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LXXXII H T
LXXXII Gewidmet dem Andenken von Janet Backhouse und Myra D. Orth, die auf diesem verschatteten Gebiet erste Wegmarken gesetzt haben
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IV StundenbÜcher aus Paris – Darunter das Stundenbuch der Katharina von Aragon, zwei Stundenbücher des Anne de Montmorency und das Stundenbuch von Henri II und Diane de Poitiers in Form einer Bourbonlilie aus dem Besitz von Eugène de Beauharnais und Viscount Combermere: Vom Martainville-Meister, Jean Pichore, Jean Coene, Gotha-Meister, Meister der Philippa von Geldern, Etienne Poncher-Meister, Etienne Colaud, Meister des d’Urfé-Psalters, dem Meister des François II de Rohan, Noël Bellemare, Martial Vaillant, Meister des Gouffier-Psalters, Charles Jourdain
KataLog LXXXii Heribert Tenschert 2018
Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com
Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.
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Autoren: Prof. Dr. Eberhard König, Dr. Christine Seidel, Dr. h. c. Heribert Tenschert Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert, Maria Danelius Fotos: Athina Nalbanti, Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-32-6
Vorwort Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und dass du nie beginnst, das ist dein Los, Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das, was zu Ende bleibt und anfangs war. Goethe, West-östlicher Divan Aber enden ist nie leicht; auch wenn kaum einer damit renommieren geht, daß er’s nicht kann. Zwischen beiden, Abschluß-Notdach und taubem Verweilen, richtet man sich ein und atmet auf, wenn man irgend davonkommt. Und wie ginge das, davonkommen, nach fünf Folianten mit der schwer hängenden Ladung von weit über 60 Pariser Stundenbüchern? Andere müssen das entscheiden, weil ich ganz und gar befangen bin – gefangen in einer Sackgasse, die mir immer Verzwickteres auflädt: Aufgabe, Prüfung, die Schatten des Scheiterns. Kann man so weitermachen? Also – nur zum Scherz – ein Pendant zu „Paris mon Amour“ in, sagen wir, vierzig Florentiner Offizien des Quattrocento liefern? Nein. Jedoch sich umwenden und wieder Potpourri-Kataloge wie Leuchtendes Mittelalter I oder II machen, kommt noch weniger in Frage. Diese Karawanserei am blankgewehten Pfad der alten Schriften sollen andere besiedeln. Immer habe ich mich damit getröstet, daß bei noch so hohem Seegang unserer Fahrt Horizonte sich auftaten, morgensilbern: wie viele steigende, stürzende, an Wunder grenzende Erfahrungen haben mich nicht darin bestärkt! Aber jetzt ist der Zeitpunkt da, wo umgekehrt werden muß, weil die Zielbewußtheit der Spezialisierung nach langem glücklichen Aufstieg in Ratlosigkeit zu enden droht und wir in dieser Richtung auf Grund fahren. Also planen wir noch einen hübschen Katalog mit grünvernarrten flämisch-burgundischen Kalendern, Simon Bening darunter, Gerard David, der Dresdner Meister, aber danach muß ein neues Prinzip gefunden werden. Ich werde mich selbst überraschen müssen. Womit man bei den vorliegenden Bänden gelandet wäre. Verglichen mit Band III, der in diversen launigen, auch schütteren Ausformungen die heraufdrängende Kunst der Buchdrucker bestreitet, kontert, ignoriert oder schon feiert, erscheinen die 20 Stundenbücher von „Paris mon Amour“ IV und V in einer Haltung, die der eigenen trotzig behaupteten Superiorität genauso Rechnung tragen möchte wie der causa victa ihrer Zukunft, die mit unseren Nummern 64 – 66 im Triumph von Schönheit und Abschied ihre Todgeweihtheit heroisch „überstirbt”.
Vorwort
Und doch. Wer einmal, im Stundenbuch der Katharina von Aragon (Nr. 47) blätternd, der stiebenden Fülle seiner Erscheinung aus Farben und Formen ansichtig wird, entsprungen aus dem politischen Zweckauftrag des französischen Königs (und seiner mit Recht so selbstbewußten Königin) und zielend auf Trost, Stolz und Glaubensfestigung der Adressatin in ihrer Fremdeinsamkeit, der sagt den Gedankenspielen ab, worin Druck und Handschrift ihre Scheingefechte austragen und verliert sich stattdessen in den Schwebungen tausendfältiger Schönheit, die mit jedem Betrachten ins immer Abgründigere führt. Tatsächlich ist der Reichtum dieser Handschrift von der Art, die einen nicht so sehr befreit entläßt, sondern eher schnürt und beschränkt, weil man über solchen Kosmos nicht hinausdenken oder -phantasieren kann: der Rausch dieser Klarheit ist immer schon bewußt und doch erst im Unendlichen zu kosten. Nach diesem schwarzen Diamanten haben es die anderen Schriften in Band IV schwer – aber der steinig blühende Bilderüberschwang von Nr. 48 bringt wie in einer Zeitkapsel ein halbes Jahrhundert zu Kunst geronnener Bemühung herauf; die beiden anderen Arbeiten des Martainville-Meisters zeigen musterhaft die Eigenständigkeit und gespannten Muskeln seiner Kunst; Jean Pichores Brevier des Dichters Octovien de Saint-Gelais (Nr. 51) füllt, obzwar schon einmal breit vorgestellt, im neuen Katalog eine eigens für ihn sich öffnende Lücke und die restlichen vier Werke legen, jedes für sich, so eigene wie letztlich die Regel bestätigende Beweise ab für den in hohem Trieb stehenden, wenngleich nicht allzu tief wurzelnden Blumengarten der ersten zwei Jahrzehnte des Seizième. Mit Band V, salomonisch sich teilend, wird es noch einmal ernst, weil – wie man selbst erkennen wird – das uns Nächste am schwersten darzustellen und zu begreifen ist. Die aufrührerische Vielfalt, das Überfluß-Arom in den Nrn. 56, 58, 59, 60 und 61 geben beredte Kunde von einer Bewegung, an deren Aufbruch schon die Flammen der Reformation lecken – „die Füße im Feuer“. Die späten Stundenbücher 62 und 63, wie sandgeschliffen in ihrer Renaissance-Eleganz, sind der organische Steg zu den drei Denkmälern, die den Band beschließen. Mit ihnen endigt unser neues Unternehmen, wie es mit Katharinas Horarium begann – ein Posaunenstoß, der für niemanden verklingt, der ihn einmal hat vernehmen dürfen, ein Blick in das Sternendickicht unserer abendländischen Kunst, ihr wehes Herz. Was Noël Bellemare und der Maler des François de Rohan (dabei der wackere Colaud) in Nrn. 64 und 65 leisten, wie in allen Falten und Inkarnaten und Ädikula wild der Herzschlag eines befreiten Geistes betet, in Nr. 65 der weiße Brand der Gebirge, die Süße der Fernen auf die Szenen im Vordergrund überspringt, das mißt sich einem für immer ein, wenn etwas in uns darauf gewartet hat. Damit wollen wir es dann auch bewenden lassen, unter Anrufung der Gnade einer Rückkehr, bei langsam sich leerendem Stundenglas. Und nächstes Jahr greifen wir nach den Hörnern des Mondes. Bibermühle, Oktober 2018 H. T.
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Inhaltsverzeichnis Band IV und V Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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47 Das Stundenbuch der Katharina von Aragon – Als Geschenk von König Ludwig XII und Anne de Bretagne (?): Ein unerhört reiches Pariser Manuskript vom Martainville-Meister und Jean Pichore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 48 Ein Stundenbuch, nach 1461 im Poitou oder der Loire-Region geschrieben, um 1500 vom Martainville-Meister vollendet . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 49 Das Pelée-Chaperon- Stundenbuch vom Martainville-Meister, zuletzt im Besitz des Comte de Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 50 Ein Stundenbuch vom Martainville-Meister, eventuell aus dessen Frühzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 51 Das Brevier des Dichters Octovien de Saint-Gelais: Ein frühes Hauptwerk von Jean Pichore aus der Zeit um 1494 . . . . . . . . . . . . . 187 52 Ein Stundenbuch als Panorama der Pariser Buchmalerei um 1500 – mit Miniaturen von Jean Pichore, Jean Coene, dem Meister der Philippa von Geldern und einem überragenden weiteren Maler . . . . . . . . . 217 53 Ein Stundenbuch für den Gebrauch von Coutances vom Martainville-Meister, in Zusammenarbeit mit Jean Pichores Werkstatt . . . . . . 237 54 Ein Stundenbuch mit mehr als 100 Bildern von Jean Pichore und seiner Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 55 Das Stundenbuch der Marguerite de Coësmes und des Charles d‘Angennes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 56 Das monumentale Stundenbuch der Madame Giraud de Prangey-Escertaines: seltenes Beispiel einer Pariser Handschrift für den Gebrauch von Langres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
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57 Das Lignieres-Stundenbuch – von Jean Coene ganz eigenhändig ausgemalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 58 Ein mit 158 Bildern ungemein reiches Stundenbuch vom Gotha-Meister mit mehreren alttestamentarischen Zyklen und einem Totentanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 59 Ein Pariser Stundenbuch mit 124 Bildern vom Meister der Philippa von Geldern, dem Meister des Étienne Poncher und einem bislang unbekannten Meister mit Vorliebe für explizite Aktdarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 60 Ein Stundenbuch von Etienne Colaud und dem Meister des d’Urfé-Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 61 Ein Stundenbuch mit 99 Bildern von Etienne Colaud und dem Hauptmeister der Statuten des Michaelsordens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 62 Das Stundenbuch des Pierre Palmier, Erzbischof von Vienne, illuminiert von Etienne Colaud und Martial Vaillant . . . . . . . . . . 457 63 Das Stundenbuch des Pierre Duchesnay und der Antoinette Cain: Ein unbekanntes Werk vom Meister des Gouffier-Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 64 Das Erste Stundenbuch des Anne de Montmorency, Connétable de France, mit herrlichen Miniaturen von Noël Bellemare. . . . . . . 493 65 Das Zweite Stundenbuch des Anne de Montmorency, Konnetabel von Frankreich, ein Hauptwerk des Meisters des François de Rohan aus dem Jahr 1539 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 66 Ein Stundenbuch in Form der französischen Königslilie: Die Maquette für das Amienser Stundenbuch des französischen Königs Henri II . – später im Besitz von Napoleon, Eugene de Beauharnais und Viscount Combermere . . . . . . . . . . . . . 561 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
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Paris mon amour ist nicht die erst e Liebeserklärung, die Heribert Tenschert der franzö sischen Metropole zugedacht hat,1 aber in ihrer Ausschließlichkeit die großartigst e, selbst wenn in den neun Bänden Horae mit ihren 4384 Seiten noch mehr aus Paris gezeigt und diskutiert wird als in den nun vorgelegten fünf Bänden. Wieder geht es um Stundenbücher, und man darf natürlich auch fragen, warum man immer wieder auf denselben Buchtyp verfällt.2 Da aber geht es dem Antiquar in unseren Zeiten ähnlich wie den Buchkünstlern am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance: Keine andere Art von Handschrift oder Frühdruck war ähnlich reich und vielfältig und zugleich so vertraut. Wie sich die Sonate in der Klassischen Musik anbot, innerhalb einer einmal gefundenen und fortan respektierten Form unendlichen Erfindungsgeist zu ent falten, so erwies sich das spätmittelalterliche Stundenbuch gerade durch die Vergleich barkeit von Text, Format, Schrift, Dekor und Bebilderung als unerschöpfliche Heraus forderung für ihre Gestalter im Wettstreit um erstaunliche Lösungen ebenso wie für die Damen und Herren, die keinen Aufwand scheuten, wenn sie für sich selbst oder seltener für Menschen ihrer Umgebung, die ihnen besonders wert waren, ein neues Exemplar ge stalten ließen oder eines, das sie schon in Händen hielten, noch einmal durch neue Pracht kostbarer machen wollten. *** Mit unseren Bänden IV und V von Paris mon amour erreichen wir die Epoche der Glau bensspaltung, der eine schon länger schwelende tiefe Krise von Kirche und Frömmigkeit vorausgegangen war. Bei der Kritik an den Verhältnissen spielte die sprunghaft gewach sene Lesefähigkeit weiter Kreise eine erhebliche Rolle, die das Lesen nicht mehr zwin gend beim Entziffern des Prymers lernte, wie das Stundenbuch als Lesefibel in England noch für lange Zeit bezeichnet wurde. Deshalb verlor die klassische Sprache an Ein fluß – freilich nicht überall mit der gleichen Entschiedenheit. Während in England und Deutschland zwischen John Wyclifs englischer Fassung der Bibel aus dem 14. Jahrhun dert und Martin Luthers Septembertest ament von 1522 um die wörtliche Bibelüber 1
Siehe die weitgehend auf Paris konzentrierten Kataloge: Große Buchmalerei zwischen Rouen und Paris: Der Froissart des Kardinals Georges d’Amboise aus der Sammlung des Fürsten Pückler-Muskau (Leuchtendes Mittelalter IV ), Rotthalmünst er 1992. Boccaccio und Petrarca in Paris (Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge I), Rotthalmünst er und Bibermühle 1997. 35 Stundenbücher aus Paris und den französischen Regionen im 15. und 16. Jahrhundert (Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge VI ), Bibermühle 2009. Das Pariser Stundenbuch an der Schwelle zum 15. Jahrhundert. Die Heures de Joffroy und weitere unbekannte Handschriften (Illuminationen 14), Bibermühle 2011. Ein unbekanntes Meisterwerk. Das Brevier des Dichters Octovien de Saint- Gelais. Versuch über das Phänomen Jean Pichore in Paris 1490–1520. Dabei ein Stundenbuch aus seiner Produktion mit 112 Miniaturen (Illuminationen 14), Bibermühle 2014.
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Zu diesem Bucht yp immer noch grundlegend ist die Introduction des Abbé Victor Leroquais in Band I seines Katalogs der Livres d’heures der Pariser Nationalbibliothek von 1927. Auch an eine Bibliot hek, die KB in Den Haag, gebunden ist die knap pe Auseinandersetzung von E. König mit der Bebilderung des Marien-Of fiziums in unterschiedlichen Reg ionen, Devotion from Dawn to Dusk, Leiden 2012, die auch ins Internet gestellt ist. Für die Zeit um 1500 sei auch auf den sehr ausf ührlichen Kommentarband von E. König zum Stundenbuch Christophs I. von Baden, Karlsruhe 1978, verwiesen. Zum Pariser Stun denbuch ist auf unseren Katalog von 2011 zu verweisen, der jedoch durch die nun gebotene Fülle weit übertroffen wird. Die gedruckten Stundenbücher sind nirgendwo so gründlich behandelt wie in unseren 9 Bänden Horae B.M.V. von 2003, 2014 und 2015.
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Einleitung
setzung gerungen wurde,3 begnügte man sich in Frankreich damit, die sogenannte Bible historiale nicht als Wort Gottes, sondern als ein Geschichtsbuch zu lesen, in dessen Er zählung auch außerbiblische Texttraditionen eingewirkt hatten.4 Dem Latein blieb man beim Beten weiter treu, während in wichtigen Regionen das La teinische inzwischen entschieden zurückgedrängt war; denn vielerorts verzichtete man auf die hieratische Kirchensprache in der Hoffnung, die eigene Frömmigkeit inniger aus drücken zu können. So erlangte die Volkssprache in den nördlichen Niederlanden ganz neue Bedeutung, weil man dort statt der Horae Beatae Mariae Virginis deren Überset zung im Getijdenboek las. In den Ländern deutscher Zunge wiederum hatte das Stun denbuch, lateinisch oder deutsch, nie zum Grundbestand des Betens gehört.5 Gott selbst beherrschte selbstverständlich ebenso wie die Muttergottes Maria alle Volks sprachen; doch das hieß in Frankreich keineswegs, daß man ihn durchweg oder gar in allererst er Linie auf Französisch anzusprechen wagte. Das eindrucksvollst e Beispiel – diesmal nicht aus Paris – findet sich in den Grandes Heures de Rohan, einem um 1430 in Angers oder weiter westlich entstandenen Stundenbuch (Paris, BnF, latin 9471): Dort empfiehlt der Tote auf dem Friedhof (fol. 159) in wohlgesetztem Latein seinen Geist in Gottes Hände: „In manus tuas domine commendo spiritum meum“. Gott aber – als Herrscher mit Schwert, weltlicher Krone und Sphaira – verheißt ihm auf Französisch nur, er müsse für seine Sünden Buße tun: „Pour tes pechiez penitence feras“. 6 In Paris wie in ganz Frankreich blieb es dabei, daß man sich an Gott nicht allzu oft in der dafür doch für zu vulgär gehaltenen eigenen Sprache wandte. Selbst die Jungfrau Maria war so ent rückt, daß die schönen oft in gereimten Versen verfaßten französischen Gebete keinen fes ten Platz im Stundenbuch erhielten – mit Ausnahme der XV Joies Mariens und der daran anschließenden VII Requêtes des Herrn, die so manches Pariser Exemplar beschließen.7 Stundenbücher waren keine liturgischen Handschriften im strengen Sinne und unterla gen keiner syst ematischen Kontrolle. Selbst nach den letzten Beschlüssen des Tridenti nischen Konzils aus den Jahren 1562–63, als man zu Zeiten, da kaum noch ein neu es Stundenbuch entstand, Inquisitoren in die Häuser der Frommen schickte, um deren 3
So erließ der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg am 22.3.1485 ein Edikt, das den Druck deutschsprachiger Bibeln verbot und auch für über zwei Jahrzehnte galt, nachdem er es am 4.1.1486 erneuern mußte: Carl Mirbt, Quellen zur Geschich te des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 51934, Nr. 409, S. 245 f., sowie Ferdinand Geldner, „Ein in einem Sammelband Hartmann Schedels (Clm 901) überliefertes Gutachten über den Druck deutschsprachiger Bibeln“, in: Guten berg-Jahrbuch 1972, S. 86 – 89.
4
Immer noch grundlegend: Samuel Berger, La Bible française au Moyen Âge : étude sur les plus anciennes versions de la Bible écri tes en prose de langue d’oil, Paris 1884, Reprint Genf 1967.
5
Siehe dazu: Jeffrey Hamburger, Another Perspective: Books of Hours in Germany, in: Sandra Hindman und James H. Mar row (Hrsg.), Books of Hours Reconsidered, London/Turnhout 2013, S. 97–152, sowie in unbekannter Zukunft die Druckfas sung der nicht zugänglichen Berliner Dissertation von Reg ina Cermann.
6
Siehe Eberhard König, Die Grandes Heures de Rohan. Eine Hilfe zum Verständnis des Manuscrit latin 9471 der Bibliothèque na tionale de France, Simbach am Inn 2006, S. 21.
7
Zu den XV Joies gehören auch die an Christ us gerichteten VII Requêtes oder V Plaies; einen lebendigen Eindruck vom Mög lichen, in den erhaltenen Handschriften aber doch Seltenen siehe Leroquais 1927, II , S. 305–350 mit 41 Gebeten, davon 12 in lateinischer Sprache; dort die VII Requêtes und die XV Joies als Nr. IV–V, S. 309–311.
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Einleitung
Buchbesitz kritisch durchzusehen, konnten solche Bände dem kirchlichen Zugriff ent gehen. Das zeigen schon unsere Beispiele, die – sicher in katholischen Familien sorgsam aufbewahrt – fast ganz ohne Korrekturen und Vermerke der Inquisition überlebt haben. Stundenbücher waren den Reformatoren ein Dorn im Auge; sie waren aber für diejeni gen, die Rom treu blieben, in den Zeiten der Glaubensspaltung ein teures Gut. Das La tein, das solche Bände beherrschte, wird eine markante Rolle gespielt haben; denn die Berufung auf diese Sprache war zugleich Bekenntnis zur Alten Kirche. Deshalb blieben die Livres d’Heures in vielen Familien so behütet, daß man ihnen gern im 16. Jahrhun dert noch einmal einen neuen Einband gab und in sie bis weit ins 17. Jahrhundert hinein die wichtigst en Ereignisse des familiären Lebens als Livres de raison eintrug. Dadurch wurden sie aber keineswegs zu Archives of Prayer, wie uns das neue Modewort aus den Vereinigten Staaten von Amerika, das Virginia Reinburg geprägt hat, weismachen will. 8 Ebenso irrig ist die Vorstellung, es sei beim Stundenbuch in erster und letzter Linie da rauf angekommen, individuelle Wünsche zu erfüllen. Richtig ist sicher, daß so gut wie keine erhaltene Handschrift mit einer anderen in allen Punkten übereinstimmt und so gar gedruckte Stundenbuch-Ausgaben Textvarianten boten.9 Aber daraus darf man nicht schließen, der Buchtyp sei vor allem auf individuelle Personalisierung ausgerichtet gewe sen. Gerade im 15. Jahrhundert hatte sich im Umgang mit Büchern eine Tendenz ent wickelt, die gerade in der genauen Übereinstimmung von Exemplaren einen wünschens werten Vorteil sah. Diese Einstellung förderte den ältest en Buchdruck; und parallel dazu zeugen vor allem Stundenbücher, die in den 1460er und 1470er Jahren in Rouen entstan den sind, von einem erstaunlichen Sinn für Gleichmaß und Gleichklang.10 Im Handschriftenwesen wäre es technisch kein Problem gewesen, jeden individuellen Wunsch in ein Stundenbuch aufzunehmen; das aber hätte dem Sinn solcher Textsamm lungen widersprochen: Anders als bei der unübersichtlichen Varianz deutscher Gebet bücher11 sollte ein „richtiges“ Stundenbuch gutem Brauch folgen und im Kern mit dem übereinstimmen, was die Menschen der Umgebung auch hatten. Niemand wollte ein ganz individuell zugeschnittenes Manuskript, sondern im Kern das Anerkannte und Gewohn te, höchst ens durch ein paar zusätzliche Texte ergänzt und durch die Gestaltung von den anderen Büchern unterschieden. Charakterist isch für diese Gesinnung ist der Umstand, daß es fast in jedem Stundenbuch Stellen gibt, an denen sich die Besitzer namentlich 8
Siehe dazu die Rezension von E. König, Das Stundenbuch wirklich reconsidered? Zwei amerikanische Neuerscheinungen, Virg inia Reinburg, French Books of Hours: Making an Archive of Prayer. C. 1400–1600, Cambridge 2012; Joni M. Hand, Women, Manuscripts and Identity in Northern Europe, Farnham 2013, in: Kunstchronik 67, 2014, S. 615–621.
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So wurde z.B. zuweilen ein und dieselbe Ausgabe mit nur minimalen Modifikationen in unterschiedlichen liturg ischen Ge bräuchen angeboten.
10
Siehe unser Buch Wiedersehen mit Rouen. Zwölf normannische Stundenbücher aus bedeutenden Sammlungen (Illuminationen 19), Bibermühle 2014. Zur Situation im Frühdruck siehe z.B. E. König, Für Johannes Fust, in: Ars impressoria. Entstehung und Entwicklung des Buchdrucks. Eine internationale Festgabe für Severin Corsten zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hans Limburg u.a., München, New York, London, Paris 1986, S. 285–313.
11 Reg ina Cermann, Gebetbücher (Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begonnen von Hella Frühmorgen-Voss, fortgef ührt von Norbert H. Ott zusammen mit Ulrike Bodemann, Bd. 5), München 2002.
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nennen sollten,12 aber keine uns bekannte Handschrift dort, wo der Name stehen müßte, über den Namenskürzel „N“ hinausgeht. Noch entschiedener tritt diese Eigenart in Ge beten am Ende von Bußpsalmen sowie Veser und Laudes des Totenofziums auf; dort wird der Eltern gedacht; doch nur ein einziges Mal, in unserem Stundenbuch der Königin Claude de France, werden sie namentlich genannt.13 Wer nun das Vorgehen der Besteller besser begreifen will, müßte mehr über die Vorgän ge wissen, die im Austausch von Auftraggebern und Buchkünstlern zum jeweiligen Er gebnis führten. Gern würde man Verträge einsehen; doch genügten ofenbar mündliche Absrachen; deshalb ist bisher kein einziges Schriftstück aufgetaucht, das Aufschluß ge ben könnte über die eigentliche Kernfrage bei der Gestaltung eines neuen Stundenbuchs, nämlich über das Verhältnis von Auftrag und Ausführung: Der Schreiber setzte sich ja keineswegs hin und schrieb draufos, sondern mußte von Vorlagen ausgehen, auf die sich er selbst oder sein Verleger mit den Auftraggebern geeinigt hatten. So gut wie nie genüg te es, ein schon vorhandenes Buch, das die Hersteller vorlegten oder die Besteller mit brachten, einfach zu reproduzieren. Zudem gilt wohl, daß Verleger, Schreiber und Maler bei den Beratungen mit den Möglichkeiten besser vertraut waren als die Auftraggeber, die nur kannten, was sie in anderen Händen gesehen hatten. Doch wer sich nicht zum ersten Mal damit auseinandersetzte, wird bei der Planung intensiver mitgewirkt haben. *** Diese Überlegungen führen uns zunächst zum Ende unseres Katalogs; denn dort wer den drei Meisterwerke beschrieben, die auf sektakuläre Weise Aufschluß zu den hier aufgeworfenen Fragen geben können: Nr. 66, die einzige Handschrift auf Papier in all den vier Bänden von Paris mon amour, ist das ungemein rare Beisiel eines Musters für die PergamentVersion eines sehr ungewöhnlichen Livre d’heures mit königlichem An sruch. Für Texthandschriften legte man eine sogenannte minute an, die nur in sehr sel tenen Fällen überlebt hat. Schon der Umstand, daß unser Manuskript ein bis auf ein Blatt am Anfang des Kalenders vollständiges Stundenbuch blieb, unterstreicht dessen besonderen Rang: Grundgedanke war, das Gebetbuch als Königslilie zu gestalten. Da mit sollte es einerseits engstens auf den König selbst bezogen werden, zugleich aber mit der Lilienform auch jenes Zeichen der Unschuld evozieren, das als Trinitätszeichen ver standen wurde und das Gott der Legende nach dem Frankenkönig Chlodwig als Wap penschild verliehen hatte.14 Technisch mag man sich an den ihrerseits fast ebenso seltenen herzförmigen Büchern orientiert haben, bei denen zu entscheiden war, ob das geschlossene Buch nur ein halbes 12
Das gilt vor allem für die Mariengebete Obsecro te und O intemerata (gute Textbeisiele bei Leroquais 1927, II , Nr. xxxviii, S. 346 f. und Nr. xxi, S. 336 f., deren lateinische Formeln für Mann und Frau diferenziert werden konnten, so daß die Lite ratur davon ausgehend gern und oft unzutrefend bestimmen will, ob ein Buch für eine Frau oder einen Mann geplant war.
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Schon der Schreiber trug an diesen Stellen ein: Ludovici Regis patris mei und Annae Reginae matris meae. Siehe E. König, Das Stundenbuch der Claude de France. Königin von Frankreich (Illuminationen 18), Kat. 70, Bibermühle 2012, S. 28–31.
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Am anschaulichsten wird das in der letzten Miniatur des Bedford-Stundenbuchs, London, BL , Add. 18850, fol. 288v, in der der Meister der Münchner Legenda aurea, unser Conrad von Toul, Gottes Sendung des Wappenschildes zur Einkleidung des Frankenkönigs schildert: E. König, Die Bedford Hours, Darmstadt 2007, S. 126–127.
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Katalog 82, Nr. 64: 1. Stundenbuch des Anne de Montmorency
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Katalog 82, Nr. 65: 2. Stundenbuch des Anne de Montmorency
EinLeiTUnG
Chantilly, Ms. 1943: 3. Stundenbuch des Anne de Montmorency, 1551
Einleitung
Herz bildete, das erst beim Öffnen die gewünschte Form erreichte, oder schon ein Herz war, das im geöffneten Zustand verdoppelt wurde.15 Eine Königslilie mit ihren spitzen Konturen erhielt man nur, wenn der Einband die Hälfte der Form ausmachte, die sich erst beim Öffnen des Livre d’heures erschloß. 1553 ist unser Manuskript datiert, zwei Jahre später setzen die Osterdaten in der Handschrift Lescalopier 22 der Stadtbiblio thek von Amiens, die in exakt denselben Maßen dasselbe Konzept auf Pergament wie derholt. Der Band ist zehn Blatt dicker und aufwendiger bebildert; seine Herkunft aus Königsbesitz ist zumindest seit den Zeiten Ludwigs XIII . erwiesen; wahrscheinlich war Heinrich II . (König von 1546 bis 1559), der Sohn von Franz I., der erst e Besitzer. In sei ner Regierungszeit entstand unser Exemplar, wohl als ein erst er Versuch, ein solches kö nigliches Buch zu gestalten. *** In die engst e Umgebung der beiden genannten Könige führen auch die Stundenbücher für den Chef des französischen Heers, den Konnetabel Anne de Montmorency (1493– 1567).16 Best ens bekannt ist das zu Recht berühmte Manuskript von 1549/1551, das im Jahre 1900 dem Musée Condé in Chantilly vom Comte d’Haussonville geschenkt und bei dieser Gelegenheit von Delisle in Zusammenarbeit mit Durrieu vorgestellt wurde.17 Seither weiß man auch, daß dieses Stundenbuch in bemerkenswerter Konkurrenz zu einem Stundenbuch steht, das Heinrich II . offenbar von der Familie de Dinteville ge schenkt wurde.18 Wie wir hier zeigen können, steht dieses Manuskript am Ende einer Serie von drei hand geschriebenen Livres d’heures für den Konnetabel. Von dessen Interesse an Stundenbü chern weiß die Literatur zwar schon; doch kennt sie nur jene Handschrift, die 1988 in einer Pariser Auktion aufgetaucht war und die wir hier als Nr. 65 neu und zum ersten Mal ausführlich beschreiben.19 Wir können aber mit Nr. 64 ein weiteres Stundenbuch, aus altem spanischen Besitz, das immerhin kurz von Domínguez Bordona 1933 erwähnt worden war,20 mit Wappen, Ordenskette und Schwert des Konnetabels als ein bisher un
15
Ein herzförmiges Stundenbuch (für den Gebrauch von Amiens) ist die unbebilderte Papierhandschrift latin 10536 der BnF aus dem 15. Jahrhundert (Leroquais 1927, I, S. 337–338). Herzförmig im geschlossenen Zustand ist der Chansonnier des Jean de Montchenu, Bischofs von Agen, aus den Jahren 1460–1476 (Paris, BnF, Rothschild 2973: Avril und Reynaud 1993, Nr. 119); siehe auch Geneviève Thibault et David Fallows (Hrsg.), Chansonnier de Jean de Montchenu, Paris 1991.
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Francis Decrue de Stoutz, Anne de Montmorency: grand-maître et connétable de France, à la cour, aux armées et au conseil du roi François Ier, Paris 1885 ; Neudruck Genf 1978; ders., Anne, duc de Montmorency, connétable et pair de France sous les rois Hen ri II, François II et Charles IX, Paris 1889; Thierry Rentet, Anne de Montmorency: grand maître de François Ier, Rennes 2011; Cédric Michon (Hrsg.), Les conseillers de François Ier, Rennes 2011; Crépin-Leblond, Ausst.-Kat. Écouen und Chantilly 1991; Crépin-Leblond 2014.
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Chantilly, Musée Condé, Ms. 1476/1943: Delisle 1900, zuletzt Orth 2015, Nr. 91, und Brown 2015. Zu Anne de Mont morencys Büchern siehe vor allem die verschiedenen Publikationen von Crépin-Leblond aus den Jahren 1991 bis 2014.
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Paris, BnF, lat. 1429: Orth 2015, Nr. 84. Dieses Manuskript steht wiederum in engem Zusammenhang zu einem Manus kript, das die Dinteville nicht weitergaben: Paris, BnF, lat. 10558: Orth 2015, Nr. 92.
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Ader Picard Tajan, Paris, 18. 9. 1988, Nr. 67bis; zuletzt Brown 2015 mit knapper Charakterisierung auf S. 435–436.
20 Damals im Besitz von Don Diego de Funes: Jesus Domíng uez Bordona, Manoscritos con pinturas, Madrid 1933, II , Nr. 2139, Abb. 737.
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bekanntes Beispiel vorweisen und an den Beginn der nunmehr bekannten drei handge schriebenen Stundenbücher stellen. Anne de Montmorency gehört nun zu den wenigen Besitzern von Stundenbüchern, die sich selbst einmal namentlich in einem Gebet nennen ließen; denn in Chantilly steht auf fol. 113 ein ungewöhnliches Gebet an den heiligen Christophorus mit der Bitte „ut erga Deum et sanctam ejus genitricem michi famulo tuo Anne sis propicius peccatori“.21 Das Gebet besteht anders als die meist en Suffragien aus konkreten Bitten um Beistand in die ser Welt, die flehentlich vorgetragen sind und sich gegen Feinde und Neider, Lügner und falsche Ratgeber richten, ehe die Schlußformel dann doch um das Ewige Leben bittet. Einer Geschichtsschreibung, die solche ungemein seltenen Spuren ganz wörtlich auf Le benswege und Ereignisse beziehen möchte, bereitete dieser Text Schwierigkeiten. Uns erinnert der Wortlaut an die Klage des Charles d’Orléans, die er wohl in englischer Ge fangenschaft in sein Stundenbuch neben Ps. 101,3 schrieb.22 Qualvoll für Anne de Mont morency waren die Jahre 1541 bis 1547, in denen der Konnetabel bei Franz I., wohl auch wegen seiner engen Verbindung zum Dauphin, in Ungnade gefallen war. Doch das spä teste Stundenbuch des Anne de Montmorency, in dem sich dieses Suffragium findet, ist in die Zeit nach seiner Rehabilitierung durch den nun als Henri II gekrönten Erbprinzen datiert. Auf der erst en Seite steht die Jahreszahl 1549; erst nach der Erhebung zum Her zog im September 1551 wurde ein zweites Wappen am Ende des Buches gemalt. Des halb meinte Delisle 1900, der Schreiber habe den Text versehentlich kopiert. Im Grunde spricht nichts zwingend gegen die Annahme, die Arbeiten hätten bereits früher einge setzt; genauso wäre es aber auch möglich, daß angesichts der einmal erfahrenen Wech selhaftigkeit des Glücks ein solches Gebet auch über die Wiederherstellung der königli chen Gnade hinaus wertvoll bleiben mochte. Mehr über den Auftrag verrät der Text des Stundenbuchs in Chantilly nicht; es fehlen die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist. Der Verzicht auf den Kalender mag zur Planung gehört haben; denn der textile Einband ist wohl der ursprüngliche.23 Die Beschränkung der Wappen auf Anne de Montmorency allein hat Elizabeth Brown in ihrem hübschen Beitrag von 2015 dazu nutzen wollen, den Auftrag der Gemahlin Made leine de Savoie zuzuschreiben, die dann aus nobler Bescheidenheit nicht mit ihren Wap pen in Erscheinung trat. Dafür meinte die amerikanische Kollegin, unser 1539 datiertes Stundenbuch (Nr. 65) heranziehen zu können; denn darin will sie unter der goldenen Übermalung auf fol. 40 zur Hirtenverkündigung das Allianzwappen Montmorency-Sa voyen und auf fol. 55v zur Marienkrönung Savoyen allein erkannt haben. Ein zentrales 21
Der ganze Wortlaut bei Delisle 1900, S. 325–6; dasselbe Gebet wird, wie Crépin-Leblond an mehreren Stellen betont hat (so im Ausst.-Kat. 1993, unter Nr. 23, S. 58), im 1555 von Gommar Estienne in Paris für Anne de Montmorency und seine Gemahlin Madeleine de Savoie gedruckten Psalter (Ausst.-Kat. 1991, Nr. 33), selbstverständlich ohne Namensnennung, an die heilige Anna gerichtet.
22
Siehe unseren Katalog 66 Das Pariser Stundenbuch an der Schwelle zum 15. Jahrhundert von 2011, S. 83; das Manuskript wird dort als Nr. 4 beschrieben. Charles notierte dort: In quacumque die tribulorum inclina ad me aurem tuam.
23
Und selbst Orth 2015, Nr. 91, tut so, als sei der Verzicht auf den Kalender irgendwie beabsichtigt gewesen.
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Kreuz beherrscht die Wappen beider Eheleute:24 Es ist rot bei Montmorency, silbern oder weiß bei Savoyen. Da aber bei Gegenlicht die kleinen Vögel (alérions) des Hauses Mont morency-Laval eindeutig auf jeweils allen vier Vierteln zu sehen sind und das Kreuz gera dezu signalrot leuchtet, bleibt es überall bei den Farben des Mannes allein. Madeleine de Savoyen als Mitbesitzerin unseres Stundenbuchs von 1539 hätte wohl auch den Franzis kaner-Kordeln um die Seiten mit Kleinbildern den charakterist ischen 8-förmigen Kno ten der Savoyer geben lassen.25 Browns neuen Vorschlag, das Stundenbuch von 1539, unsere Nr. 65, sei von den Ehe leuten gemeinsam geplant worden, der 1549/1551 entstandene Kodex in Chantilly aber ein Geschenk der Gemahlin an den Konnetabel gewesen, müssen wir zurückweisen. Erst wenn man den Konnetabel selbst beide Male zum eigentlichen Motor macht, tritt der son derbare Grundcharakter dieser Livres d’heures deutlich zu Tage: Anne de Montmorency ist 1539 wie 1549 jeweils von einem für den König bestimmten Werk ausgegangen und hat dann zweimal gewagt, ein königliches Stundenbuch mit einem eigenen Auftrag zu übertreffen; und jedes Mal ist es ihm gelungen! Anne de Montmorency mag in beiden Fällen das für den König bestimmte Buch noch in Arbeit gesehen haben; 1539 wird das im Atelier des Buchmalers gewesen sein, der im selben Jahr für Franz I. ein Stundenbuch schuf, das seit kurzem dem New Yorker Met ropolitan Museum gehört.26 Den Künstler, den wir als Meister des François II de Ro han bezeichnen, hat er angesichts der Leist ung für den König zu einem weiteren Schritt ermuntert: In seinem eigenen Stundenbuch wollte der Konnetabel Vollbilder ohne Text haben; und so erhielt er Miniaturen von einer unvorstellbaren Wucht, die im Grundbe stand den Bildern für den König durchaus entsprechen, aber, vom Textfeld auf der Seite befreit, noch sehr viel weiter gehen. Wenn Myra Orth Recht gehabt hätte, das Stunden buch für Franz I. sei das eigentliche Hauptwerk, dann hätte der Maler in unserer Nr. 65 sich selbst übertroffen. Zehn Jahre später wiederholte sich das Spiel: Das auf der erst en Seite 1549 datierte Buch für den Konnetabel verzichtet selbstverständlich auf Gebete, die nur dem König zuste hen, entspricht sonst aber in wesentlichen Grundzügen dem Stundenbuch der Dinteville für Heinrich II .; sogar der Verzicht auf den Kalender scheint für beide Manuskripte von vornherein geplant gewesen zu sein. Nun war es keine Frage mehr, daß die entscheiden den Bilder textlos sein sollten; sie waren jetzt sogar in beiden Handschriften so auto nom, daß das Ungleichgewicht von Außen- und Innenrand nicht mehr beachtet wurde, die Rahmungen also einheitlich breit sind. Auch blieb es nicht bei Aufträgen an ein und denselben Maler: Für den König wie für den Konnetabel herrscht stilist ische Vielfalt, die aus Anne de Montmorencys drittem Stundenbuch, in Chantilly, geradezu eine Bilder galerie der Zeit um 1550 machte. Da dort einige der besten Miniaturen auf Blätter des 24 Ein solches Allianzwappen bildet Crépin-Leblond 2014, S. 39, ab. 25
Das weiß auch Brown 2015, Anm. 25, S. 459.
26 New York, Metropolitan Museum (2011.353): Croizat-Glazer 2013.
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Buchblocks aufgeklebt sind, hat der Konnetabel offenbar bei noch mehr Malern, als für den König zum Einsatz kamen, Bilder zu diesem Zweck einkaufen lassen.27 Das erinnert an das ein halbes Jahrhundert ältere Stundenbuch des Bonaparte Ghislieri in der British Library, dessen textlose Vollbilder ein ähnliches Bemühen verraten, die Kunst mehrerer Maler von Rang einzufangen.28 Das Vertrauen, das der Konnetabel bei seinem 1539 datierten Stundenbuch einem einzi gen Maler entgegenbrachte, war nicht nur durch dessen Engagement für Franz I. begrün det, sondern verdankte sich bereits einer fruchtbaren Erfahrung Anne de Montmorencys mit diesem Künstler: Der Meister des François II de Rohan hatte bereits Wesentliches für Annes erstes Stundenbuch (unsere Nr. 64) getan, dort aber noch in enger Zusam menarbeit mit Noël Bellemare, der 1539 nicht mehr mitgearbeitet hat. Mit Nr. 64 sind wir in der Lage, entscheidend neue Einsichten zum Rang des Stunden buchs ausgerechnet für einen Heerführer zu liefern, der sich durch die Errichtung der Schlösser in Chantilly und Écouen, aber auch durch seine eindrucksvolle Bibliophilie in einer Vielzahl von Bereichen ausgezeichnet hat.29 In der Literatur wird Annes Stunden buch in Chantilly gemeinsam mit den Aufträgen der Familie de Dinteville nur als Indiz für die Rückbesinnung auf den alten Buchtyp gewertet. Das ist insofern natürlich richtig, als damit noch einmal eine Spätblüte bekrönt wurde und der Konnetabel mit dem Her zog von Guise und dem Marschall St.-André zu jenem Triumvirat gehörte, das in den Hugenottenkriegen gegen den Condé kämpfte. Doch verkennt die Konzentration auf die Regierungszeit Heinrichs II . mit ihrer rigoro sen Konfessionspolitik einen ganz anderen Grundzug von Anne de Montmorency: In dem wir ein weiteres Stundenbuch den bisher bekannten vorausschicken, machen wir aus dem späteren Konnetabel, dessen Wappen für die Laval schon in unerhört bedeutenden Stundenbüchern, wie latin 920 der BnF für Louis de Laval,30 prangte, einen Sammler von Stundenbüchern, der – vier Generationen nach Jean de Berrys Tod im Jahre 1416 – wirkt, als habe er diesem großartigst en Vorbild nahekommen wollen: Wie Berry mag Anne de Montmorency sein erst es Stundenbuchmanuskript während der Arbeit daran übernom men haben, um es durch konzeptionelle Veränderungen, die wir im Katalogabschnitt Nr. 64 erläutern, zu einer zunächst nicht geplanten Pracht zu steigern. Daß er auf das Buch nach der Ernennung zum Konnetabel 1538 noch einmal zurückkam, um sein neues stol zes Wappen und neue Texte einfügen zu lassen, würde auch zu Berrys Umgang mit seinen Stundenbüchern passen! Wesentlich war dabei auch, daß sich der Auftraggeber, dessen 27
Orth 2015, S. 275 schreibt die Bebilderung des Dinteville-Stundenbuchs für Heinrich II . dem Meister der Getty-Episteln, dem Meister Heinrichs II . und dem Meister der Grisaillen für Heinrich II . zu. Auf S. 292, die 14 Miniaturen für Mont morency hingegen folgenden Malern: den Meistern der Getty-Episteln, des Gouf fi er-Psalters, des Gouf fi er-Stundenbuchs, dem Flora-Meist er, Jean Cousin und Niccolò dell’Abbate.
