re­zep­te vor­zu­füh­ren und dann nach Mai­land zu ge­hen, wo er un­ter Gio­vann­ino dei Grassi in der dor­ti­gen Dom­bau­hüt­te ar­bei­te­te. Die nach­ge­tra­ge­nen drei Bil­der bie­ten kei­nes­wegs ei­nen sti­lis­t i­schen Bruch; eher be­wei­ sen sie die verl­äßli­che Kon­ti­nu­i­tät der haupt­städ­ti­schen Buch­ma­le­rei auch, nach­dem sich dort eine neue Schrift­sor­te durch­zu­set­zen be­gann. Ein kost­ba­res klei­nes Stun­den­buch, voll­stän­dig und un­be­schnit­ten, in den Far­ben bril­lant er­hal­ten, aus ei­ner Über­gangs­zeit zwi­schen der spät­go­ti­schen Kunst der bei­den Fran­çois Le Bar­bier und der schließ­lich all­ge­gen­wär­ti­gen Re­nais­sance. Im Buch­block von Jean Co­ene ge­stal­tet, noch mit vor­züg­li­chen Gold­grund­bor­dü­ren, aber da­rin ein­ge­stell­ten rah­men­den Bö­gen. Be­stimmt war es für die aus der Bre­tag­ne

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stam­men­de Marg­uer­ite de Co­ës­mes, de­ren Na­mens­hei­li­ge eben­so wie ihr Wap­pen zu­sam­men mit dem ih­res Man­nes Charles d’An­gen­nes und ei­nem Al­li­anz­wap­pen so­wie ei­nem von Lie­bes­kno­ten ge­hal­te­nem Vor­na­men-Mo­no­gramm den ur­sprüng­li­ chen De­kor do­mi­nie­ren. Wohl um 1520 wur­de es in An­ti­qua er­gänzt und da­bei mit drei stil­ver­wand­ten wei­te­ren Mi­ni­a­tu­ren ver­se­hen. Noch in der Zeit vor 1600 war es hoch ge­schätzt, als es sei­nen kost­ba­ren Ma­ro­quin­band emp­fing. Ein Stun­den­buch, das für sei­ne Gat­tung wirbt und durch die ver­schie­de­nen Pha­sen sei­ner Ent­ste­hung und Wür­di­gung in sich Ge­schich­te birgt. Li­te­ra­tur Das Ma­nus­kript ist bis­her nicht pub­li­ziert.

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IV

LXXXII H T 


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