28 E. König und Henrik Engel, Das Stundenbuch des Bonaparte Ghislieri. Yates Thompson MS 29. The British Library London, Begleitband zur Faksimileausgabe, Luzern 2008. 29
Siehe vor allem Crépin-Leblond 1991, der unsere beiden Stundenbücher des Anne de Montmorency nicht kannte.
30 Leroquais 1927, Nr. 6; zuletzt Seidel 2017, passim.
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erst es Stundenbuch in der soliden, aber nicht wirklich führenden Werkstatt von Étienne Colaud angelegt worden war, mit Kennerschaft darum bemühte, bessere, fähigere, fort schrittlichere Buchmaler einzubeziehen: So stieß er auf fremde künstlerische Idiome, die wie der vielleicht aus deutschsprachigem Gebiet stammende Meister des François II de Rohan und der aus Antwerpen gekommene Noël Bellemare der Pariser Kunst neue Im pulse geben konnten. Die durch das frühest e handgeschriebene Stundenbuch eröffnete Zeitlinie zurück in die frühen Jahre des 1493 geborenen Anne de Montmorency läßt sich noch weiter in die 1520er Jahre zurückverfolgen: Noch lange, bevor er zum Konnetabel aufstieg, besaß Anne wenigst ens zeitweilig das einzige bekannte Pergament-Exemplar einer Ausgabe, die Thiel mann Kervers Witwe Yolande Bonhomme 1523 herausgegeben hat. Dieses Exemplar, das wir in horae vorstellen konnten, ist kostbar illuminiert und zeigt an vielen Stellen iden tisch wie im ersten Manuskript das Monogramm AM des Konnetabels in Silber. Die schließlich gültigen Wappen sind jedoch nicht mehr Kreuz und Vögelchen der Mont morency, sondern die Farben der bretonischen Familie du Bot de Kerbot (Blau, mit ei nem Sparren in Gold, begleitet von drei sechsblättrigen Blüten in Silber).31 Der Band ist somit nur zeitweilig in den Händen des Herrn gewesen, der als Bauherr in Écouen und Chantilly nördlich von Paris die Renaissance in Frankreich mitgeprägt hat. Das gedruckte Stundenbuch, das er wohl kurz nach dessen Erscheinen Anfang 1523 erwarb, wird Anne de Montmorency, vielleicht nachdem er sich dann doch eher der alten Schreibkunst wie der zugewandt hatte, den du Bot de Kerbot geschenkt haben. Ehe er seinen kostbar illu minierten Druck fortgab, mag er noch angeregt haben, daß die kleine Miniatur auf fol. 23v seines erst en Stundenbuchmanuskripts einen Metallschnitt variierte, der als Vollbild im Stundenbuch von 1523 die Beiworte für die Jungfrau Maria ins Bild setzt. 32 Die Bedeutung von Anne de Montmorency wurde posthum auf sehr ungewohnte Wei se noch einmal unterstrichen; denn sein Monogramm findet sich auch auf dem Unicum einer gedruckten Ausgabe, die jedoch nicht mehr zu Lebzeiten des 1567 nach schwerer Verwundung verstorbenen Konnetabels erschienen ist. Wieder kann ein erst von uns ge hobener Schatz Aufschluß geben; denn in horae viii konnten wir ein von Jean Le Blanc 1573 gedrucktes Stundenbuch vorstellen, dessen Titelseite wie eine Hommage an den Konnetabel gestaltet ist und offenbar für Annes Sohn Henri I (1534–1614) bestimmt war, der 1593 ebenfalls zum Konnetabel ernannt wurde.33 Die im Ergebnis – unserer Nr. 65 und dem Manuskript in Chantilly – so erfolgreiche Konkurrenz des Konnetabels zu seinen beiden Königen rückt ein Mißverständnis zu recht: Es waren keineswegs immer die höchst en Herren, denen die erstaunlichst e künst lerische Steigerung verdankt wird, sondern wie unter Karl VII . dessen Finanzminist er 31
Gebrauch von Paris, 16. Februar 1522 (1523 n.st.): horae vii, Nr. 199b, S. 3174–3194, das Monogramm auf den Abb. S. 3189 und 3191; das Wappen du Bot de Kerbot auf S. 3174 und 3191.
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Horae vii, 2015, Nr. 119b, Abb. S. 3190.
33
Horae viii, 2015, Nr. 141.7, S. 3626–3630; das mit AM und dem griechischen Motto ΑΠΛΑΝΩΣ versehene Titelblatt ist auf S. 3638 abgebildet.
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Étienne Chevalier oder unter Ludwig XII . dessen Kanzler, Kardinal Georges aus der von den Vorgängern dieses Königs zutiefst gedemütigten Familie d’Amboise.34 *** Während der Konnetabel Anne de Montmorency vor allem in Zeiten der königlichen Ungnade zwar weit vom Hof entfernt, aber in nächster Nähe von Paris wirkte und im Valois durch seine Schloßbauten von Chantilly und Écouen brillierte, kommt mit dem Besitzer unserer Nr. 62 ein hoher Prälat ins Spiel, der sich, weit von Hauptstadt und Hof entfernt, ebenfalls als Bauherr auszeichnete und doch ein handgeschriebenes Stunden buch aus Paris besaß: Pierre Palmier, ab 1527 Erzbischof von Vienne im Dauphiné. Der 1555 Verstorbene war Franzose, ist in Neapel geboren, jedoch wohl in Lyon aufgewach sen. Unter seinem Episkopat wurde der gotische Kathedralbau von Vienne abweichend von der ursprünglichen Konzeption so weit vollendet, daß die Fassade ihre gültige Form erhielt und danach keine wesentlichen Baumaßnahmen mehr erfolgten. Pierre Palmier hat sich von Étienne Colaud in Anbetung des Gnadenstuhls auf einer ganzseitigen, von wuchtigen Säulen gerahmten Miniatur darstellen lassen, die auf fol. 1v dem Januar ge genübersteht. Als Erzbischof im Chormantel hat er die Mitra auf ein Betpult abgelegt, das sein Wappen trägt: drei goldene Palmwedel auf Blau. Daß ein Erzbischof ein Stundenbuch besaß, ist keineswegs selbstverständlich; denn die hohe Geistlichkeit brauchte eigentlich liturgische Bücher zum Beten. Liturgie definiert sich wesentlich durch den Wandel im Kirchenjahr. Auf eine geradezu kuriose Weise hat man diese Notwendigkeit bei der Zusammenstellung der Texte für Pierre Palmier be rücksichtigt, was zugleich bestätigt, daß der Band keineswegs nur als schöne Kostbar keit in die Hände des Erzbischofs gelangt ist, sondern wirklich für ihn konzipiert, ge schrieben und illuminiert wurde: Die Suffragien, die traditionell nach den Hierarchien der Litanei geordnet sind, beginnen mit einer kleinen Gruppe von Texten zum Kirchen jahr, die von Weihnachten bis zu Pfingsten führt; dazu gehört auch das Suffragium in diebus rogationum, das von Montag bis Mittwoch der 5. Woche nach Ost ern zu beten ist (fol. 119). Der Text bietet somit eine Art Schwundstufe dessen, was ein hoher Geistli cher zum Gebet brauchte. Von ganz anderer Ernsthaftigkeit hingegen ist das Manuskript für einen anderen Bi schof, das wir hier – nach der Monographie von 2014 – noch einmal unter der Nr. 51 aufgenommen haben.35 Mit einem Stundenbuch hätte sich der als Dichter und Übersetzer hochbedeutende Octovien de Saint-Gelais (1468–1502) aus Cognac keineswegs zufrie den gegeben, nachdem er sich vom Hofleben abgewandt und mit 26 Jahren seine Pfründe als Bischof seiner Heimatdiözese Angoulême erhalten hatte: Bei Hof ungemein beliebt, war Octovien wohl ein sehr viel entschiedenerer Renaissance-Mensch als Pierre Palmier; 34 Zu ihm siehe auch unseren Band: Große Buchmalerei zwischen Rouen und Paris: Der Froissart des Kardinals Georges d’Amboise aus der Sammlung des Fürsten Pückler-Muskau (Leuchtendes Mittelalter IV ), Rotthalmünst er 1992. 35
E. König, Ein unbekanntes Meisterwerk. Das Brevier des Dichters Octovien de Saint- Gelais. Versuch über das Phänomen Jean Pichore in Paris 1490–1520 (Illuminationen 21, hrsg. von Heribert Tenschert), Kat. 74, Bibermühle 2014; rezensiert von Al bert Châtelet in: art de l’enluminure 50, 2014, S. 75 f.
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Katalog 74: Portrait von Ocovien de Saint-Gelais
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aber einmal zum Bischof geweiht, wollte er das ganze Gewicht seines neuen Amts in der würdigen Buchform des Breviers in der Hand halten. Damit verhielt sich der junge Bi schof von Angoulême wie Armand de Gontaut, der 1492 zum Bischof der kleinen Diö zese Sarlat ernannt wurde, wo er bis zu seinem Tode 1519 ein Kleinod von RenaissanceStädtchen errichtete; auch Armand erhielt sein Brevier – ebenfalls aus Paris.36 Unsere Untersuchung der beiden Breviere zweier miteinander konkurrierender Bischö fe führte zugleich vor Augen, daß bei diesem Buchtyp die lokale Begrenzung außer Kraft gesetzt wird; denn es ergab sich eine verblüffende Ähnlichkeit des Manuskripts für Oc tovien de Saint-Gelais mit dem Breviarium Grimani in Venedig, während das GontautBrevier mit dem ebenfalls flämischen Brevier des Museums Mayer van den Bergh in Ant werpen textlich eng verbunden ist.37 Das weitere Geschick der Vergleichsbeispiele ist aufschlußreich: Das eine flämische Bre vier gelangte an die Kardinäle Grimani in Venedig, das andere vielleicht an eine Königin aus dem Hause Habsburg; doch beide waren wohl nicht von Anfang an für ihre späteren Besitzer konzipiert. Gontauts Wappen wurden schließlich mit denen der Jeanne Malet übermalt, die mit dem Admiral Charles II d’Amboise verheiratet war. Das alles zeigt zu gleich, wie sich kostbare Bücher rasch aus ihrer ursprünglichen Bestimmung lösen konn ten. Auch in unserem Brevier für Octovien sind die Wappen der Familie Saint-Gelais getilgt; doch unverbrüchlich bleibt uns das beeindruckende Bildnis des jugendlichen Bi schofs: Er leitet auf fol. 74 den Chorgesang zum 97. Psalm Cantate domino; und das zeigt, wie weit man ging, um die Personalisierung solcher Werke durch Bilder kniender Beter zu überwinden, wenn ein Maler wie Jean Pichore in Paris von einem bedeutenden Be steller und seinem einnehmenden Wesen einen lebendigen Eindruck geben wollte. *** Stundenbücher waren schon vom Format her nicht eigentlich für repräsentative Zwecke geeignet; denn man konnte sie kaum herumzeigen. Am best en dienten sie dem einzelnen Augenpaar; umso mehr muß erstaunen, daß sich Männer wie Anne de Montmorency für diesen Buchtyp begeist erten, der kaum öffentlichen Ruhm bescherte. Damit war er aber keineswegs allein. Geradezu Rührung mag der innige Bezug eines Mannes wie Jean Lallemant le Jeune aus Bourges zu seinem Haager Stundenbuch erwecken, das ihm of fenbar Trost in verzweifelter Lage bot.38 Stundenbücher in Frauenhand mag man sich viel lieber vorstellen. Doch den freundli chen Bemühungen aus den USA , der Frau von Anne de Montmorency kreativen Anteil an den beiden ihr bekannten Stundenbüchern des Konnetabels zuzuschreiben, mußten wir widerstehen; und wenn wir nun schauen, was unser Band IV von Paris mon amour an persönlichen Bezügen bietet, dann scheint diese Auswahl dem in der Literatur gern 36
Paris, BnF, latin 1058: Leroquais 1934, Nr. 517, Bd. III , S. 63 f.; zur Beteilig ung von François Le Barbier dem Jüngeren (ehe mals Meist er des Jaques de Besançon) und vom Meist er der Chronique scandaleuse siehe unser Buch von 2011, S. 22.
37
Dazu siehe auch E. König mit Joris Corin Heyder, Das Breviarium Grimani, Simbach am Inn 2016.
38
Den Haag, KB , Ms. 74 G 38: König, Devotion, 2012, vier Abb. als fig. 15.
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geäußerten Gedanken nicht immer zu entsprechen, solche Handschriften seien noch im 16. Jahrhundert in erst er Linie für Frauen bestimmt gewesen. Selbstverständlich finden sich Beispiele, die ganz in dieses Bild passen, das den Frauen ih ren Platz im Haushalt, im Kindbett und im Gebet zuweist, so Nr. 55, das anmutig kleine Stundenbuch für Marguerite de Coesmes, deren Name kostbar eingeschrieben ist, die aber nicht vom Maler gezeigt wird: Ihre Namenspatronin Margarete, zugleich die wichtigs te Schutzheilige bei Kindsnöten, weil sie vom Beelzebub verschlungen und dann unbe schadet aus ihm wieder herausgebrochen ist, erhält auf sehr ungewohnte Art in diesem Manuskript vor dem Marienof fizium ein Suffragium und eine schöne Miniatur, deren Bordüre den Namen der Dame verewigt, der das Buch zugeeignet war. Wappen an den wichtigsten Incipits unterstreichen, daß man es hier mit einer Adligen zu tun hat; und wer nachschaut, wo Coesmes liegt, kann das Buch, auch wenn es ein ungemein bilder reiches Pariser Stundenbuch von Jean Coene ist, mit der spezifischen Stundenbuchkul tur der Bretagne verbinden (auch wenn wir mittlerweile wissen, dass Marguerite sich im Jahr 1491 mit Charles d’Angennes, Seigneur de Rambouillet verheiratete). Aus diesem Herzogtum, das erst unter Franz I. ins Königreich eingemeindet wurde, stammten vie le tüchtige Leute, die überall in Frankreich, also auch in Paris, besser als zu Hause ihr Auskommen fanden. Nicht so leicht einzuordnen sind die Bezüge zu einer Besitzerin in Nr. 61, einem von Éti enne Colaud ausgemalten Stundenbuch: Ihr nicht durch Wappen und erst recht nicht durch Namensbeischrift erläutertes Bild als Beterin ersetzt auf fol. 129v zum Suffra gium Karls des Großen das Bild des Kaisers, als handele es sich um eine Charlotte oder die schwarz gekleidete Witwe eines verstorbenen Charles. Doch nicht nur der Maler, schon der Schreiber hatte in diesem Manuskript ganz ungewöhnliche Vorgaben zu be rücksichtigen: In den fünf Texten wird Maria, angeblich mit Worten des Evangelisten Johannes, der unter dem Kreuz der Muttergottes an Sohnes Statt anvertraut worden war, mit höchst ungewöhnlichen Formeln als Mediatrix omnium, Auxiliatrix omnium, Reparatrix debilium, Illuminatrix peccatorum und Alleviatrix angerufen; und dort, wo die Jungfrau auf fol. 136 als Erleuchterin der Sünder (nicht der Sünderinnen) angerufen wird, ist die Beterin, jedoch anders gekleidet, ein zweites Mal dargestellt.39 Von einem ganz anderen Bewußtsein für die Rolle der Frau im Stundenbuch zeugt hinge gen das schon textlich herausragende Livre d’heures für Langres, Nr. 56. Es gehört zu den Beispielen, in denen ein Pariser Buchmaler – es ist wie im Stundenbuch der Marguerite de Coesmes (Nr. 55) wieder Jean Coene – ein sehr sorgfältig auf fremden liturgischen Ge brauch eingestelltes Manuskript illuminiert hat. Entsprechend wurden ja in der Haupt stadt gedruckte Stundenbücher für die unterschiedlichst en Regionen des Königreichs verlegt. Lokal verankert blieb unsere Handschrift offenbar bis ins 19. Jahrhundert: Auf dem erst en Blatt dient im Kalenderbild zum Januar das Wappen der Familie Giraud de 39
Leroquais 1927, II , S. 26 f., findet dieselbe Gebetsfolge zweimal, jeweils mit Zuschreibung an Johannes den Evangelist en, be sonders aufwendig in lat. 10561 der BnF, einem Stundenbuch aus dem späten 15. Jahrhundert, wo die französische Rubrik mit einer ausf ührlichen Paraphrase der Texte verbunden wird, und auf S. 61, lat. 13268, aus dem frühen 16. Jahrhundert.
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Prangey – blau, darauf in Silber ein waagerechter Streifen sowie oben drei Monde und unten ein springender Hirsch – dazu, die Blöße des Wassermanns zu verstecken; im Ap ril folgt das ebenfalls blaugrundige Wappen der Familie Escertaines mit einem goldenen Hirschen. Die Prangey-Escertaines waren durch Wollkämmerei in Zeiten reich gewor den, in denen dieses Gewerbe auch anderswo, in Flandern wie in Florenz, dem Patriziat wirtschaftliche Potenz gab. Deshalb wird die Beterin auf einem großen Bild neben der Marienverkündigung vom heiligen Blasius begleitet, den man hier wie auf fol. 117v am Wollkamm erkennt. Diese Frau – Madame Giraud de Prangey-Escertaines – steht da mit für den Erfolg ihrer Familie, die sich schon im Grundbestand der Ausmalung durch Königslilien im burgundischen Langres zur französischen Partei bekennt. Das Schicksal des Manuskripts wollte es aber, daß schließlich dieser Aspekt im 19. Jahr hundert eine ganz neue Dimension erhielt; denn mit Königslilien übermalte Wappen von Prangey-Escertaines im Buch und der ungemein prachtvolle Einband bezeugen eine späte Phase in königlichem Besitz: Vielleicht auf Initiative eines späten Nachfahren un serer Beterin, Graphikers und Daguerrotypist en Joseph-Philibert Girault de Prangey aus Langres (1804–1892), widmete man den Band um zum sichtbaren Besitz entweder für den 1830 gestürzten König Karl X. oder für dessen Enkel Heinrich, Herzog von Cham bord, Sohn des 1820 ermordeten Herzogs von Berry, der noch nach Karls Abdankung im Zuge der Revolution 1830 als Heinrich V. zum König proklamiert wurde. *** Noch einmal führt uns die hier präsentierte Auswahl zu den Königslilien und in den engst en Kreis der gekrönten Häupter, diesmal jedoch nicht in romantischer Aneignung aus dem 19. Jahrhundert, sondern in der Regierungszeit des französischen Königs Lud wigs XII . (1498–1515) und damit auch der zweiten Periode, in der Anne de Bretagne französische Königin war (1499–1514). Diese Jahre sind als Entstehungszeit durch Er scheinung und Stil des Werks bekräftigt. Wir kommen damit zu Nr. 47, dem ersten und schon durch das vorzügliche Ultrama rin und das üppige Gold kostbarsten Manuskript unserer Auswahl in Band IV von Pa ris mon amour. Dieses Stundenbuch ist zwingend für eine Frau bestimmt gewesen und das auf spektakuläre Weise: Zwar hat der Schreiber grammatikalisch auf das eigentlich gebotene Femininum verzichtet; doch steht der ganze Buchschmuck im Zeichen einer Dame, die mehrfach dargestellt ist. Ihr Fall verlangt sehr viel mehr Einsicht und Ver ständnis als die eben erörterten Gestalten, die eher schemenhaft vor uns getreten sind. Die Ausmalung ist ein Hauptwerk jenes Malers, den man nach einem Stundenbuch in Rouen als den Martainville-Meister bezeichnet. Er stammt wohl, wie auch unsere Nr. 50 nahelegt, aus Tours; in Paris behauptet sich seine genialische Kunst vorzüglich neben Jean Pichore, mit dem er eine Weile in den gemeinsamen Topf der Schule von Rouen ge
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Katalog 82, Nr. 47: Kreuztragung aus dem
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Stundenbuch der Katharina von Aragon
Einleitung
worfen wurde, ehe zunächst für Pichore in Veröffentlichungen von 1992 und 1993 klar wurde, daß er von Paris aus wirkte.40 Der Martainville-Meist er hat gemeinsam mit dem Meist er der Philippa von Geldern das für Ludwig XII . bestimmte Exemplar eines gedruckten Stundenbuchs vom 15.10.1499 illuminiert41 und für den König ein kleines Stundenbuch-Manuskript ausgemalt.42 Kö nigliche Provenienz, wenn auch, soweit erwiesen, nur zweiter Hand, hat ein in zwei Bän de aufgeteiltes Stundenbuch in London, das frühest ens 1558 mit den Wappen von Franz II . (1544–1560) und der mit ihm verheirateten Mary Queen of Scots, also Maria Stuart, versehen wurde.43 Verschwenderisch sind in unserer Nr. 47 französische Königslilien eingesetzt: Auf nicht weniger als fünfzig Seiten finden sie sich im semé, also im unendlichen Rapport; als zwei tes Zeichen stößt man an vielen Stellen, zuweilen sogar im Zusammenspiel mit den Fleurs de lis auf Jakobsmuscheln, die entsprechend als semé in den Bordüren erscheinen. Damit entsteht ein Bezug zwischen Frankreich und der Iberischen Halbinsel, der an kei ner Stelle von den sonst gern in die Bordüren eingefügten Grotesken gestört wird. Statt fromm auf die Jakobspilgerschaft nach Santiago da Compostela hinzuweisen, lassen die Muscheln auf spanische Herkunft der in Bildern dargestellte Frau schließen. Der wichtigst e Anhaltspunkt für die Bestimmung der Adressatin des Stundenbuchs ist das Bild zum Mariengebet Obsecro te auf fol. 20v: Dort begleitet die heilige Katharina von Alexandrien eine vornehme Beterin, die eine schwarze Haube wie Anne de Bretagne trägt, jedoch mit sichtbaren blonden Locken; das erinnert an das bemerkenswerte Frau enbildnis von Michel Sittow im Wiener Kunsthistorischen Museums, in dem man ge meinhin Katharina von Aragon erkennt.44 Die junge Beterin ist verheiratet; sie bewahrt in einem Fach ihres Betpults eine goldene Königskrone auf, ist also noch nicht Königin, gleichsam Königin auf Abruf oder schöner gesagt: in Erwartung königlicher Würde. Ihre Gestalt wurde in einer zweiten Arbeitskampagne in kleinen Bildern ungewohnter Ikonographie mit zwei Themenbereichen wiederholt. Es geht um die Erwartung von Mut terschaft, die wohl auch durch die auffälligen Gürtel an vielen Stellen im Randschmuck ausgedrückt und durch die Horen der Empfängnis am Ende unterstrichen wird; und es geht noch entschiedener um Totenklage: Ausgerechnet vor dem Adventsof fizium betet 40 Als „École de Rouen“ kennt man den Stil seit dem Buch von Ritter und Lafond 1913; Paris kam ins Spiel durch den Kommen tarband zu Christ oph von Baden, König 1978, diese Annahme bestärkte Plummer in seinem Ausst.-Kat. The Last Flowering 1982. Von einem Hinweis Avrils ausgehend konnte unser Katalog zum Froissart des Georges d’Amboise 1992 einen vitalen Neubeg inn machen; es folgten Avril und Reynaud im Ausst.-Kat. 1993. In enger Verbindung mit dem Antiquariat Biber mühle hat Mara Hofmann ihre nicht als Buch publizierte Berliner Mag isterarbeit über das Panisse-Stundenbuch des Mart ainville-Meist ers geschrieben; es folgte Caroline Zöhls Dissertation über Jean Pichore, die 2007 erschienen ist. 41
Hor ae 17.1, Band V, S. 1992–2011.
42
Ex. Firmin-Didot, Vente 1882, Nr. 19; später bei A. Kann; heutiger Aufbewahrungsort unbekannt.
43
London, BL , Add. Mss. 25696 und 25710: Janet Backhouse, Illumination from Books of Hours, London 2004, Nr. 81, S. 96.
44 Auf die interne Auseinandersetzung um die Identifizierung können wir hier verzichten. Matthias Weniger, der in seiner gro ßen Monog raphie zu den Malern für Isabella die Katholische (Sittow, Morros, Juan de Flandes, Kiel 2011) angekündigt hatte, er werde noch nachweisen, daß stattdessen die ältere König in gemeint sei, hat diesen Nachweis nie erbracht.
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Einleitung
Katalog 82, Nr. 47: Portrait der Katharina von Aragon
Katalog 82, Nr. 47: Der tote Arhur?
Michel Sittow, Portrait der Katharina von Aragon, Wien
Portrait des gestorbenen Arthur von Wales?
Portrait des jungen Heinrich VIII.?
Rogier van der Weyden, Sakramentsaltar, Antwerpen: Todgeweihter mit Sterbehaube
Portrait Heinrichs VIII. um 1509, Denver Museum
Einleitung
die junge Frau am Fußende eines Bettes, auf dem die schwangere Maria ruht (fol. 100v). Vor der Totenvesper (fol. 138v) kniet sie auf einem Friedhof am frisch ausgehobenen Grab für drei in Leintuch eingenähte Verstorbene. Kleiner, aber ebenfalls markant ins Bild gesetzt, betet sie am Ende der Totenlaudes vor dem Beginn der Suffragien auf fol. 183 zu Gott. Selbstverständlich erscheint sie auch im spektakulärst en Bild dieses an Sensationen über reichen Buchs: in der auf zwei Seiten eines eingeschalteten Doppelblatts ausgebreiteten Kreuztragung (fol. 205v/206). Dort reiht sie sich ein in eine Gruppe von Menschen, die nicht zur Hofgesellschaft gehören, sondern zu den Armen und Trostsuchenden, die ge meinsam mit Bettelmönchen ihr Kreuz auf sich nehmen; damit wird, wie vielleicht auch durch die Herbergssuche auf fol. 70v betont, daß die vornehme Dame, der das Buch zu geeignet war, nicht in standesgemäßer Sicherheit lebte. In Zeiten von Ludwig XII . und Anne de Bretagne wird man nur an eine Fürst in des hier nötigen Ranges denken können: Katharina von Aragon (15.12.1485–7.1.1536) – nicht als Auftraggeberin, sondern als Adressatin, durchaus ohne Rücksprache mit ihr, analog zu ihrer Schwester Johanna von Kastilien, die an ihrem Londoner Stundenbuch Add. Ms. 18852 kaum mitwirkte und zum Markgrafen Christ oph I. von Baden, dessen Karls ruher Stundenbuch, cod. Durlach 1, als diplomatisches Geschenk aus Paris gegen die Habsburger zu verstehen ist. Katharina von Aragon, die jüngst e Tochter der Katholischen Könige und Tante der Kai ser Karl V. und Ferdinand I., wurde 1489 mit Arthur, dem Erbsohn Heinrichs VII ., ver lobt und 1501 mit ihm verheiratet, aber schon 1502 zur Witwe. Danach lebte sie bis zu ihrer unglücklichen Eheschließung mit dessen Bruder Heinrich VIII . 1509 unter de mütigenden Umständen in England. Die drei Toten, die im Stundenbuch auf ihre Bei setzung warten, sind nicht ihre drei früh gestorbenen Kinder aus den ersten Ehejahren mit Heinrich VIII .; denn in jener Zeit trug Katharina eine Krone. Nach Arthurs Tod 1502 aber ergibt die Krone im Betpult mit den drei Toten auf dem Friedhof Sinn: Im Jahr 1504 mußte Katharina von Aragon nach Arthurs Hinscheiden zwei weitere Tote beklagen: ihre Mutter Isabella und ihre Schwiegermutter Elisabeth, ihre best e Fürspre cherin am englischen Hof. Reflexion über den Tod bietet das einzigartige Bild, das sogar den toten Christ us auf fol. 39v in Pariser Manier eingenäht in ein Leichentuch zeigt, bemerkenswert oft ist auch die Anwesenheit des Todes in den Bildern.45 Noch entschiedener aber drückt der extensive, fast einzigartige Hiobs-Zyklus diese Tendenz aus. Unerhört in einem Stundenbuch ist die darin eingebettete Darstellung vom Rad der Fortuna zur ersten Lesung der To ten-Matutin auf fol. 152, das perfekt Katharinas Lebenssituation um 1504 spiegelt, wenn es da heißt: „regnavi – sum sine regno – regnabo – regno“ und der Tote unter dem Rad, ikonographisch ganz einzigartig, durchaus als Arthur zu verstehen ist. Er mag auch mit 45
So auf fol. 139, 152, 153, 160, 162v, 168v, 170, 170v und 171v.
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Einleitung
dem jungen Mann gemeint sein, der auf fol. 172 im letzten Bild des Totenof fiziums um die Gnade bittet, noch zu Lebzeiten seine Sünden bereuen zu können. Für die sehr fromme Prinzessin, die man in England wie eine Geisel festhielt, wird die französische Seite, damals Bündnispartner von Katharinas Vater Ferdinand, die Pracht handschrift als ein Zeichen über den Kanal gesendet haben, daß Katharina als zukünf tige Königin Englands anzusehen sei, gegen die Pläne einer Allianz mit den habsburgi schen Burgundern. Kirchenrechtliche Probleme, die real im Raum standen, lassen sich im Medium der Buchmalerei nicht mit wünschenswerter Präzision festmachen; so fragt es sich, wie weit Witwentracht im Bild zum Mai und anderswo erkannt werden mag. 46 Heraldisch bestand bei Katharina von Aragon um 1504 ein schwer lösbares Problem, weil ein Allianzwappen mit England zwischen Arthurs Tod und der Eheschließung mit Heinrich nicht angemessen gewesen wäre; schließlich beruhte der Dispens, der die Ehe mit Heinrich erst erlauben sollte, auf Nichtvollzug der Ehe mit Arthur. Das Buch wird aber mit einem großen Allianzwappen eröffnet, das allerdings fast un lesbar gemacht wurde, im Umriß jedoch mit Katharinas gedruckten Wappen47 überein stimmt und bei starkem Gegenlicht zumindest einen Adler links und den aufsteigenden Löwen rechts unten ahnen läßt. Von Katharina von Aragon schrieb Erasmus von Rotterdam, sie sei weitaus belesener als Heinrich VIII . gewesen. Aus der überlieferten Liste der Bücher in ihrem Nachlaß48 ist nur das erst e verschwunden: „Item one primmar written on vellom covered with clothe of golde, having two claspis of silver and gilte“.49 Dieses in goldenen Stoff gebundene Stun denbuch auf Pergament könnte, nein: wird unser Manuskript sein. Katharinas Tochter Maria, die katholische Königin Bloody Mary (1553–1558), die sehr an herkömmlicher Liturgie interessiert war, mag als natürliche „geborene“ Erbin mit dafür gesorgt haben, daß das Buch überlebte.50 *** Mit Nr. 47, dem Stundenbuch für Katharina von Aragon, sind wir nun endlich auf unse rem ungewohnten Weg zum Anfang von Band IV des Katalogs Paris mon amour gelangt. Ein markanter stilist ischer Bruch trennt diese Malerei von der Kunst der beiden Le Bar bier, Vater und Sohn, deren spätgotische Formensprache den dritten Band wesentlich geprägt hatte. Der äst hetische Umbruch ist erstaunlich; er gab dem jüngeren Maler Frei heit zu großzügig angelegten Figuren in Räumen von atmosphärischer Unbestimmtheit. Die klassischen Grundfarben sind bei ihm weitgehend durch dunklere Töne verdrängt; 46 So in der Miniatur mit den Hirtinnen zur Marien-Terz vorn links (fol. 100v) sowie auf fol. 138v, 146 und 183. 47 Abb. bei Carley, 2004, S. 112! 48 Carley 2004, S. 120. 49
Carley 2000, S. LVI.
50 Ohne Kenntnis unseres Manuskripts mutmaßt Carley, Nr.1 der Bücher im Nachlaß sei später in Westminster als Nr. 671 (richtig: 670 bzw. 439) verzeichnet worden: „primer written, coverid with cloth of golde“ und möglicherweise am 25. Februar 1551 auf Befehl König Edwards VI mit anderen „superstitiouse“ Büchern verbrannt worden.
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Einleitung
der Pinsel arbeitet recht rasch und erreicht malerische Effekte, die auch lebhafte Hö hung mit Gold einbeziehen, nachdem Gold in der zuvor dominierenden zeichnerischen Buchmalerei der Pariser Spätgotik eher graphisch eingesetzt worden war. Dieser Wandel verlangte von den Auftraggebern eine neue Sicht. Das war für uns ein Grund unter anderen, statt wie in den bisherigen Einleitungen zu unseren Katalogen im wesentlichen von den Buchmalern zu sprechen und deren Beiträge in einer Art hist ori schem Reigen zu verfolgen, auch thematisch die Reihenfolge umzukehren und zunächst nach den Frauen und Männern zu fragen, die unsere Bücher in Auftrag gegeben haben. Die Frage nach den Künstlern trat demgegenüber in den Hintergrund; nun kehren wir zur guten Ordnung zurück. Daß in der Tat bei den Käufern Überzeugungsarbeit geleist et werden mußte, verrät ein Vierzeiler in einem Hauptwerk des uns vom Stundenbuch für Katharina von Aragon ver trauten Martainville-Meist ers, Chantilly, Ms. 72; dort steht auf fol. 16: „Quy peult choisir ne doibt prendre le pire. Donc vous suply ne laisser le meilleur. Et de ma part à la meilleure tire En pourchassant de vostre grace l’heure.“51 Mit der Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Stillagen rechnet stilkritische Kunstgeschichte erst in der Neuzeit. In früheren Epochen stellt sie sich Stilentwicklung meist als eine geradezu natürliche Genese vor, deren zwingender Ablauf Erkenntnisziel der Forschung sei. Erst zu Zeiten, in denen sich der einzelne Künstler seiner Einzigartig keit als persönlicher Identität bewußt war, wäre demnach eine vom Stil bestimmte Kon kurrenz zu den anderen Künstlern entstanden.52 Das stimmt sicher nicht ganz so, wie es die traditionelle Sicht auf das Mittelalter will; aber Wettstreit sollte tatsächlich zu einem Grundzug manieristischer Perioden werden; in ihm liegt nicht nur die Erkenntnis des Andersseins, sondern auch die Chance zur bewußten Abkehr vom Herkömmlichen. Mit einem Künstler wie dem Martainville-Meist er sind wir in einer neuen Epoche angelangt, bei der man nördlich der Alpen nicht recht weiß, ob sie noch als Renaissance oder eben schon als eine Art von Manierismus gelten sollte. *** Tatsächlich tritt in den 1490er Jahren in Paris ein neuer Stil auf, der als Bruch mit dem Gewohnten augenfällig wird – dazu genügt es, die Abbildungen in Band III und IV von Paris mon amour zu vergleichen. Seit 1992/1993 wird dieser Wandel mit dem Namen Jean Pichore verbunden, von dem Quellen aus der Zeit des Kardinals Georges 51
Meurgey 1930, S. 165 f. (dort auch Taf. cx-cxi); auch zitiert im Kommentarband zum Stundenbuch Christophs I. von Ba den: König 1978, S. 226 f.
52
Michael Baxandall (Die Kunst der Bildschnitzer, München 1984) hat Ansätze dazu in der deutschen Bildschnitzerei des spä ten Mittelalters gesucht: E. König, Gesellschaft, Material, Kunst. Neue Bücher zur deutschen Skulptur um 1500, in: Zeit schrift für Kunstgeschichte 46, 1984, S. 535–558.
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Einleitung
d’Amboise sagen, er sei „démourant à Paris“, und dem man aus Rouen dort kostbar ge schriebene Manuskripte zur Ausmalung in der Hauptstadt schickte.53 Dokumentiert ist Pichore vor allem 1504 und 1518: Am 5. April 1503, also 1504 n.st., datiert ist die ext rem seltene Quartausgabe eines Stundenbuchs, das Pichore gemeinsam mit Remy de Laistre gedruckt hat; darauf folgte am 24. September 1504 das Berliner Unicum eines Oktavdrucks.54 Pichore, der ebenso wie der Martainville-Meist er sicher schon in den 1490er Jahren tätig war, kommt hier erst mit Nr. 51, dem gewichtigen Brevier für Octovien de Saint-Gelais aus der Zeit seiner Erhebung zum Bischof 1494, in den Blick. So prominent er inzwi schen ist, so muß er doch dem Martainville-Meister den Vortritt lassen; denn bei kei nem Vertreter des neuen Stils wird – in der Malweise wie im Begriff davon, was ein Bild leisten kann – die ästhetische Differenz zu den beiden Le Barbier und anderen Künst lern, die noch bis in die 1490er Jahre die Pariser Buchmalerei beherrschten, so deutlich wie bei diesem anonym bleibenden Buchmaler. Ihn haben wir nach einem Stundenbuch der Stadtbibliothek von Rouen, Ms. Martainville 183, benannt, das ungemein dicht und mit unerhörter Erfindungskraft bebildert wurde.55 Der charakterist ische Umgang mit der Perspektive verriet für Lafond 1927 die Herkunft des zur Schule von Rouen gezählten Buchmalers aus dem unmittelbaren Einfluß Jean Bourdichons in Tours; wir denken eher an eine direkte Auseinandersetzung mit italieni schen Vorbildern. Ihn an den Beginn dieses vierten Bandes zu stellen, hieß auch, durch die Reihung dem Eindruck entgegen zu wirken, der Martainville-Meister sei ein Nach folger des Buchmalers und Entwerfers von Stundenbuch-Graphik, in dem man heute Jean Pichore erkennt. Das Profil des Künstlers, dessen Arbeiten für König Ludwig XII . bereits in den Erörte rungen zu Katharina von Aragon eine wichtige Rolle spielten, ist noch nicht weltweit an erkannt.56 Das liegt vor allem an Unschärfen zwischen einerseits den Werken um Martainville 183, deren ikonographisch aufregende Qualitäten im Stundenbuch für Kathari na von Aragon zu Tage traten, und andererseits einer kleinen Stilgruppe, die in der Pa riser Ausstellung von 1993 im wesentlichen aus zwei Handschriften bestand: Petrarcas
53
Von einem Hinweis ausgehend, den Avril 1991, S. 106, gegeben hat, wurde 1992 in Leuchtendes Mittelalter IV der Versuch gemacht, diesen Namen dem Meister der Triumphe Petrarcas, fr. 594, zu geben; dem haben Avril und Reynaud 1993, zu Nrn. 234–238 widersprochen. Die Berliner Dissertation von Caroline Zöhl, aus der eine Monog raphie über Jean Pichore, Zöhl 2007, hervorg ing, hat sich den Pariser Vorstellungen angeschlossen.
54 Horae II , Nr. 92, S. 742–751; Zöhl 2007, S. 162–168. 55
Jean Lafond hat dem Werk 1927 eine kleine Monog raphie gewidmet und es in die Bourdichon-Nachfolge gestellt. Mara Hof mann hat im Allgemeinen Künstlerlexikon, Bd, 88, 2016, S. 451–452, den Stand der Kenntnis seit Leuchtendes Mittelalter IV, 1992, dargestellt und den Maler charakterisiert; ihre Berliner Mag ist erarbeit über unser Panisse-Stundenbuch blieb unver öffentlicht. Zöhl 2007 nimmt jedoch den Beg riff auf und widmet dem Maler eine knappe Zusammenfassung auf S. 46–47.
56
Ohne den Notnamen arg umentiert Delauney 1993 bei ihrer Zusammenstellung verwandter Arbeiten; in den sonst ausge zeichneten französischen Beiträgen zu anonymen Buchmalern bei Wik ipedia fehlt der Künstler.
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Einleitung
Triumphen in der Übersetzung aus Rouen 1503, fr. 59457, und einem Stundenbuch, das als Petites Heures der Anne de Bretagne bekannt ist.58 Die Isolierung dieser beiden Werke gründet auf einer stilkritischen Sichtweise, die die ikonographische Kühnheit des Malers weitgehend außer Acht läßt. Waren wir um 1980 noch weitgehend einig, daß Handschriften wie Chantilly 72 und das Stundenbuch des Markgrafen Christoph I. von Baden in Karlsruhe dem damals als Petrarca-Meister59 bezeichneten Meister der Triumphe fr. 594 zu verdanken seien, 60 so hat das mühsame Begreifen von Jean Pichores Beitrag zwischen die beiden bewunder ten Hauptwerke in der Pariser Nationalbibliothek und die ikonographisch spannenden Stundenbücher einen Keil getrieben. Dabei spielen die erwähnten Ausgaben von gedruck ten Stundenbüchern aus dem Jahr 1504 eine entscheidende Rolle. Mit der graphischen Entschiedenheit der dafür entworfenen Graphiken und der zahlreichen weiteren Beiträ ge zum Buchdruck korrespondiert bei Handschriften wie unseren Nrn. 51 und 54 ein nüchterner Sinn für erprobte Bilder. Pichores lineare Präzision ist somit nicht nur aus den technischen Gegebenheiten zu er klären, sondern prägt den Stil des Entwerfers; dagegen hebt sich der malerische Sinn so wohl des Malers von Martainville 183 wie auch des Petrarca-Meist ers ab; und man könn te vielleicht doch wieder zu dem Punkt zurückkehren, diese beiden Gruppen gegen das zu vereinen, was heute Jean Pichore zugeschrieben wird. Doch dafür ist die Zeit im Mo ment nicht reif. *** Auf das Stundenbuch für Katharina von Aragon, Nr. 47, folgt hier mit Nr. 48 ein Werk, dessen Miniaturen und Bordüren geradezu einen Bogen von der frühest en Renaissance in der französischen Buchmalerei hin zur Zeit um 1500 schlagen: Vom Format, dem Bilderreichtum und dem Randschmuck her schließt dieses nicht vor 1461 im Buchblock geschriebene Manuskript, das dem Gebrauch von Rom folgt, an die sogenannten Kleinen Stundenbücher des Jouvenel-Kreises aus der Mitte des 15. Jahrhunderts an. 61 Auch wenn der Kalender eher auf Paris deutet, wurden die ersten fünf Bilder ebenso wie einige Mi niaturen zu den Suffragien von zwei sicher nicht Pariser Buchmalern geschaffen, die noch ungenügend erfaßt sind. Sie greifen Impulse auf, die Jean Fouquet nach seiner Rückkehr aus Italien Künstlern an der Loire sowie in Bourges und Poitiers vermittelt hat; so gerät der junge Georges Trubert in unser Visier. 57
Zu diesem Hauptwerk der sogen. École de Rouen: König 1978, S. 181–189; unser Katalog Leuchtendes Mittelalter IV, 1992, S. 18 und 26; Avril und Reynaud 1993, Nr. 237; Zöhl 2007, passim.
58
Paris, BnF, NAL 3027: Leroquais 1943, Nr. 1, König 1978, S. 163–179; Avril und Reynaud 1993, Nr. 238; Zöhl 2007, pas sim.
59 Problematisch ist diese Verkürzung, weil dieser Notname schon für den Entwerfer bedeutender Augsburger Graphik etwa der gleichen Zeit benutzt wird: Walther Scheidig, Die Holzschnitte des Petrarca-Meisters zu Petrarcas Werk : von der Artzney bayder Glück des guten und widerwärtigen – Augsburg 1532. Berlin 1955. 60 König im Kommentarband 1978, Plummer im Ausst.-Kat. The Last Flowering 1982, wir schließlich noch in Leuchtendes Mit telalter IV, 1992, zu Nr. A., S. 28 f., die hier als Nr. 48 wiederkehrt. 61
Diesen Beg riff prägte König 1982, S. 56–68.
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Einleitung
Die Mehrzahl der Miniaturen in Nr. 48 hat ihren Platz hingegen in diesem letzten Band von Paris mon amour direkt nach dem Stundenbuch für Katharina von Aragon: Um 1500 hat der Martainville-Meist er die Ausmalung vollendet. Diesen erstaunlichen Künstler zeichnet eine profunde Bildphantasie aus. Am intensivst en widmete er sich der Passion Christ i: Bei der Bebilderung von Nr. 47 hatte sich diese Neigung von den ungewohnten Szenen zum Johannest ext bis zur Kreuztragung gesteigert, die er auf einer Doppelseite ausbreitete. Dasselbe Thema wird in der kleinen Kopfminiatur in Nr. 48 eindrucksvoll auf wenige Figuren in der älteren Ikonographie konzentriert. Demselben Grundkonzept, bei dem das Kreuz wie in unserer Nr. 48 mit dem Stamm nach vorn gerichtet ist, folgt auch die Kreuztragung in Nr. 50. Doch während sich Chris tus in der kleineren Miniatur umblickte, schreitet er auf fol. 29v nun mit dem Kreuz über der Schulter energisch nach rechts, wo auf der Buchseite gegenüber (fol. 30) dassel be Kreuz hoch aufgerichtet, aber wie nach der Kreuzabnahme schon wieder verlassen, steht, von den Arma Christ i umgeben. Das Nebeneinander der beiden Kreuze ist nicht als filmische Abfolge zu verstehen; denn dem Künstler geht es nicht um Erzählung; vielmehr will er wie kein anderer Buchma ler seiner Zeit Meditation anregen. Um uns beim Betrachten einzubeziehen, spielt er in seinen wichtigst en Miniaturen mit der Horizonthöhe: Indem er beispielsweise in Nr. 49 Bathseba im Bade mit ihrer Kopfhöhe auf den Horizont einstellt, schafft er eine ge wisse Intimität; bei der Kreuzigung aber, die dort die Kreuztragung ersetzt, läßt er uns gleichsam aus der Froschperspektive aufschauen – ein bemerkenswertes Bekenntnis zur Renaissance. *** Für den Renaissance-Menschen Octovien de Saint-Gelais bestimmt war das Brevier Nr. 51; und sollte es der junge Prälat nicht selbst bezahlt haben, dann war es eher ein Ge schenk vom Königshof Karls VIII . in Amboise als eine Gabe vom Hof des Charles d’Angoulême in Cognac, dem der Dichter familiär verbunden war. So frisch, wie das Manuskript aus der Zeit, als Octovien noch um sein Amt kämpfte, erhalten ist, läßt es erkennen, daß der Besitzer in seinen Amtsjahren wohl nicht eifriger gebetet hat als an dere große Prälaten seiner Epoche. Die klar konzipierten großen Miniaturen verraten denselben Geist, der die Entwürfe für gedruckte Stundenbücher prägt. Besonders eindrucksvoll ist beim Psalm 68 (Salvum me fac) die radikale Umkehr von der gewohnten Ikonographie: Statt zu zeigen, wie dem Psal mist en „das Wasser zum Halse steht“, erhält David die Kraft, mit einem stolzen Schim mel über die Wässer hinüberzusetzen, wohl als Ermunterung für den jungen Besitzer, der nur aus Krankheitsgründen zum geistlichen Amt gestrebt hatte. Die Stundenbücher Nr. 52 bis 54, die an dieses hist orisch und äst hetisch gewichtige Bre vier anschließen, dokumentieren den Nachdruck, mit dem sich das Antiquariat Ten schert gleichermaßen um die Erforschung der gedruckten Stundenbücher und der Buch maler kümmert, die an deren Bebilderung und Ausmalung beteiligt waren. In Nr. 52
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Einleitung
werden für gedruckte Pariser Stundenbücher besonders charakterist ische Bilder wie der Schmerzensmann vor den Arma Christi und die Immaculata mit den Beiworten der Jungfräulichkeit sowie die über zwei Bildseiten verteilte Begegnung der Drei Lebenden und Drei Toten wiederholt. Wie stark in den Jahrzehnten um 1500 mit Konzeptionen zur Bebilderung gerungen wurde, zeigen in Nr. 52 die unterschiedlichen Arten von Bildern – von der ganzfiguri gen Darstellung in Vollbordüre, der Kopfminiatur in traditionellem Randschmuck zum Kleinbild mit ausdrucksvoller Halbfigur, neben denen es hier wie in manch anderem Stundenbuch ganzseitig angelegte Malereien mit Textfeldern in Renaissance-Ädikulen gibt. Bordüren sind in solcher Buchmalerei nicht mehr selbstverständlich: Bei den klei nen Miniaturen fällt der Randschmuck weg. Offenbar tummelten sich in Paris die unterschiedlichst en Buchmaler, eine ganze Anzahl von ihnen war an Nr. 52 beteiligt: Jean Coene und den Meist er der Philippa von Geldern kennen wir gut; andere wie der Maler, der den wunderbaren David gemalt hat, tauchen auf, ohne daß man sie anderswo noch einmal fände. Erstaunlich ist, daß Jean Pichore nur kleine, jedoch brillante Bilder übernommen hat. Grauzonen der Zuschreibung ergeben sich bei Nr. 53 und 54. Bei der prächtigen Nr. 54 kam es offenbar wie so oft zum Wunsch, ein bereits nach gutem Brauch bebilder tes Manuskript noch einmal durch ganzseitige Miniaturen auf eingeschalteten Blättern aufzuwerten. Dadurch wurde zum Anfang des Johannes-Evangeliums aus der Genesis der Sündenfall gestellt; die Vermählung der Jungfrau steht nun vor der Verkündigung, die Geißelung vor der Kreuzigung, und die Geschichte von David und Bathseba, die zu nächst nur durch den Uriasbrief als Kopfbild angedeutet wurde, erhält in der pracht vollen Gartenszene die für diese Epoche so wichtige Aktdarstellung. Bei diesen Ergän zungen spielte keine Rolle, daß zur Totenvesper der interessantest e Teil des Kopfbildes, die Höllenqual des Reichen, noch einmal im größeren Format textlos wiederholt wurde. *** Paris war schon durch die Universität seit Jahrhunderten ein Ort gewesen, an dem Schrei ber und Buchmaler aus den unterschiedlichst en Regionen der lateinischen Welt zusam menkamen. Lange bevor sich in anderen Städten Laien ins Buchwesen einmischten, gab es an der Seine Buchmaler, die nicht dem geistlichen Stand angehörten und außerhalb von Klöst ern arbeiteten. 62 Neben den von der Sorbonne kontrollierten Bereichen blühte eine Buchkultur, die ohne strengen korporativen Zwang arbeiten konnte. Vor allem aus nördlichen Gebieten stammte manch einer, der in Paris sein gutes Auskommen fand; und man wird annehmen dürfen, daß bestimmte Familien, die einmal in der französischen Hauptstadt Fuß gefaßt hatten, über Generationen eine Art pied à terre an der Seine un terhielten.
62
Siehe François Avril, À quand remontent les premiers ateliers d’enlumineurs laïcs à Paris, in: Dossiers de l’archéolog ie 16, 1976, S. 36–44.
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Einleitung
Die Quellenlage ist schütter; das gilt auch angesichts der jahrzehntelangen Bemühungen von Mary und Richard Rouse, die erhaltenen Dokumente zu sichten und das für die Ge schichtsschreibung Entscheidende zu Tage zu fördern. So liegen nun seit dem Jahr 2000 zwei gewichtige Bände vor, die uns Kunsthist oriker durch die Dichte der Quellenkennt nis beschämen, die aber keineswegs alles erfassen, was in Paris geschah. Zudem enden die beiden Rouses mit der Zeit um 1500, in der unser Band IV erst einsetzt. Gern nutzt man heute den dadurch gehobenen Schatz, um sich gegen Versuche abzu schotten, doch noch den einen oder anderen Namen in die Diskussion einzubringen. 63 Dann heißt es nur, der Name komme bei den Rouses nicht vor – mit Ausnahme von Fran çois Le Barbier dem Jüngeren, der sich gegen einen solchen Einwand durchgesetzt hat.64 So erging es unserem Conrad von Toul (Bd. I, Nr. 11–13); und so auch dem Buchmaler, von dem nun die Rede sein soll: Jean Coene.65 Wir geben gern zu: Die Rouses erwähnen nur den berühmteren Jacques Coene,66 der im Juli 1398 einige Rezepte zur Buchmalerei dem Alcherius mitgeteilt haben soll, die dann auch von Jean Lebègue tradiert wurden.67 Ihm ist an der Frauenkirche von Brüg ge eine Tafel gewidmet, weil er in Mailand für die Dombauhütte unter Giovannino dei Grassi gearbeitet hat.68 1407 ist er noch einmal in Pariser Dienst en für Jacques Raponde nachweisbar; 1411 wird er gestorben sein. Ob er der Boucicaut-Meist er war, steht schon deshalb dahin, weil daneben der Mazarine-Meister aufgetreten ist (Bd. I, Nr. 5 und 6). Für Albert Châtelet ist er der Maler der Marienkrönung, den man auch nach den Clères femmes für Philipp den Kühnen von Burgund nennt. 69 Derselbe Nachname ist in den goldenen Rahmen einer Kreuzigung geritzt, die von Blatträubern aus einem bisher nicht identifizierten Meßbuch gemetzgert wurde: de jos coene.70 Da der eng mit Kuhn oder Cohen verwandte Name im christlichen Kontext ja nicht sehr häufig ist, würde es uns wundern, wenn zwischen Jacques Coene ( Jakob Kuhn) und Jos (eher Johannes als Jodocus71) keine familiäre Verbindung bestünde. Die französi 63
Dabei bezieht man sich auf das sehr nützliche Reg ist er in Bd. II , S. 11–146.
64 Rouse und Rouse 2000, S. 29, teilen nur zum älteren Träger des Namens mit, was in knapp 8 Zeilen zu sagen ist. Es ist we der ihnen noch Mathieu Deldique vorzuwerfen, daß wir durch Deldique über Vater und Sohn nun erheblich mehr wissen: L’enluminure à Paris à la fin du xve siècle: Maître François, le Maître de Jacques de Besançon et Jacques de Besançon ident ifiés?, in: Revue de l’art 183, 2014, S. 9–18. 65
So heißt es bei Cousseau 2016, S. 78: „bien qu’on n’ait aucun témoignage sur la présence à Paris d’un membre de cette famille de peintres brugeois à cette époque“
66 Rouse und Rouse 2000, S. 56 f. 67
Mary Ph. Merrifield, Orig inal Treatises in the Arts of Painting, 2 Bde., London 1849; ND New York 1967, S. 259–279.
68 Siehe auch den sonderbaren Verweis auf Mailänder Architektur in dem wiederum stilist isch abweichenden Londoner Ale xander, BL , Royal 20 B xx: Ulrich Heinritz, Eine Überleg ung zu Jacques Coene. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 56, 1993, S. 113–115. 69
Châtelet 2000, S. 108–110 und passim.
70
Das Blatt stammt aus einem nicht identifizierten Meßbuch in Quartformat und befindet sich in unserem Besitz. Wir haben es 1997 am Ende des 1. Bandes der Neuen Folge von Leuchtendes Mittelalter (Boccaccio und Petrarca in Paris) auf S. 320 zum erst en Mal bekannt gemacht, siehe dort auch S. 306–309.
71
Im Internet taucht zuweilen auf, wir sprächen von Josse Coene.
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EinLeiTUnG
Einleitung
Diptychon aus einem Missale mit Signatur „de Jos Coene“
Einleitung
sche Literatur72 besteht für den klar erkennbaren Stil auf der unglücklichen Bezeichnung Maître des Entrées parisiennes. Daneben geistert ein zweiter Notname durch die Litera tur: Man spricht auch vom Meist er der Begräbnisfeierlichkeiten der Anne de Bretagne; die erhaltenen Manuskripte dieses Berichts von Pierre Choque aber scheinen uns viel zu uneinheitlich für eine stilist ische Definition.73 Eines geht immerhin aus diesen Bemühungen um einen Notnamen hervor: Der Stil, um den es hier geht, war in den Zeiten, da Anne de Bretagne 1514 starb und ihre Tochter als Gemahlin von König Franz I. feierlich in Paris einzog, gut genug für of fizielle Aufträge für Königinnen. Mit Vergnügen verkünden wir deshalb erneut, daß wir den Namen für diesen Stil kennen: Es wird sich um den vierten Jean Coene in einer Generationenfolge handeln, in deren Verlauf sicher der in dieser Epoche geläufigst e Vorname immer ver wandt wurde; deshalb haben wir zuweilen von Jean IV Coene gesprochen. Dabei wen det sich das Argument, das man gegen unsere von einer immerhin signierten Miniatur bestimmten Namensnennung vorbringt, gegen die Kritiker: Wer sagt, ein Name könne nur gelten, wenn zeitgenössische Quellen ihn nennen, muß sich fragen, wo die Unterla gen zur Ausmalung der Entrées und der Funérailles geblieben sind. Der durch den hundert Jahre früheren Jacques Coene angeregte Bezug zu Brügge führt freilich bei unserem Pariser Buchmaler der Zeit um 1500 nicht sehr weit. Die helle Far bigkeit bindet Jean Coenes Miniaturen zurück an die Le Barbier; Wurzeln in älterer Pariser Kunst könnte man vielleicht bis zu dem inzwischen als Philippe de Mazerolles erkannten Meister des Harley Froissart (siehe hier Nr. 18 in Band I) zurückverfolgen. Somit vertritt unser Jean Coene sichtlich Pariser Eigenart. Im Dekorativen aber folgt er dem Geschmackswandel um 1500: Statt der zierlichen spätgotischen Rahmen der Le Barbier schätzt er den gerade in der Hauptstadt aufblühenden Renaissance-Dekor als Bordürenersatz. Verglichen mit dem Temperament des Martainville-Meist ers wirkt Jean Coene zurück haltend, auf das Richtige und Gewohnte bedacht. Doch auch ein Buchmaler mit beschei denerem Temperament kann zu eindrucksvoller Pracht finden: Das zeigt unsere Nr. 56, das Stundenbuch für die Giraud de Prangey-Escertaines in Langres. Hingegen vertritt die sparsamer aufgemachte Nr. 57 in sympathischer Art einen Typ einfacher Buchge staltung, der auf dem von gedruckten Stundenbüchern zur Entstehungszeit geradezu überschwemmten Pariser Markt erstaunt. Offenbar blieb ein Sinn für das Altbekannte lebendig; das zeigt schon der Einsatz von Textura; und dann triumphiert doch der neu artige Renaissancedekor! ***
72 Nach den Entrées der König in Claude de France, fr. 5750 der BnF: Isabelle Delaunay, Le Maître des entrées parisiennes, in: Art de l’enluminure 26, 2008, S.52–61. 73
Zu dem gesamten Komplex siehe: Jean-Luc Deuf fi c (Hrsg.), „ Qu’il mecte ma povre ame en céleste lumière“. Les funérailles d’une reine: Anne de Bretagne (1514). Textes, images et manuscrits, Pecia 15, 2012.
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Einleitung
Abseits der großen Wege begegnen in unserem Bestand bemerkenswerte Lösungen: Vom Meister des Gothaer Stundenbuchs und seinem Kreis stammt Nr. 58. Schon in den 1470er Jahren hatte Jean Colombe im Stundenbuch des Louis de Laval, latin 920 der Pari ser Nationalbibliothek, einen Gedanken energisch weiterverfolgt, der wohl zuerst in den berühmten Bedford Hours der British Library, Add. Ms. 18850, aus dem 2. Jahrzehnt zu finden ist:74 Alle Textseiten versah Colombe nicht nur mit einem durchlaufenden Zyklus von Randbildern, sondern erläuterte diese auch wortreich.75 Das geschieht hier ebenfalls. Nun könnte man meinen, um 1500 habe man sich für solche Serien einfach an ähnlich kommentierten Randbildern in gedruckten Stundenbüchern orientiert. Immerhin gab es dort, wie dies unser Katalog Horae dokumentiert, Randbilder in Hülle und Fülle.76 Doch versteht sich die Ausstattung von Nr. 58 nur in Analogie zum Buchdruck; denn die Serie der Vorfahren Christ i gibt es dort nicht, wohl aber den Totentanz; doch auch der bleibt in unserem Manuskript formal eigenständig. Unser Beispiel zeigt, wie im hand geschriebenen Stundenbuch gerade mit Blick auf die Konkurrenz von Seiten des Buch drucks die kreative Möglichkeit lebendig blieb, mit der Schreiber und Maler alternative Programme entwickeln konnten. Zum Fortschritt in der Buchgestaltung gehört bei Nr. 58 die Reduktion des Umfangs; sie wird erreicht durch erhöhte Zeilenzahl mit recht kleiner Schrift in Dimensionen, die ge druckte Stundenbücher nur selten erreichen. Zum gleichen Buchtyp gehört Nr. 59; und wieder bietet die Arbeit per Hand eine Chance für Bebilderung, wie sie so im Buchdruck nicht vorkommt: Während die inhaltliche Ausrichtung der in Nr. 58 ganz regelmäßig eingesetzten Bilder der Vorfahren Christ i und des Totentanzes sehr gut zur strikten Or ganisation der Drucker paßt, herrscht bei der Bereicherung von Nr. 59 durch Randbil der ein freies Spiel: Ein thematisches Konzept wird nur auf den wenigen Seiten mit der Johannespassion verfolgt, wo Stationen der Passion in kleine Randbilder neben den Text gesetzt sind. Vielleicht hatte man für das Marienof fizium zunächst ähnliche Pläne; denn in den Bordüren der erst en Lage wird, nun jedoch unter dem Textspiegel, auf jeder Seite ein Feld freigelassen, das aber nicht mit frommen Darstellungen gefüllt wurde, sondern mit munteren Grotesken einer offensichtlich ganz vom Text freien Phantasie. Offenbar sollten noch mehr solche anmutigen Landschaften gemalt werden, in denen sonderbare Halbwesen, vielleicht in Assoziation zu Tierfabeln auftauchen;77 doch blieben bei dieser Arbeitskampagne einige Felder leer, die man schließlich mit Bordürenschmuck gefüllt hat.
74
Wie König 2006 im Kommentar zum Faksimile erläutert, stammen die Erläuterungen zu den zunächst unbeschrifteten Bil dern vom Leibarzt und Erzieher König Heinrichs VI . und wurden geschrieben, als das Manuskript dem am 16. Dezember 1431 in der Pariser Notre-Dame gekrönten Knaben geschenkt wurde.
75
Siehe dazu in Kürze den im wesentlichen von Christ ine Seidel verfa ßten Kommentar zum Faksimile des Verlags Siloe. Eine vorzügliche Übersicht der Bilder bot bereits Leroquais 1927, Nr. 6, vor allem S. 17–29.
76
Siehe die zwei chronolog ischen Indices in Horae ix, 2015, S. 4137–4153, sowie den daran schließenden erhellenden Beitrag von Caroline Zöhl, die brillant die Vorgeschichte dieser Zyklen einbezieht: S. 4154–4218.
77 Das hat nichts mit den Landschaften im Stundenbuchdruck zu tun, die als Zyklus für Boninus de Boninis 1499 geschaffen wurden: Horae ix, S. 4148.
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Einleitung
Eröffnet wird der Band mit einem einzigartigen Kalender: Wieder wird Platz gespart; nun stehen sogar zwei Monate auf einer Seite; die Angaben erscheinen jedoch auf Gold grund, umgeben mit eindrucksvollen Bildern aus dem Jahreslauf und dem Zodiak. Die se Bilder zeugen von einem Maler, den man mit Ritter und Lafond 1913 der Schule von Rouen zurechnete, aber spätest ens seit 1993 für einen Vertreter der Pariser Buchmalerei hält; dazu paßt seine Mitarbeit an Inkunabeln und Frühdrucken, insbesondere von Anthoine Vérard. John Plummer hat ihn nach der französischen Fassung der Vie du Christ des Ludolf von Sachsen benannt, die 1506 für Philippa von Geldern, die zweite Frau Herzog Renés II . von Lothringen geschaffen wurde.78 Die meisten Kleinbilder im Text ebenso wie die Illustrationen zur Johannespassion stammen hingegen von einem uns schon durch die Nrn. 43, 44 und 45 in Bd. III von Paris mon amour vertrauten Maler, der für den Pariser Bischof Étienne Poncher (1464–1525) gearbeitet hat. *** Noch einen weiteren Stilkreis, der gerade erst in den kunsthist orischen Blick geraten ist, erschließt dieser Katalog mit den Nrn. 60 bis 62: Die Malereien stammen aus dem Atelier von Étienne Colaud. Um 1527 entstandene Handschriften der Statuten des Mi chaelsordens für Franz I. waren der Ausgangspunkt für die 2016 posthum erschienene Dissertation von Marie-Blanche Cousseau. Sie konnte auch ein 1512 datiertes und von Colaud signiertes Stundenbuch einbeziehen, das ihr erst sehr spät bekannt wurde und deshalb nicht ausreichend in ihre Argumentation eingebunden werden konnte.79 Cousseau zeigt sich selbst etwas ratlos, wie weit Jean Pichore an dem – im Buch von 2016 leider nur mit wenigen Abbildungen80 dokumentierten – signierten Stundenbuch betei ligt war. Von den erhaltenen Exemplaren der Statuten des Michaelsordens81 läßt Cousseau nur fr. 19815 als eine eigenhändige Arbeit Colauds „d’une qualité bien supérieure“82 gel ten, während für die anderen – mit Ausnahme des Bellemare zugeschriebenen Exemplars in Manchest er – Begriffe wie „Collaborateur d’Étienne Colaud“ und „Exécutant princi pal“ erforderlich scheinen. Colaud erscheint damit eher als Organisator für den königli chen Auftrag. So haben wir wie so oft einen Namen zur Verfügung; zu ihm gehört ein gewisser Vorrat an Bildvorlagen und dekorativen Entwürfen, die im signierten Stundenbuch von 1512 ebenso genutzt wurden wie in den drei nun von uns vorgestellten Manuskripten: Nr. 60 ist ein vollständig erhaltenes Stundenbuch aus dem späten 15. Jahrhundert, das bald, nach dem es zum ersten Mal in die Hände von Buchmalern geraten war, unbearbeitet liegen 78
Lyon, Bibl. mun., ms. 5125; Plummer in Ausst.-Kat. New York 1982, Nr. 91–92; Avril und Reynaud 1993, Nr. 152.
79
Das Manuskript befindet sich in Privatbesitz: Cousseau 2016, S. 91–94, knappe Beschreibung S. 337 f. – ohne irgendeinen konkreten Hinweis auf Ort und Zeit des Auftauchens dieses Manuskripts. Die Signatur findet sich am Textende unter dem förmlichen Explicit, das jedoch von Cousseau, S. 397, nicht in wünschenswerter Klarheit beschrieben wird (es fehlt sogar die Folio-Angabe in diesem 103 Blatt starken Stundenbuch mit den Maßen 132 x 78 mm.
80 Abb. 5–7 auf S. 92–93. 81 Siehe die sehr nützliche Folge von XVII gleichg roßen Farbtafeln mit der konst ituierenden Hofszene bei Cousseau 2016, S. 160–176. 82
Cousseau 2016, S. 147 zu Taf. IX .
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Von Et. Colaud signiertes Stundenbuch von 1513
Hauptmeiser der Statuten des Michaels-Ordens
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blieb. Um 1510 wird es zu Étienne Colaud gelangt sein, zu dessen frühen Arbeiten die Miniaturen gehören dürften. Ganz einheitlich ist hingegen Nr. 61 ausgemalt: Graphisch sind Figur und Landschaft als plastische Einheiten begrifen, eng mit dem von Étienne Colaud 1512 signierten Stundenbuch in Privatbesitz verwandt. Nr. 61 ist sehr reich bebildert, bietet neben 20 großen und 49 kleinen Bildern auch sechs historisierte Initialen. Die Arbeit per Hand erlaubt auch hier, teilweise Einzigartiges zu schafen: So wird man die Serie zu den Versen des heiligen Gregor sonst nirgendwo fin den; ebenso ungewohnt ist die Bebilderung der jeweils letzten Stunde, also der Komplet, der sonst nur zur Matutin bebilderten Horen von Heilig Kreuz, Heilig Geist und Emp fängnis Mariä. Während die Beterin in Nr. 61 anonym bleibt, wurde Nr. 62, wie bereits erläutert für Pierre Palmier, Erzbischof von Vienne von 1527 – 1555, geschrieben und ausgemalt. Diesem hohen Geistlichen genügte ofenbar der bei dem Pariser Buchmaler vorgefundene Vorrat an Motiven, die in graphischen Formen und klarem Kolorit, wie es den Maler kennzeichnet, vorgetragen sind. Da Pierre Palmier als Bischof gezeigt, ist sein Manuskript frühestens 1527 entstanden. Ein Vergleich mit dem etwa gleichzeitigen Frontisiz des von Cousseau bevorzugten Exemplars der Michaels-Statuten läßt an der für fr. 19815 behaupteten Qualität zweifeln. *** Mit Nr. 63 gelangen schließlich in die Endzeit der großen Buchmalerei; es ist ein schö nes Werk aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. 83 Hier hat sich der Manierismus Bahn ge brochen mit der italienisch geprägten Gewandung und der heftigen Bewegung; das ist Malerei, wie sie für die Zeit Heinrichs II . von Frankreich charakteristisch ist. Der verant wortliche Maler, der vielleicht mit Charles Jourdain identifiziert werden darf, hat wichtige Handschriften und Frühdrucke um 1550 bearbeitet, darunter das New Yorker Stundenbuch des Claude Gouffier, den Gouffier-Psalter im Arsenal und ein großformatiges Stun denbuch für denselben Auftraggeber, das heute über die Welt verstreut ist. 84 Er führt uns zu den Anfängen dieser Einleitung zurück; denn er hat zum sätesten Stundenbuch des Anne de Montmorency von 1551, heute in Chantilly, nicht weniger als fünf Miniaturen beigesteuert. 85 Dieser hinreißende Illuminator gehört zu den letzten großen Persönlich keiten der Buchmalerei überhaupt; seine Größe zeigt sich in unserem kleinen Stunden buch, in dem der Zauber seiner Kunst gerade in der räumlichen Beschränkung aufblüht. Besonders bemerkenswert sind dabei die manieristischen Züge, die sich in den Rahmen architekturen mit ihren großen Hermen am besten ausdrücken. Hier lebt ein von der Antike insirierter Sinn für das Nackte, das Faunische, der wenigstens punktuell in be merkenswerter Spannung zum religiösen Inhalt stehen kann. 83
Das Manuskript haben wir bereits in Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI , 2009, als Nr. 32 vorgestellt.
84 New York, Pierpont Morgan Library, M. 538: Ausst.Kat. von Roger Wieck, Painted Prayers, New York 1997, Nr. 42; Paris, Arsenal, Ms. 5095: Ausst.Kat. Livres d’heures royaux, Écouen 1993, Nr. 9, und aus dem Manuskript großen Formats ehe mals bei FirminDidot, ebenda Nr. 14. 85
Chantilly, Musée Condé, Ms. 1476/1943, fol. 1v, 2, 13v, 52v und 58v: im Ausst.Kat. L’art du manuscrit de la Renaissance en France, Chantilly 2001, Farbabb. auf S. 61.
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Katalog 61, Nr. 28: Albiac-Stundenbuch
Katalog 45, Nr. 28: Benigne Serre-Stundenbuch, 1524
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Einleitung
*** Wir haben hier von Renaissance und Manierismus gesprochen. Das waren Epochen, die sich mit neuem Eifer der Aufgabe widmeten, den nackten Köper zu erfassen. Vorstu fen dafür gab es schon in der spätgotischen Buchmalerei. Erstaunt konnten wir in Band III auf die Darstellungen der Bathseba im Werk des Gaguin-Meist ers hinweisen. 86 Das wird hier nun gesteigert: Die aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewohnten Bil der des büßenden Königs David, wie wir sie nur noch verstreut – so in Nr. 52 – finden, werden von Bildern der Bathseba im Garten verdrängt. Die weibliche Nacktheit tritt vor pastoraler Kulisse in den Vordergrund; David selbst ist wie wir nur Zuschauer, oft weit entfernt und durch das Buschwerk, das der Vordergrundszene Intimität gibt, sogar fast am Schauen gehindert. Auch die bescheideneren Talente erreichen erstaunliche Wirkun gen; denn auch bei ihnen bleibt es nicht wie in Nr. 59 bei einer biederen Begegnung zwi schen den angezogenen Leuten und der Nackten im Bade; da mag aus Bathseba sogar in Nr. 58 eine fast tänzerische Aktfigur werden. Aus der Spätzeit der französischen Buchmalerei sind wir schon früher auf verschämte und dann wieder ungemein packende Bilder des Themas gestoßen. Da ist an das scheue Bild im Stundenbuch des Bénigne Serre aus Dijon zu denken, wo schon die Knie aus reichen, um Davids Begierde zu wecken. 87 Am virtuosest en aber steigert sich die manie rist ische Erfassung des Leibes im Albiac-Stundenbuch.88 Im Stundenbuch des Gouf fi er-Meist ers, Nr. 63, ist dann schließlich eine Leichtigkeit er reicht, die nur noch bezaubert. Im zweiten Stundenbuch des Anne de Montmorency er reicht der Meister des François II de Rohan bei diesem Thema eine besondere Größe; doch im gleichen Manuskript wird noch ein anderer Aspekt der neuen Aktmalerei vor Augen geführt; denn in der ganzen Zeit, die uns hier beschäftigt hat, wurde auch der Körper des greisen Hiob studiert und zuweilen in ergreifend schöner Klarheit von den Malern gestaltet. In ihren Bemühungen um den Akt orientieren sich französische Buch maler nach vielen Seiten; es sind nicht immer nur die italienischen Vorbilder, die uns er staunen lassen. In Nr. 54 wird plötzlich ein Kupferstich Dürers von Adam und Eva im Paradies wirkmächtig; und wenn man dann das ganze Manuskript durchschaut, begreift man schließlich, daß der Akt, der beim Gaguin-Meister sicher gewagt war und auch ge wagt aussehen sollte, schon relativ früh bei einigen unserer Künstler zu neuer Selbstver ständlichkeit finden konnte: Das gilt für Bathseba, die nun zum ersten Mal ganz nackt ist, aber auch für Gestalten wie den Reichen in der Hölle; denn auch er war eine große Herausforderung für Maler, die noch nicht lange gewohnt waren, auf die vielen schönen Draperien ihrer Figuren zu verzichten. ***
86 Paris mon amour III , Abb. S. 34. 87 Leuchtendes Mittelalter Neue Folge III , 2000, Nr. 28, Abb. S. 481. 88 Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI , 2009, Nr. 28, Abb. S. 480; Cousseau 2016, Fig. 14 auf S. 141.
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Einleitung
Ein Bogen schließt sich, der mit 49 Jahren fast genau ein halbes Jahrhundert ausmacht von den Jahren um 1504 zum Lilienmanuskript von 1553. Parallel zum erstaunlichen Aufblühen des Stundenbuchs im bebilderten Buchdruck, dem wir die neun Bände Ho rae gewidmet haben, haben Schreiber Außerordentliches geleist et: Sie mußten sich mit neuen Schriftmoden auseinandersetzen und den Weg von der gotischen Lettre de forme, also der Textura, und der Bastarda über Varianten der Fere-humanistica zur Antiqua finden, die von ihren Propagatoren, Humanist en in Italien, gar nicht für Gebetbücher gedacht war. Die Schreiber in Paris hatten damit zu kämpfen, ob denn der alte Hor ror vacui weiter ihr Tun bestimmen sollte oder nicht doch auch mithilfe leer gelassener Zeilen äst hetischer Reiz mit einer klugen Führung der Leserinnen und Leser vereinbar war. Alte und neue Zierbuchstaben und Zeilenfüller standen in Konkurrenz zueinander. Die mit jeder Kostbarkeit bereicherte Bordüre, ein Tummelfeld der Phantasie, mußte im Laufe des halben Säkulums weichen: Architektur, die in ihrer spätgotischen Zierlich keit bereits von François Le Barbier Fils als Rahmung eingesetzt worden war, verdrängte nun zunehmend das Spiel aus Akanthus und Blumen auf kostbaren Kompartimenten. Für die Bildthemen blieb es, soweit nicht besondere Herausforderungen wie das Stun denbuch für Katharina von Aragon ganz besondere Lösungen verlangten, beim Alten. Die Maler standen in Konkurrenz zur Graphik, an der sie gern auch selbst etwas ver dienten – als Erfinder oder auch als Übermaler, die fremden Entwürfen ihre eigene Prä gung gaben. Trotz dieser engen Beziehung, die durch Jean Pichores Drucklegung eigener Stundenbuchausgaben im Jahr 1504 glänzend bestätigt wird, blieb es doch bei markan ten Unterschieden – man denke nur an den Umstand, daß im handgeschriebenen Stun denbuch der Kindermord von Bethlehem nur sehr selten dargestellt wurde, während er im gedruckten oft die in Paris gewohnte Flucht nach Ägypten verdrängt. *** Paris war in dem halben Jahrhundert zwar wieder Hauptstadt des Königreichs und blüh te als Metropole einer weit verzweigten Wirtschaft auf; die Stadt zog fähige Leute aus der ganzen lateinischen Welt an, profitierte von künstlerischen Entwicklungen in Italien, in den Niederlanden und in den deutschsprachigen Ländern. Dafür stehen Künstler wie Noël Bellemare aus Antwerpen oder auch der süddeutsch geprägte Meist er des François II de Rohan, die unseren Nrn. 64 und 65 ihr Gepräge haben. Von den Königen wurde die Stadt nicht gemieden, aber eben doch nur besucht. Ludwig XII . zeigte das geringst e Interesse an ihr in seinem Leben zwischen Blois, Amboise, Romarin, Lyon und den An sprüchen auf Mailand. Sicher gab es gewisse Ansätze, den Louvre, in dem Franz I. so gar Kaiser Karl V. empfangen hatte, wieder zu einem würdigen Königsschloß nach dem Geschmack der Zeit zu machen. Die Bauarbeiten unter Franz I. blieben auf der SeineSeite stecken; erst Heinrich II . fügte mit dem Karyatidensaal im repräsentativen neuen Bautrakt der frühen 1550er Jahre einen würdigen Saal für herrscherliche Repräsentanz hinzu. Große Architektur wurde zu jener Zeit nicht in Paris, sondern im Loiregebiet und in den nördlichen Randzonen der Hauptstadt, in Écouen und Chantilly gebaut.
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Katalog 82, Nr. 65
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Stundenbuch von François Premier, Metropolitan Museum, N. Y.
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Stundenbuch Heinrichs II., Amiens, Einband (Rücken modern) und Doublüre
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Katalog 82, Nr. 66, Einband und Doublüre
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Entsprechend hatte die Literatur zu Bilderhandschriften auch die bedeutende Buchma lerei weitgehend aus Paris ausgeschlossen. Große Buchmalerei unter Ludwig XII . galt als „École de Rouen“; sie ist mit dem Meister von Martainville und Jean Pichore in die Hauptstadt zurückgekehrt. In ihrem unglücklich unvollendeten Forschen hat Myra Orth das wahrhaft Große mit der sogenannten 1520er Werkstatt an die Loire versetzen wol len. Noch kurz vor ihrem Tod mußte sie wahrnehmen, wie jüngere Kollegen viel für Pa ris zurückgewinnen konnten. *** In unserem Katalog wird man die erstaunliche künstlerische Vielfalt bewundern, mit der bescheidenere und große Talente die Buchmalerei in Paris zu einem spannenden Feld der Auseinandersetzung zwischen Tradition und Neuerung, zwischen Ortsbrauch und einer aus aller Welt nach Paris strömenden „Moderne“ machten. Dieser Umstand sorg te dann auch dafür, daß es offenbar für ehrgeizige Auftraggeberinnen und Auftraggeber nichts Wünschenswerteres gab, als ein Buch aus Paris für Langres, Angoulême, Vienne oder wo auch immer zu erhalten. Einen Pariser Stil zu definieren, verbietet die wahr hafte Größe dieser geliebten Stadt: Sie bot für zu viele begabte Künstler Herausforde rungen und war deshalb der Ort, an dem die hehre alte Kunst der Buchmalerei in Gold und Farben um 1550 im schönsten Sinne des Wortes illuminatio noch einmal jubelnd aufleuchten konnte.
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47 Das Stundenbuch der Katharina von Aragon Als Geschenk von König Ludwig XII. und Anne de Bretagne (?) – Ein unerhört reiches Pariser Manuskript vom Martainville-Meister mit Beiträgen von Jean Pichore
Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Blau und Rot, die Feste in Gold, in Bastarda. Paris, um 1504 – 1507: Martainville-Meister und Jean Pichore Von einzigartiger Bildfülle mit 114 Miniaturen, darunter 60 ganzseitige oder große: ein doppelseitiges (!) Bild ohne Text, 33 ganzseitige und 24 Bilder über Incipits (15 über zwei, acht über drei und eine über vier Zeilen Text); ein Vollbild mit dreizeiligem Textanfang in der Bildfläche; 24 große Randbilder zum Kalender sowie 31 Miniaturen am Texten de, davon je eine 15- bzw. 13zeilig, zwei 12zeilig, vier 10zeilig, je eine zu 9 und 8 Zeilen, zwei zu 7, drei zu 6, sechs zu 5, zwei zu vier, sechs zu 3 und zwei zu 2 Zeilen. Die Vollbil der rechteckig, in goldenen Rahmen mit dem Textanfang oder Rubrik im unteren Rah menstück, die bebilderten Incipits mit Initialen in der jeweiligen Zeilenhöhe, eine dieser Miniaturen erstreckt sich über eine Doppelseite; sechs von ihnen stehen sich als Doppel seiten gegenüber; die Miniaturen mit Bogenabschluß in Vollbordüren; die übrigen Bil der in dreiseitig von außen um den Textspiegel gelegten Bordüren. Vier Textseiten mit vierzeiligen Initialen aus Akanthus auf Pinselgold mit Blüten; zweizeilige Initialen der selben Art für Psalmenanfänge; Psalmenverse am Zeilenbeginn in auffälliger Weise ab wechselnd als plastischer weißer Akanthus auf Gold und in flachem Pinselgold auf Blau; der gesamte Randschmuck in Kompartiment-Dekor von unerhörter Vielfalt, mit blaugol denem Akanthus auf Farbgründen und Blumen auf Pinselgold; 50 Blätter sehr dicht be setzt mit goldenen fleurs de lis auf blauem Grund, aber auch Spielereien, in denen große fleurs de lis mit Blumen gefüllt als Kompartimente eingesetzt sind; dazu viele blaue Ja kobsmuscheln; die Mehrheit der Textbordüren mit grotesken Figuren oder Schmetterlin gen belebt. Die Endlage mit dem Rad Katharinas in einigen goldgrundigen Bordüren ähnlich gestaltet, aber im Detail abweichend. Versalien gelb laviert. 212 Blatt Pergament, vorne und hinten ein Doppelblatt Pergament als festes und fliegendes Vorsatz. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, ohne Zäsuren vor Marien-Matutin und Bußpsal men; von der Norm abweichend die um das erste Blatt ergänzte Kalenderlage 1 (12+1), die um ein Blatt vor fol. 27 beraubte Lage 3 (8-1), Lage 5 (16! mit verstärktem Falz in der Lagenmitte), die um ein Blatt vor fol. 71 beraubte Lage 7 (8-1), das um ein Blatt vor fol. 85 beraubte Bifo lio Lage 8 (2-1), die aus einem Doppelblatt bestehende Lage 23 (fol. 205-206), und die End lage 24 (6). Reklamanten in der Textschrift bis auf Partien des Marienoffiziums regelmäßig. Quart (200 x 133 mm; Textspiegel: 98 x 64 mm). Rot regliert zu 18 Zeilen in Text und Kalender; die erste Textlage (fol. 14-21) jedoch zu 19 Zeilen. Unbeschnitten und farbstark erhalten. Spuren frommen Gebrauchs fast ausschließlich in den unbemalten Blatträndern, zumal die dicken Farbflächen der Bordüren dem extrem feinen Pergament ungewöhnliches Gewicht geben. Bis auf drei Blatt vollständig. Goldschrift im Kalender zu Anfang von einem Goldschläger bearbeitet.
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Modern gebunden in Goldfaden-Damast mit Granatapfeldekor über Holzdeckeln, zwei Messingschließen, Goldschnitt. Zur Provenienz Die künstlerische Ausstattung der von vornherein ungemein großzügig und bilderreich angelegten Handschrift erfolgte in wenigstens zwei Etappen, in denen offenbar die Be deutung des Auftrags wuchs. Nachdem das Manuskript nach bestem Pariser Brauch mit den gewohnten Miniaturen versehen war, ist die dafür verantwortliche Werkstatt noch einmal eingesetzt worden, um in einem zweiten Schritt alle am Ende vieler Texte leer gebliebenen Räume mit weiteren Bildern oder wenigstens dekorativen Streifen aus zumalen. Ähnlich verfuhr man im sogenannten Bedford-Stundenbuch, Add. Ms. 18850 der British Library in London, wo heraldische Hinweise auf den Herzog von Bedford in Restfeldern Platz fanden. In dem hier zu beschreibenden Stundenbuch spielt die heilige Katharina eine zentra le Rolle: Zwar wurde sie vom Schreiber in den Suffragien nicht anders als die anderen Heiligen behandelt, erhielt jedoch schon in dieser Partie des Buches ein Zusatzbildchen, das auf dem Verso gegenüber dem Textanfang Bruchstücke ihres Rades zeigt. Katharina begleitet im Bild zum Mariengebet Obsecro te eine vornehme Beterin, die eine schwar ze Haube wie Anne de Bretagne trägt, jedoch anders als bei dieser französischen Köni gin mit sichtbaren blonden Locken. Beide Gestalten waren von vornherein vorgesehen; doch zeigt ein deutlicher Stilunterschied, daß die Beterin wie in wenigen hervorragenden Stundenbüchern am Übergang zur Renaissance (so im Stundenbuch des Louis de Laval, latin 920 der BnF) von einem anderen Maler als die Heilige gestaltet wurde: Der Heili gen Katharina Antlitz hat der Martainville-Meister gemalt, der auch für die Madonna und die sonstige Bebilderung des Manuskripts verantwortlich war. Das Haupt der Be terin wird hingegen Jean Pichore ausgeführt haben, dessen Werkstatt auch die im Lay out abweichende letzte Lage mit den Horen der Empfängnis Mariä gestaltete, mit einem Bild der Beiworte der Jungfrau Maria. Die Beterin ist jung, aber schon verheiratet; und sie bewahrt auf spektakuläre Weise in einem Fach ihres Betpults eine goldene Königskrone auf! Somit ist sie noch nicht als Königin, sondern in Erwartung einer königlichen Würde zu verstehen. An verschiedenen Stellen hat man ihre Gestalt bei der zweiten Ausstattungskampag ne in kleinen Bildern am Ende größerer Textabschnitte wiederholt und zwar in kleinen Miniaturen, die Erwartung von Mutterschaft und Totenklage zum Thema haben: Vor dem Adventsof fizium betet sie am Fußende eines Bettes, auf dem die schwangere Ma ria in einer sonst ganz und gar unbekannten Szene liegt (fol. 100v). Auf einem Friedhof kniet die Beterin am Ende der Litanei vor dem Totenof fizium (fol. 138v), von einer jün geren Frau begleitet, um aus einem aufgeschlagenen Buch zu beten; vor ihr ist ein Grab für drei Verstorbene ausgehoben, die nach französischer Sitte in Leintuch eingenäht auf
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die Beerdigung warten. Kleiner, aber ebenfalls markant ins Bild gesetzt, betet dieselbe fiziums vor dem Beginn der Suffragien auf fol. 183. Dame zu Gott am Ende des Totenof fizium weicht vom gewohnten römischen Gebrauch ab durch Schlußgebe Das Totenof te für Ordensgemeinschaften, die wie die Dominikaner und Franziskaner Mönchs- und Nonnenklöster unterhalten. Einzigartig aber ist die Bebilderung; denn Vollbilder ver suchen, die einzelnen Lesungen aus dem Buch Hiob anschaulich zu machen. Bei dem dazu gezeigten Personal spielen Frauen – außer Hiobs Gemahlin – kaum eine Rol le; eher geht es um ein Männerschicksal und die Flüchtigkeit von Glück, aber wohl aus der Sicht einer Frau. Am auffälligsten wird dieser Gedanke beim Rad der Fortuna, das auf fol. 152 mit dem jugendlichen König an der Spitze dargestellt ist. Das Thema stand Buchmalern zwar im Trost der Philosophie des Boethius, bei Boccaccio, De casibus virorum illustrium und im Rosenroman des Jean de Meun lebendig vor Augen (siehe dazu Matthi as Vollmer, Fortuna diagrammatica, Peter Lang 2009), ist aber unerhört in der Bebilde rung von Stundenbüchern. Die Bilder zum Totenof fizium geben sich nicht damit zufrieden, wie in Nr. 34 dieses Ka talogs einfach einen Hiobszyklus auszubreiten, sondern setzen jeweils neu an, um Kern aussagen der Lesungen zu veranschaulichen, die überdies noch ins Bild einbeschrieben sind und in ihrer Herauslösung aus dem fortlaufenden Text auf bemerkenswerte Latein kenntnisse von Maler und Benutzer schließen lassen. Wenn man nach ihrer Ausrichtung fragt, so wird unzeitiger Tod eines Mannes zum Movens. Dafür war selbstverständlich das Genie eines Malers gefragt, der wie der hier verantwortliche Martainville-Meister weit über gewohnten Standard hinausgehen konnte, um Text und Bild auf eigene Weise zu reflektieren. Die eminente und in ihrer dichten Durchdringung der Themen einzig artige Bebilderung des Totenof fiziums wird aber auch die Bestimmung unseres Manuskripts betreffen: Hier wird offenbar eines allzu früh Verstorbenen gedacht. Darstellungen eines jungen Mannes zwischen schlichtem Genre und einer nicht scharf fokussierten Absicht, auf einen bestimmten Auftraggeber einzugehen, unterstützen die se Sicht: Auf fol. 84 tritt ein junger Beter mit zwei Jünglingen im Gefolge auf; er mag noch einmal mit der kleinen Gestalt gemeint sein, deren Kopf auf fol. 95 fast vom Bild rand angeschnitten ist. In Vollbildern des Totenof fiziums knien auf fol. 155 zwei jun ge Männer betend vor Christus, auf fol. 172 ein solcher Mann vor einer nicht genau bestimmbaren heiligen Gestalt. Man könnte annehmen, hier sei jemand zur Unzeit ge storben; deshalb steht schließlich doch eine Frau fraglos im Zentrum: In der hinzugefüg ten Lage mit den Horen von Mariä Empfängnis, deren Text in Gedanken an die Mut tergottes dazu geeignet war, auch Kinderwünsche frommer Frauen zu reflektieren, wird mit Bruchstücken des Katharinenrads in drei Bordüren am Ende des Manuskripts auf fol. 207v, 209v und 211 gespielt, nachdem Katharinas Rad auf fol. 20v bereits ähnlich gezeigt worden war. Die Dame, der das Manuskript zugedacht war, scheint auch beim Ausritt im Mai, fol. 6, gemeint zu sein. Ob sie, nur mit weißem Schleier auch im Ge bet vor Genovefa, fol. 200v, erscheint, steht dahin. Sicher aber ist die Dame, für die
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das Stundenbuch geschaffen wurde, trotz abweichender Haube die Hauptfigur im Kreise der Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsstufen, die auf fol. 205v–206 Christ i Kreuz auf sich nehmen (Vgl. unsere Ausführungen zur Miniatur S. 106f.). Eindeutige heraldische Hinweise wie lesbare Wappen sind nirgendwo im Buch zu fin den. Im Randschmuck, der meist spiegelbildlich auf beiden Seiten eines jeden Blattes nach demselben Entwurf wiederholt wurde, schmücken französische Königslilien mehr als jede zehnte, das heißt insgesamt fünfzig Buchseiten: fol. 7v, 11v, 17, 35/v, 38/v, 52/v, 54v, 58v, 74, 85/v, 99/v, 101v, 105/v, 112/v, 116/v, 125/v, 127/v, 131/v, 134v, 149/v, 158, 164, 179/v, 180v, 182/v, 185/v, 190/v, 203/v, 206v, 208/v und 210v (dort nicht auf Recto). Sie finden sich einmal auch in einer Vollbordüre um eine große Miniatur, das AntoniusBild auf fol. 190. Die fleurs de lis sind über das ganze Manuskript verstreut: im Kalender, im ursprünglichen Textblock, in der als Nachtrag anzusehenden Endlage und besonders auffällig auf dem eingefügten Doppelblatt mit der Kreuztragung. Nirgendwo bilden die Lilien die Dreiheit von France moderne; in Semé auf Blau bedecken sie, so auf fol. 74 und 101v, ganze Randflächen oder blaugrundige Kompartimente. Fel der, die als ganze oder halbe Königslilien zu lesen sind, bilden Kompartimente, auf de ren Goldgrund Blumen verteilt sind. Auf fol. 99/v werden beide Arten sogar miteinan der kombiniert, indem als fleurs de lis konturierte Kompartimente mit blauen Feldern abwechseln, auf denen kleine Königslilien im Semé angeordnet sind. Noch eine zweite heraldische Form im Semé kommt hinzu: Zweimal, auf fol. 134 und 158, wechseln Königslilien auf der einen Seite und goldene Jakobsmuscheln auf der Rück seite ab, als solle das eine Zeichen mit dem anderen kombiniert werden. Die um 1500 am französischen Hof beliebten Jakobsmuscheln, vorwiegend in Gold, seltener in hellem Blau, kehren auf fol. 84, 93/v, 96v, 106/v, 122v, 134, 148, 155v und 158v wieder. Zuweilen sind die Muscheln mit Knotenstöcken verbunden. Der Knotenstock selbst, also der bâton noueux, der vor allem für das Haus Orléans zeugt, findet sich seinerseits auf fol. 41v, 59, 62/v, 70, 91/v, 93/v, 106/v und 113/v. Schließlich mögen auf fol. 141/v, 173/v und 183/v Gürtel, deren Schnallen meist mit Paaren von Hundsveilchen, franzö sisch pensées, verziert sind, auf die vornehme Dame und eine eventuelle Schwangerschaft anspielen. Das Monogramm AM , das auf fol. 64v zusammen mit IHS erscheint, ist hin gegen nur auf die Jungfrau Maria bezogen. Für die Namensbestimmung der Beterin ist zu beachten, daß gerade in Frankreich der Name einer Person, für die ein Werk bestimmt, nicht zwingend die Heiligenpatrone fest legt: Für Jean de Berry tritt der Apostel Andreas häufiger als Johannes der Täufer ein, weil der Herzog am Andreastag geboren wurde. Johannes den Täufer spricht hingegen an Claus Sluters Portal der Kartause von Champmol in Dijon aus den 1390er Jahren für den Burgunderherzog Philipp der Kühnen. Die heilige Katharina begleitet dort dessen Gemahlin Margarete von Flandern; denn diese Heilige galt nach der Jungfrau Maria als die einflußreichste Advokatin beim Jüngsten Gericht. Auch beim Gebet zur Madonna
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konnte diese Heilige nützlich sein; denn Maria hält ja den künftigen Weltenrichter noch als Kind in ihren Armen. Wenn man nun solche Ausnahmen außer Acht läßt und von der heiligen Katharina ausgeht und dabei die Krone einbezieht, die nicht auf dem Haupt der Beterin sitzt, sondern in Griffnähe in deren Betpult liegt, kommt in der Entstehungszeit nur eine Fürst in in Frage: Katharina von Aragon (15.12.1485–7.1.1536). Sie muß nicht zwin gend den Auftrag gegeben haben; denn überaus prominente Stundenbücher sind zuweilen ohne konkrete Rücksprache mit den Personen entstanden, denen sie zuge dacht waren. Katharinas Schwester Johanna von Kastilien (auch als Juana la Loca bekannt) erhielt bei spielsweise das Londoner Add. Ms. 18852, das in zwei Phasen jeweils fast ganz ohne ihre Mitwirkung gestaltet wurde: Den Grundbestand hatte ihr Bräutigam Philipp der Schö ne vor ihrer ersten Reise in die Niederlande bestimmt; die textlich und bildlich bemer kenswerten Hinzufügungen aus der Zeit ihres zweiten Aufenthalts im Norden wurden ihr hingegen von geistlichen Beratern oktroyiert (siehe meinen Beitrag Books for Women Made by Men, in: Florence Brazès-Moly und Francesca Marini, Medieval Charm. IIluminated Manuscripts for Royal, Aristocratic and Ecclesiastic Patronage, Florenz 2017, S. 64-83). Nachdem das Buch zunächst zur Brautwerbung gehört hatte, sollte es später der Disziplinierung durch den Beichtvater dienen. Diplomatische Geschenke über Länder- und Kulturgrenzen hinweg hat es immer gege ben; so erhielt der mit Maximilian auf das engste verbundene Markgraf Christoph I. von Baden wohl 1491 ausgerechnet, als er zum Ritter des Goldenen Vlieses erhoben wurde, ein mit unserem Manuskript stilverwandtes Pariser Stundenbuch, das ihn für die fran zösische Seite gewinnen sollte (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, cod. Durlach 1: König 1978). Zu prüfen ist, ob dieses Stundenbuch mit seiner entschiedenen Betonung der fleurs de lis als diplomatisches Geschenk vom französischen Hof an die aus Kastilien stammende Königin zu verstehen ist, die über ihre Schwester Johanna von Kastilien Tante der habs burgischen Kaiser Karl V. und Ferdinand I. war. Katharina von Aragon war die jüngste Tochter der Katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon. Auf Michel Sittows bedeutendem Porträt aus dem Jahrzehnt nach 1500, das später irreführend mit einem Nimbus versehen wurde (Wien, Kunsthist orisches Museum), trägt sie die gleiche Haube wie in unserem Stundenbuch und zwar ebenfalls so, daß die vollen blonden Locken die Stirn rahmen. Schon 1489 wurde Katharina per Heiratsvertrag mit Arthur, dem Erbsohn Heinrich Tu dors, verbunden, der als Heinrich VII . darum bemüht war, mit dieser Ehe des Prinzen von Wales den Rang seiner Familie im Kreis der europäischen Königshöfe zu betonen. 1501 brach Katharina nach England auf, man heiratete am 14. November; doch verwit wete sie schon mit Arthurs Tod am 2. April 1502. Erst nach demütigenden Erfahrun
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gen am englischen Hof und diplomatischen Verwicklungen schloß Katharina kurz nach dem Tod Heinrichs VII . am 23. Juni 1509, mit päpstlichem Disp ens von 1504, in dem Julius II . die Bedenken gegen die Eheschließung einer Witwe mit dem Bruder des ver storbenen Gemahls aufhob, die Ehe mit Arthurs Bruder Heinrich VIII . Die auf fol. 138v vor dem Beginn des Totenof fiziums eingefügte Miniatur mit der Kla ge über drei Tote auf dem Friedhof läßt nach Schicksalsschlägen fragen, die Katharina von Aragon erlitten hat: Immerhin hat sie in den ersten Ehejahren mit Heinrich VIII . drei Kinder zur Welt gebracht, die sich als nicht lebensfähig erwiesen: Auf die Totge burt eines Mädchens am 31.1.1510 folgte am Neujahrstag 1511 die Geburt eines Sohns, Heinrich von Cornwall, der am 22.2.1511 starb, und Anfang 1513 – überdies nach einer Fehlgeburt – die eines weiteren Sohns, der nur wenige Tage lebte. Die drei auf fol. 138v beweinten Toten könnte man für die früh verstorbenen Kinder Katharinas halten (die schließlich 1516 noch eine Tochter gebar, die von 1553 bis 1558 als Bloody Mary oder Maria die Katholische zur ersten englischen Königin in eigenem Recht wurde). Dann wäre die Handschrift 1513 zu datieren; im Folgejahr 1514 war an Diplomatie kaum noch zu denken, weil Heinrich VIII . mit seinem Heer in Calais einfallen und Thérouanne erobern sollte. Stilgeschichtlich sinnvoller wäre für unser Stundenbuch eine Datierung in die Jahre nach Arthurs Tod 1501; auch die Krone, auf die beim Mariengebet noch gewartet wird, erhielte einen prägnanten Sinn. Wenn man die Trauer um Arthur mit einbezieht, mußte Katharina von Aragon im Jahr 1504 drei Tote beklagen; denn sie hatte mit ihrer Mutter Isabella und der Schwiegermutter Elisabeth ihre wichtigst en Fürspre cherinnen verloren. Diplomatische Verwicklungen sorgten dafür, daß der spätere Hein rich VIII . Katharina nicht mehr heiraten wollte, ihr Vater Ferdinand 1505 ein Bündnis mit Frankreich schloß und ihr Schwager Philipp der Schöne über eine Eheschließung seiner ältesten Tochter, also ihrer 1498 geborenen Nichte Eleonore mit Heinrich verhan delte. Noch war diese weit davon entfernt, nach Portugal verheiratet zu werden und sehr viel später Franz I. von Frankreich zu ehelichen. Diese kritische Phase der Ungewissheit für die damals wie eine Geisel in England gehaltene Katharina wäre ein guter Zeitpunkt, ihr, der sehr frommen Prinzessin, von französischer Seite als Bündnisp artner Ferdinands ein Stundenbuch zu senden. Die Prachthandschrift wäre als Zeichen zu verstehen, daß sie nach dem endlich er teilten Disp ens für eine Ehe mit dem späteren Heinrich VIII . (22.11.1504) die zu künftige Königin Englands sei und es nicht zu einer Allianz zwischen den habsbur gischen Burgundern und England kommen werde. Heraldisch bestünde ein schwer lösbares Problem, weil ein Allianzwappen mit England zwischen Arthurs Tod und der Eheschließung mit Heinrich nicht angemessen gewesen wäre; denn der Disp ens, der die Ehe mit Heinrich erst erlaubte, beruhte auf Nichtvoll zug der Ehe mit Arthur. Der Bezug auf die heilige Katharina als Advokatin hätte eine Prinzessin stärken sollen, die unter demütigenden Umständen in England geradezu ge fangen gehalten wurde. Die französischen Lilien mögen allgemein auf den Rang der Be
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schenkten königlichen Geblüts anspielen, zumal Katharina von Aragon auch Valois un ter ihren Vorfahren hatte, oder – eher noch – sich auf die Schenkenden beziehen. Der junge Mann, der auf fol. 172 im letzten Bild des Totenof fiziums um die Gnade bittet, noch zu Lebzeiten seine Sünden bereuen zu können, wäre dann der unglücklich früh hingeschiedene Arthur, Prince of Wales. Über den Bücherbesitz der Katharina von Aragon ist nicht viel bekannt. Fest steht, daß für sie, die von allen Ehefrauen Heinrichs VIII diejenige mit der umfänglichsten und besten Erziehung war, Bücherlektüre die Grundlage ihrer gesamten Kultur darstellte; so meint Erasmus von Rotterdam, sie sei weitaus belesener als ihr Gatte gewesen. Die von James P. Carley, The Books of King Henry VIII and his Wives, London 2004, S. 120, ge gebene Liste der bei Katharinas Tod nachgelassenen Bücher verzeichnet 21 Werke, von denen 20 – alle gedruckt – heute noch in öffentlichen englischen Sammlungen nachge wiesen werden können. Ein Buch aber, das erste der Liste, ist verschwunden und es ist dieses, dessen lapidare Notiz uns elektrisiert: „Item one primmar written on vellom covered with clothe of golde, having two clasp is of silver and gilte“ (James P. Carley, The Libraries of King Henry VIII, London 2000, S. LVI), also ein auf Pergament ge schriebenes, in güldenen Stoff gebundenes Stundenbuch mit vergoldeten Silberschließen. Ist nicht der Umstand, daß dieses als einziges Buch in der Folgezeit verschwindet, obwohl es in der Rangfolge der Hinterlassenschaft als Pergamentmanuskript aus drücklich herausgehoben wird, ein weiteres starkes Indiz dafür, daß wir es hierbei mit unserer Handschrift zu tun haben? Carley, der unser Manuskript selbstverständ lich nicht kennt, vertritt die Hypothese, daß es sich um den später in der WestminsterListe von 1542 unter Nr. 671 (richtig: 670 bzw. 439) verzeichneten „primer written, coverid with cloth of golde“ handle, der möglicherweise am 25. Februar 1551 nach einer Verfügung König Edwards VI . mit anderen „superstitiouse“ Büchern in Westminster verbrannt worden sei; er ist dabei aber auf reine Mutmaßungen angewiesen. Wir können uns nicht vorstellen, daß man einen solchen einzigartig kostbaren Band ohne wei teres vernichtet hat – viel wahrscheinlicher ist, daß er schon nach Katharinas Tod oder spätest ens bei Marys Thronbesteigung an ihre Tochter gelangte, die 1553 bis 1558 Königin war und schon 1534, vor dem Tod ihrer Mutter, zwei Bücher von die ser als Geschenk erhielt, bezeichnenderweise eine „Vita Christ i“ und die Briefe des Hieronymus (Carley 2004, S. 110). Wir wissen, und Carley bestätigt dies, daß Mary als Königin versuchte, die Uhr zurückzudrehen und so viele klösterliche und vorreforma torische Bücher als noch möglich zu retten, „to restore the faith“ (Carley 2004, S. 145). Außer Frage steht jedenfalls, daß sie „immensely sympathetic to a return to the pre-Re formation order“ war, aber ihr früher Tod weiterreichende Konsequenzen verhinderte. Daß hingegen das persönliche Stundenbuch ihrer Mutter bei ihr verblieb und nicht zer stört wurde, scheint uns so schlüssig wie der Umstand, daß sie seiner Vernichtung nach ihrem Tod vorbeugte, indem sie es in treue und rechtgläubige Hände gelangen ließ.
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Man hat die Provenienz durch eine mehrfache Übermalung des Wappens vertuschen wollen, allerdings entsprechen die Umrisse dieses Wappenschildes, das Engel aus Jean Pichores Werkstatt auf dem vor den Kalender geschalteten Einzelblatt präsentie ren, ziemlich genau denjenigen von Katharinas gedrucktem Wappen, siehe die Abb. bei Carley, 2004, S. 112! Der Inhalt ist wohl schon im 16. Jahrhundert verändert worden, recht dilettantisch, da in der oberen Hälfte zwei gegeneinander leicht versetzte (und so heraldisch unmögliche) Kreuze in Silber eingetragen wurden, während die untere Hälf te getilgt ist. Die immer noch vorhandene horizontale Zweiteilung des Wappens weist ebenfalls auf das von Katharina zurück. Um diesen nicht mehr originalen Zustand un kenntlich zu machen, wurde das ganze Feld mit Rot übermalt, das schließlich unsachge mäß abgewaschen wurde. Tatsache bleibt, daß der Umriß des Wappenschilds demjenigen von Katharinas gedruckter Version entspricht. Nach dieser wiederholten Veränderung und Tilgung des Wappens ruhte die Zimelie – ihrer Herkunft beraubt – in verschie denen englischen Sammlungen, bis sie am 9.12.1974 bei Sotheby’s (ohne Kenntnis der Provenienz) als Nr. 63 mit Abbildung von fünf Miniaturen als „Property of a Gentle man“ versteigert wurde und in die europäische Privatsammlung kam, aus der wir sie vor kurzem direkt erwarben. Text So intensiv die Bebilderung auf eine Frau anspielt, die eng mit der heiligen Katharina von Alexandrien verbunden ist, so eindeutig sind die Texte für einen Mann redigiert; das aber muß in der Entstehungszeit der Handschrift kurz nach 1500 nicht verwundern. fol. 2: Kalender in französischer Sprache; jeder Tag besetzt: Goldene Zahl und Feste in Gold (zum Teil von einem Goldschläger abgeschlagen), Sonntagsbuchstaben A als gol dene Initialen abwechselnd auf braunroten und blauen Gründen; einfache Heiligentage abwechselnd blau und rot; Die Orthographie (La typhaine) ist ebenso wie die Heiligen auswahl mit dem Fest der Genovefa am 3. Januar pariserisch. fol. 14: Perikopen: Johannes (fol. 14), Lukas (fol. 16), Matthäus (fol. 17v) und Markus (fol. 19). fol. 21: Bei den Mariengebeten, die für einen Mann redigiert sind (famulo tuo auf fol. 22v; michi peccatori fol. 26v), sorgte ein Bindefehler für Irritation: fol. 24 (die moderne Foliie rung entspricht an dieser Stelle der ursprünglichen Reihenfolge) war vor fol. 23 geschal tet; es bildete mit dem nach fol. 26v fehlenden Blatt ein Bifolio: Obsecro te (fol. 21), O intemerata für Maria und Johannes (fol. 25; die letzte Textseite fehlt nach fol. 26v), die Fehlbindung ist nun berichtigt. fol. 27: Johannes-Passion: Egressus est ihesus (fol. 27), Mitte gladium tuum (fol. 28), Addu cunt ergo ihesum (fol. 30v), Tunc ergo apprehendit pylatus (fol. 32v), Exivit ergo ihesus port ans coronam spineam (fol. 33v), Susceperunt aute(m) illum (fol. 35v), Stabant autem iuxta crucem (fol. 37), Post hec autem rogavit pylatum ioseph ab arimathia (fol. 39), Erat autem locus (fol. 40).
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fol. 41: Marienof fizium für den Gebrauch von Rom, mit drei Psalmengruppen für die Wochentage zur Matutin: die ersten beiden Psalmen zu Sonntag, Montag und Don nerstag gegen den Brauch ohne Antiphonen, der dritte Psalm mit Ante thorum; die mit je drei Antiphonen ausgestatteten Psalmen für Dienstag und Freitag sowie Mittwoch und Samstag erst im Anschluß an die Lesungen: Matutin (fol. 41), Laudes (fol. 59v), Prim (Anfangsblatt fehlt vor fol. 71), Terz (fol. 75), Sext (fol. 80), Non (Anfangsblatt fehlt vor fol. 85), Vesper (fol. 88 mit den im römischen Gebrauch üblichen Antiphonen zu jedem Psalm), Komplet (fol. 96), Adventsof fizium (fol. 101). fol. 108: Horen von Heilig Kreuz (fol. 106) und Horen von Heilig Geist (fol. 114). fol. 119: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 130); die sehr kleine Heiligenauswahl wenig aus sagekräftig: die Pariser Gervasius und Prothasius am Ende der Märtyrer. ten of fi zi um, für den Gebrauch von Rom, die Schlußgebete beziehen sich je fol. 139: To doch auf Ordensgemeinschaften, die wie die Dominikaner und Franziskaner Männer und Frauen umfaßten: Vesper (fol. 139), Matutin (fol. 146: auf fol. 145v zutreffende Rub rik: Ad matutinas mortuorum; unter dem Bild irreführend ad vigilias mort vorvm): Lesungen aus dem Buch auf fol. 152 (7,16-22), 153v (10,1-7), 154 (10,8-12), 160v (13,2228), 161v (14,1-6), 163 (14,13-16), 169 (17,1-3, 11-15), 170v (19,20-27), 172 (10,18-22); Laudes (fol. 173v) nicht markiert. fol. 183v: Gebet an Gottvater, Suffragien, Mariengebet: Deus propicius esto michi pec catori (also wieder für einen Mann redigiert: fol. 183v); Michael (fol. 186); Stabat mater (fol. 187); Petrus (fol. 189); Antonius Abbas (fol. 190); Lorenz (fol. 191); Johannes der Täu fer (fol. 192); Nikolaus (fol. 193); Christophorus (fol. 194); Sebastian (fol. 195v); Margarete (fol. 197); Katharina (fol. 198); Barbara (fol. 199); Jakobus (fol. 200); Genovefa (fol. 201); Blasius (fol. 201v); Magdalena (fol. 202); Susanna (fol. 202v); Maria: Saluto te beatissima dei genitrix, gefolgt vom Suffragium Ave domina sancta maria (fol. 203). fol 205: Christusgebete: Domine ihesu xpe fili dei vivi pone passionem, fol. 205v-206 text loses Bild, fol. 206v: Qui vult venire post me als Suffragium. fol 207: Horen von Mariä Empfängnis, mit abschließender Recommendatio und dem Ge bet Ave cuius concepcio als Suffragium (fol. 211v); Textende 212v. Schrift und Schriftdekor Das Buch ist in einer vorzüglichen Bastarda geschrieben, die mit Oberlängen spielt, aber mit der strikten Umfassung durch Randmalereien rechnet und deshalb an keiner Stel le zu Kadellen ansetzt. Die gelbe Lavierung und die durchweg blauen Rubriken in latei nischer Sprache sowie der in drei Farben gehaltene Kalender entsprechen bestem Pari ser Standard der Jahrzehnte um 1500. Große Initialen, von zwei Zeilen Höhe an, sind in jenem Akanthusdekor gehalten, der sich in dieser Zeit weitgehend durchsetzte: Die Buchstaben sind aus weißem Akanthus auf Gold oder goldenem auf Blau gebildet; die goldenen Grundflächen werden mit Blumen dekoriert, die blauen mit weißem Ornament.
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Größere weiße Initialen behalten das Gold als Füllung der Binnenfläche, sind aber mit roten oder braunen Gründen umfaßt. Bei kleineren Initialen folgen, unabhängig ob sie zwei oder nur eine Zeile hoch sind, Weiß auf Gold und Gold auf Blau in der Regel al ternierend aufeinander. Eine auffällige Eigenart charakterisiert jedoch diese kleinen Initialen; denn bei ihnen wechselt die Dekorationsart: Nur die aus weißem Akanthus geformten Buchstaben schreiben sich ins Konzept des neuen Akanthusdekors ein; goldene Lettern auf Blau gehören aber zum Flächendekor. Eine Kategorie für sich bilden die Zeilenfüller, die als Knotenstöcke in Ocker mit goldener Höhung ausgebildet sind. Im Kalender finden sich zwar dieselben Zeilenfüller; doch bleiben die Sonntagsbuch staben A durchweg golden, während deren Fond alterniert. Auf einer Textseite jedoch, dem Recto von fol. 57, herrscht solcher Flächendekor mit goldenen Buchstaben auf al ternierend roten und braunen Gründen mit entsprechend abwechselnden Zeilenfüllern: Vermutlich hatte man beim Illuminieren diese Seite zunächst übersehen; der spätere Eingriff erfolgte dann von anderer Hand ohne Rücksicht auf den sonst im Buch herr schenden Standard. Ein davon abweichendes System bestimmt die beiden Außenseiten der Kreuztragung, fol. 205 und 206v, während eine von beidem unterschiedene Dekorationsart in der End lage ab fol. 207 zu finden ist. Alle Initialen auf fol. 206v sind einheitlich blau, einzeili ge in Flächendekor, zweizeilige als Akanthusbuchstaben. Das Grundprinzip, das sonst im Buch herrscht, wird von fol. 207 an grundsätzlich fortgesetzt; doch alternieren nun die Zeilenfüller mit plastisch modellierten Knotenstöcken in Gold und als Flächende kor mit goldener Zier versehenen Streifen. Die Bordüren, die sonst im ganzen Buch sehr einheitlich sind, weichen auf den beiden Textseiten um die Kreuztragung ab, besonders wegen der härteren Konturierung, die durch Tintenlinien in der hinzugefügten Endla ge noch verstärkt wird. Der Randschmuck der einfachen Textseiten, eine der eindrucksvollen Spezialitäten des hier verantwortlichen Martainville-Meisters, gehört zu den großartigen Leistungen, mit denen unser Stundenbuch verblüfft: Zwar bieten auch manche anderen Handschriften der Zeit wunderbare Wirkungen; doch brillieren hier zunächst einmal die Farben in verblüffender Weise: Die Randmalereien warten im Wortsinne mit einer erstaunlichen Wucht auf; sie sind so kräftig auf das ungemein zarte Pergament gemalt, daß die Farb flächen jedem Blatt eigenes Gewicht verleihen. Am Schnitt läßt sich erkennen, daß die Farbe die Dicke des Buchs verändert hat: Messen die 212 Blätter im Bereich der 25 mm breiten Falzstreifen, die nur auf den 60 Bildseiten bemalt sind, in ihrer Gesamtheit etwa 25 mm, so nimmt der Band in der Mitte der Seiten 5 mm zu! Ein exquisites Blau verbindet sich mit dunklem Rot und wenigen brillanten Effekten von hellem Zinnober. Gold spielt eine dominierende Rolle, weil alle mit Pinselgold an gelegten Kompartimente auf den umgebenden Farbflächen so konturiert sind, als liege das Gold in einer etwas höheren Schicht. Der Einfallsreichtum bei den Kompartiment
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formen ist unerschöpflich; da gibt es neben den schon genannten Königslilien und den goldenen Gürteln Herzen, Blumen, Tropfen, aber auch einfache geometrische Elemen te unterschiedlicher Größe und raf finierten Zuschnitts. Doch sind nicht alle Randma lereien in Kompartimente aufgeteilt; reiner Gold- oder Farbgrund kommt genauso vor. Der in der Buchmalerei der Zeit weit verbreitete Wunsch nach Arbeitserleichterung führt zum Einsatz desselben Bordürenentwurfs auf Vorder- und Rückseite desselben Blattes. Händescheidung innerhalb der Martainville-Werkstatt bietet sich nicht an; fi gürliche Elemente helfen nicht, den Bestand zu ordnen. Menschen oder szenisch aufei nander bezogene Figurenpaare gibt es nirgendwo. Ohne schlüssige Systematik treten In sekten, Schmetterlinge, vor allem aber groteske Mischwesen auf. Die größeren Monster sind oft auf einen grünen Bodenstreifen gestellt, der zuweilen die gesamte Grundlinie einer Bordüre einnimmt. Genrehafte Motive sind recht selten; doch reitet beispielswei se auf fol. 78/v ein Affe ein gehörntes Phantasietier; und auf fol. 79/v trägt ein Affe zwei seiner Jungen in einer Bütte oder Kiepe auf dem Rücken. Zu konstatieren ist das inte ressante Faktum, daß auf Seiten mit fleurs de lis nie Monster ihr Unwesen treiben, wohl eine Reverenz an die Hoheit der Auftraggeber. Die Bilder Unerhörter Bilderreichtum war schon von Anfang an geplant; doch hat der für den er staunlich reichen Grundbestand verantwortliche Buchmaler noch in einer zweiten Kam pagne in diesem Stundenbuch leer gebliebene Restfelder am Ende der einzelnen Tex te, so gut es ging, mit Bildmotiven versehen; er hat sich dabei nicht einmal gescheut, auf kuriose Weise David und den Riesen Goliath auf fol. 118v in nur zwei Zeilen unterzu bringen. Wo sich wie im Kalender für winzige Räume kein Sujet anbot, wurden leere Zeilen mit figuralen Ornamenten in Camaïeu gefüllt. Die irrige Reihenfolge der Sze nen am Ende der in solchen Restfeldern untergebrachten Stationen zur Johannes-Passi on läßt keinen Zweifel, daß es sich um Ergänzungen handelt, die nicht zum ursprüngli chen Konzept gehören. fol. 1: Von anderer Hand aus der eng stilverwandten Pichore-Gruppe wurde das schon erwähnte, zunächst nicht geplante Blatt mit Wappenmalerei dem Kalender vorgeschal tet: Viergeteiltes Wappenschild, von zwei Engeln in einer Renaissance-Architektur ge halten, zwischenzeitlich mit roter Farbe übermalt, die später nicht sachgerecht abgewa schen wurde, so daß das Rot die Wiese unter dem Schild beeinträchtigt. Ein Schriftband bittet die Engel um Schutz des Wappens: anges de diev qvi des hvmains estes sevre garde: ces armes q(vi) soubstie(ne)s tenes en v(ost)re sav lve garde. fol. 2: Im Kalender sind jeweils auf Recto zwei recht große Bildfelder in die Randstreifen gesetzt; das eigentliche Monatsbild findet in voller Breite des Textspiegels unten Platz; zehn Zeilen hoch sind die Felder für Landschaftsbilder mit den Tierkreiszeichen in den äußeren Randstreifen. Die Gestalten in den Monatsbildern sind als Halbfiguren oder Kniestücke begriffen; menschliche Figuren zum Zodiak sind meist als Ganzfiguren ge zeigt, in der Regel jedoch unten abgeschnitten.
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Beim Mahl im Januar sitzt ein bartloser Mann an einem runden Tisch; ein jugendlicher Diener tritt mit einer Fleischplatte hinzu, es wirkt, als wolle der Herr diesem einen leeren Teller zurückgeben. Zum Wärmen am Kamin im Februar steht ein, wie die Aumonière am Gürtel zeigt, wohlhabender Mann am offenen Feuer. Zum Trimmen der Weinstöcke im März holt ein Bauer mit einer Hippe aus. Zum Blumenpflücken im April gehen zwei Mädchen spazieren; ihre Blumenzweige sind ganz in Gold ausgeführt. Zum Ausritt im Mai sitzt ein junges Paar auf einem weißen Zelter; die Frau trägt wie die Beterin auf fol. 20v eine schwarze Haube, die ihre blonden Locken hervortreten läßt. Die Heumahd im Juni irritiert, weil der Bauer von der Sense nur den Stiel schräg ins Bild hält und hin ter ihm nur die Furchen eines kahlen Ackers zu sehen sind. Zwei Bauern kommen bei der Kornernte im Juli mit ihren Sicheln aufeinander zu. Im August sind in einem allzu prächtig ausgestatteten Steinhaus zwei Bauern beim Dreschen gezeigt. Zur Kelter im September ist ein junger Mann in den Bottich gestiegen, hinter ihm bilden fünf Fässer eine eindrucksvolle Persp ektive. Wie eine Variante zum Schnitter im Juni wirkt der Sä mann bei der Aussaat im Oktober, der auf kahlem Acker steht und in eigentümlich elegi scher Weise aus dem Bild schaut. Der Schweinehirt hat zum Abschlagen der Eicheln im November einen wohl etwas zu feinen Stock in der Hand. Vor der Kulisse eines Dorfs spielt das Schweineschlachten im Dezember, bei dem ein junger Mann einem verdutzt dreinblickenden Schwein die Kehle schlitzt. Auf die Tatsache, daß eigentlich Sternbilder am Himmel erfaßt werden sollen, nehmen die geschickt inszenierten Landschaftsbilder zum Zodiak keine Rücksicht; sie zeigen Mensch oder Tier auf der Erde, meist hinter einer Art Repoussoir, und weiten den Blick dann in der Regel bis zum Blau der Ferne: Der Wassermann, ein nackter Knabe, be gießt mit einem Tonkrug ein trockenes Feld. Ein junger Mann mit einer Angel sieht die Fische im Fluß. Der Widder kommt nicht allein; ihm folgt ein zweiter. Der Stier erweist sich als ein mächtiger brauner Bulle. Hinter einem einfarbig blauen Schild zeigt sich das Zeichen der Zwillinge als ein junges Paar, nackt vor einem dichten Wäldchen. Der Krebs erscheint wie in Frankreich üblich in der Form einer Languste, die in einem Gewässer schwimmt. Der Löwe tritt von rechts ins Bild und ist so groß, daß seine Hinterbeine nicht mehr ins Bild passen. Die Jungfrau schreitet sinnend mit einer Märtyrerpalme einher. Etwas näher zur vorderen Bildebene gerückt steht ein ähnliches Mädchen mit einer gro ßen goldenen Waage, nur eine der Waagschalen hat Platz im Bild, und die Gestalt ist unten und sogar am Kopf vom Bildrand abgeschnitten. Hinter einem Baum, vielleicht einer Eiche, verharrt der Skorpion. Wie der Löwe dringt der Schütze von rechts ins Bild, als Kentaur aus einer Ziege und einem Menschen zusammengesetzt; Oberkörper und Arme sind in einen Lederpanzer gehüllt, der die Rippen, Brustbein und Brustwarzen mit goldenen Lichtern sichtbar macht. Der Steinbock schließlich, ein weißer Ziegenbock in einem Ammonshorn, ist das größte unter den Tierkreiszeichen in diesem Stundenbuch, nur halb paßt er in sein Bild, das als einziges eine Häuserkulisse hat. Die Zeilen, die am Ende eines jeden Monats leer geblieben sind, wurden mit geschlos senen Farbflächen, Purpur, Braun und Grau, gefüllt; aus goldenem Blattwerk entwickeln sich spielerisch groteske Figuren, Tiere und Menschen, deren Gesichter teilweise
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mit Rot und Schwarz, auch Gold präzisiert sind. Thematische Bezüge zu den Monaten und ihren Heiligen sind nicht auszumachen, zumal die Bestimmung der einzelnen Mo tive nicht immer klar wird: Zum Januar ringelt sich ein Wurm mit menschlicher Fratze; ein nackter Mann wird im Februar von einem Monster verfolgt, das schon einen Mann unter sich begräbt; eine nackte Frau und ein Monster begegnen sich im April; die Halb figur eines nackten Kindes erscheint im Mai; Monster zeigen sich im Juni und Juli, ein nacktes Kind reitet im August, ein nackter Mann in September, ein Fantasietier im No vember und wohl eine Eule im Dezember. fol. 14: Die Perikopen eröffnen mit den üblichen Evangelistenporträts. Nur über vier Zeilen vom Incipit des Lukas steht ein Kopfbild im Textspiegel. Vollbilder sind den an deren drei zugedacht; darauf war der Schreiber unterschiedlich gut vorbereitet: Wenige Anfangsworte mußten bei Johannes und Matthäus in die untere Rahmenleiste geschrie ben werden. Bei Markus eröffnet der Text auf der Rückseite mit einer vierzeiligen Ini tiale; die letzte Zeile des Matthäus-Texts wurde ersatzlos übermalt, ist aber unter der Malerei noch sichtbar. Johannes auf Patmos (fol. 14) wird, wie vom Martainville-Meister gewohnt, auf einer Fel seninsel gezeigt, die vorn zum Wasser hin rund abschließt. Der jugendliche Evangelist beugt sich zu einem bereits ganz voll geschriebenen Buch, mit der Feder in der Hand, als wolle er korrigieren, links hinter ihm taucht der in Gold gemalte Adler auf. Felsen und Bäume verstellen den Blick in die Landschaft; Wasser grenzt die Insel zum jenseitigen Ufer ab, über dem in der blauen Ferne Felsen mit Burgen aufragen. Die Landschaft ist menschenleer; und es wird keine Stadt gezeigt, die Ephesus meinen könnte. Unter einem goldenen Baldachin, der mit blauem Tuch ausgeschlagen ist, sitzt der greise Lukas am Schreibpult (fol. 16); auch er arbeitet, nun mit Federmesser und Feder, an ei nem bereits vollgeschriebenen Buch. Der Stier hat auf dem Fliesenboden Platz genom men, in einem zur Landschaft hin offenen Renaissance-Palast, der mit kannellierten Pi lastern geschmückt ist. Gegenüber, auf fol. 15v, waren unter dem Ende des Johannestexts sieben Zeilen frei; dort wird der Lukas-Stier aus dem Hauptbild variiert, wie er vor zwei großen geöffneten Büchern im Freien liegt. Jugendlich und mit einer Kappe, die den Gelehrten bezeichnen könnte, wird Matthäus gezeigt (fol. 17v). Links steht ein Engel in grüner Tunika und hält ihm einen geöffneten Folianten; den schaut der Evangelist an, hebt die Feder und blättert mit der Linken im auch diesmal schon vollgeschriebenen Buch. Eine auffällige Rolle in diesem Interieur, das wieder in palastähnlichem Rahmen gegeben ist, spielt das Licht; denn auf das rosa farbene Tuch, das den Evangelisten hinterfängt, fällt ein Schatten, als sei das Haupt des Engels die Lichtquelle. Wie ein Universitätslehrer schaut Markus en face aus seinem Bild, das letztlich auf eine Tradition von Evangelistenporträts zurückgeht, die bereits in Berrys Belles Heures um 1408 lebendig war (fol. 19); er sitzt unter einem Baldachin hinter einer Tischplatte, die auf dreieckigen Ständern liegt, und hat einen Folianten auf ein grünes Kissen gelegt. Die
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graue Kutte läßt an einen Franziskaner denken; doch trägt der bartlose Evangelist über Schultern und Haupt ein mit Weiß gefüttertes blaues Tuch. Von rechts ist der Löwe unter einem Bogen aus der Landschaft eingetreten; er verharrt im Mittelgrund; doch schiebt sich einer seiner Flügel so weit nach vorn, daß er den Evangelisten fast berührt. Im Restfeld unter dem Textende auf fol. 20 steht ein Engel mit der Laute als Halbfigur in einer Landschaft. fol. 20v: Zwei ganzseitige Miniaturen, mit denen bereits der Schreiber rechnete, als er auf fol. 21 und fol. 25 vierzeilige Initialen einrichtete, schmücken die Mariengebete: Zum Obsecro te eine Beterin mit der Madonna (fol. 20v): In einem Renaissanceraum, der links durch einen Bogen ins Freie blicken läßt, ist eine Beterin vor ihrem Betpult nie dergekniet, von der heiligen Katharina begleitet, die mit der Rechten ein großes Richt schwert an der Schneide faßt und mit der Linken ein vergoldetes Zeichen für ihr wich tigstes Attribut, das zerbrochene Rad, hoch hält. Die ganz in Schwarz gekleidete Dame trägt ein goldenes Kreuz an einer goldenen Kette um den Hals; ihre schwarze Haube ist mit dem weißen Bündchen so weit zurück gerutscht, daß ihr golden getöntes Blondhaar das Antlitz rahmt. Die Beterin wagt nicht aufzuschauen, sondern senkt den Blick und spricht die in goldenen Lettern ins Bild eingeschriebenen Worte s. mar ia pro me ora. In ihrem blauen Kleid wirkt Maria grazil; ihr Mantel, im gleichen Blau, aber von feste rem Stoff, ist auf Hüfthöhe herabgesunken. In einen mit Rot schattierten goldenen Rock ist der Jesusknabe gekleidet; freundlich, aber ohne echten Segensgruß, wendet er sich, von der Gottesmutter gehalten, zur Beterin. Aus dem reich gefältelten grünen Tuch ih res Baldachins, der eher zu einem Bett als zu einem Thron gehört, tritt der greise Joseph hervor, ähnlich wie bei manchen Bildern der Königsanbetung. Die jugendliche Mutter gottes trägt eine prächtige Krone; die Beterin hingegen hat eine bescheidener gestaltete, aber juwelenbesetzte Königskrone (!) in ihrem Betpult abgelegt. Am Textende, auf fol. 24, ist wieder Platz für einen Engel in der Landschaft, der mit untergeschlagenen Ar men nach rechts schaut. Zum O intemerata erscheint die Madonna mit Kind, ohne den im Text auch angespro chenen Lieblingsjünger Johannes (fol. 24v): Halbfigurig wird sie nahe zum Betrachter gerückt, nun in ein graues Kleid unter dem blauen Mantel gehüllt, auf einem goldenen Thron und doch wie aufrechtstehend. Engel in weißen und rosafarbenen Tuniken stehen hinter ihr; darüber staffeln sich in drei Reihen feurig und golden glühende Seraphim. Der Knabe wird durch den goldenen Apfel in der Hand als zweiter Adam verstanden; er trägt nur ein weißes Tuch um Scham und Knie. Die Komposition ist nicht ohne die berühmte Antwerpener Madonna im Engelskreis vom Diptychon aus Melun zu denken, die Jean Fouquet für Étienne Chevalier gemalt hat. Deutlicher als dort wurde der Bild gedanke für ein Diptychon konzipiert; denn der Thron und die Hauptfigur sind nach rechts gerückt, aber nach links gewendet, als wenn auf einer gegenüberliegenden Minia tur, für die aber in unserem Buch kein Platz ist, eine Beterin angesprochen werden sollte. fol. 27: In ungewohnter Weise wird die Johannes-Passion mit einem geradezu einzigar tigen Passionszyklus gegliedert; zunächst wurden acht Abschnitte im laufenden Text
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mit Bildern versehen; dazu kamen am Ende von sieben Texten in der zweiten Kampag ne hinzugefügte Bilder, die den Zyklus ergänzen. Der Umstand, daß die Auferstehung auf fol. 39v irrig der Kreuzabnahme vorausgeht, läßt keinen Zweifel an der Tatsache, daß die Resträume erst nachträglich, aber selbstverständlich noch im ungebundenen Zu stand mit Bildern gefüllt wurden. Das Eröffnungsbild, offenbar mit dem Gebet im Gar ten Gethsemane, fehlt vor fol. 27, wo eine vierzeilige Initiale den Textanfang Egressus est ihesus hervorhebt. So beginnt der Zyklus heute mit dem Judaskuß (fol. 28), wo er sich schlüssig auf das Jesuswort Mitte gladium tuum bezieht: Malchus und Petrus ist links neben der Haupt gruppe aus Jesus und Judas viel Platz eingeräumt; Malchus kniet, hat die Laterne fallen lassen, um mit der Rechten nach seiner blutenden Wunde zu fassen; Jesus hält das ab geschlagene Ohr bereits in der Hand, während Petrus noch einmal kräftig mit seinem Schwert ausholt. Vierzehn Zeilen standen auf fol. 30 für ein Bild zur Verfügung, das Jesu Wegführung durch mehrere Soldaten zeigt; dieses sonst nicht mit einem Bild bedachte Motiv mag sich aus dem ersten Wort des nun folgenden Texts erklären: Adducunt ergo Jh(esu)m ad caypham. Die Textwiedergabe ist jedoch irrig, müßte es doch heißen a caypha, da vom Verhör bereits auf den beiden vorausgehenden Seiten die Rede war und Jesus nun zu Pi latus gebracht wird. Das zugehörige Kopfbild löst sich dann ganz von der Textfolge, es zeigt die Dornenkrönung (fol. 30v), von der erst nach der nächsten Miniatur die Rede ist: Jesus sitzt en-face auf einem Faltstuhl, mit gefesselten Händen; zwei Schergen treiben die Dornenkrone in sein blutendes Haupt, während Pilatus links am Bildrand zuschaut. Im nur drei Zeilen hohen Bild auf fol. 32 schleppt sich ein Scherge mit Reisig ab; er wird es für die Geißelung brauchen, die dann als Kopfbild auf Verso geschildert wird. Das ge schieht in Übereinstimmung mit dem Incipit Tunc ergo apprehendit pylatus ihesu(m) et fla gellavit eum (fol. 32v), doch in einem Widerspruch zur Bildfolge; denn die Dornenkrone fehlt, wie auch bei Johannes nachzulesen: Wieder ist die Darstellung auf zwei Peiniger beschränkt; wieder schaut Pilatus zu, nun fast ganz vom linken Schergen verdeckt. Jesu Aktfigur, die an die sehr dünne Geißelsäule gebunden ist, hebt sich zart und zerbrech lich von den derben Gestalten ab. Noch einmal wird eine Weg führung Jesu in dem sechs Zeilen hohen Bild auf fol. 33 ge zeigt. Zwei Soldaten zerren ihn nach rechts, von links gibt ihm ein dritter einen bösen Tritt. Zum Text steht diese kleine Miniatur im selben Widerspruch wie das Kopfbild der Handwaschung des Pilatus auf fol. 33v; denn der Erlöser müßte nun die Dornenkro ne tragen, die ihm nach der Geißelung gegeben wurde; er wird aber barhäuptig gezeigt, obwohl es ausdrücklich heißt: Exivit ergo ihesus portans coronam spineam. Auf irritieren de Weise erinnert die Komposition an das Madonnenbild mit Beterin auf fol. 20v: Pi latus sitzt unter einem ähnlichen grünen Baldachin, dessen wallendes Tuch seine Füße verhüllt. Von hinten ist der Diener mit Schale und Kanne gekommen und ins Knie ge sunken, während der greise Statthalter zu Christus schaut.
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Das Prinzip, die Restbilder auf die nachfolgenden Texte einzustellen, gilt auch auf fol. 35: Dort wird die Heranschaffung des Kreuzes gezeigt. In einem schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts gewohnten Bildkonzept folgt die Kreuztragung zu Susceperunt aute(m) illum (fol. 35v): Maria, von zwei heiligen Frauen begleitet, findet gerade noch am linken Bildrand Platz, während Johannes fehlt. Raumgreifende Hauptfigur ist Jesus, der nun die golden leuchtende Dornenkrone auf dem Haupt hat und das Kreuz wie noch beim Bedford-Meister mit dem Stamm nach vorn trägt. Ihn zerrt ein Soldat in goldener Rüs tung, der viel kleiner als der Erlöser ist, während ein zweiter Soldat, ebenso prachtvoll gerüstet, auf Jesus einschlägt; oft gilt dessen Wut eher Simon von Kyrene, der hier je doch nicht gezeigt wird. Weder für das Stadttor von Jerusalem noch für Golgatha ist Platz; stattdessen drängt eine in bräunliches Dunkel gehüllte Schar von Soldaten hinter den Hauptfiguren ins Bild. Vor dem nun folgenden Kreuzigungsbild (fol. 37) ist nur eine volle Zeile leer geblieben, die vom Maler nicht weiter behandelt wurde, vielleicht weil schon ein Knotenstock die vorausgehende fast leere Zeile füllte. Sehr genau wird diesmal der Textanfang Stabant autem iuxta crucem umgesetzt, der nur von Maria, Cleophas, Magdalena und Johannes spricht. Gegen die ikonographische Konvention ist auf die Darstellung des Hauptmanns verzichtet; nur ein Soldat taucht auf, an den rechten Rand gedrängt: Allein ragt das Kreuz in den Bogenabschluß der Miniatur hinein. Maria und Johannes stehen zu den Seiten, der Lieblingsjünger weist mit der Rechten zum Kreuz, wie ein Autor, der das Ge schehen erklärt. Hinter ihm wie hinter Maria sind die zwei im Text genannten Frauen, Cleophas und Magdalena zur Mitte gerückt, durch zarte Nimben als heilige Gestalten gekennzeichnet; links drängen sich weitere Fromme, von deren Köpfen nur die Kalotte zu sehen ist, und rechts eben der eine Soldat, dessen Gesicht weitgehend von Johannes überdeckt ist. Irrtümlich sind die auf fol. 38v leer gebliebenen zehn Zeilen für ein Osterbild genutzt, das erst in Konflikt mit der Miniatur gegenüber geriet, als das Buch gebunden vorlag: Vor seinem Sarkophag steht der Auferstandene, mit einem Kreuzesstab, an dem kleine Wimpel befestigt sind. Von vorn links und rechts sowie von hinten rechts blicken Sol daten zu ihm auf; einer schützt die Augen vor der Erscheinung. Vom Zyklus her wäre an dieser Stelle Christi Abstieg in den Limbus zu erwarten gewesen. Auf fol. 39 folgt dann zum Text über die Bitte an Pilatus, man wolle den Gekreuzigten begraben (Post hec autem rogavit pylatum ioseph ab arimathia) mit der Kreuzabnahme die anspruchsvollste Komposition des ganzen Zyklus: Maria ist mit ihren Begleiterinnen an den linken Rand gedrängt. Auf einer leicht nach links gedrehten Leiter steht einer der beiden Alten, Nikodemus oder Joseph von Arimathia, und hält den Gekreuzigten mit einem Tuch, während der andere rechts steht und den Leichnam in Empfang nimmt. Nur fünf Zeilen hoch ist die befremdlichste Darstellung in diesem Zyklus, die Grabbe reitung (fol. 39v): Die Zeilen, die berichten, daß Christi Leichnam, wie es bei Juden Sit te war, in Leichentücher gehüllt und mit Spezereien aufbereitet wurde, werden in eine Schilderung des christlichen Brauchs umgemünzt, den man in der Entstehungszeit des
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Manuskripts in Paris kannte: Der tote Christus ist hier – und ich kenne kein zweites Beispiel – in weißes Leinen eingenäht. Die beiden Alten stehen mit dem Rücken zum Grab und schauen einander geradezu ratlos an. Zu Erat autem locus wird dann auf fol. 40 die Grablegung in der ikonographisch gewohn ten Weise gezeigt; dabei gehören die ins Leichentuch eingewebten blauen Zierstreifen zu jüdischer Tradition: Nun ist der Leichnam wieder zu sehen, geradezu auf dem Lei nen schwebend, wie er von den beiden Alten in den Sarkophag gebettet wird. Nur Ma ria und zwei heilige Frauen treten hinzu; Johannes fehlt. Daß dem Maler ein gewisser Konflikt zwischen Jesu Bestattung in einem Sarkophag oder einer Felsenhöhle geläu fig war, drückt sich in der Landschaft aus; denn wie ein halber Felsbogen wölbt sich von links dunkles Gestein über den Gestalten. Das läßt an oberitalienische Gemälde dessel ben Themas wie die leonardeske Tafel von Marco d’Oggiono und Giovanni Boltraf fi o in der Berliner Gemäldegalerie denken. fol. 41: Im Marienof fizium eröffnen alle Stunden im heutigen Zustand mit einem Voll bild, das wie ein kleines Täfelchen mit goldenen Rahmenleisten umfaßt ist. Der Schrei ber war darauf eingestellt, daß auf den Bildseiten jeweils nur die erste Zeile des Texts Platz finden sollte; denn er begann die Matutin mit Et os meum, die folgenden Stunden durchweg mit Domine ad adiuvandum und die Komplet mit Et averte iram tuam. Die Ein gangsformeln mußten dann in Rot auf die goldenen Rahmen gemalt werden. Zunächst war nur mit jeweils einem Bild gerechnet worden. Bei Matutin, Laudes und Vesp er blieb es dabei. Die anderen Stunden aber wurden doppelseitig bebildert; doch ist diese Aus stattung nicht vollständig erhalten geblieben. Während der Arbeit am Marienof fizium wird sich auch der Schreiber mit diesem ihm fremden Konzept auseinandergesetzt ha ben. Nachdem auf fol. 59v zu den Laudes ein Bild auf Verso genügte, ließ er vor den an deren Stunden – bis auf die Vesp er – jeweils eine ganze Versoseite leer. Hauptmotive der Ikonographie fanden durchwegs auf Recto ihren Platz, während die Versos mit er gänzenden Darstellungen gefüllt wurden. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 41) spielt in einem Renaissanceraum, der nach rechts hinten auf eine runde Apsis hin fluchtet; dort steht ein Altar mit einer bren nenden Kerze und einem niedrigen goldenen Retabel, dessen Figurenschmuck nicht wei ter charakterisiert ist. Das dadurch sakral definierte Interieur ist jedoch keine Kapelle; denn es ist links wie eine Loggia mit Säulen besetzt und zur Landschaft geöffnet. Ma ria nimmt viel Raum ein, wie sie links vorn wohl auf einem Kissen sitzt, die Hände ge kreuzt und den Blick auf ein großes Buch gesenkt, das sie auf den Knien aufgeschlagen hat. Ein zweites Buch ist auf einem Betpult hinter ihr in der Bildmitte vor dem Altar aufgeschlagen. Von rechts, also nicht aus dem Freien links ist Gabriel gekommen und ins Knie gesunken, um mit entschiedenem Zeigefinger die Jungfrau anzusprechen. Über ihm schwebt die Taube und sendet goldene Strahlen aus. Den Gesamteindruck dominiert das Blau von Mariens Mantel mit dem Gold der Dalmatika und dem Grau der Archi tektur, zu dem auch Mariens Kleid paßt; hinzu kommen das Grün von Betpult und En gelsflügeln sowie Weiß; rot ist nur die Kante des Samteinbands von Marias Buch; sonst
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dient es auf Gold als Schattierung und belebt die Lippen sowie die Füße der Taube des Heiligen Geistes. Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 59v) bleibt es bei einem sehr ähnlichen Kolo rit: Von links tritt Elisabeth vor der Kulisse ihres Hauses ins Bild, um sich sacht vor der Jungfrau zu neigen; mit ihrer Rechten faßt sie Marias Linke. Joseph und eine Begleiterin drängen von rechts ins Bild. Die Landschaft türmt sich mit felsigen Bergen nach rechts, so daß erkennbar wird, daß Maria über’s Gebirg gekommen ist. Nur ein kleiner Aus schnitt des Himmels ist links oben über fernen Burgbergen zu sehen. Dem heute verlorenen Weihnachtsbild zur Prim wurde eine Miniatur mit der Suche nach einer Herberge in Bethlehem (fol. 70v) gegenübergestellt. Dieses in Stundenbüchern sehr seltene Sujet war in der flämischen Buchmalerei um den Wiener Meister der Maria von Burgund um 1470 beliebt, jedoch eher als Motiv für Bildbordüren, nur selten, so im Ox forder Stundenbuch des Engelbert von Nassau, fand es in einer Miniatur Platz: Wie dort sind Maria und Joseph zu Fuß von links aus der Landschaft gekommen; ein junger Wirt, der seine Rechte hebt und mit der Linken auf den Geldsack pocht, weist sie ab. Zu einer unerhörten, so gescheiten wie verblüffenden Lösung insp irierte die Doppelsei te mit der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 74v-75): Das zuerst gemalte Bild auf Recto zeigt das gewohnte Geschehen, auf raf finierte Weise, denn wie um ein Meer von Schafen sind fünf Hirten versammelt; sie hocken noch auf dem Boden und wachen wie die Sol daten des Osterbildes von fol. 38v auf, weil ein sehr kleiner Engel im Himmel erscheint, um ihnen die Frohe Botschaft zu übermitteln. Nur selten werden solche Hirten in der christlichen Ikonographie von einer Hirtin begleitet, ganz sicher aber nie von einer ganzen Schar in eigener Darstellung: ihnen ist das linke Bild gewidmet; die beiden im Vor dergrund prüfen die Wollfäden zum Spinnen, etwas weiter in den Mittelgrund gerückt steht eine Frau, auch sie mit Hirtentasche; goldene Strahlen fallen aus dem Himmel auf sie. Ist es spekulativ, in dieser ikonographisch alleinstehenden Miniatur eine Referenz auf Katharina von Aragon zu sehen: die Dame mit ausladender güldener Haube und zwei Halsketten (!) im Vordergrund, umgeben von ihrem weiblichen Gefolge? Es wäre unserer Überzeugung nach die schlüssigste Deutung für diese einzigartige Heraushebung. Die Königsanbetung zur Sext (fol. 80) wird auf dem vorgeschalteten Bild durch den Troß der Könige (fol. 79v) ergänzt. Vorn rechts steht ein hölzerner Kasten offen; ihm hat man offenbar die Gaben entnommen. Ein in bunte Livree gekleideter Knecht hält zwei Pfer de, deren Körper von rechts in dieses Bild ragen, während ein zweiter Knappe neben einem prächtigen Schimmel steht. Über dem aufwendig mit Rot gezäumten Zelter er scheint ein Anführer mit goldenem Helm und goldener Rüstung unter blauem Wams; er reitet einen Braunen; eine dichte Schar von Männern in Rüstung folgt ihm. Der ganz aus Holz gebaute Stall von Bethlehem schließt sich um die Figuren im Bild gegenüber. Vom Stern ist nichts zu sehen. Vor Maria hat der älteste König seine Krone abgelegt, um dann ins Knie zu sinken und einen goldenen Kelch darzubieten, dessen Deckel offen steht. In kleinerem Maßstab drängt der jüngste König über ihm gerade noch ins Bild; er trägt noch die Krone auf dem Haupt und bringt ein großes Ziborium. Auch der mitt
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lere König in der Bildmitte is noch gekrönt; doch verschwindet seine Krone fas hinter der hohen Krempe seines blauen Huts. Joseph, ganz an den rechten Bildrand gerückt, blickt im Profil zu ihm. Maria is vor diese Gesalten gerückt und sitzt mit dem nackten Knaben, vielleicht wieder auf einem Kissen, in sich gekehrt. Zehn Zeilen blieben auf der Reco-Seite von fol. 84 leer; sie wurden für Beter in der Landschaft genutzt: Einem vornehmen Herrn folgen zwei Jünglinge mit respektvollem Absand. Auch bei Non fehlt das Anfangsblatt, auf dem zweifellos die Darbringung im Tempel zu sehen war. Doch erhalten is ein Bild von Marias Begleiterinnen und Joseph (fol. 84v), den ein zweiter Bärtiger begleitet. In einer ähnlichen Landschaft wie bei der Heimsuchung wird die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 88) gezeigt: Der Esel trottet nach rechts, trägt die Muttergottes mit dem in einen roten Rock gekleideten Jesusknaben. Im Profil schreitet Joseph in gleicher Richtung; den Strick, mit dem er den Esel führen könnte, hat er über dessen Hals gelegt; an einem krummen Stock trägt er ein schmales weißes Bündel. Auch am Ende der Vesper blieb Platz für ein Bild, nur drei Zeilen hoch; es zeigt einen Beter in der Landschaft (fol. 95), dessen Kopf vom Bildrand abgeschnitten is. Das Doppelbild der Marienkrönung zur Komplet (fol. 95v-96) beseht aus zwei Miniaturen unterschiedlichen Charakters: Die Verso-Seite is dem Engelschor gewidmet: Ersaunlich seil ragen zwei Engel auf, hinter denen sich ungezählte weitere Engel scharen, die bis auf zwei ganz gesichtslos bleiben. Einer der beiden hat die Arme untergeschlagen, während der zweite zu ihm schaut und zugleich mit der Hand auf das Geschehen rechts weis. Dort, auf Reco, verdrängt Fliesenboden den mit Steinen besäten Wiesengrund. Vor einem runden Zelt thront Jesus, mit weltlicher Krone, in der Linken die Sphaira, und segnet die vor ihm kniende jugendliche Maria, der gerade ein Engel die Krone aufgesetzt hat. Wie vor allem in der älteren Buchmalerei von Rouen üblich, begrenzt eine niedrige Mauer das Geschehen zur Landschaft. Zwischen dem Textende der Komplet und der Rubrik zum Adventsofzium blieben auf fol. 100v vier Zeilen frei; dort wird Maria auf einem Bett ruhend gezeigt, von derselben Frau angebetet, die auf fol. 20v in großer Gesalt erschienen is. Gegenüber eröfnet die Wurzel Jesse jenen Text, den die Rubrik als ofcium beate marie virginis quod dicitur per totum adventum bezeichnete (fol. 101): Auf der Grasnarbe eines schräg nach rechts abfallenden Felsens liegt der Stammvater Isai. Aus seiner Brus, nicht aus seinen Lenden sprießt in goldenem Camaïeu As werk, das Blüten mit den Halbfiguren von Königen trägt. Sie erscheinen lebhaft gesikulierend vor einheitlich blauem Grund. Namentlich erkennbar is nur David mit der Harfe. In der Mitte oben, zierlicher als die Könige, sprießt die in Weiß gekleidete Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben aus einer weißen Blüte. fol. 108: Bei den nun folgenden Horen folgt der Schreiber demselben Prinzip, die erse Zeile der Matutin auszulassen, weil er weiß, daß der Maler domine labia mea aperies auf die untere Rahmenleise seiner die ganze Seite ausfüllenden Miniaturen schreiben wird. Die Kreuzigung (fol. 106) faßt das Geschehen, anders als auf fol. 37, mit den ge-
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wohnten Bildmotiven der Mariengruppe links und dem Zenturio rechts und fügt unter das weit ausgreifende Kreuz Chrisi die Schächerkreuze mit extrem kurzen Querbalken. Zwischen einem guten und einem bösen Schacher wird nicht unterschieden, sondern auf ungewohnte Art zwischen einem Greis links und einem blonden Jüngling rechts. Beide sind von derber rötlicher Hautfarbe und ofenbar mit ihren Armen eng an ihre Kreuze gebunden, srikt frontal gegeben, mit auf die Brus gesenktem Kinn. Chrisus hingegen neigt sein Haupt zur Mutter, die betend daseht, von einer Frau, wohl Magdalena, und Johannes fankiert. Der greise Zenturio, dessen Beine graue Rüsung tragen, während Oberkörper und Helm golden glänzen, seht ohne Gesprächspartner vor seinen Soldaten und hebt den rechten Zeigefinger. Aufällig sind seine gelben Stofärmel, vielleicht irrtümlich so gefärbt, weil am linken Arm, eher in der Ellenbeuge als am Ellenbogen, eine blumenförmige Applik befesigt is, die eher zu metallenen Rüsungen gehört. Die Landschaft is fach, der Horizont liegt auf Augenhöhe Marias; von Jerusalem is nichts zu sehen. Mit nur drei Zeilen Text enden die Kreuzhoren; das führt zur Kombination von zwei Bildern der Aposelscharen bei der Ausgießung des Heiligen Geiss (auf fol. 113v und 114). Der für unser Buch verantwortliche Maler zeigt sie immer asymmetrisch: Links kniet die Aposelschar, von Petrus angeführt, der sich in monumentaler Größe vor Maria schiebt. Alle schauen zur Taube des Heiligen Geises auf; sie erscheint vor Himmel und tief blauen Wolken in einem Okulus, der in die dunkle Architektur eingeschnitten is. Nicht weiter gekennzeichnet sind die acht weiteren Aposel hinter Petrus. Auf dem vorausgehenden Verso knien insgesamt neun Aposel; sie beten in dieselbe Richtung wie jene im Hauptbild, als könnte man auch vom Verso aus die Taube erblicken. Während Johannes in keinem der beiden Bilder erkennbar is, führt der für die Iberische Halbinsel wichtige Pilger Jakobus, am breitkrempigen Hut über der Schulter erkennbar, die Schar links an. Das ungewöhnlichse Füllbild findet sich zwischen dem Textende der Geis-Komplet und der Rubrik für die Bußpsalmen auf fol. 118v: In nur zwei Zeilen bringt der Maler David und Goliath in Halbfiguren unter: Der Hirtenknabe holt mit der Schleuder aus, während der golden gerüsete Riese verdutzt, noch unverletzt, die Hand zum goldenen Helm hebt. fol. 119: Die Bußpsalmen eröfnet das Jüngse Gericht in einem Vollbild, mit dem auch der Schreiber gerechnet hat; denn er ließ die vier Anfangsworte domine ne in furore aus. Über einer fachen Landschaft, die in der Ferne von vier Burgbergen abgeschlossen wird, erhebt sich in bleichem Hellblau der Himmel, von dunkelblauen Wölkchen durchzogen, die wie durch Beleuchtung von links mit goldener Höhung belebt sind. Unten seigen die Toten in idealem Alter nackt aus der Erde; links richten sie sich betend auf, rechts wenden sie sich bis auf eine Frau schmerzerfüllt ab. Über ihnen schwebt Chrisus in sehr schlanker Erscheinung als Weltenrichter mit den Wundmalen des Schmerzensmanns, die Füße auf einem goldenen Globus, dessen Rund wie bei einem angebissenen Apfel von einer Wolke gesört wird. Statt eines Regenbogens dient ein dünner gelber Bo-
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gen als Sitz des Richters, der die Linke leicht senkt und die Rechte etwas entschiedener hebt. Auf seiner Höhe schweben als Fürbitter Maria und der Täufer; doch beschränkt sich die Darsellung nicht auf eine solche Deesis, weil Maria von Johannes dem Evangelisen begleitet wird, während nur ein weibliches Antlitz auftaucht; Katharina is wohl gemeint, die man als wichtigse Advokatin unter den Heiligen begrif. Somit wird deutlich, daß die Heiligengruppen zu Seiten des Weltenrichters allein zur Fürbitte zitiert werden, während sons oft die Aposel, dem Evangelium folgend, als Beisitzer gemeint sind. Die Figurengröße nimmt von den Aufersehenden unten schon zu Chrisus hin ab; sehr viel kleiner sind schließlich die beiden Engel gegeben, die in den oberen Ecken die Posaunen des Jüngsen Gerichts blasen. fol. 130: Nur sehr selten wird die Litanei mit einem eigenen Bild ausgesattet; es zeigt entweder wie in unserem Psalter-Stundenbuch für Langres (Tour de France, Nr. 11) die Gregors-Prozession oder wie hier Alle Heiligen in Anbetung der Gottheit. Der Schreiber hat dafür eine Seite leer gelassen; im Rahmen seht nur die Rubrik seqvitvr letania sanctorvm: Schauplatz is eine sehr viel höhere Himmelssphäre als beim Jüngsen Gericht, das ja den Weltenrichter zurück zur Erde bringt. Mit Rot modelliertes Gold bildet vor dem weißlichen Blau und den dunkelblauen Wölkchen große Wolkenschübe, um die Heiligengruppen in ein kosbareres Licht zu versetzen. Zentrum is ein rundes Zelt, vor dessen rosafarbenem Tuch die Trinität thront, Chrisus mit Dornenkrone im grauen Ungenähten Rock; Gottvater als greiser Paps in einem mit zartem Grün gefütterten Chormantel über der Albe, die im gleichen Rosa wie das Zelt gehalten is. Die Rechte des Vaters ruht auf einer goldenen Sphaira, die auf beider Knien seht; über ihr srahlt die Heilig-Geis-Taube vor einem Rund im gleichen Hellblau, das den Fond des Himmels ausmacht und damit den Anschein erweckt, das Tuch des Zelts sei durchbrochen. Auf sehr ungewöhnliche Weise sind die Heiligen zu beiden Seiten der Gottheit und in den unteren Bildecken verteilt. Halbfiguren heiliger Jungfrauen, von denen eine den Palmwedel des Martyriums trägt und eine andere den Turm, der sie als Barbara benennbar macht, eröfnen das Bild unten. Oben hingegen wird zwischen Männern und Frauen unterschieden. Ein bartloser Bischof, dessen Namen man nur zu gerne wüßte, schiebt sich oben links vor Petrus und die anderen Aposel. Maria hingegen führt eine Schar von Frauen an, die durch ihre Hauben als Matronen oder Nonnen bezeichnet sind. fol. 139: Die ungewöhnlichse spirituelle Leisung unseres Stundenbuchs liegt in der Bebilderung des Totenofziums. Nicht nur Vesper und Matutin werden durch Vollbilder eröfnet, sondern auch alle neun Lesungen. Wieder werden an Textenden leer gebliebene Zeilen mit weiteren Bildern gefüllt. Ers durch sie finden sons gewohnte Elemente der für Totenofzien verfügbaren reichen Ikonographie Platz. Von einem Zyklus im Sinne des Buchmalerbrauchs wird man nicht reden können; denn einzelne Bilder scheinen ad hoc aus den Lesungen entwickelt zu sein, die bekanntlich alle dem Buch Hiob entnommen sind. Die Bildgedanken kreisen aber nicht um den Dulder aus dem Alten Tesament, sondern lösen sich auf höchs ungewohnte Weise von dessen Geschichte, so daß sogar satt des alttesamentlichen Gottes Chrisus mit den Aposeln zu Hiob auf dem Dung sprechen kann.
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Auch hier hat sich der Schreiber auf Vollbilder eingesellt, in deren Rahmen die Anfangsworte der einzelnen Texte eingeschrieben sind. Vesper und Matutin (fol. 139 und 146) nehmen den bei der sogenannten Illusration des Totenofziums verbreiteten Brauch auf, genrehaft Sterben und Begräbnis zu schildern; ein weiteres Bild dieser Art eröfnet die fünfte Lesung (fol. 260v). Motive aus dem Totentanz finden unsysematisch in Resbildern Platz; auch an einer solchen Stelle wird das Gleichnis vom Armen Lazarus ins Bild gesetzt (fol. 145v), jedoch nur in einem Teilbild, zu dessen Versändnis man vollsändige Versionen kennen müßte. Insgesamt wird man fessellen dürfen, daß der unerhörte Ideenreichtum in unserem Totenofzium nur in sehr wenigen Bilderhandschriften, zu denen so monumentale Werke wie die Grandes Heures de Rohan, latin 9471 der Pariser Nationalbibliothek, gehören, erreicht und auch dort kaum übertrofen wird. Nach den Schlußgebeten zur Litanei blieben auf fol. 138v zwölf Zeilen frei; dort werden zwei Frauen auf dem Friedhof betend gezeigt: Die Beterin, die wir von fol. 20v kennen, erscheint in einem rosafarbenen Kleid, von einer zweiten Frau begleitet; sie kniet innerhalb von Friedhofsmauern vor einem ofenen Grab, in das drei Tote gebettet sind. In finseren Farben is das Hauptbild mit einer Sterbeszene auf fol. 139 gegenüber gehalten: Von der dunklen Wand hebt sich das schwarze Tuch des Betthimmels und der Bettdecke kaum ab, deren finsere Wirkung die goldene Höhung noch versärkt. Schwarz is auch der Mantel des Dominikaners, der vorn neben einem in seine dunkle Kutte gehüllten Franziskaner hockt. Beide haben Bücher auf ihrem Schoß, deren aufgeschlagene Seiten weiß leuchten; weiß is auch die Kutte des Dominikaners; und in weißer Bettwäsche liegt der – noch junge – Sterbende. Ihn ruft der Tod; der seht als ledriger Leichnam rechts am Fußende und hebt einladend die Rechte. Vom besonderen Witz des Malers zeugt eine aufällige Abweichung vom gewohnten Brauch: Über dem Kopfende von Prunkbetten wurden kosbare Gemälde kleinen Formats befesigt, die in anderen Bildern durchweg religiösen Charakter haben, weil sie Maria oder die Gottheit zeigen. Hier aber erblickt man im auf wendigen Goldrahmen eine Art absraktes Bild mit zwei unterschiedlich blauen Wolken vor hellem Grund; nur der Himmel als ein leerer Ort kann gemeint sein. In den zwölf Zeilen zwischen dem Ende der Vesper und der Rubrik der Matutin werden auf fol. 145v die Höllenqualen des Reichen geschildert. Am Hals angekettet sitzt er im Feuer, von Teufeln gequält, und wendet den Blick nach oben. Mit der Hand zeigt er auf seinen Mund, als erscheine über ihm Abraham mit der Seele des Armen Lazarus im Schoß. Für sie aber is auf der Buchseite kein Platz. Zitiert wird eine von unserem Maler häufig benutzte Bildvorlage, die beispielsweise im Stundenbuch des Chrisoph von Baden vollsändig wiedergegeben is (Karlsruhe, Landesbibliothek, cod. Durlach 1, fol. 66: König 1978, S. 95f; dort auch eine Erörterung der Ikonographie und ihrer Verbreitung). Für das in Lukas 16 und Johannes 11 erzählte Gleichnis wäre eigentlich ein Bilderpaar angemessen, wie es schon am romanischen Portal von Moissac zu finden is: Zunächs wird das Gasmahl des Reichen geschildert, der den Armen zurückweis, und dann der Durs des Reichen in der Hölle, der Lazarus um einen Tropfen Wasser bittet.
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Ganz in der Gegenwart des Malers spielt das Begräbnis auf fol. 146. Aus vermutlicher Schwäche des Malers im Umgang mit der Persp ektive wird ein für moderne Augen fas zinierendes Spiel von Schrägen mit irritierenden Größenverhältnissen zwischen den dar gestellten Figuren: Schauplatz ist ein Friedhof mit hohem bildparallelen Steintor rechts hinten, auf das von links die Friedhofsmauer schräg zuläuft. Über ihr erhebt sich tem pelartig ein Renaissancebau, wie er zu jener Zeit in Frankreich nirgendwo zu finden war. Eine Parallele zu dieser Friedhofsmauer bildet ein steinerner Grabesdeckel, der entweder kühn verkürzt oder in Anlehnung an merowingische Sarkophage, die man in Frankreich noch heute oft antrifft, am Kopfende deutlich breiter geschnitten ist. Zwischen beiden Hauptlinien sind die Menschen angeordnet, die sich hier zur Bettung eines in Leinen eingenähten Toten versammelt haben: Am linken Bildrand steht ein Priester im Chor mantel, mit einem Weihwasserwedel; er bildet mit dem Leichnam und dem einen To tengräber, der hinter dem Weihwasser in der Grube steht, die Hauptgruppe. Ein Stück zurückgesetzt sind sechs Geistliche links; zu ihnen gehört ein Diakon, der einen golde nen Kreuzstab aufrichtet. Von rechts sind zwei Pleurants herangetreten, deren schwarze Gewänder ähnlich irritierend mit Gold gehöht sind wie das Tuch der Sterbeszene. Gegen den Brauch heben sie ihre Häupter und zeigen ihre Gesichter. Ihnen folgen barhäupti ge Männer und fast ganz vom rechten Rand abgeschnitten eine Frau mit Witwenhaube, die einzige weibliche Figur im ganzen Bild. Die Bilder zu den Lesungen eröffnen auf fol. 152 – für ein Stundenbuch völlig einzigartig – mit dem Rad der Fortuna (!), neben dem jedoch nicht die antike Göttin steht, son dern eine Prophetengestalt, wohl Hiob selbst, der auf einen am Boden liegenden Toten weist, während sich vier Figuren auf dem Rad befinden: An das Rad klammert sich ei ner, der links aufsteigt, und ein zweiter, der rechts absteigt. Zwischen ihnen sitzt oben ein König mit Krone und Zepter, in Blau mit breitem Hermelinkragen. Unten aber ist ein Nackter in einem an Ixion oder an Martern des heiligen Georg gemahnenden Bild motiv nur mit den Füßen an das Rad gebunden, während er sich mit den Händen ver zweifelt daran festhalten muß. Beischriften im Bild stammen aus der anschließenden Le sung: quid est ho(mo) qui(a) ma(g)nificas evm steht oben, svbito probas illvm steht neben Hiobs Haupt. Auf fol. 153 bieten neun leergebliebene Zeilen Platz für Tod und Papst aus dem Toten tanz. Das Vollbild von Jesus im Gespräch mit Hiob auf fol. 153v zeigt, wie Gottvater aus dem Himmel auf Hiob schaut, während von links Jesus und Petrus, von einer Apostel schar gefolgt, zum Dulder sprechen, der nackt auf dem Dung sitzt, durch einen Nim bus als Heiliger gekennzeichnet. Sein sind die Worte, die direkt unter die Halbfigur des Vaters geschrieben sind, noli mecondanpnare, in unglücklicher Schreibweise, wie man in gleicher Zeilenhöhe gegenüber nachprüfen kann, wo es richtig formuliert ist: noli me conde(m)pnare. In den sieben Zeilen am Ende von fol. 153v wird der Bildgedan ke von Hiob mit Jesus variiert; nun liegt der Dulder vor der Kulisse seines Gehöfts auf dem Dung und weist auf sein Haus, während Jesus mit Johannes dem Evangelisten zu ihm gekommen ist.
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Der Bezug einer Erscheinung von Chrisus zwischen Maria und Johannes zur nun folgenden Lesung is nicht evident: Auf fol. 155 beten zwei Jünglinge zu einer Erscheinung des vom Tode aufersandenen Schmerzensmannes, der zwischen der Gottesmutter und dem Lieblingsjünger vor sehr niedrigem Horizont seht. Aus dem Totentanz sammt das in nur fünf Zeilen untergebrachte Bild von Bürger und Tod auf fol. 160. Ein Gespräch Gottes mit Hiob folgt als Vollbild auf fol. 160v; die Gotteserscheinung mit der päpslichen Tiara im Himmel trägt Jesu Gesichtszüge. Nur die Sphaira macht deutlich, daß er nicht einfach nur ein heiliger Paps is. Ihm gegenüber zeigt sich, ebenfalls in Halbfigur, ein Bärtiger, dessen Kappe auf einen Propheten schließen läßt. Der schon durch die Vertauschung von m und n unglücklich verfälschte Schriftzug neben ihm, der bereits bei Hiob 13,24 aus Ps. 43,24 sammt, läßt vielleicht an David denken: qvare facien tvan abscondis (gegenüber auf fol. 161: „Cur facie(m) tua(m) abscondis“). Aus der Hioblesung gegenüber sammt hingegen, was der Dulder sagt: posvisti in nervo peden meum (13,27). Die berühmte Hiobsselle (14,1-6), die über das menschliche Leben refektiert, eröfnet mit einem Bild von Kindheit und Tod (fol. 161v): Vor dem Sterbebett eines Mannes hockt eine junge Mutter mit ihrem Wickelkind, auf sie weis der Gelehrte, während rechts neben ihm ein Arzt ein Uringlas in die Höhe hält. Ein junger Mann, der ein Tuch um die Haare gebunden hat, seht hinter dem Bett und schaut vom Kopfende auf den Arzt, während Gott mit Jesu Gesichtszügen aus dem Himmel fessellt: co(n)stitvisti terminos evs (für eius) – was nicht ganz logisch is, wird mit dieser Wendung in Vers 5 im Hiob-Text doch Gott angesprochen, der die Lebensspanne des Menschen besimmt hat. Im zehn Zeilen hohen Füllbild auf fol. 162v prescht der reitende Tod auf einem nicht klar zu besimmenden Tier und bedroht mit einer Lanze zwei junge Männer. Zu Chrisi Erscheinung im Himmel richtet sich der über dem Höllenrachen kniende Hiob (fol. 163) in einem besonders eindrucksvollen Bild, in dem die Gottheit selbs die Worte Hiobs spricht: pvtas ne mortv(v)s und damit fragt, ob man glaube, daß ein Toter wieder leben könne. Über den Felsabbruch, der unten in die Hölle führt, is in goldenen Buchsaben geschrieben vt in ferno prote/gvas me (satt ut in inferno protegas me). Ähnlich unsicher sind die Buchsaben im unteren Bildrand wiederholt, ehe dann der Schreiber in seiner besser lesbaren Schrift den Text mit ut i(n) inferno protegas me auf Verso eröfnet. Der eigentliche Textanfang fehlt; er müßte eigentlich lauten Quis mihi hoc tribuat (14,13). Der Tod allein schreitet im nur dreizeiligen Füllbild auf fol. 168v durch die Landschaft. Auf fol. 169 schließt sich das einzige Bild von Hiob mit seinen Freunden an. Wie im Füllbild auf fol. 154v liegt Hiob vor einer nun etwas längeren Häuserzeile nackt auf dem Dung. Von rechts sind die Freunde gekommen, der ältese nimmt vorn viel Raum ein, er is durch die Geldbörse als wohlhabend gekennzeichnet und sinkt wie ein greiser König in einem Epiphaniebild in die Knie.
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Auf fol. 170 bieten sechs Zeilen Raum für eine Wiederholung aus dem Totentanz, wieder erscheinen Tod und Bürger. Vor einer Landschaftskulisse mit Seelen, die in Kindergesalt im Fegefeuer brennen, wird ein verderbliches Gasmahl junger Männer auf fol. 170v gezeigt, auf die gerade ein Feuersurm niederbraus, während der Tod zu ihren Füßen liegt. In falscher Orthographie wird den Seelen im Feuer zunächs nisemini beigeschrieben, das dann durch re ergänzt wurde; daneben erscheint nicht viel versändlicher niseremini: Tatsächlich gemeint is beide Male miseremini, also "erbarmt Euch", das auch im Text zweimal wiederholt wird. Dem Tod beigeschrieben is rvrsvs circv(m)dabor, aus den berühmten Versen, in denen Hiob mit den Worten "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" (19, 25-26) bekennt, daß er wieder von Haut umgeben in seinem Fleische Gott sehen werde. Damit wird die Themenwahl nicht wirklich erklärt. Das Gasmahl wird sich auf die Verse 1920 im 1. Kapitel beziehen, die berichten, wie Hiobs Söhne durch einen großen Wind von der Wüse her vernichtet werden. Drei Zeilen sehen auf fol. 171v für den Tod und eine junge Frau zur Verfügung; im gebundenen Zusand verbindet sich dieses Bild optisch mit dem Abschlußbild des TotenOfziums, das auf rätselhafte Weise die Bitte um Sündenbekenntnis noch vor dem Tode formuliert (fol. 172): Über Erdtiefen, die an mehreren Stellen zum Fegefeuer hügelig geöfnet sind, seht eine zarte jugendliche Gesalt in heller Tunika, mit ofenem Lockenhaar und einem goldenen Palmwedel in der Hand. Die menschliche Seele könnte gemeint sein; vielleicht aber auch der jugendliche Erlöser, eine mädchenhafte Jungfrau Maria oder der engelsgleiche Lieblingsjünger Johannes. Neben dieser Lichtgesalt, nicht zu ihr, betet ein vornehmer junger Mann rechts vorn, es möge ihm vergönnt sein, den Schmerz über seine Sünden noch vor dem eigenen Weggang ins Jenseits beweinen zu dürfen: dimitte (ergo me) vt pla(n)ga(m) (paululum dolorem mevm) a(nte qvod vadam). Zum mit Jesu Zügen erscheinenden Gott im Himmel sagt ein auf gleicher Höhe schwebender Prophet, es gebe keine Erlösung in der Hölle (in inferno nvlla est redemptio). Schlimmer noch is die Aussage, die unter Jesus neben der rätselhaften Gesalt in der Bildmitte seht und einen Spruch aus der Apokalypse (9,6) variiert: desiderabv(n)t mori et mors effvgiet ab eis; diese Aussage, man werde wünschen, serben zu können, der Tod aber werde fiehen, bezieht sich vielleicht auf die weiter zurückgesetzte Gruppe von Seelen im Fegefeuer. Die vordere Gruppe hingegen drückt mit vtina(m) consv(mp)tvs esse(m) die Hofnung aus, daß ihre Qual ein Ende nehme. fol. 183v: Eine dichte Serie von mit Bogen abgeschlossenen Miniaturen in Vollbordüren schmückt das Gebet an Gottvater, die Sufragien und das darin enthaltene Mariengebet: Nachdem auf fol. 183 vier Zeilen zur Verfügung sanden für die Beterin mit Gott, der sich in einer sehr schlichten Himmelserscheinung zeigt, sitzt Gottvater als Paps in einem mit Juwelen besetzten Chormantel auf einem grünen Thron vor der glühend roten Schar der Seraphim zum Deus propicius eso michi peccatori (fol. 183v). Dann rückt Michaels Drachenkampf den in Gold gerüseten Erzengel ebenso wie den Drachen in prachtvoll plasischer Weise in den Vordergrund (fol. 186). Wie so oft zeigt man zum Stabat ma-
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ter nicht die unter dem Kreuz sehende Muttergottes, sondern Maria mit Johannes und den Frauen unter dem Kreuz zusammengesunken (fol. 187); das Kreuz is nach rechts gerückt, die Soldaten sind aus dem Bild verbannt. Petrus (fol. 189) seht mit einem Schlüssel und einem aufgeschlagenen Buch in der Landschaft, in der sich ihm ein schlankes Bäumchen zugesellt; köslich is die Wirkung des leuchtenden Blaus, mit dem sein rosafarbener Mantel gefüttert is; Gold sorgt noch für weiteren optischen Zauber. Vor seiner Klause sitzt der greise Antonius Abbas (fol. 190), am Schwein erkennbar, aber nicht mit dem für ihn typischen Taukreuz. Als Diakon mit rosafarbener Dalmatika über der srahlend weißen Albe seht der jugendliche Lorenz (fol. 191) auf seinen Ros gesützt in weiter Landschaft. Die Abfolge der Heiligen irritiert; denn ers jetzt tritt Johannes der Täufer (fol. 192) auf; er trägt über dem Kamelfell einen im Wind auf wehenden rosafarbenen Mantel und zeigt auf das kleine Lamm, das mit einem goldenen Kreuzsab auf seinem Buch Platz genommen hat; dichter Wald schließt die Miniatur nach hinten ab. Nachdem auf fol. 192v in einem nur dreizeiligen Bild Nikolaus und ein junger Mann gezeigt wurden, ragt mit Nikolaus als Bischof (fol. 193) derselbe Heilige in einer prachtvoll verzierten rosafarbenen Kasel über grüner Dalmatika und Albe jugendlich so weit auf, daß er sein Haupt neigen muß, um mit der Mitra nicht allzu sehr vom Abschlußbogen abgeschnitten zu werden; er schaut zum Betrachter, segnet aber die drei nackten Knaben im Bottich. Eindrucksvoll wirkt Chrisophorus (fol. 194), der sein blaues Untergewand so geschürzt hat, daß die weiße Unterwäsche sichtbar wird; sein rosafarbener Mantel fattert nach rechts, wie er, als Riese auf einen Baumsamm gesützt, den Chrisusknaben mit der Sphaira durch einen Fluß trägt. Sebasian (fol. 195v) is als zierlicher Jüngling an einen Baum gebunden; sehr viel größer und gröber als er sind die beiden Bogenschützen links, die ihn bereits mit ihren Pfeilen geradezu gespickt haben. In ähnlich überzeugender Plasizität wie Michael und dessen Drache is Margarete (fol. 197) gesaltet; der sehr kurz geratene Beelzebub, der in Drachengesalt eigentlich im tiefsen Kerker auf sie warten müßte, seht in freier Landschaft; der Teufel hat sie verschlungen; noch hängt ein großes Stück ihres Mantels aus seinem Maul, während sie in eleganter Drehung aus seinem Rücken wieder aufseigt, das kleine Kreuz in den Händen. Nach einem nur zwei Zeilen hohen Resbild, das auf fol. 197v zwei Räder Katharinas zeigt, kniet die Heilige von Alexandrien in einer recht altertümlichen Komposition mit Katharinas Enthauptung (fol. 198) vor dem Rad, das gegen die Legende noch ganz intakt is; sie betet, während ein noch recht junger König, den man an seinem Kronhut erkennen kann, zum tödlichen Schlag ausholt. War Katharina nach rechts gewendet, so wird bei Barbaras Enthauptung (fol. 199) die Richtung umgekehrt; in dieser ebenfalls rechts altmodischen Komposition entdeckt man als Erkennungszeichen der Heiligen ihren Turm mit drei Fensern am rechten Bildrand; die Gesalt des Henkers wirkt gedreht. Als Pilger seht Jakobus der Ältere (fol. 200) vor zwei Bäumchen, am Stab und Hut der Pilger erkennbar, mit einem geöfneten Buch in der Hand, das er genauso nach unten senkt wie Petrus.
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Nach einem Resbild von vier Zeilen Höhe, das Genovefa und eine Beterin ohne die schwarze Haube zeigt (fol. 200v), gilt nicht der letzte Text, aber das letzte Bild in den Sufragien wie in manch anderem Pariser Stundenbuch der Stadtpatronin Genovefa (fol. 201); sie seht als Jungfrau mit ofenem Haar und einem Buch in der Hand in der Landschaft; um das Licht ihrer großen Kerze sreiten Teufel und Engel, die als winzige Gesalten im Bogenabschluß der Miniatur fiegen; der Engel is größer und schwebt hinter dem Kopf der Heiligen, die sinnend die Augen senkt. Wie wir in der Beschreibung gesehen haben, spielen die Resfelder nach der schon erwähnten Beterin auf fol. 183 im Sufragienteil keine große Rolle mehr. Wo sie wie auf fol. 186v, 189v, 190v und 191v sowie auf fol. 196v nur eine Zeile ausmachen, genügt ein mit Gold verzierter Farbsreifen; darin wird bei den zwei Zeilen gegenüber Chrisophorus auf fol. 193v ein Vogel angedeutet. Vor Barbara, auf fol. 197v, findet sich die einzige Leerzeile, die nicht ausgemalt wurde. Vor dem durch keine Rubrik erläuterten Christusgebet von fol. 205 war noch Platz für ein Mädchen in der Landschaft; die zwei Reszeilen gegenüber wurden hingegen nur ornamental gefüllt. Auf fol. 205v-206 folgt dann textlos das großartigse Bild des ganzen Stundenbuchs, eine monumentale Leisung des auch für den ganzen Buchblock verantwortlichen Meisers: Die Kreuztragung wird dargesellt, jedoch nicht als eine Station der Passionsgeschichte, sondern mit dem Ziel, den Grundgedanken des auf fol. 206v anschließenden Gebets Qui vult venire pos me aufzunehmen. Das am Falz zusammengeklebte Doppelblatt mag zunächs als isoliertes Andachtsbild konzipiert worden sein; Textspiegelgröße und Schrift auf fol. 205 und 206v weichen ebenso wie die farbigen Initialen leicht vom Res des Buches ab. In dem Moment, als man entschied, die Miniatur im Buch zu bergen, hat dann jedoch derselbe Illuminator, der die Bordüren im Buchblock gesaltet hat, auch die beiden Textseiten in seiner Art geschmückt. Das Bild veranschaulicht die Auforderung Jesu, wer ihm nachfolgen wolle, solle sich selbs aufgeben, sein Kreuz tragen und sich ihm anschließen. So schreitet der Erlöser im Ungenähten Rock auf seinigem Pfad nach links; er faßt das riesige Kreuz am Querbalken, wendet das mit Dornen gekrönte Haupt sacht zurück und senkt die Augen. Die malerische Qualität von Chrisi Antlitz seht auf der Höhe der besen Verwirklichungen der Zeit, zum Beispiel bei Eloy Tassart (Meiser der Claude de France) oder Jean Bourdichon. Ein Hirte oder gar Bettler mit einem langen Stab und einer Almosenschale am Gürtel schließt sich ihm an. Weitere Männer, deren Beinkleider wie beim Bettler über den Knien aufgeplatzt sind, fassen ebenfalls nach dem Kreuzessamm, der sich über beide Bildseiten ersreckt. Das Zentrum der Miniatur bildet eine Gruppe von drei durch Größe, individualisierende Darstellung und Gewandung herausgehobenen Personen: vornan eine Dame mit Witwenhaube und Halskette, ein vor der Zeit gealtert, fast ausgemergelt wirkender Mann in goldüberflossenem Mantel mit Pelzbesatz (?) und seltsamem Wikkelturban, der sein Haar vollständig verbirgt sowie dahinter ein jünglingshafter Mann mit federbesetzter Pelzkappe und prächtigem Kurzmantel aus Brokat mit geschlitzten Ärmeln und bestickten Aufschlägen. Wenn man sich die Gemälde mit den Portraits
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des jungen Heinrichs VIII . von 1509 (Denver Art Museum, Berger Collection), seines Bruders Arthur (Hever Castle), sowie das Brustbild Katharinas von Michel Sittow ansieht, so drängt sich folgende Identifizierung geradezu auf: Katharina, die Adressatin des Buchs trägt das Kreuz Christi an zentral prominenter Stelle; dahinter Arthur mit dem eingefallenen Gesicht des unzeitig früh Gestorbenen und verhülltem Haar (worin wir die zu jener Zeit übliche Sterbehaube sehen dürfen, wie sie über fast 200 Jahre zwischen 1400 und 1580 üblich war: von Rogier van der Weydens Altar der sieben Sakramente in Antwerpen bis zu Barthel Bruyns Sterbe-Diptychon in Brüssel: vergl. aber hier die Darstellung des Gestorbenen auf fol.109, Abb. S. 73!). Abschließend folgt der jünglingshafte Heinrich, dessen oben zitiertes Portrait der Darstellung in unserer Miniatur so nahe kommt, wie das bei zwei verschiedenen Künstlern und Vorlagen überhaupt möglich ist. Das Büblein (mit ähnlicher Kappe wie der Jüngling) wäre dann als Projektion des Wunschsohns anzusehen, der Katharina von Aragon nicht vergönnt war. Unter die Männer und Frauen am Ende des Zuges mischen sich Nonnen, besonders monumental wirkt ein dicker Dominikaner am Fuß des Kreuzesstamms, dem sich ein Franziskaner am rechten Bildrand anschließt. Hinter den wie ein Relief gereihten Figuren vorn scharen sich rechts ungezählte weitere Leute. Ein bemerkenswertes Vergleichsbeispiel findet sich in einem Heft mit moralisierender Dichtung, fr. 2366 der BnF, das um 1520 im Umfeld von Jean Bourdichon mit Zeichnungen versehen wurde: Dort wird fol. 14 um 90 Grad gedreht, um eine doppelseitig konzipierte Kreuztragung unterzubringen, bei der in eng mit unserer Miniatur verwandter Komposition Menschen verschiedener Stände, darunter eine Frau und ein Kind, von Mönchen gefolgt, beim Kreuz mit anfassen (Ausst.-Kat. Blois 2015, Nr. 30, worin Maxence Hermant die Zeichnung au mieux vers 1520 datiert) – bezeichnenderweise unter völligem Verzicht auf die bei uns ins Zentrum gerückte Trias von Dame und zwei Herren (Frau und – abgewandtes – Kind rangieren an vorletzter Stelle vor den Mönchen). Die Landschaft ist karg; die Ferne wird nicht so stark in Blau gehalten wie in den sonstigen Miniaturen. Ein leicht violett getöntes Weiß herrscht auch im Himmel, der von tief blauen Wolken durchzogen ist. fol. 207: Nicht von derselben Hand, der das großartige Bild der Kreuztragung und die sonstige Bebilderung unseres Stundenbuchs verdankt wird, stammt die letzte Miniatur, mit der die Horen von Mariä Empfängnis eröffnen; sie zeigt die Jung frau Maria in die Sonne gekleidet, in den Himmel erhoben, mit den Sinnbildern der Immaculata. Bilder der Immaculata spielten im Stundenbuch schon deshalb kaum eine Rolle, weil die Themen zum Marienoffizium lange Zeit schon festlagen, ehe die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis 1479 unter dem franziskanischen Papst Sixtus IV. neues Gewicht erhielt und von der Sorbonne 1496 erneut bestätigt wurde. Als Platz für ein solches Bild im Stundenbuch bot sich das Officium de conceptione beate marie virginis, also die Horen der Empfängnis, an. Dieses Stundengebet ist erst im späteren 15. Jahrhunderts zunehmend beliebt geworden; bebildert wurde es am häufigsten mit dem Kuß an der Goldenen Pforte, so noch in den 1520er Jahren in unserem Stundenbuch der Claude de France die Ikonographie.
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Abweichend von allen anderen Miniaturen in unserer Handschrift wurden drei Zeilen mit Initiale und Incipit der Matutin der Empfängnis so in die Bildfäche integriert, wie man das seit Fouquets Stundenbuch des Étienne Chevalier (die meisen Blätter im Musée Condé, Chantilly) kannte. Die Ikonographie hat uns schon mehrfach beschäftigt: Eine Miniatur desselben Themas und vielleicht sogar von derselben Hand dient zum ersen Adventssamsag als Eröfnungsbild für das Brevier des Ocovien de Saint-Gelais (Nr. 51). In einem langen, weißen Hemd, das sich zu ihren Füßen saut, schwebt die jugendliche Muttergottes vor den Strahlen der Sonne; die Mondsichel is nicht gezeigt, aber vielleicht im unteren Kontur der Gesalt angedeutet. Goldblondes Haar fießt um Haupt und Hals. Streng frontal zeigt sie sich und fügt die Hände zum Gebet. Über ihr erscheint vor goldenem Grund und von feurigen Seraphim umgeben Gottvater in Halbfigur, segnend, mit der Sphaira in der Linken. Unter seiner Erscheinung schwingt sich ein Schriftband mit den Worten tota pvlchra es amica mea et macvla no(n) est in te aus dem 7. Vers des 4. Kapitels im Hohen Lied. Der greise Gott bekennt sich damit zur Sponsa des Hohen Lieds. Vierzehn weitere Spruchbänder, zuweilen recht schwer lesbar, und nicht nur zwölf wie im Brevier des Ocovien de Saint-Gelais, begleiten einzelne Bildmotive, die um die Gesalt der Jungfrau schweben. Der vom rechten Rand halb überdeckte Baum is als oliva speciosa bezeichnet. Ihm antwortet links, ähnlich abgeschnitten, die cedrvs exaltata. Gegen den Uhrzeigersinn von links oben aus sind folgende Bildvokabeln veranschaulicht: Maria wird zunächs nach dem Hohenlied (6,9) als klar wie die Sonne (eleca vt sol) und schön wie der Mond (pvlcra vt luna) gepriesen. Dann is sie nach 4,15 Himmelspforte (porta celi) und Lilie unter Dornen (liliv(m) i(n)t(er) spina(s)), Brunnen der lebenden Wasser (pvt(eus) aq(varvm) vive(n)civ(m)) und verschlossener Garten ((h)ort(vs) co(n)clvsus). Auf der rechten Seite, nun von unten aufseigend, verseht man sie als den Gottessaat des Augustinus oder als Himmlisches Jerusalem in apokalyptischem Sinne (civitas dei); sie wird als Quelle (fons signatvs), als feckenloser Spiegel (specvlvm sine macvla) und Turm Davids (tvrris david) und dann als Rosengarten (pla(n)tacio ros(e)) bezeichnet. Kaum sichtbar is schließlich der Meersern (sella maris) direkt neben ihrer Stirn. Diese insgesamt vierzehn Motive gehören zu den berühmten Sinnbildern und Beiwörtern, die das mittelalterliche Chrisentum für die Jungfrau und Gottesgebärerin gefunden hatte. Zusammengesellt hat sie Anselm Salzer (Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters mit Berücksichtigung der patrisischen Literatur, Linz 1893). Aus dem Hohen Lied sammen der Vergleich mit Sonne und Mond, Davids Turm, die Quelle lebendigen Wassers, der verschlossene Garten, die Gartenquelle und die Lilie unter Dornen. Aus Ecclesiasicus (Jesus Sirach) sind die Zeder im Libanon, die Rosensöcke von Jericho und der Ölbaum entlehnt. Der Spiegel ohne Makel geht hingegen auf Sapientia, Weisheit 7, 26, zurück. Himmelspforte und Meersern sind nicht biblischen Ursprungs, sondern sammen aus der Mariendichtung des Mittelalters.
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Eine derartige Darsellung seht am Ende des Breviarium Grimani (fol. 831); dort antwortet sie auf ein prächtiges Bild der Madonna mit Kind auf dem vorausgehenden Verso. Da dort kein Text folgt, kann das Bild mit den goldenen Beischriften selbs gleichsam als Endtext des Breviers gelten. Dort wird zusätzlich noch die virga iesse gezeigt und damit jener Grundbesand aus fünfzehn Motiven vereinigt, die im frühen 16. Jahrhundert als Symbole und Beiwörter Marias in entsprechenden Bildern der Immaculata geradezu kanonisch werden sollten. Vom Meiser der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle entworfen wurde die ältese Pariser Druckplatte dieses Themas, ein Metallschnitt, mit dem sich Ina Nettekoven in unserem Katalog Horae von 2003 und in ihrer Monographie über den letzten großen Vertreter der Spätgotik in Paris auseinandergesetzt hat (Horae I, S. 231 f.). Dazu lieferte sie biblische Quellen (Nettekoven 2004, S. 93, Anm. 498-509), und sie diskutierte auch, ob die Civitas Dei auf Augusinus oder die Apokalypse verweis. Den Metallschnitt konnte sie bis zu einem Stundenbuch für Rom, Paris: Thielmann Kerver, 1. Dezember 1502, zurückführen (Horae I, 2003, Nr. 35). Für sie gehört die Platte aber zu einer Serie für Kerver, die schon in den Jahren 1497 – 1500, also noch in der Inkunabelzeit, entsanden sein dürfte. In einem von uns vorgesellten Stundenbuch-Manuskript (Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI , Nr. 24, in diesem Katalog Nr. 52) eröfnet eine solche Miniatur auf fol. 28 das Mariengebet Obsecro te. Der Meiser der Philippa von Geldern hat dort einen ausgeprägten Sinn für Präzision bewiesen. Caroline Zöhl hat ihrerseits, in ihrer Pichore-Monographie von 2004, die gedankliche Verwandtschaft der Graphik mit den Marienbildern des Puy Notre-Dame in Amiens untersrichen. Maler wie Jean Pichore haben schon bald die Strenge der Graphik für Kerver aufgebrochen und das Bildfeld, ja sogar die Hauptfigur erheblich seiler angelegt. Wie in dem hier besprochenen Stundenbuch hat er die einzelnen Elemente ebenso wie die Schriftbänder mit den Beiworten särker als räumliche Motive und nicht nur als Bildvokabeln begrifen. Die beteiligten Buchmaler Dieses Manuskript, von dem wir annehmen, es sei um 1504 – 1507 in Paris entsanden, um als ein diplomatisches Geschenk für Katharina von Aragon zu dienen, die verwitwet in England unter wenig würdigen Bedingungen zurückgehalten wurde, is in Kalender und Buchblock ganz und gar einheitlich von einem der führenden Vertreter eines neuen Stils gesaltet worden, der mit den in Paris noch nach 1500 wirkenden spätgotischen Konventionen silisisch wie ikonographisch bricht. Als Martainville-Meiser bezeichnet man den Künsler, ausgehend von dem bilderreichen und äußers faszinierenden Stundenbuch Ms. 183, das mit der Bibliothek aus dem Schloß Martainville im gleichnamigen Ort weslich von Rouen inzwischen in die Stadtbibliothek von Rouen überführt wurde. Im Vergleich mit zwei dem Grundbesand hinzugefügten Bildseiten aus der Werksatt von Jean Pichore, der vorgeschalteten Wappenmalerei mit Engeln und der Immaculata zu den Horen der Empfängnis Mariä am Ende des Bandes, tritt das Temperament des
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Malers deutlich hervor: Beide Künsler sehen für den vitalen Neubeginn der Buchmalerei in Paris um 1500, arbeiten großfigurig und mit kräftigem Farbauftrag; doch während Pichore bei allem Sinn für eine neue Monumentalität graphische Qualitäten betont, überspielt der Martainville-Meiser, der unseres Wissens weder Entwürfe noch Illuminierung für den Pariser Bilddruck geliefert hat, die Konturen. Während es Pichore auf eine gewisse Ruhe und einen äshetischen Ausgleich ankommt, setzt er sich entschiedener von bis dahin gültigen Konventionen ab. Deshalb zog man wohl auch den etwas klassischer vorgehenden Pichore für das Bild der Beterin auf fol. 20v heran. Seine platzgreifenden Figuren legt der Martainville-Meiser zuweilen so an, als wolle er Bildformate sprengen; aus diesem Grundzug seiner Kuns erklärt sich die wichtigse Eigenschaft unseres Stundenbuchs: Der Maler kann noch den ungewöhnlichsen Bildformaten etwas abgewinnen. Dazu paßt sein höchs ersaunlicher Sinn für ikonographisch ausgefallene Bildideen, der sich in den Miniaturen zum Totenofzium in unserer Handschrift brillant ausdrückt. Zugleich geht der Künsler neue Wege; dafür seht in doppeltem Sinne die großartigse Miniatur in unserem Stundenbuch: Seine doppelseitige Kreuztragung setzt sich über alle vertrauten Bildformate ebenso hinweg, wie sie die Zeitebenen durchbricht. Schon in unserem Katalog 20 (Illumination und Illusration, Rotthalmünser 1987) wurde ein herausragendes Werk derselben Hand als Nr. 21 vorgesellt. Zum besseren Versändnis des verantwortlichen Künslers hat Mara Hofmann in ihrer unveröfentlichten Berliner Magiserarbeit über das seinerzeit von uns angebotene Panisse-Stundenbuch beigetragen (Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, 2000, Nr. 23). Das geschah in enger Absimmung mit den Forschungen von Ina Nettekoven und Caroline Zöhl, die ebenfalls für uns gearbeitet haben, und bezog auch die Leisungen von Isabelle Delaunay mit ein, die bereits 1993 in der Revue du Louvre unser Panisse-Stundenbuch erwähnt hatte. Das hier vorgestellte Buch sprengt fast in jeder Hinsicht die Normen, die man von Pariser Stundenbüchern um 1500 gewohnt ist: Als ein Hauptwerk des Martain villeMeisters ist es überwältigend reich mit figürlicher Buchmalerei ausgestattet, die in wenigstens zwei Arbeitsschritten versucht, auch kleine Restfelder mit Bil dern zu füllen. Die inhaltlich ungemein faszinierenden Miniaturen verbinden sich zu sonst kaum zu findenden Szenenfolgen, beispielsweise der Passion, die in vielen einzigartigen Stationen geschildert wird. Sie fügen sich aber im Totenoffizium zu einer kontemplativen Serie, deren einzelne Themen genial aus dem Text entwickelt sind. Damit beansprucht die Buchmalerei einen ungewohnten Platz auch als Motor oder wenigstens Interpretin neuer Spiritualität: Aus der gewohnten Ansiedlung des Passionsgeschehens in eine imaginäre Lebenszeit Jesu führt die doppelseitig ange legte Kreuztragung in die Gegenwart von Künstler und Auftraggeber und eröf net für die Malerei ein neues Feld: Man sollte darin eine Vorahnung der erst eine Gene ration später entwickelten Verlebendigung des Passionsgeschehens durch Ignatius von Loyola und den von ihm – übrigens in Paris – begründeten Jesuitenorden sehen.
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Zum unerhörten Reiz dieses Manuskripts gehört der farblich faszinierende Rand dekor mit seinen vielf ältigen Bezügen zu den französischen fleurs de lis. Ein solches Buch verlangt auch von den modernen Interpreten Mut: Deshalb behaupten wir, die ungewöhnliche Darstellung einer Beterin, die von der heiligen Katharina begleitet wird und eine Königinnen-Krone in ihrem Betpult verwahrt, beziehe sich auf eine der wichtigst en Figuren in den politischen Machtspielen um 1500: Katharina von Aragon, der das Manuskript demnach als diplomatische Gabe König Ludwigs XII . und seiner Gattin Anne de Bretagne zugedacht war, nachdem sie ihren erst en Ehe mann, den Prinzen von Wales, Arthur, verloren hatte. Die beeindruckende, im Pro venienzeintrag ebenso wie in der Einleitung namhaft gemachte Reihe weiterer Indi zien legt diese Zuschreibung nicht nur nahe, sondern drängt sie geradezu auf. Literatur Das Manuskript ist bislang unveröffentlicht, allerdings planen wir für den Frühling 2019 eine Faksimileausgabe mit deutschem und englischem Kommentar. Zu Katharina von Aragon siehe: Garrett Mattingly, Katharina von Aragon, Stuttgart 1962; Giles Tremlett, Catherine of Aragon: The Spanish Queen of Henry VIII, London 2010; Patrick Williams, Catherine of Aragon, Amberley 2012. James P. Carley, The Books of King Henry VIII and his Wives, London 2004, bes. S. 109-123. Hinweise auf Buchbesitz von Katharina von Aragon bietet Lieve de Kesel, New Perspectives on Devotional Manuscripts Associated with Margaret of Austria and Her Rela tions: The Role of the Prayer Book Master, in: Les Femmes, la culture et les arts en Eur ope entre Moyen Âge et Renaissance (auch mit englischem Titel: Women, Art and Culture in Medieval and Early Renaissance Europe, hrsg. von Cynthia J. Brown und Anne-Marie Legaré, Turnhout 2016, S. 89-117, bes. S. 95 mit Hinweis auf die Musikhandschrift Royal Ms. 6 G vii der British Library, dort wird auch das flämische Stundenbuch ihrer Schwägerin Margaret Tudor (Chatsworth, Duke of Devonshire) erwähnt. Zum Martainville-Meister: noch ohne diese Bezeichnung: Eberhard König (mit Gerhard Stamm), Das Stundenbuch des Markgrafen Christoph I. von Baden. Codex Durlach I der Badischen Landesbibliothek, hrsg. von Elmar Mittler und Gerhard Stamm. Kommentar band zum Faksimile, Karlsruhe 1978; sodann Isabelle Delaunay, Les Heures d’Écouen du musée national de la Renaissance : échanges entre manuscrits et imprimés autour de 1500, in: Revue du Louvre 1993, S. 11-24; Mara Hofmann, Studien zum Panisse-Stunden buch, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin, Freie Universität 1998.
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48 Ein nach 1461 im Poitou oder der LoireRegion geschriebenes Stundenbuch, gegen 1500 vom Pariser Martainville-Meister vollendet
S. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom mit Pariser Kalender. Lateinische Handschrift mit Kalender in Französisch, auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Blau und Rot, die Feste in Gold, in brauner Bastarda. Loiregebiet, Bourges oder Tours, nach 1461: zwei Meister, davon einer aus dem nächsten Umkreis von Georges Trubert; vollendet um 1500 in Paris vom MartainvilleMeister 43 große Miniaturen mit Bogenabschluß, bis auf eine Ausnahme in Vollbordüren aus Blattwerk und Blumen über vierzeiligen Incipits mit dreizeiligen Akanthus-Initialen in Blau auf Rot oder umgekehrt. Der Buchschmuck in zwei verschiedenen Kampagnen, aber mit Beibehaltung der Dekorationsart sowie auf den meisten Bildseiten mit jeweils einem goldenen und einem blauen M in ausgesparten Räumen. Alle Textseiten mit reichen vegetabilen Bordürenstreifen außen. Kleinere Initialen als Goldbuchstaben auf mit Gold verzierten abwechselnd blauen und weinroten Flächen, zweizeilig für Psalmenanfänge, einzeilig für Psalmenverse, die am Zeilenbeginn stehen; prachtvolle Zeilenfüller der ersten Kampagne. Versalien nicht laviert. 267 Blatt Pergament, dazu vorne und hinten je drei fliegende Vorsätze Pergament, mit kräftiger schwarzer Tinte foliiert, der Kalender jedoch nicht. Das feine Pergament ist im Buchblock so eng gebunden, daß sich jede Kollationierung verbietet. Duodez (122 x 86 mm; Textspiegel: 62 x 40 mm). Rot regliert, zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen. Fast unbeschnitten und brillant erhalten. Nach einer ersten Arbeitsphase in den 1460er Jahren unvollendet liegen geblieben; bei der zweiten Kampagne textlich umgearbeitet; dabei wurden Texte wie die Psalmengruppen in der Marien-Matutin entfernt und verändert. Der um 1500 erreichte Bestand blieb bis auf zwei Blatt, deren Texte schon im Barock nachgetragen wurden, vollständig. Vorzüglicher dunkelgrüner Maroquin-Einband des frühen 17. Jahrhunderts, den Nrn. 74, 75 und 77 bei Esmérian II verwandt, die dort unter „Ateliers non identifiés“ geführt und mit Lyon verbunden werden: Rücken und Deckel mit reicher Vergoldung, darin ein Monogramm RB . Zwei ausgezeichnete mit Silber beschlagene Schließen. Goldschnitt. In moderner Lederkassette. Je zwei große M schmücken die meisten Vollbordüren in dafür frei gelassenen Räumen; es wird sich nicht auf die Muttergottes Maria beziehen, sondern einen Namen bezeichnen. Doch der läßt sich ebenso wenig bestimmen wie das fünf Generationen später auf dem Einband festgehaltene Monogramm RB . Exlibris A. Brölemann, jedoch nicht in dessen Katalog 1926. Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 70. Zuletzt Schweizer Privatbesitz.
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Text Unfoliiert: Kalender in französischer Sprache; jeder Tag besetzt: Goldene Zahl und Fese in Blau; Sonntagsbuchsaben A als goldene Initialen abwechselnd auf braunroten und roten Flächen; einfache Heiligentage abwechselnd schwarz und rot; Heiligenauswahl mit dem Fes der Genovefa am 3. Januar pariserisch. Vermutlich nicht aus der ersen Arbeitskampagne, zumindes im Dekor ganz der zweiten Kampagne zugehörig. fol. 1: Perikopen: Johannes (fol. 1; das zweite Blatt bei der Foliierung ausgelassen), Lukas (fol. 2v), Matthäus (fol. 5) und Markus (fol. 7v; Textende entfernt und im Barock auf fol. 8v nachgetragen). fol. 9: Verse des heiligen Gregor: Anfang (Adoro te in crucem pendentem) entfernt, aber im Barock am Rand nachgetragen; fol. 23: Gregor-Suffragium. fol. 11: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom, mit eingeschalteten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 11; auf 14v werden Psalmengruppen für die Wochentage angekündigt; deren Text aber auf fol. 18-24 vom zweiten Schreiber ersetzt; der an die erse Nokturn das Te deum anschließt und die Psalmengruppen unterdrückt), Laudes (fol. 26v, deren Schluß vom zweiten Schreiber ersetzt), Kreuz-Matutin (fol. 43), Geist-Matutin (fol. 45), Marien-Prim (fol. 47), Kreuz-Prim (fol. 53), Geist-Prim (fol. 54v), Marien-Terz (fol. 55v), Kreuz-Terz (fol. 61v), Geist-Terz (fol. 62v), Marien-Sext (fol. 64), Kreuz-Sext (fol. 69v), Geist-Sext (fol. 71), Marien-Non (fol. 72), Kreuz-Non (77v), GeistNon (fol. 78v), Marien-Vesper (fol. 80, fas der ganze Text vom zweiten Schreiber auf fol. 81-90 ersetzt), Kreuz-Vesper (fol. 91v), Geist-Vesper (fol. 92v), Marien-Komplet (fol. 94), Kreuz-Komplet (fol. 100), Geist-Komplet (fol. 102). fol. 103: Mariengebete und Marien-Horen, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 103). Aus der zweiten Arbeitskampagne: Stabat Mater (fol. 109), Horen der Empfängnis Mariä (fol. 113), Rosenkranzgebet mit Ave Maria: Missus est angelus (fol. 124), Te deprecor (fol. 134), O intemerata (fol. 136); fol. 140v: leer. fol. 141: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 158); Heiligenauswahl für Paris mit Gervasius und Prothasius sowie Dionysius ebenso wie Genovefa. fol. 167: Totenoffizium, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 167: Anfangsblatt verloren, die fehlenden Passagen auf fol. 166v und 167 vom Foliator im Barock nachgetragen), Matutin (fol. 177); Laudes (nicht markiert fol. 224v). fol. 236: Suffragien in ungewohnter Reihenfolge, die sich von der Ordnung der Litanei lös, wohl auch schon um 1500 verändert: Michael und Anna sind an den Schluß gesetzt, nur ein Aposel und nur zwei Märtyrer werden angerufen. Neben Franziskus fehlt Dominikus; doch die ers 1461 heiliggesprochene Dominikanerin Katharina von Siena, die ebenfalls die Stigmata trug, is aufgenommen; ers im späten 15. Jahrhundert findet sich in solche Gebetsfolgen Susanna aus den Daniel-Apokryphen: Jakobus (fol. 236), Sebastian (fol. 237); Julian (fol. 238), Nikolaus, in der Rubrik auf fol. 240v angekündigt, vielleicht
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schon der Revision um 1500 zum Opfer gefallen; Christophorus (fol. 241); Franziskus (fol. 242v); Magdalena (fol. 244); Katharina (fol. 245v); Katharina von Siena (fol. 246v); Barbara (fol. 248); Avia (fol. 249v); Susanna (fol. 251); Michael (fol. 252v). Als Nachtrag in der zweiten Arbeitskampagne: Anna (fol. 253v). Textende: fol. 254. Schrift und Schriftdekor Das Buch wurde von zwei Schreibern zu unterschiedlichen Zeiten in recht ähnlicher Basarda geschrieben. Die Schrift is so gleichmäßig, daß die Schreiberhände weniger klar getrennt werden können als die gemalten Elemente. Der Unterschied wird dort am deutlichsen, wo ganze Passagen um 1500 verändert oder ergänzt wurden. Aus der zweiten Kampagne sammt vermutlich der Kalender ebenso wie die Mariengebete in den vier Quaternionen von fol. 109 – 140 und jene Partien im Marien-Offizium, die wie auf fol. 81 – 90 den älteren Text verändern und ersetzen. Der Grundbesand wurde mit einheitlichem Buchschmuck versehen: Die meisen kleineren Initialen waren bei der Unterbrechung der Arbeit ebenso vollendet wie die dreizeiligen Zierbuchsaben der Incipits, für die Bildflächen vorgesehen waren. Die Randsreifen zu den im ersen Zusand belassenen Texten und die Vollbordüren sammen aus dieser Phase. Die erse Kampagne is von einer ausgezeichneten Buchkultur geprägt, die in der Loiregegend um 1450 vor allem in den Kleinen Stundenbüchern des Jouvenel-Meisers, wohl in Angers, entwickelt worden is: Kräf tig dunk les Rot oder Blau wird für plasische Akanthusbuchsaben auf Flächen der jeweiligen Gegenfarbe eingesetzt; sarke schwarze Konturen und Ornamentierung mit Pinselgold schaffen eindrucksvolle Wirkung. Die plasische Kraft bleibt auch bei den kleineren Zierbuchsaben erhalten; denn selbs wenn sie nur goldene Lettern auf einfarbigen Gründen sind, so sorgt die sarke Konturierung der Felder und die Modellierung mit Gold für Plasizität. Der Randschmuck der ersen Kampagne erreicht hingegen durch lockere Streuung von Blütenzweigen eine zierliche Leichtigkeit, die untersützt wird durch den Wechsel von Gold und hellem Grün in dem aus goldenen Zweigen sprießenden Blattwerk. Das kleine Format lädt dazu ein, jede einzelne Bordüre nur auf jeweils eine Pflanzensorte, meis Blumen, bei der Kreuztragung aber beispielsweise auch dunkle Trauben zu beschränken. Die Neigung, das Rankenwerk aus einem zentralen Punkt am unteren Rand der Bordüre aufschwingen zu lassen, gibt dem Dekor emphatische Qualität. Akanthus kommt nicht vor. Von der eleganten Schmuckfreude zeugt der Umsand, daß sich die Randsreifen zum Text nicht an die Grenzen des Textspiegels halten, sondern großzügig nach oben und unten ausgreifen. Sogar diese Eigenart galt noch in der zweiten Kampagne, die prinzipiell den Prinzipien der ersen verpflichtet bleibt. Die kleinen Initialen werden nun als einfache Goldbuch-
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saben auf einfarbige blaue oder rote Flächen gesetzt; das genügt auch bei zwei der dreizeiligen Incipits (fol. 124 und 253v). Der Randschmuck is nicht nur särker silisiert, sondern auffällig mit Rot umrandet. Diese Eigenart hilft zugleich, die Bordüren der ersten Kampagne besser zu begreifen: Dazu wurden vermutlich zwei verschiedene Hände herangezogen, die im Grad der Stilisierung abweichen; die härtere Manier, z.B. auf fol. 251, sammt somit nicht aus der Abschlußphase der Arbeiten. Die Bilder Drei Maler sehr unterschiedlichen Temperaments schufen die vorzügliche Bebilderung dieses Manuskripts. Zwei von ihnen werden in den 1460er Jahren gearbeitet haben, ehe der Martainville-Meiser um 1500 alle bis dahin leer gebliebenen Bildfelder ausfüllte sowie auch die ers zu diesem Zeitpunkt hinzugekommenen Partien von fol. 109 – 140 illuminierte und das Annenbild auf fol. 253v einmalte. Die Beschreibung muß bereits die Unterschiede berücksichtigen. fol. 1: Vom zunächs mit der Bebilderung betrauten Buchmaler sammen die ausgezeichneten Evangelisen-Porträts zu den Perikopen: Mädchenhaft jung sitzt Johannes (fol. 1) auf einer Wiese; hinter Buschwerk fließen Gewässer, über denen sich Hügel und Berge des Feslands im Blau der Ferne erheben. Das gesenkte Haupt des auf ein geöffnetes Buch schauenden Evangelisen, der dabei vom Adler aufmerksam betrachtet wird, bezeichnet die Horizonthöhe dieses konzeptionell und in seiner zarten Farbigkeit ungemein fortschrittlichen Bildes, in dem noch goldene Strahlen aus dem Himmel göttliche Inspiration ausdrücken. Im Raumeckmotiv is das Studio des Evangelisen Lukas (fol. 2v) als gewölbter Steinbau perspektivisch geschickt angelegt; doch sind die Wände in befremdlichem Violett gefärbt, das wie eine Variation der Gewandfarben wirkt. Lukas, mit dunkelrotem Kittel, blauem Mantel und einer Kappe in Altrosa sitzt auf einer Bank vor einer hohen Rückenlehne, neigt sich nach rechts über eine Schreibrolle, die er auf einem schrägen Pult abgelegt hat, mit Feder und Federmesser in den Händen, während der in einer Art Goldcamaïeu gezeigte Stier von rechts neben dem Fenser zuschaut. Mit entsprechend ungewohntem, aber viel dunklerem Kolorit is das Interieur für Matthäus (fol. 5) gesaltet: Das Raumeckmotiv is nun mit Seitenwand rechts eingerichtet. Der Evangelis, ein graubärtiger Greis in dunkelgrünem Gewand und dunkelrotem Mantel, hat ein Pult mit einem offenen Buch rechts hinter die Lehne seiner Bank gesellt, sitzt nun zum Betrachter gedreht, prüft die Feder und wirkt, als erwarte er Inspiration, während links neben ihm der jugendliche Engel mit untergeschlagenen Armen aus dem Bild schaut. Wie Matthäus als Mann im besen Alter und nach rechts gewendet erscheint Markus (fol. 7v), jedoch in einem geräumigeren Palasraum, dessen parallele Rückwand mit klassischer Architektur insrumentiert is und der durch ein rundbogiges Fenser rechts in die Landschaft blicken läßt. Wieder arbeitet das Kolorit exquisit mit Altrosa und Blau-
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tönen sowie dem Goldcamaïeu der Möbel und dem aufmerksam zum Betrachter schauenden Löwen. fol. 11: Zu jeder Stunde bebildert sind das Marienoffizium und die Horen von Heilig Kreuz, nicht jedoch die von Heilig Geist, die neben dem Erkennungsbild zur Matutin nur zur Non eine weitere Miniatur erhalten. Durch seine hohe Qualität, nicht aber im Layout is das Bild der Verkündigung zur Marien-Matutin (fol. 11) hervorgehoben: Vor einer dunkelblauen Muschelnische in Renaissance-Stil kniet mit seinem Lilienzepter der Erzengel Gabriel, dessen Botschaft in schlecht lesbaren goldenen Lettern als waagerechte Linie vom Mund ausgeht. Ihm gegenüber kniet Maria, die zwar über keine Bank verfügt, aber wie die drei Evangelisen in Interieurs vor einer Holzvertäfelung erscheint, auf die sie einen eindrucksvollen Schatten wirft. In der leicht nach links verschobenen Mittelachse seht dort das gotische Betpult unter einer Gloriole mit Gottvater in Halbfigur, von dem die Taube des Heiligen Geises zu Marias Haupt herabfliegt. Goldcamaïeu von Gabriels Dalmatika, den Möbeln und dem Fond der Gotteserscheinung besimmt das Kolorit, in dem aber auch leuchtendes Rot und Blau in Marias und Gottes Gewandung mitspielen. Eine Generation später wurde die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 26v) als Begegnung von Maria und Elisabeth vor einem Felsen konzipiert. Die Gefangennahme Christi zur Kreuz-Matutin (fol. 43) dürfte noch in der ersen Arbeitskampagne entworfen worden sein, war wohl schon ein wenig mit Farben angelegt und is, vielleicht ers viel später, wenig glücklich als Nachtbild vollendet worden. Links vorn kniet Malchus zu den Hauptfiguren gewendet; dessen blutiges Ohr hält Jesus, vom Judaskuß bedrängt, in der Hand, während Petrus noch einmal mit dem Schwert ausholt. Ganz im Stil der Abschlußkampagne gehalten is hingegen das Pfingstwunder zur GeisMatutin (fol. 45): Um 1500 konkurrierten im Umfeld des Martainville-Meisers zwei Konzepte für die Ausgießung des Heiligen Geises: Statt der schräg ausgerichteten Version (siehe Nr. 49) is die zentrale Komposition eingesetzt, die Maria ins Zentrum der Aposel setzt; folgerichtig wird die Architektur als Zentralbau konzipiert, unter dessen Renaissance-Kuppel die Taube des Heiligen Geises schwebt. Bei der Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 47) wird die Krippe, wie beim Martainville-Meiser häufig, als Weidengeflecht gezeigt; in dem sehr geräumigen Stall kniet Maria, mit Ochs und Esel zum Kind gewendet, während Joseph mit untergeschlagenen Armen rechts kniet und in die Höhe schaut. Über ihm schwebt ein Himmelsrund mit dunkelblauen Wolken vor hellem Fond, eher wie eine Erscheinung, die als Öffnung in der schadhaften aus Brettern gezimmerten Rückwand nicht überzeugen kann. Vor einer dunkel gehaltenen Renaissance-Wand beim Verhör zur Kreuz-Prim (fol. 53) tritt Jesus, von zwei Männern gehalten, vor den Thron des Pilatus: Die drei weißen Thronsufen ragen weit nach links ins Bild; Pilatus nimmt mehr als die Hälfte des Bil-
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des ein, wie er im Profil nach links blickt und mit dem Zeigefinder seiner Linken auf den Gefangenen weis. Nachdem man das ganze 15. Jahrhundert Hirten in aller Regel in fröhlich bunten Kleidern zeigte, setzt sich beim Martainville-Meiser die Erkenntnis durch, daß solche armen Leute in geradezu schmutzigen Tönen gekleidet waren. So sitzen drei Hirten fas ebenso eng zusammengedrängt wie ihre Herde bei der Hirtenverkündigung zur Marien-Terz (fol. 55v) auf einem nach rechts abfallenden Hang, über dem sich links Felsen türmen, als habe der Maler bei diesem Thema an Moses am Fuße des Sinai gedacht. Prächtig is der Gegensatz aus nahsichtig gegebener Wiese mit Felsen und dem Blau der Ferne, in dem der Engel erscheint. Immer wieder beeindruckt beim Martainville-Meiser seine Art, wie er die Kreuztragung, hier zur Kreuz-Terz (fol. 61v), gesaltet: Die Miniatur is auf wenige Figuren beschränkt; die Handlung richtet sich nun anders als in der auf zwei Seiten ausgebreiteten Version in Nr. 47 nach rechts. Einer älteren Tradition entsprechend, die im 15. Jahrhundert zurückgedrängt wurde, wird das Kreuz mit dem Stamm nach vorn getragen. In der heftigen Bewegung Chrisi wirkt es, als drehe sich die Figurengruppe mit Maria und Johannes, die ihm von links folgen, und dem in Goldcamaïeu gerüseten Kriegsknecht, der ihn zerrt; diese Wirkung wird durch den Verzicht auf Tor und Stadtmauer vor einer Landschaftskulisse im Blau der Ferne versärkt. Ähnlich weiträumig wie bei der Marien-Prim wirkt der Stall bei der Anbetung der Könige zur Marien-Sext (fol. 64): Die Szene is auf Maria mit dem Kind und die drei Weisen aus dem Morgenland beschränkt, die wie gewohnt als Könige auftreten. Dem Text zufolge müßte zur Kreuz-Sext die Vorbereitung der Kreuzigung geschildert werden; doch gab es Stundenbücher, die wie hier schon die Kreuzigung (fol. 69v) zeigen; noch müßte der Gekreuzigte wie in unserem Stundenbuch mit den Limburgzeichnungen (siehe die Abb. von Stephaton mit dem Essigschwamm auf fol. 122 und Longinus nach dem Lanzensich auf fol. 124 in unserem Katalog 77 von 2016) lebendig sein; hier aber bezeugt die Seitenwunde bereits den Tod. In dem kleinen Bildraum sind Chrisus und die zu seinen Seiten gekreuzigten Schächer kleiner als die am Fuß der Kreuze sehenden Gesalten: Maria seht mit den heiligen Frauen links, der Lieblingsjünger Johannes rechts. Kein Soldat wird gezeigt. Inkonsequent hat man Raum für ein Bild des Apostelabschieds zur Geis-Sext (fol. 71) freigehalten. Bildzyklen zu diesen Horen sind selten und haben, soweit wir wissen, keine echte Tradition entwickelt. Die Darsellung ersaunt: Ein greiser Aposel seht unter einem Felsen an einem Abhang aufrecht und grüßt den ebenfalls greisen Petrus, der vor ihm ins Knie gesunken is. Man könnte an Paulus denken; doch hat er eigentlich in diesem Thema keinen Platz. Wer gemeint is, bleibt unklar. Die übrigen Aposel haben sich bereits mit langen Stäben auf den Weg gemacht, sechs von ihnen schreiten im Mittelgrund nach links vor weiter Fernlandschaft.
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Bei der Darbringung im Tempel zur Marien-Non (fol. 72) wird die Muttergottes von ihrer Magd mit der Kerze und dem greisen Joseph begleitet, der drei Tauben im Korb mitbringt. So kniet Maria mit bedeckten Händen vor dem Altar, über dem Simeon unter einem grünen Baldachin den nackten Knaben ebenfalls auf einem weißen Tuch hält. Bei der Kreuz-Non wird der Lanzenstich (77v) gezeigt: Daß rechts nur Soldaten sehen, war eher Brauch. Doch nicht, daß der wie ein geislicher Würdenträger gekleidete greise Longinus, der gerade Jesu Seite geöffnet hat, die Frauengruppe in den Hintergrund drängt; nur Maria is noch zu erkennen. Hier seht in Goldcamaïeu gerüset der ebenfalls greise Hauptmann vor Lanzenträgern und weis auf den am Kreuz Hingeschiedenen. Diesmal is kein Platz für die Schächerkreuze. Die Flucht nach Ägypten zur Marien-Vesper (fol. 80) gehört zu den Bildern, in denen der Martainville-Meiser seinen internationalen Rang beweis: Wie Cosimo Tura im Tondo des New Yorker Metropolitan Museums (und ein paar Generationen später Tintoretto im berühmten Gemälde der Scuola di San Rocco) zeigt er, wie der Esel mit Maria und dem Kind en-face auf den Betrachter zuschreitet, und rückt den Ziehvater wie bei Cosimo Tura vor einen Felsen, während hinter Maria ein tiefer Blick zurück in die Landschaft führt, aus der sie gekommen is. Auch die Komposition der Kreuzabnahme zur Kreuz-Vesper (fol. 91v) ersaunt: Maria hockt mit Johannes am Fuße der Leiter, auf die einer der beiden Alten, eher Nikodemus als Joseph von Arimathia, gesiegen is, um vom anderen, der rechts seht, untersützt den in einer Schräge ersarrten Leichnam zur Erde hinab gleiten zu lassen. Die Art, wie der Tote präsentiert wird, soll eher die Ehrfurcht vor dem Leib Chrisi als den Schrecken des Todes ins Zentrum des Bildes sellen. Eigentümlich beengt wirkt die Marienkrönung zur Marien-Komplet (fol. 94): Links seht der Thron für Jesus, schräg nach vorn ragend. Rechts kniet die Muttergottes, der ein Engel, der hinter ihr seht, gerade die Krone auf das Haupt gesetzt hat. Über einer Steinbrüsung im Hintergrund erblickt man rotglühende Seraphim, die wie in Nr. 49 geradezu eine Mauer bilden. Sehr schlicht komponiert is die Grablegung Christi zur Kreuz-Komplet (fol. 100): Der Sarkophag seht bildparallel vor einem Felsen links und dem Blick in die Ferne rechts. Zwei Greise, die ganz anders aussehen als die beiden Alten bei der Kreuzabnahme und doch wieder Nikodemus und Joseph von Arimathia meinen, betten den recht klein dargesellten Toten mit dem Haupt links. Zwischen sie is Maria als beherrschende Hauptfigur getreten, von Johannes und Magdalena begleitet. fol. 103: Marienklage formulieren die Bilder zu den Mariengebeten, die vom Maler eingetragen wurden, nachdem der erse Text durch die anderen ergänzt worden war: Zum Obsecro te is es die Pietà (fol. 103), bei der die Muttergottes unter dem Kreuz sitzt, den toten Sohn auf dem Schoß, dessen Haupt Johannes sützt. Beim Stabat Mater (fol. 109), dessen Bebilderung selten auf das Incipit (es sand die Mutter) Rücksicht nimmt, knien hingegen Maria und Johannes unter dem leeren Kreuz.
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Die Horen von Mariä Empfängnis werden hier wie so oft durch den Kuß an der Goldenen Pforte (fol. 173) eröffnet: Das Gold der Pforte wird hier genauso wenig gezeigt wie in den meisen Bildern des Themas: Anna und Joachim werden in ihrer Umarmung nach links gedrängt, vor die Tortürme, während rechts ein Blick auf Mauer und Dächer gegeben wird. Der greise Vater is energischen Schrittes von rechts herangetreten. In bemerkenswertem Bezug zur italienischen Malerei der 1470er Jahre seht die halbfigurige Annunziata zum Rosenkranzgebet (fol. 124): Vor grau-violettem Fond erscheint Maria betend – das geschieht eigentlich so, wie sie der Erzengel Gabriel bei der Verkündigung gesehen haben dürfte – und von den goldenen Strahlen des Heiligen Geises erfüllt; doch hat sie ihr Haupt verhüllt. Entsprechend hat Antonello da Messina zwei halbfigurige Tafeln der Verkündigungsmaria als Andachtsbilder (in Palermo und München) gesaltet. Das offene Haar kennzeichnet die zukünftige Muttergottes als Magd Gottes; deshalb verhüllt Maria ihr Haupt weder bei Antonello (in Messina) noch bei unseren Buchmalern, wenn Bilder den gesamten Vorgang schildern. Zum O intemerata wird schließlich Maria thronend zwischen Engeln gezeigt (fol. 136); der Thron öffnet sich weit, als habe sich der Maler an einer spätesens um 1400 entsandenen Darsellung orientiert. fol. 141: Bei Davids Buße zu den Bußpsalmen wird das Landschaftsmotiv, das von der Hirtenverkündigung schon bekannt is, noch einmal dynamisch eingesetzt: Am nach rechts abfallenden Hang kniet König David, nicht unter einem Felsen, sondern unter Buschwerk. Über der weiten Landschaft rechts erscheint Gott als Halbfigur im Himmel. Der greise König, mit breitem Hermelinkragen über dem goldenen Mantel und einem wie Goldbrokat gesalteten blauen Gewand, hat zum Beten Harfe und Kronhut abgelegt. fol. 167: Das Bild zum Totenoffizium war schon im Barock gesohlen. fol. 236: Jakobus (fol. 236) seht im knielangen Pilgerrock mit Hut und Stab in der Landschaft und weis auf ein Buch. Zu Sebastians Pfeilmarter (fol. 237) wird der jugendliche Heilige nur in Lendenschurz an einen Baum gefesselt; sein Peiniger, hinter dem noch ein zweiter ins Bild drängt, greift mit seinem Bogen so weit ins Bild, daß die Hand fas den mit Pfeilen Gespickten berührt. Nach diesen beiden Miniaturen des Martainville-Meisers zeigt sich, daß für die Suffragien neben den beiden Malern aus verschiedenen Generationen noch ein dritter herangezogen wurde: Julian (fol. 238) seht in Rüsung mit den königlichen fleurs de lis auf seinem Schild mit Blick auf den Altar in einer Kirche. Ihn hat derselbe Maler gesaltet, der auch Christophorus (fol. 241) dargesellt hat: In dunsiger Landschaft hält der riesenhafte Heilige neben einem Felsenriff im Wasser an; sein goldfarbener Mantel schwingt fas in die Waagerechte, wie er sich aufrichtet, um den Chrisusknaben auf seiner Schulter zu schauen. Der nun beherrscht das Bild, im Zentrum des Bogenabschlusses mit goldenen Strahlen des Kreuznimbus und der Sphaira, die recht selten in der Ikonographie dieses Heiligen vorkommt, aber zur Legende paßt, Chrisophorus habe gespürt, daß er mit dem Chrisusknaben die ganze Welt trägt.
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Bei den Stigmatisation des Franziskus (fol. 242v), die unter einem Felsen am für den Martainville-Meiser charakterisischen nach rechts abfallenden Berghang geschieht, rückt der Heilige ganz nach vorn; die Erscheinung des Seraphen, von dessen Kreuzeswunden die Stigmata ausgehen, is sark zurückgesetzt. Mehr Gewicht bekommt die Einsiedelei am rechten Rand, vor der der Mitbruder eingeschlafen is. Bezaubernd zart hat der Maler der ersen fünf Miniaturen Magdalenas Entrückung (fol. 244) dargesellt: Die Reuerin, die in den Jahrzehnten ihrer Buße ihre Kleider verloren hatte und deshalb vom eigenen Haar eingehüllt is, wird in der Bildmitte von vier Engeln in die Lüfte entrückt; damit man sie erkennt, seht unten ihr Salbfaß. Zweimal wird Katharina gezeigt: Das Martyrium der Katharina von Alexandrien (fol. 245v) hat der Maler von Chrisophorus und Julian mit seinen kleinen Figuren in recht dunklen Farben gemalt: Ganz logisch is die Darsellung nicht; denn man sieht im Mittelgrund neben dem Herrscher, der die Jungfrau töten läßt, das intakte Rad, das eigentlich von Engeln zerschmettert sein müßte; denn vorn kniet die Heilige bereits nieder, um den erlösenden Tod durch das Schwert zu finden. Die Stigmata der Katharina von Siena (fol. 246v) machen deutlich, warum diese Dominikanerin gemeinsam mit Franziskus in unserem Manuskript berücksichtigt wurde: Die ers 1461 heiliggesprochene Nonne hat der Martainville-Meiser sehr groß in einem seinernen Gebäude vor ihr Lesepult gesellt. Unter ihren Füßen windet sich Tod oder Teufel, während sie verzückt die Hände hebt, in der Rechten ihr glühendes Herz, und zum Seraphen blickt, der ihr die gleichen fünf Wundmale zufügt, die Franziskus trug. Derweil sind zwei kleine Engel gekommen, um ihr eine Krone aufzusetzen. Im späten Stil sind dann auch wieder die letzten fünf Miniaturen gehalten: Barbara (fol. 248) seht mit der Märtyrerpalme vor ihrem Turm, der kein Zeichen der Trinität aufweis. Maria tritt, von einem Engel begleitet, zum Turm, in dem Avia (fol. 249v) eingekerkert is; hier bringt sie offenbar ein Brot und nicht, wie in der Bildtradition gewohnt, eine Hosie. Susanna (fol. 251) nimmt in einem Bottich unter einem Baum ihr Bad, nackt aufgerichtet und betend, während die beiden Alten von rechts herannahen. Der Erzengel Michael hat den Teufel bereits überwunden (fol. 252v). Als würdige Lehrerin sitzt Anna bei der Erziehung der Jung frau (fol. 253v) unter einem grünen Baldachin, hält ein Buch im Schoß; nach ihm greift die kleine Maria. Dieses is die einzige Miniatur, die nur von einem Bordürensreifen außen begleitet wird; offenbar war die Miniatur nicht vorgesehen; doch hatte man schon in der ersen Kampagne die leere Seite mit dem für Textseiten gewohnten Randschmuck versehen. Die beteiligten Buchmaler Drei verschiedene Buchmaler sind auch für ungeschulte Augen leicht zu unterscheiden: Aus den 1460er Jahren sammen die Evangelisenbilder und die Verkündigung. Ihr Schöpfer bevorzugt violette Töne, selbs Rot und Blau unterwirft er seiner Vorliebe für subtile Farbwerte zwischen den reinen Farben. Eindrucksvoll arbeitet er mit unterschied-
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lich dunklem Rot; reines Blau kommt kaum vor. Grau und Weiß werden mit Lila oder Violett abgetönt; selbs im Inkarnat spielen violette Töne mit. Der Maler setzt auch ein sehr schönes zartes Grün ein und hat seine eigene Art von Goldcamaïeu entwickelt. Die Wirkung des Kolorits wird durch den Pinselsrich versärkt: Zart, zuweilen geradezu nervös wirken die vielen kleinen Striche; sie erlauben vor allem, den Gesichtern subtilen Ausdruck zu verleihen. Licht und Schatten spielen eine ersaunliche Rolle: Hintergründe können im Dunkeln geradezu verschwinden oder sich durch Helligkeit wie bei Lukas ersaunlich weiten. Die Figuren werfen Schatten; gekachelte Böden sind perspektivisch gesaltet; der Horizont folgt bei Johannes, der auf Patmos sitzt, den von Leon Battisa Alberti entwickelten Prinzipien. Damit nimmt diese Malerei einen hervorragenden Platz in der Erschließung von Prinzipien der italienischen Frührenaissance für die französische Buchmalerei ein; das verbindet sie mit Jean Fouquet in Tours, der in den 1450er Jahren mit dem Stundenbuch für Étienne Chevalier (davon 40 Einzelblätter in Chantilly, Musée Condé) aus Erfahrungen seiner Italienreise eine europaweit einzigartige Bandbreite von Möglichkeiten entwickelt hat, Raum im Licht zu gesalten. Doch während Fouquet die Insel Patmos noch als vom Meer umspieltes Eiland begreift, wird in diesem Manuskript nur im Hintergrund angedeutet, daß der Schauplatz weit vom Fesland entfernt is. Damit geht unser Maler über den berühmten Meiser hinaus. Fouquets Kuns der 1450er Jahre is Voraussetzung für den Hauptmaler der ersen Arbeitskampagne; die Kanonisation der heiligen Katharina von Siena 1461 datiert unser Manuskript frühesens in die 1460er Jahre. Zwar findet sich die Tendenz zum Violetten auch beim späten Fouquet und prägt entschieden schwächere Nachfolger im Loiregebiet. Doch davon is die hier erreichte Virtuosität noch weit entfernt. Es will nicht leichtfallen, auch nur einzelne Miniaturen derselben Hand zu ermitteln. Bei unserer ersen Auseinandersetzung mit diesen Miniaturen haben wir 1989 an den Meiser des Charles de France in Bourges gedacht. Grundsätzlich seht diese Malerei ihm nahe; an eine Zuschreibung is jedoch nicht zu denken. Zwar is in den fas dreißig Jahren, die seither vergangen sind, nicht ohne essentielle Mitwirkung des Antiquariats Bibermühle, die Kenntnis französischer Buchmalerei vital gewachsen. Über Bourges und Tours, Poitiers und Angers wissen wir inzwischen sehr viel mehr; doch nicht einmal eine vernünftige Ortung des Malers will gelingen. Heribert Tenschert denkt an den jungen Georges Trubert; und in der Tat besehen nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeiten mit dessen frühesem Werk, der Probeseite der Bible moralisée, fr. 166, fol. 48, in der Pariser BnF: Das Kolorit und die geniale Raumgesaltung haben vieles gemein; nur überzeugt die Verbindung über die Physiognomien nicht im wünschenswerten Maße. Trubert muß im Umfeld der großen Maler Jean Fouquet und Barthélemy d’Eyck seine Kuns entwickelt haben; das wird an der Loire geschehen sein, in Tours und wohl auch in Angers, wo der junge Maler vielleicht eingeladen war, eine Probeseite für die von den Brüdern Limburg unvollendet hinterlassene Bible moralisée zu liefern, nachdem die Hauptvertreter des Jouvenel-Stils den Versuch abgebrochen hatten, die Bebilderung zu liefern.
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Aus demselben Kunskreis sammt auch der zweite Maler unseres Stundenbuchs, der nur drei Miniaturen in den Suffragien gesaltet hat, die einzelnen Gesalten von Julian und Chrisophorus sowie die ungemein dichte, aber nicht ganz logische Schilderung des Martyriums der Katharina von Alexandrien. Auch er bewegt sich bei Lichtgebung und Perspektive sowie der Einrichtung des Horizonts ganz auf der Höhe der von Fouquet bewirkten Umwälzungen. Sein Kolorit is dunkel; herkömmliche Rot- und Blautöne kommen särker zu ihrem Recht. Die gedrungenen Figuren sind schwerfällig, hart umrissen. Diese Kuns seht zwischen dem Maler, den man nach dem Wiener Mamerot oder dem Yale-Missale nennt, einerseits und Künslern in Poitiers – so wirkt das Kolorit den kleinen Miniaturen in der Pariser Handschrift Rothschild 2534 verwandt; doch konkrete Zuschreibungen verbieten sich. Viel einfacher is die Besimmung der zweiten Arbeitskampagne: Alle Miniaturen sind einheitlich von einem der führenden Künsler zwischen Tours, Rouen und Paris gesaltet worden: Sie sammen vom Martainville-Meiser. In seinem Fall hat sich unsere Kenntnis der künslerischen Bezüge sehr viel entschiedener verbessert: Durfte man 1989 noch an den Petrarca-Meiser denken, der für uns seit 1978 ebenso wie für John Plummer 1982 der bese Maler der sogenannten Schule von Rouen war, die damals schon für uns nach Paris wanderte, so haben viele Schritte – von François Avril, von uns selbs und den Schülerinnen Mara Hofmann und Caroline Zöhl – dafür gesorgt, daß sich Paris als Lokalisierung durchsetzte und das ungewöhnliche Genie des hier verantwortlichen Malers ins Bewußtsein trat: Es is der Martainville-Meiser, dessen Kuns – und das sei hier angesichts der im Manuskript enthaltenen älteren Miniaturen als besondere Qualität hervorgehoben – vor allem durch das Verhältnis von Figur und Landschaft monumental wirkt. Er setzt den Horizont so ein, daß Figuren wie Jakobus majesätisch vor dem Himmel erscheinen, während man sich bei der Flucht nach Ägypten leicht bücken muß, um wie Joseph demütig zur Muttergottes aufzublicken, oder bei Susanna am besten sich hinkniet, um die falsche Macht der beiden Ältesen zu begreifen. Die Ehre einer Monographie is ihm anders als seinem Zeitgenossen Jean Pichore noch nicht zuteil geworden; doch liefert der hier vorgelegte Katalog Elemente dazu. Drei bemerkenswerte Phasen der französischen Buchkultur werden in dieser eindrucksvollen Handschrift anschaulich: Sie schließt an die sogenannten Kleinen Stundenbücher des Jouvenel-Kreises an, zeigt zugleich, wie zwei bedeutende Buchmaler, deren Werk noch weitgehend im Dunkeln liegt, vital und einfallsreich auf die Neuerungen reagieren, die Jean Fouquet nach seiner Rückkehr aus Italien seinen französischen Zeitgenossen, vor allem im Loiregebiet, aber auch in Bourges und Poitiers vermittelt hat. Der zunächst mit der Arbeit betraute Maler steht dem jungen Georges Trubert nahe; neben ihn tritt ein zweites Temperament aus demselben Stilkreis. Doch im hier vorgelegten Katalog hat dieses Stundenbuch seinen Platz, weil der Martainville-Meister, ein Künstler, der wohl aus dem Loiregebiet nach Norden ge-
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kommen ist und sicher in Paris, vielleicht auch in Rouen gearbeitet hat, die Ausmalung der vielen leer gebliebenen Bildfelder besorgt hat. Dabei brillierte er insbesondere mit der überraschenden Sicht der Flucht nach Ägypten. Als dritte Phase der großen Buchkultur Frankreichs muß dann aber auch die Zeit kurz nach 1600 geachtet werden, in der man sich nach einem Jahrhundert der religiösen Wirren wieder auf Stundenbücher besann und solche Schätze aus der Vergangenheit durch Einbände wie diesen würdigte, um sich dann auch persönlich durch ein Monogramm mit ihnen zu identifizieren. Literatur Zur Malerei in Bourges haben Robert Schindler, Die bebilderte Enea Silvio Piccolomini Handschrift des Charles de France, Turnhout 2016, und noch ertragreicher Chrisine Seidel, Zwischen Tradition und Innovation. Die Anfänge des Buchmalers Jean Colombe und die Kunst in Bourges zur Zeit Karls VII. von Frankreich, Simbach 2017, wesentliche Aufschlüsse erbracht. Zum Martainville-Meiser siehe die Literatur zu Nr. 47.
49 Das Pelée-Chaperon-Stundenbuch vom Martainville-Meister aus dem Besitz des Comte de Paris
STUNDENBUCH. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Blau, mit einem Kalender in Rot und Blau, Festtage in Gold, in dunkelbrauner Textura. Paris, um 1500 – 1505: MartainvilleMeiser 57 Miniaturen, davon 3 auf Doppelseiten mit Miniaturen ohne Text oder Randschmuck und Incipits in Vollbordüren auf Pinselgoldgrund, 17 große Kopfminiaturen in Vollbor düren mit Kompartimenten oder Goldgrund über vier Zeilen Text; alle diese 20 Mini aturen mit vierzeiligen DornblattInitialen; dazu 13 Kleinbilder im Text für die Sufra gien, acht Zeilen, in einem Fall sechs Zeilen hoch; jede dieser Bildseiten mit vierseitiger Kompartimentbordüre, 24 Kalenderbilder in Bordürensreifen außen, alle Textseiten mit einem Bordürensreifen gleicher Art am äußeren Rand, belebt mit bunten Grotesken und Vögeln. Initialdekor durchweg altertümlich: vier bis zweizeilige DornblattInitialen, zu den Psalmenversen, die am Zeilenbeginn einsetzen, einzeilige Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 174 Blatt Pergament, Vorsätze aus Pergament: vorne 5, hinten 3 fliegende und je ein festes Vor satz, mit zahlreichen Besitzeinträgen. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlagen 12 (6), 13 (6), 14 (8+1, 1. Blatt hinzugefügt) und die Endlage 22 (2+1, das dritte Blatt hinzugefügt); Reste vertikaler Reklamanten in Bastarda. Rot regliert zu 18, im Kalender zu 17 Zeilen. Oktav (175 x 122 mm, Textsiegel: 95 x 54 mm). Vollständig, breitrandig und insgesamt vorzüglich erhalten. Brauner Ledereinband mit fünf erhabenen Bünden, wohl aus dem letzten Jahrzehnt des 16. Jhs., mit Goldprägung: gestempelte Lorbeerranken in den Zwickeln; auf dem vorderen Deckel ein Medaillon mit der Kreuzigung, darüber der Name C. PELEE; auf dem hinteren Deckel die Verkündigung, AVE GRATIA / PLENA und der Name C. CHAPERON. Reste von Goldschnitt. Den Eintragungen auf den Vorsätzen zufolge blieb die Handschrift über viele Generationen im Besitz der Familie Pelée: Ein Eintrag unter „Nota“ auf dem zweiten fliegenden Vorsatz vorn erläutert die Namen auf dem Einband; denn er stellt fest, das Buch sei von Claude Pelée, bourgeois de Sens, seiner zweiten Ehefrau Claude Chaperon, die er 1592 ehelichte, geschenkt worden. Auf dem ersten Vorsatz stehen dann Besitzeinträge von Blaise Pelée le Jeune aus dem Jahr 1646, Marie Année (sic!) Pelée 1701 und schließlich Monsieur Pelée de Valencourt, Élu de Sens 1736. Zuletzt, bis 2000, in der Sammlung des Comte de Paris. Von uns aus europä ischem Privatbesitz erworben.
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Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Rot und Blau, Goldene Zahl in Gold, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf roten und blauen Flächen, Sonntagsbuchstaben b-g braun, Festtage in Gold. Die Heiligenauswahl deutet auf Paris. fol. 13: Perikopen: Johannes, als Suffragium (fol. 13), Lukas (fol. 15), Matthäus (fol. 17) und Markus (fol. 19). fol. 20v: Mariengebete redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 20v), O intemerata (24v). fol. 27v: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 27v), Laudes (fol. 49v), Prim (fol. 60), Terz (fol. 65v), Sext (fol. 69v), Non (fol. 73), Vesper (fol. 77), Komplet (fol. 83). fol. 80: Horen des Heiligen Kreuzes (fol. 88), des Heiligen Geistes (fol. 94). fol. 100 (mit einer vorausgehenden Miniatur auf dem Verso): Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 111v), Heiligenauswahl deutet auf Paris. fol. 117 (mit einer vorausgehenden Miniatur auf Verso): To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 117), die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 123v), Lau des (fol. 147). fol. 158v: Französische Gebete: XV Freuden Mariä Doulce dame (fol. 158v); VII Klagen des Herrn: Doulx dieu (fol. 164). fol. 167v: Suffragien: Trinität (fol. 167v), Michael (fol. 168), Johannes der Täufer (fol. 168v), Johannes der Evangelist (fol. 169), Petrus und Paulus (fol. 169v), Jakobus (fol. 170), Niko laus (fol. 171), Anna (fol. 171v), Magdalena (fol. 172), Katharina (fol. 172v), Barbara (fol. 173), Genovefa (fol. 174). fol. 174v Textende. Schrift und Schriftdekor Zwar erst gegen 1500 geschrieben, setzt das Manuskript immer noch die traditionelle Textura ein, freilich in einer für die späte Entstehungszeit charakteristischen Variante: Die Schrift ist recht niedrig, wirkt gestaucht. Blau sind die Rubriken, auch das ein In diz für die Zeitstellung am Ende der Spätgotik. Doch entsprechend altertümlich ist der Schriftdekor; denn Flächendekor mit Lettern aus Blattgold auf Rot und Blau für die einzeiligen Initialen, die durchweg am Zeilenanfang stehen, und sehr sorgfältig gestal tetes Dornblatt für die größeren Buchstaben bestimmen den Textdekor. Der Rahmen aus brillantem Blattgold mit dichtem Dornblattschmuck ausgerechnet für das Bild von Hiob im Elend zeigt zugleich, wie fremd und altertümlich solcher Buchschmuck für die Werkstatt geworden war; denn so hätte man in den vorausgehenden Generationen nie ein großes Bild gerahmt. Die Werkstatt des Martainville-Meisters hat sich immer wieder im Randdekor bewährt: Großartig ist auch hier die Fülle der Möglichkeiten; besonders beeindruckend sind Bor
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düren mit dunklen, zuweilen schwarzen Gründen sowie die vielen Varianten in der Ge staltung der Kompartimente. Witzig wird im Kalender mit der Teilung der Randfelder in drei Abschnitte gespielt; denn das Bildfeld ist jeweils zwischen zwei Ornamente ge setzt, die dann oben und unten denselben Grundgedanken aufnehmen, aber nicht genau wiederholen. Recto und Verso folgen meist demselben Entwurf, die heftigen Farbwech sel aber schaffen dann vier Varianten und sorgen damit für den Eindruck erstaunlicher Vielfalt. Einige Vollbordüren erhalten ihre Kompartimente durch geschwungene Bänder, die mal wie beim Marienbild zum Doulce dame mit lesbaren Formeln beschriftet sind, dann aber auch wie bei der Darbringung im Tempel verwirrte Buchstabenfolgen tragen. Die Bilder Den Kalender begleiten Bordürenstreifen außen, in ihnen sind rechteckige Bildfelder von etwa fünf Zeilen ausgespart, auf Recto für die Monatsbilder, auf Verso für die Tierkreis zeichen. Im Januar sitzt ein Herr zu Tisch (fol. 1), der Wassermann (fol. 1v) als nackter blonder Knabe schüttet seinen Wasserkrug in einen Fluß. Im Februar wärmt ein junger Edelmann seine Füße am Kamin (fol. 2), die Fische (fol. 2v) schwimmen in einem ruhigen Gewässer. Im März werden die Weinstöcke zurückgeschnitten (fol. 3), der Widder (fol. 3v) hüpft über die Wiesen. Im April flechtet eine junge Dame einen Blumenkranz (fol. 4), der Stier (fol. 4v) schreitet eindrucksvoll durch die Landschaft. Im Mai wird der Aus ritt eines jungen Edelmannes gezeigt (fol. 5), die Zwillinge (fol. 5v) lehnen sich als nack tes Paar aus Mann und Frau fröhlich einander zu. Im Juni Heumahd (fol. 6), der runde Krebs (fol. 6v) liegt auf einer Wiese. Zum Juli folgt die Kornmahd (fol. 7), angriffslus tig blickt ein kleiner Löwe aus dem Bild (fol. 7v). Im August wird das Korn gedroschen (fol. 8), die Jungfrau (fol. 8v) erscheint als Märtyrerin mit Palmenzweig und geöffnetem Buch. Im September Weinkelter (fol. 9), und die Waage wird von einer blonden Frau in goldenem Gewand getragen (fol. 9v). Im Oktober dann beginnt die Aussaat (fol. 10), der Skorpion sieht fast aus wie der Krebs (fol. 10v). Im November werden die Eicheln von den Bäumen geschlagen (fol. 11), die Schweine gierig hinunterschlingen, der Schütze (fol. 11v) wird wie üblich als bogenschießender Kentaur dargestellt. Im Dezember schließlich folgt das Schweineschlachten (fol. 12), das recht blutig dargestellt wird, der Steinbock (fol. 12v) kriecht langgehörnt aus einer Muschel. Die Perikopen werden von großen Evangelistenbildern eingeleitet, am Anfang wie üb lich Johannes auf Patmos (fol. 13): Mit ausgebreitetem Mantel sitzt er über eine Schrift rolle auf seinem Schoß gebeugt und schreibt. Dynamisch steigen von links hinten Felsen an, um dann rechts seiner Gestalt kompositorisch Kraft zu geben. Daß Johannes, wie in solchen Bildern gewohnt, auf einer Insel ist, wird nur vorn durch einen Streifen Wasser unter felsigem Ufer angedeutet. Der greise Lukas (fol. 15) sitzt unter einem prächtigen Baldachin an seinem drehbaren Schreibpult, hält im Schreiben inne; denn er ist ungewöhnlicher Weise dabei, mit einer Klinge den Text zu rasieren, also eine Korrektur vorzunehmen, aufmerksam vom Stier
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mit ausgebreiteten violetten Flügeln beobachtet. Matthäus (fol. 17), bartlos und noch recht jung, sitzt rechts unter einem runden grünen Baldachin an einem kasenförmigen Pult und blickt von seinem Buch auf, zu dem größeren Buch, das ihm würdevoll ein jugendlicher Engel präsentiert. Markus (fol. 19) hat sich auf einem prächtigen, von rotem Damas hinterfangenen Thron niedergelassen und eine Pergamentrolle so auf dem Knie ausgebreitet, daß der Maler ihn fas frontal darsellt. Der Löwe, sein Attributswesen, liegt mit spitzen grünen Flügeln ruhig neben ihm. Zu den Mariengebeten wird beim Obsecro te die Thronende Madonna mit Kind und zwei musizierenden Engeln (fol. 20v) gezeigt: Maria hat auf einer Art Faldisorium mit Rückenlehne Platz genommen, ähnlich wie man in der französischen Buchmalerei der Zeit gern auch Könige darsellt. Neben ihr sehen weiß gekleidete Engel, der linke spielt Harfe, der rechte Laute. Wie so oft eröfnet das O intemerata hingegen mit einem Bild der Marienklage, der Beweinung Chrisi (fol. 24v). Vor dem zentral gesellten Kreuzessamm sitzt hoch aufragend Maria mit dem schmerzhaft gekrümmten Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß. Sie hat die Hände zum Gebet gefügt, blickt nicht auf ihn herab, sondern ersarrt zu uns. Als ganzseitige Miniatur eröfnet die Verkündigung (fol. 27v) zur Matutin das Marienoffizium. In einem großzügig konzipierten Raum wenden sich die beiden Figuren, der Engel links und Maria rechts, beide kniend, einander zu. Die klare und srenge Komposition wird meiserhaft durch das Farbspiel des Malers in Spannung versetzt. Vor dem Grau der mit Renaissanceformen verzierten Steinwand links breiten sich die grünen Flügel des goldgewandeten Engels, während Marias Bildhälfte vom kraftvollen Blau ihres Mantels und dem matten Rot des Baldachins besimmt is. Die Laudes werden traditionell mit der Heimsuchung (fol. 49v) bebildert. Hier kniet die Base Elisabeth links vor dem Landschaftsausblick so, als sei sie zur Jungfrau gekommen, die von einem Felsen hinterfangen is. Imposant seht diese rechts im Bild und nimmt den demütigen Gruß der Alten entgegen, die mit verhülltem Haar kniet, um die zukünftige Gottesmutter zu begrüßen. Als properer Knabe liegt der Heiland zur Anbetung des Kindes (fol. 60) am Beginn der Prim auf dem blauen Mantelsaum seiner Mutter. Vom Stall zeigt der Maler nur die hölzerne Wand und Ochs und Esel, die hinter der Heiligen Familie ruhen. Während Maria den Blick in siller Anbetung auf den Knaben senkt, umfaßt Joseph seinen Stock und blickt nach links aus dem Bild, als ahne er, was auf die Heilige Familie zukommt. In einer lichtdurchfluteten idyllischen flachen Landschaft, in der die Schaf herde im Mittelgrund weidet, findet die Hirtenverkündigung (fol. 65v) zur Terz satt. Während am Himmel ein nur in Pinselgold angegebener Engel erscheint, hocken die beiden Hirten am Boden und vernehmen die frohe Botschaft. Erneut vor der Rückwand des Stalls hat sich die Jungfrau mit dem Kinde bei der An betung der Könige (fol. 69v) zur Sext niedergelassen. Der ältese König hat seine Krone vom schütteren weißen Haupthaar genommen und bietet dem Knaben seine Gabe dar,
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während die beiden jüngeren hinten verharren. Auch hier zeigt der Maler raffiniertes Talent im Farbenspiel. Dem kräftigen Blau und Rot des Vordergrunds setzt er mit dem Hellgrün einen leuchtsarken Akzent vor dunklem Grund entgegen. Für die Darbringung im Tempel (fol. 73) zur Non hat Simeon, der unter grünem Baldachin hinter dem schräg gesellten Altar seht, die Hände mit einem Tuch verhüllt, um den Knaben entgegenzunehmen. Maria, die nur von Joseph begleitet im Tempel erscheint, hat ihr Haupt demütig gesenkt und reicht Jesus dem Prieser; weder Kerze noch Taubenopfer sind dargesellt. In der Bordüre ein Schriftband mit nicht gut deutbaren, wohl lateinischen Formeln, auf die ein silisierter Afe hinweis. Bei der Flucht nach Ägypten (fol. 77) zur Vesper ragt Joseph ersaunlich energisch auf. Die kosbare Fracht auf den Rücken des Esels gesetzt, den er nach links aus dem Bild führt, blickt er erns auf Mutter und Kind. Das Marienoffizium schließt wie gewohnt zur Komplet mit der Marienkrönung (fol. 83). Hier thront Gottvater links unter einem Baldachin und segnet die Muttergottes, die demütig kniet, die Hände zum Gebet gefügt. Hinter einer halbhohen Balusrade, die der himmlischen Sphäre ein königlich-höfisches Ambiente verleiht, erscheinen Scharen von leuchtend roten Seraphim zum Lob der Himmelskönigin. Die Horen des Heiligen Kreuzes eröfnet die Kreuzigung (fol. 88) vor einer Landschaft mit sehr tiefem Horizont, die ähnlich lichtdurchflutet wie bei der Hirtenverkündigung is. Das Kreuz is hoch aufgerichtet und erscheint vor goldenen Zirruswolken an einem leuchtend blauen Himmel, der sich über einer fernen Stadtkulisse öfnet. Maria und Johannes sehen in siller Trauer unter dem Kreuz; sie rücken so weit nach außen, daß Johannes vom Bildrand abgeschnitten is; doch hinter Maria is gerade noch Platz, eine Begleiterin anzudeuten. Die Horen des Heiligen Geises eröfnen mit der traditionellen Darsellung des Pfings wunders (fol. 94), das nicht zentral, sondern wie zuweilen beim Martainville-Meiser nach rechts ausgerichtet is. Mit Maria knien in einem Renaissance-Interieur die Aposel, vorn der greise Petrus zu ihrer Rechten, hinten zu ihrer Linken der jugendliche Johannes; alle blicken auf zur Taube. Auch hier zeigt der Maler in dem wunderbaren Wechsel von kräftigen Farben und Mischtönen sein Gespür für harmonisch-leichtes Kolorit. Die Bußpsalmen eröfnet eine ganzseitige Miniatur von Bathseba im Bade (fol. 99v). Wieder ersaunt die Weite der Landschaft, in deren Mittelgrund, srikt bildparallel, eine Loggia des königlichen Palass von links hineinragt. Von dort blickt König David, den Kopf weit zurückgelehnt, zu einem Berater. Reizvoll verbirgt die schöne Nackte ihre Scham vor ihm mit einem transparenten Tuch, vor dem Betrachter der Miniatur aber mit ihrer Hand. Ein breiter Rahmen aus Dornblatt auf Blattgold, dessen altertümlicher Dekor in dieser Stilgruppe einzigartig is, umgibt die ganzseitige Darsellung von Hiob auf dem Dung (fol. 116v), die das Totenofzium eröfnet. Die Szene spielt vor einem Steinhaus in der
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Landschaft. Den Unterkörper ganz im Mis vergraben, verschränkt der Dulder wie zur Abwehr die Arme angesichts der kosbar gekleideten drei Freunde, die zu ihm treten. Größer könnte der Kontras zwischen dem in Brauntönen gesalteten Dung und der srahlenden Pracht der Gewänder kaum sein! Zu den XV Freuden Marias sitzt die Thronende Maria mit Kind (fol. 158v) zentral auf einem rot bespannten Thron. Den Knaben hat sie so auf ihrem Schoß, als wolle er sich nach rechts zu einem Gegenüber wenden, ebenso wie die beiden Engel, die dem Thron der Muttergottes wie zwei Pagen zugeordnet sind. Schriftbänder in der Bordüre tragen die Namen IeSVS und marIa sowie ausgerechnet bei diesem Gebet in französischer Sprache die lateinische Bitte mater DeI mem(ento meI). Zum Herrengebet entwirft der Maler die Trinität (fol. 164) als Gnadensuhl: Die große Gesalt von Gottvater präsentiert den Sohn sehr viel kleiner als eine Art Kruzifix, dessen Kreuzsamm vorn auf dem Boden seht. Er thront vor einer Renaissancewand und vor hellgrünem Ehrentuch. Zu den Sufragien werden bemerkenswerte Kleinbilder mit Halbfiguren geschaltet: Tri nität mit allen drei Personen in Gesalt des Sohns (fol. 167v), Michael in goldener Rüsung (fol. 168), Johannes der Täufer mit dem Lamm vor dunklem Buschwerk (fol. 168v), Johannes der Evangelis mit dem Kelch vor leichter Landschaft (fol. 169), Petrus und Paulus mit Schlüssel und Schwert (fol. 169v), Jakobus als Pilger (fol. 170), Nikolaus mit den drei Knaben im Bottich (fol. 171), Anna lehrt Maria lesen (fol. 171v), Maria Mag dalena mit dem Salbtopf (fol. 172), Katharina mit dem Schwert (fol. 172v), Barbara mit dem Turm, in einem nur sechs Zeilen hohen Bildfeld am Ende der Seite (fol. 173), Ge novefa mit Buch und Kerze, jedoch Engel und Teufel, die um das Licht sreiten (fol. 174). Der Buchmaler Der Buchblock is silisisch ganz einheitlich vom Martainville-Meiser gesaltet. Ihn nennt man nach einem ungemein dicht bebilderten Stundenbuch der Stadtbibliothek von Rouen aus dem gleichnamigen Schloß, Ms. Martainville 183. Der Umsand, daß ein solches Manuskript aus normannischer Provenienz in die Metropole der Normandie gelangt is, untersützte die Vorsellung, man habe es mit einer „Schule von Rouen“ zu tun, die durch die Monographie von Ritter und Lafond aus dem Jahre 1913 definiert wurde. Ers in den letzten Jahrzehnten hat sich in der Literatur, vor allem angeregt durch John Plummers Aussellung The Last Flowering, New York 1982, eine zunehmende Differenzierung durchgesetzt. So seht nun der Martainville-Meiser als ein eigensändiger Charakter aus Paris da, der vor allem durch seine Bildphantasie und den hinreißenden Dekor seiner Manuskripte fasziniert. Die verschiedenen Bildformate erlauben ihm hier, die ganze Bandbreite der gesalterischen Möglichkeiten auszubreiten. In Szenen unter freiem Himmel zeigt er sich durchweg im besen Sinne auf der Höhe seiner Zeit, indem er mit der Horizonthöhe spielt: Hauptfiguren wie Bathseba im Bade sellt er entweder mit ihrer Kopf höhe auf den Ho-
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rizont ein; er kann aber auch in recht schlichten Bildern wie der Kreuzigung durch extrem niedrige Blickhöhe eine erstaunliche Weite erreichen. Der Martainville-Meister malt mit feuchten Farben recht rasch; das führt zu unter schiedlich dichten Ergebnissen und könnte zur Differenzierung verschiedener Hände in seiner Werkstatt verleiten. Für den Buchblock führen solche Spielchen aber kaum zu etwas. Doch mag man im Kalender eine zweite Hand erkennen, die jedoch dem Meister in Kolorit, Schattierung und Pinselführung recht nahe steht. Genau datieren lassen sich solche Arbeiten nicht. Vom Martainville-Meister, der wohl aus der Loiregegend stammt, vielleicht auch in Rouen gearbeitet hat, jedoch im wesentlichen zur Pariser Buchkultur um 1500 ge hört, ist dieses Manuskript gestaltet: Es ist vollständig erhalten, bilderreich, in et was altertümlicher Textura mit entsprechend traditionellem Buchstabendekor ge schrieben, auf jeder Seite mit überaus einfallsreichem Randschmuck versehen und mit Bildern unterschiedlicher Größe ausgestattet, in denen die ganze Bandbreite deutlich wird, über die man in der verantwortlichen Werkstatt verfügt. Charakteristisch sind die gleichmäßig mit Kleinbildern versehenen Suff ragien in einfallsreichen Vollbordüren ebenso wie die Bildseiten mit Miniaturen über dem Incipit in entspre chend überbordendem Randschmuck. Nicht so häufig hat der Martainville-Meister Vollbilder wie kleine Gemälde in Kastenrahmen präsentiert, sehr ungewöhnlich ist schließlich das Hiobsbild mit seinem breiten Dornblattrahmen. Damit präsentiert sich hier Pariser Buchkunst in einer wünschenswerten Fülle von farbstarker und i ntensiv gestalteter Malerei. Literatur Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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50 Ein Stundenbuch vom Martainville-Meister: Eines seiner früheren Werke?
Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Tours. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalender in Rot und Blau, geschrieben in dunkelbrauner Bastarda. Paris oder Tours, um 1490 – 1500: Martainville-Meister 27 Bilder, davon eine ganzseitige Darstellung, vier große Miniaturen, die das Textfeld einfassen, acht Kopfbilder mit Rundbogenabschluss und 14 Kleinbilder; die ganzseitigen Miniaturen mit einfachen Zierrahmen, zu den Bußpsalmen mit 4 Versen des Incipits in goldenen Lettern am Rand, zu den übrigen Textanfängen mit Kleinbildern, Vollbordü ren mit Kompartiment-Dekor, teils mit schwarzen Gründen, alle Textseiten mit einem Randstreifen außen, meist als Kompartiment-Bordüren, zu den Suffragien als Akant husbordüren auf Goldgrund. Akanthusdekor für alle Initialen von zwei Zeilen an: Weiß auf braunroten Fonds mit goldenen Binnenfeldern beherrschen die Bildseiten; daneben in einzelnen Partien des Manuskripts blaue Akanthusbuchstaben auf Rot. Wo die weißen Initialen auch zweizeilig die Psalmenanfänge eröffnen finden sich einzeilige zu den Psalmenver sen (die jeweils am Zeilenanfang stehen) in Pinselgold auf abwechselnd braunroten und dun kelbraunen Flächen; zu den blauen Initialen auf Rot gehören hingegen einzeilige Goldbuch staben auf alternierend roten und blauen Flächen; beides steht im Kalender nebeneinander; Zeilenfüller in jeweils gleicher Art. Versalien gelb laviert. 57 Blatt Pergament, vorne und hinten je ein festes und ein fliegendes Vorsatz aus modernem Pergament. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend Lage 3 (2), die durch ein Endblatt ergänzte Lage 5 (8+1), die durch zwei Endblätter ergänzte Lage 7 (4+2), sowie die durch ein Eingangsblatt erweiterte Lage 8 (8+1); keine Reklamanten. Zu 31, im Kalender zu 33 Zeilen in zwei Spalten; rot regliert. Hoch-Oktav (176 x106 mm, Textspiegel: 120 x 60 mm). Vollständig, der Dekor nicht getrimmt, farbstark und gut erhalten. Moderner auberginefarbener Samteinband über Holzdeckeln. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache: jeder Tag besetzt, zweispaltig mit jeweils einem Monat pro Spalte. Heiligennamen in Rot und Blau, Goldene Zahl in Blau, Sonntags buchstabe A in Pinselgold auf Rot, Sonntagsbuchstabe b-g in Braun, Festtage nicht her vorgehoben, viele Pariser Heilige, aber auch der Festtag des Heiligen Gatian am 18.12., der Vigil des Heiligen Martin von Tours am 10.11 und dessen Translatio am 4.7. fol. 4 leer. fol. 4v: Perikopen: Johannes (fol. 4v), Lukas (fol. 5), Matthäus (fol. 5v) und Markus (fol. 6). fol. 6v: Mariengebet, redigiert für einen Mann: Obsecro te (fol. 6v).
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fol. 8v: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Tours: Ave Maria mit Anrufung der Mut tergottes (fol. 8v), Matutin (fol. 9), Laudes (fol. 14), Prim (fol. 19), Terz (fol. 21), Sext (fol. 22v), Non (fol. 24), Vesper (fol. 25v), Komplet (fol. 27); fol. 29 leer. fol. 30: Horen des Heiligen Kreuzes (fol. 30), des Heiligen Geistes (fol. 32). fol. 34: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 39), darunter die heiligen Mauritius, Martin von Tours, Guillermus und Amantius (Amane), ein auvergnatischer Märtyrer, dessen Fest tag am 7. Februar auch im Kalender erscheint. fol. 40v: To ten of fi zi um, für unbekannten Gebrauch: Vesper (fol. 40v), Matutin (fol. 42, nicht hervorgehoben), Laudes, mit einer Rubrik eingeleitet (fol. 52v); fol. 54 leer. fol. 117: Mariengebet, redigiert für einen Mann: Obsecro te. fol. 54v: Suffragien: Trinität (fol. 54v), Michael, Johannes der Täufer, Petrus und Paulus (fol. 55), Jakobus, Stephanus (fol. 55v), Laurentius, Nikolaus, Anthonius Abbas (fol. 56), Magda lena, Barbara (fol. 56v), Genovefa (fol. 57). Schrift und Schriftdekor Gegen 1500 hat man eine ganze Anzahl bedeutender Gebetbücher in steilem Format so angelegt, daß statt der gewohnten etwa zweihundert Blatt ein sehr viel schlankerer Um fang erreicht werden konnte. Dazu wurde die Zeilenzahl pro Seite erheblich erhöht; ein brillantes Beispiel dafür sind die sogenannten Petites Heures der Königin Anne de Bre tagne, ein Hauptwerk des Stils, den man früher als Schule von Rouen sah (Paris, NAL 3093), heute als Werk des Petrarca-Meisters betrachtet, der nach fr. 594 mit der Über setzung der Trionfi aus Rouen benannt wird. Unser Manuskript ist noch extremer eingerichtet; besonders auffällig sind die sehr ver schiedenen Formate für die Miniaturen, die vielleicht sogar an der Konzentration des Schreibers zweifeln lassen, wenn er die Marien-Prim allen anderen Horen hintanstellt. Ungewohnt inkonsequent ist auch die Wiederholung des Mariengebets Obsecro te, die besser erklärbar wäre, wenn das Buch aus normierten Partien bestünde, die dann irrig zusammengesetzt wären. Das aber ist nicht der Fall. Am engsten verwandt in all sei nen Besonderheiten ist das für den Martainville-Meister namengebende Manuskript in Rouen (Bibliothèque municipale, Ms. Martainville 183). Wir haben ein mit 132 x 85 mm deutlich kleineres Manuskript mit derselben Zeilen zahl in Text und Kalender sowie Miniaturen desselben Malers als Nr. 15 in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge VI von 2009 vorgestellt. Das dortige Beispiel war auch für den Brauch von Tours bestimmt und fand sich in schöner Nachbarschaft zu einem Stundenbuch für Pariser Gebrauch aus Bourdichons frühen Jahren, das ähn lich klein und mit 30 Zeilen für den Text sowie 33 für den Kalender auch fast genauso angelegt war (dort Nr. 14).
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Während die wenig attraktive geduckte Basarda mit den hellroten Rubriken durchweg einheitlich wirkt, gehört zu den befremdlichen Eigenschaften der Buchsabendekor, der innerhalb einer überall geltenden Konzeption unterschiedliche Farben einsetzt. Gewohnt war man, beispielsweise Rot und Blau bei Initialen abzuwechseln; hier aber sind ganze Textblöcke in sich einheitlich und dann von anderen unterschieden. Grundsätzlich is Akanthus als Hauptform eingesetzt; doch kann er weiß auf Braunrot oder blau auf einem vertrauteren Rotton sein. Zu den weißen großen Buchsaben, die beispielsweise fas alle Bildseiten dominieren, gehören einzeilige Lettern in Pinselgold auf abwechselnd braunroten und dunkelbraunen Flächen, während zu den blauen Initialen, die selten größer als zwei Zeilen sind, ein särker traditionell wirkender Flächendekor für einzeilige Zierbuchsaben und Zeilenfüller kommt. Vermutlich geht der Unterschied auf zwei verschiedene Hände zurück, deren Arbeitsverteilung keine erkennbare Logik verrät. Daß beide Arten von Dekor im Kalender nebeneinander sehen, wird am Wechsel von Recto zu Verso liegen; dann hätte der eine den anderen bei dieser Arbeit abgelös, als eine Blattseite getrocknet war. Der Randschmuck wird durch die Ambitionen des Malers geprägt, seine Kompositionen auf volle Seitenbreite und dann sogar auf ganze Seiten auszudehnen, wobei es weniger wirkt, als umgebe die Malerei die Schriftfelder; eher wirkt es so, als seien die Incipits vor die Bilder gesetzt. Dabei wird jedoch, anders als bei Jean Fouquet, keine Ansrengung unternommen, diese Schriftfelder plasisch und räumlich zu definieren. Bildfolge Dem Marienoffizium wird eine bemerkenswerte Szene vorangesellt, die den heilsgeschichtlichen Grundgedanken des Marienlebens betont: Als ganzseitige Miniatur, die einen kurzen Text mit dem Ave Maria umschließt, das so gut wie nie im Stundenbuch ähnlich ausformuliert wird, seht der Göttliche Ratschluß (fol. 8v). Vor dem Fond aus Pinselgold erscheinen die drei Personen der Trinität mit Chrisi Antlitz als Halbfiguren über einer Wolkenbank. Auf einer breiteren Wolkenbank am unteren Bildrand sehen der Erzengel Gabriel und neben ihm vier gekrönte Jungfrauen mit Märtyrerpalmen, alle fünf weiß gewandet. Diese Szene eröfnet die Heilsgeschichte und geht der Verkündigung voraus: Der dreieinige Gott entscheidet nach einem Gespräch mit den vier Tugenden, die hier als Märtyrerinnen dargesellt sind, den Sohn zur Erlösung der Menschen auf die Erde zu senden. Man kennt solche Darsellungen aus der Serie von Metallschnitten der Pichore-Werksatt für Gillet und Germain Hardouin aus den Jahren 1505 – 1509 (Horae IX , Nr. 25, S. 4013). Die vier Gesalten sind dort ebenso wenig benannt oder durch Attribute charakterisiert wie in unserer Miniatur; das hat zur Folge, daß sie in den zahlreichen Drucken zuweilen abweichend bezeichnet sind (vgl. dazu die zahlreichen Beispiele in Horae I – IX , 2003 – 2015).
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Die Verkündigung erscheint dann als siebenzeiliges Kleinbild (fol. 9) zum Textbeginn. Weil an dieser Stelle ofenbar nur eine Initiale vorgesehen war, schiebt der Maler das rundbogige Bildchen mit den beiden Halbfiguren weit nach oben und rechts in die Bordüre. Die Paarung mit dem Göttlichen Ratschluß entsammt den Meditationes vitae chris ti. Als Grundgedanke findet sie sich schon bei Jean Colombe (so mit Jusitia und Misericordia im Stundenbuch des Louis de Laval, Paris, BnF, Ms. lat. 920, fol. 51v–52). Auch die Heimsuchung (fol. 14) zu den Laudes wird in Halbfiguren gezeigt; diesmal is Platz für ein textbreites Bild mit rundbogigem Abschluß, über 14 Zeilen Incipit: Elisabeth is zum Gruß leicht in die Knie gesunken; ihr eindrucksvolles Profil betont die Spuren ihres Alters. Sanft legt sie beide Hände auf den Leib der werdenden Gottesmutter, die sie mit mildem Blick und edlem Schwung gewähren läss. Marias blondes Haar schimmert in der Sonne, mit feiner Goldhöhung betont. Zur Prim war nur eine Initiale geplant, die für ein Bild genutzt wurde, so daß nun der Anfangsbuchsabe D fehlt. Diesmal beschränkt sich die Miniatur auf das siebenzeilige Feld im Textspiegel. Der Maler nutzt den beschränkten Platz, um eine besonders lebendige und zugleich intime Anbetung des Kindes (fol. 19) zu zeigen. Der nackte Knabe wird in der linken unteren Ecke vom Bildrand abgeschnitten, zu ihm wendet sich Maria, kniend wie Joseph hinter ihr, lieblich und mit raschem Pinsel gemalt, in siller Anbetung. Zur Terz is für die Hirtenverkündigung (fol. 21) wieder ein großes Bildfeld vorgesehen. Als Halbfigur ragt ein wundersam nach vorn gereckter Hirte ins Bild und greift an seine Hutkrempe, während ein zweiter auf den Grund der Aufregung zeigt: Am Himmel srahlt ein nur in leichtem Pinselgold auf Blau angedeuteter Kopf eines Cherubs und simmt das glorIa In eXCelSIS an, das im Wolkensaum der Erscheinung seht. Auch zur Sext is eine große Kopfminiatur vorgesehen. Unter einem schadhaften Pultdach vor der Stallwand spielt die Anbetung der Könige (fol. 22v) mit eindrucksvoll großen Figuren: Maria hat den Knaben auf ihren Schoß gesetzt; den ältesen König wach anblickend greift er nach dessen Gabe. Dahinter folgen die zwei jüngeren Könige, vom Alter kaum unterschieden. Ein wunderbares Charakterisikum des Malers is in dieser Miniatur besonders hübsch zu sehen: Er malt gern markant blaue Augen. Die Non erhält mit der Darbringung im Tempel (fol. 24) ebenfalls eine Kopfminiatur. Den engen Bildausschnitt in einem Zentralbau der Renaissance nehmen riesenhaf te Halbfiguren selbsbewußt ein. An einem runden Altartisch hat der Hoheprieser die Hände zum Gebet gefaltet, bereit, den Chrisusknaben zu empfangen, den Maria ihm soeben reicht. Begleitet wird sie von der Magd und dem Ziehvater Joseph. Insbesondere in den Gesichtern von Simeon und Joseph zeigt der Maler, wie ersaunlich gut er greise Physiognomien erfinden und in Szene setzen kann. Eher in Flandern als in Frankreich zu erwarten is der Kindermord (fol. 25v), der hier die Vesper eröfnet. In einer dramatischen Szene umfaßt das Bild ganzseitig den Textbeginn und zeigt links die klagende Mutter, die ein totes Kind in den Armen hält. Rechts
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sehen die Soldaten des Herodes, von denen einer ein Kind auf seiner Lanze aufgespießt hat. Der König verschränkt die Arme und blickt voller Trotz zum Himmel. Einen leuchtenden Abschluß des Marienoffiziums bildet die Marienkrönung (fol. 27) zur Komplet. Vor einem goldenen Strahlengrund, umgeben von Cherubim, seigt die in einen weißen Mantel gekleidete Maria als Halbfigur betend in den Himmel auf. Sie is jugendlich mit ofenem Haar als Magd Gottes begrifen und trägt bereits die Himmelskrone, die der über ihr als kleine Halbfigur erscheinende Chrisus verliehen hat. Als reizvolle Kombination von Mariä Himmelfahrt und Krönung, ganz auf die Muttergottes konzentriert, wurde diese Ikonographie in Jean Fouquets Zeiten in Tours entwickelt und dann auch nach Paris gebracht; Jean Bourdichon hat sie besonders geliebt. Alles bisher Betrachtete wird durch die Eröfnung der Horen des Heiligen Kreuzes übertrofen. Als ganzseitige Miniatur is die Kreuztragung (fol. 29v) vorangesellt. Mächtig erscheint Chrisus, der das Kreuz wie in unserer Nr. 48 mit dem Stamm nach vorn gerichtet trägt, also in der älteren Ikonographie, in der seine Las erschwert is. Ein Scherge, der ihn am Seil führt, holt zum Schlag mit dem Knotensock aus, während Maria und Johannes den Soldaten schmerzerfüllt folgen. Das Incipit auf der gegenüberliegenden Seite wird eingebettet in eine große Darsellung der Passionswerkzeuge (fol. 30), die in einer Landschaft um das hoch aufgerichtete Kreuz verteilt sind. Ein Blick auf eine Miniatur Fouquets für Étienne Chevalier in Chantilly macht deutlich, wie sich die Vorsellung von den Arma Chrisi gewandelt hat: Fouquet sellt unter der Pietà Engel um das Grab Chrisi, gibt ihnen die Werkzeuge in die Hand und legt den Rock über den Rand des Sarkophags. Hier herrscht ein herberer Ton: Da werden die Gegensände über den waagerechten Kreuzbalken gehängt, als blicke man nach dem Weg hoch zum Kalvarienberg in der Miniatur links nun auf den desolaten Zusand nach der Kreuzabnahme. Doch ganz so realisisch is die Szenerie dann doch nicht, weil auch die Geißelsäule links in diesem Bild erscheint, das nicht schildern will, sondern Meditation anregen soll. Die ungewöhnliche Bildphantasie des Malers zeigt sich auch im Pfingsbild (fol. 32) zur Matutin des Heiligen Geises. Nicht Maria, sondern ein langbärtiger Alter, der wie Paulus aussieht, der hier aber nicht erscheinen dürfte, drängt als mächtige Halbfigur im Vordergrund den links erkennbaren Petrus und die rechts hinten gezeigte Maria und noch särker den jugendlichen Johannes zurück. Sie alle blicken hoch zur Taube des Heiligen Geises, die rechts oben Goldsrahlen aussendet. Das Bildfeld nimmt über dem Textspiegel fas die gesamte Breite der Seite ein, sie wird von zwei mächtigen Säulen getragen, die das Incipit einfassen. Diese typische Verbreiterung der Bildfelder sammt ebenfalls aus der Loireregion, findet sich zunächs bei Barthélemy d’Eyck in Angers und Jean Fouquet in Tours; ers um 1500 kommt es auch nach Paris und Rouen. Auf einer Verso-Seite unter dem Textende der Heilig-Geis-Horen sollten die Bußpsalmen beginnen, die sons meis nach einer Zäsur einen neuen Textblock eröfnen. Nur für ein kleines Bild war Platz gelassen; damit aber war der Martainville-Meiser nicht zufrieden: Er tilgte die ersen vier Verse des Incipits (auf der Seite gegenüber beginnt Ps. 6,5 mit Convertere) und malte sie in goldenen Lettern in die vier Ränder von Text- und Bild-
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feld. Ohne Rücksicht auf den Textspiegel füllte er den dadurch gewonnenen Platz, der nur durch fünf Zeilen und ein Wort eingeschränkt war, mit einem eindrucksvollen Bild von David und Goliath (fol. 33v): Im Mittelgrund links taucht David als Hirtenjunge auf, schon durch die Zurücksetzung im Raum recht klein, während Goliath rechts, mit einem Felsen im Rücken, in seiner goldenen Rüsung kniet und dabei die ganze Höhe dieses ohnehin eingezwängten Bildfeldes beansprucht. Mit einem wilden Schwung schleudert der Knabe einen Stein gegen die Stirn des Riesen, der soeben zu Boden geht. Zur Vesper des Totenoffiziums erscheint, nun wieder in einer Kopfminiatur mit Bogenabschluß, eine Komposition aus kraftvoll gebildeten Halbfiguren. Hiob auf dem Dung (fol. 40v) ragt nur mit dem Oberkörper aus dem Mishaufen. An ihn richtet sich ein kosbar gewandeter Freund, dem die beiden anderen folgen, ohne recht ins Bild zu passen. Hiob verschränkt die Arme und schaut sarr vor sich hin. Wie in Nr. 49 erhebt sich hinter ihm das sattliche Haus, hier noch mit einem Wehrturm. Die Sufragien eröfnen mit einer großen Gottvater-Pietà (fol. 54v), die als Kopfminiatur wie das Pfingsbild die ganze Breite über dem Incipit einnimmt. Vor goldenem Grund hat Gottvater den toten Sohn wie bei einer Beweinung durch Maria auf den Schoß genommen, zwischen ihnen erscheint die Taube des Heiligen Geises. Zu ihm sind vier Engel getreten, die in siller Andacht auf den trauernden Vater blicken. Die folgenden Texte werden durch halbfigurige Kleinbilder in den Bordüren bebildert, dabei finden wie in späten Kalendarien jeweils mehrere in einem Randsreifen übereinander Platz: Michael, Johannes der Täufer, Petrus und Paulus (fol. 55), Jakobus und Stephanus (fol. 55v), Laurentius, Nikolaus und Antonius (fol. 56), Maria Magdalena und Barbara (fol. 56v) und Genovefa (fol. 57). Der Buchmaler Schon die enge Verwandtschaft mit dem namengebenden Manuskript in der Rouenneser Bibliothek untersreicht: Wir haben es hier mit einem eindrucksvollen Werk des Martainville-Meisers zu tun. Anders als in den drei hier schon besprochenen Büchern fühlt er sich nicht an srikte Regeln traditionellen Layouts gebunden. Da sich schon der Band als Ganzes von Konventionen lös, kann er mit Bildformen experimentieren und dabei seine ersaunliche Bildphantasie sprühen lassen. Noch einmal, von ferne vergleichbar unserer Nr. 47, erreicht diese Kuns bei einer Darsellung der Kreuztragung ihren Höhepunkt; sie is diesmal mit einem meditativen Bild des Kreuzes und der Arma Chrisi kombiniert. Dabei beweis der Künsler eine Dynamik, die bei der Gesaltung von Büchern eine Grundeigenschaft des Mediums zu nutzen weiß: Die Abfolge im Buch, das Nebeneinander von Verso und Recto lassen sich so einsetzen, als ziele die Kreuztragung auf das bittere, menschenleere und dann nur noch meditative Ergebnis. Buchmalerei is dabei nicht „Kuns des Erzählens“, die Hans Belting und Dagmar Eichberger in ihrem Van-Eyck-Buch von 1983 fassen wollten, sondern
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auf ein Anhalten des Narrativen in einer poetischen Situation gezielt, die in diesem Fall auf die Aufhebung des Geschehens in der zeitlosen Trauer über die Passion reagiert. Der liturgische Gebrauch von Tours, der dieses Stundenbuch prägt, müßte eigentlich verbieten, ein solches Manuskript mit Pariser Werken zu präsentieren. Vermutlich ent standen die Miniaturen, ehe der Maler den Weg nach Paris fand, noch in lebendigem Austausch mit der Kunst in Tours zwischen Jean Fouquets Tod (1478/83) und dem Auf blühen von Jean Bourdichon, also etwa zeitgleich mit Jean Poyer und dem Meister der Missalien della Rovere. Schlank und von steilem Format, mit hoher Zeilenzahl und geringem Umfang er staunt dieses Stundenbuch. Es erweist sich als ein extremes Beispiel einer gegen 1500 auf kommenden Tendenz, solche Gebetbücher erheblich handlicher zu ma chen. Geschrieben und dekoriert wurde es von einem Team, das vielleicht nicht in allen Punkten einer konsequenten Konzeption folgen mochte: Ein wichtiges Gebet kommt zweimal vor; zwei Illuminatoren scheinen nebeneinander gearbeitet zu ha ben. Sie begleiten den Maler der Bilder nicht in seinen anderen hier vorgestellten Manuskripten. Die unkonventionelle Gestaltung des Buchs ermuntert zu Experimenten; und kaum ein Maler um 1500 war dazu so gern bereit wie der hier verantwortliche Künstler: Es ist der Martainville-Meist er, wohl noch in seiner Frühzeit in Tours oder auf dem Sprung nach Paris. Verblüffende Bildlösungen bietet er hier, die dieses Stundenbuch zum ganz und gar ungewöhnlichen Beispiel einer Spiritualität zwischen Spätmittel alter und Neuzeit machen. Literatur Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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51 Das Brevier des Dichters Octovien de Saint-Gelais: Ein ungewöhnlich frühes Hauptwerk von Jean Pichore und seiner Werkstatt aus der Zeit um 1494 - 1500
Breviarium romanum, aus der unter Sixtus IV. erfolgten franziskanischen Revision. Lateinische Handschrift in Schwarz, mit roten Rubriken, im Kalender mit Blau, auf Perga ment, in einer humanistischen Buchschrift. Paris, um 1494 – 1500: Jean Pichore und sein Atelier Einunddreißig Prachtseiten, davon dreißig mit Vollbordüren, vorwiegend aus Blumen und Akanthus auf Pinselgold oder auf Kompartimenten aus Farbe und Pinselgold, drei mit Kandelaber-Bordüren in Gold auf blauem Grund, darunter zwei bildlose Seiten mit großen Initialen in Vollbordüren. Neunundzwanzig Bilder: ein textloses Vollbild in Ar chitekturrahmen; die anderen in entsprechenden Vollbordüren: vierzehn große zweispal tige Miniaturen mit Segmentbogen über acht Zeilen Text mit fünfzeiliger Initiale; drei zehn einspaltige Miniaturen: wo sie am Kolumnenbeginn stehen, mit Bogenabschluss; eine 10-zeilige Bildinitiale. Der Beginn der meist en Of fizien vor dem Sonntag Trinitatis (fol. 319) und zahlreiche andere Incipits mit großen Initialen, 4 oder 5, seltener 3 Zei len hoch, mit unterschiedlichem Dekor: als farbige Akanthus-Buchstaben mit Blumen im Goldgrund der Binnenfelder oder als Goldbuchstaben, teils als Drachen auf rotem oder blauem, zuweilen zweifarbig geteiltem Grund. Entsprechend die zweizeiligen Initialen für die Psalmenanfänge. Das KL in Goldbuchstaben, mit Ausnahme des Januars auf schräg geteiltem roten und blauen Fond, im Januar auf blauem Fond und größer dimensioniert. Die einzeili gen Zierbuchstaben zu den am Zeilenbeginn einsetzenden Psalmenversen als Goldbuchstaben auf abwechselnd rotem und blauem Grund, die zahlreichen Zeilenfüller mit entsprechendem Dekor. Von Lage 4 an werden blaue Zeilenfüller nur noch mit Weiß modelliert. Nach der ersten Lage im zweiten Teil des Temporale, von fol. 327 an, werden Zeilenfüller vermieden. Sie kehren in den beiden Offizien am Ende, von fol. 423 an, wieder. Versalien nicht markiert. Seitentitel in derselben Schrift wie der Text, erst von Lage 18 an; sie setzen auf fol. 380v aus und kehren im Totenoffizium, von fol. 429 an, wieder. 432 Blatt feines Pergament mit je zwei Vorsätzen aus weißem Papier. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), die Endlage des Psalters 14 (6), die um ein Blatt zwischen fol. 137 und 138 beraubte Lage 18 (8-1), die nur aus drei Blät tern bestehende Endlage der ersten Hälfte des Temporales 41 (4-1) sowie die aus unerfindli chen Gründen unregelmäßige Lage 45 (6) und schließlich am Übergang von Temporale zu Commune die Endlage 49 (8+1, ein textloses unregliertes Blatt mit Vollbild am Ende hinzu gefügt) und die Anfangslage 50 (8-1, das erste Blatt ohne erkennbaren Verlust entfernt) sowie schließlich die Endlage des Manuskripts 46 (4). Keine Reklamanten. Zweispaltig, zu 32 Zeilen, im Kalender mit 33 langen Zeilen, rot regliert. Quart: 200 × 138 mm (Textspiegel: 127 × 85 mm, Kolumnenbreite 38 mm). Bis auf ein Blatt mit Text und kleinem Bild vollständig; ein zweites Blatt offenbar während der Arbeit entfernt und durch ein anderes ersetzt. Die Wappen in allen Bordüren mehr oder weniger effizient getilgt, einmal nach zu heftiger Rasur auf der Rückseite durch Pergament streifen verstärkt. Ohne Gebrauchsspuren, makellos frisch erhalten.
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Gebunden in einen englischen Einband von 1825-30: rotes Maroquin auf glatten Rücken mit Bezeichnung Missale Romanum, sparsame Goldprägung, auf den Deckeln nur jeweils Außen linien; prachtvoll hingegen die fliegenden Vorsätze aus Marmorpapier, die nach außen und im Innendeckel mit hellgrüner Seide bespannt und mit goldgeprägten Doublüren geschmückt sind. Provenienz: 28 Seiten zeigen Wappen in den Bordüren, die später ausgekratzt wurden, deren Inhalt aber zweifelsfrei bestimmt werden kann. Geviert: im ersten und vierten Viertel ein sil bernes Kreuz auf blauem Grund (Saint-Gelais); im zweiten und dritten ein steigender roter Löwe auf Streifen von Silber und Blau (Lusignan) – écartelé: au 1er et 4e d’azur à la croix al ésiée d’argent; au 2 et 3 burelée d’argent et azur au lion de gueules brochant sur le burelé. Da mit wird die Familie Saint-Gelais aus der Grafschaft Angoulême bezeichnet, die sich auf die Lusignan zurückführte und deshalb das eigene Wappen im 1. und 4. Viertel mit dem der Lu signan im 2. und 3. verband (Rietstap, S. 649, Taf. ccxxiv). Die Devise non plvs, die in fast allen Bordüren mehrfach erscheint, verwendete Octovien de Saint-Gelais als Bischof (Henri Tausin, Dictionnaire des devises ecclésiastiques, Paris 1907, S. 133, Nr. 1337; Jean-Jacques Lartigue und Olivier de Pontbriand, Dictionnaire des devises héraldiques & historiques de l’Europe, Paris 2000, 17815). Octovien de Saint-Gelais wurde 1468 in Montlieu bei Cognac geboren und ist 1502 in Vars bei Angoulême gestorben; seit Juli 1494 war er Bischof von Ang oulême. Erfolgreich war er als Übersetzer Ovids; er lieferte die erste Aeneis auf Französisch und genoß am Hof König Karls VIII. als Dichter hohe Achtung. Vielleicht war er der Va ter von Mellin de Saint-Gelais, den er im Bischofsp alast von Angoulême erzogen hat und der Hofdichter bei König François Ier war. Auf fol. 74 ist Octovien de Saint-Gelais offenbar als ju gendlicher Bischof von Angoulême beim Chorgebet gezeigt. Barocke Eintragungen einer Renee Lempereur auf der ersten und letzten Seite. Mit großer Sicherheit handelt es sich bei unserem Manuskript um jenes „Missal“, das im Ka talog des Fonthill Sale von William Beckford, 1823, folgendermaßen beschrieben wird: 249: "Missal. A Most Splendid Missal, on Vellum, Illuminated by 30 Miniatures and a profusion of Devices in the Capitals, Borders, &c. &c. richly coloured, in the original and curious old binding, 8vo". Diesen Einband wird der nächste Besitzer (der Earl de Grey) durch den heutigen ersetzt haben; erst nachdem das Buch Beckfords Bibliothek verlassen hat, ging das Blatt mit dem Weihnachts-Incipit verloren. Somit erweist sich diese Handschrift als ehemaliger Besitz des berühmten Sammlers, dessen Maxime „nothing second rate enters here“ auch für unsere Handschrift gilt (siehe zuletzt Frauke Steenbock, „Nothing second rate enters here“, in: Von Kunst und Temperament, hrsg. von Caroline Zöhl und Mara Hofmann, Turnhout 2007, S. 253-267). Im Vorderdeckel das Kupferstich-Exlibris des Thomas Philip Earl de Grey, Wrest Park (1781 - 1859, siehe zu ihm auch Nr. 21 in HORAE 2003); auf dem Verso eines Vorsatzes vorn: „For Michael from Dad, Vancouver 3/87“. Mit Eintragungen aus dem Antiquariat, unter anderem: ex-Quaritch 1968.
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Text- und Bildfolge Der Text folgt wie die meist en prachtvollen Breviere der Jahrzehnte um 1500 (darunter latin 1058 in der Pariser BnF, das Breviarium Mayer van den Bergh und das Breviarium Grimani) der Reform des Franziskanerbreviers nach römischem Gebrauch, wie es un ter Papst Sixtus IV. konzipiert worden war. Vermutlich diente eine nicht identifizierte Inkunabel als Vorlage. Auffällig ist der auch zuweilen im Buchdruck zu findende Ver zicht auf ein Sanctorale, vielleicht aus einer Gesinnung heraus, die Zweifel am Heiligen kult im Vorfeld der Reformation hegte, vielleicht aber auch mit dem praktischen Sinn, bei Heiligentagen einfach das Commune sanctorum zu benutzen. Jedoch finden sich an dererseits am Ende der Vesper im Psalterium (fol. 104) ausdrücklich an die Heiligen der Minoriten gerichtete Suffragien, die in den Vergleichshandschriften fehlen. Norm für die Bebilderung war offenbar die zweispaltige Miniatur mit flachem Bogenab schluß. Im Folgenden werden nur abweichende Bildgrößen einzeln genannt. Kalender fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt; die einfachere Kategorie in Schwarz, höhere Festtage in Rot; die Angabe zum Monat in Blau. Die Goldene Zahl und die ausgeschriebenen Bezeichnungen der römischen Tageszählung in Rot; Sonn tagsbuchstaben b-c und die Zahlen der römischen Tageszählung in Schwarz; Sonntags buchstaben A als Gold-Initialen auf abwechselnd roter und blauer Fläche. Der Kalender ist unbebildert; doch sind in schwarzer Schrift von derselben Hand, die auch sonst hier wirkte, im oberen Rand, ohne Hilfslinien kurze Angaben eingetragen, die als eine Art Bild-Ersatz zu verstehen sind, weil sie die Themen der Monatsbilder evo zieren. Der Kalender entspricht im wesentlichen dem reformierten franziskanischen Kalender aus der Regierungszeit des 1484 verstorbenen Papst es Sixtus IV. Das geschieht in einem Wortlaut, der eng mit den Formulierungen des Breviarium Grimani übereinstimmt. Er gänzungen, die auf das Umfeld des Hofs in Amboise und auf das Bistum Angoulême ausgerichtet sein könnten, sind nicht festzustellen. Festpsalterium fol. 7: Allgemeine Gebete: Pater noster, Ave Maria, Credo, Venite exultemus mit Vollbor düre und Wappen. fol. 7v: Ordo psalterii secundum morem et consuetudinem Romane curie: Invitatorien und Hymnen für verschiedene Zeiten des Jahres. fol. 9: Dominica: David als Harfner auf seinem Thron zu Psalm 1: Beatus vir. fol. 30: Feria secunda: David weist auf seine Augen zum Hymnus Somno refectis; dann folgt Psalm 26: Dominus illuminatio mea.
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fol. 40: Feria tertia: David weist auf seinen Mund zu Psalm 38: Dixi custodiam. fol. 47v: Feria quarta: David und der Narr zu Psalm 52: Dixit insipiens. fol. 55: Feria quinta: David auf einem Schimmel reitend zu Gott gewendet zu Psalm 68: Salvum me fac. fol. 65v: Feria sexta: David mit fünf weiteren Musikanten zum Hymnus Tu trinitatis uni tas, vor dem Psalm 80: Exultate. fol. 74: Sabbato: Junger Bischof beim Chorgesang zu Psalm 97: Cantate. fol. 85: Die an Wochentagen zu lesenden Kleinen Horen: Sequitur ordo prime per totum annum exceptis diebus dominicis: Zur Prim nur die Incipits des Hymnus Iam lucis orto und von drei Psalmen (Deus in nomine, Beati immaculati, Retribue) ohne weitere Angaben. rechte Spalte: Ad terciam: Kleinbild der Dornenkrönung zum Hymnus Nunc sancte no bis spiritus; auf fol. 85v dann Psalm 118, 33: Legem pone. fol. 87v: Ad sextam: Kleinbild der Kreuztragung zum Hymnus Rector potens verax deus, dann Psalm 118, 81: Defecit in salutare anima tua. fol. 89: Ad nonam: Kleinbild der Kreuzigung zum Hymnus Rerum deus tenax vigor, dann Psalm 118, 129: Mirabilia testimonia tua. fol. 91: In dominicis diebus ad vesperas: Kreuzabnahme zu Ps. 109: Dixit dominus do mino meo. fol. 104: Franziskaner-Suffragien: eines in matutina gerichtet an alle Heiligen de ordine minorum, gefolgt auf fol. 104v von einem zweiten Suffragium petri, berardi, accursii, adiuti & ottonis martirum, bonaventurae ac ludovici pontificum, anthonii & bernardini confes sorum ac clare virginis. fol. 105: Ad completo (sic): Kleinbild der Grablegung zu Ps. 4: Cum invocare exaudivit me deus. fol. 108: Schlußgebete in fine omnium horarum: Kleinbild der Veronika mit dem Schweiß tuch zu Fidelium anime per misericordiam dei requiescant in pace. Temporale mit Of fizien für Heiligentage zwischen Weihnachten und Epiphanias fol. 109: Ordo breviarii secundum consuetudinem Romane curie. fol. 109: In primo sabbato de adventu domini: Maria als Immaculata mit ihren Symbolen und Beiworten. fol. 135/136: Blatt mit dem Beginn des Weihnachts-Of fiziums fehlt. fol. 140v: Ad laudes: Kleinbild der Hirtenverkündigung.
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fol. 141v: Zum Of fizium des heiligen Stephanus: Kleinbild von Stephanus mit Steinen und Märtyrerpalme. fizium: Kleinbild: Johannes der Evangelist mit dem Kelch. fol. 145: Zum Johannes-Of fol. 151v: Zum Of fizium des Thomas von Canterbury (Pro sancto thoma martyre): Klein bild irrtümlich mit dem Apost el Thomas. fol. 159v: Sancti Silvestri pape et confessoris (statt martyris). fol. 169: In die Epiphanie: Kleinbild der Anbetung der Könige. fol. 205v: Feria iiii. Cinerum (Aschermittwoch) mit Litanei (fol. 207), darin unter den Märtyrern sancti berarde, petre, accursi, adiute et otto (franziskanische Märtyrer, die 1481 fizium in latin 1058, vol. 369; Leroquais 1934, heiliggesprochen wurden; siehe deren Of 3, S. 63); unter den Bekennern Franziskus, Antonius von Padua, Bonaventura (1482 kan onisiert) und Ludwig IX . von Frankreich; unter den Frauen Clara. fol. 243: Dominica de passione: Kleinbild Christ us und die Schriftgelehrten. fol. 267v: Osterbild mit Auferstehung Christ i zum Textanfang auf der folgenden Seite. fol. 268: Dominica resurrectionis. fol. 296v: In vigilia ascensionis: Himmelfahrt Christ i. fol. 310: In vigilia penthecostes: Bild auf fol. 310v: Ausgießung des heiligen Geist es. fol. 318v leer. fol. 319: Offi cium sanctissime trinitatis: Christus und Gottvater thronend mit der Taube. fol. 325: In vigilia corporis Christi, mit Kleinbild der Host ie über dem Kelch, von zwei En geln präsentiert, zum Hymnus Pange lingua, auf fol. 325v. fol. 361: Ende des Of fiziums zum 24. Sonntag nach Trinitatis. fol. 361v: Lesungen aus dem Alten Test ament, den Rubriken zufolge einzelnen Tagen zugeordnet, in den Seitentiteln nur noch nach den Bibelbüchern verzeichnet, aus denen sie stammen. Commune sanctorum fol. 381: leer. fol. 381v: Textloses Vollbild: Alle Heiligen, zum folgenden Textanfang. fol. 382: Commune sanctorum: In nataliciis apostolorum. fol. 387v: In natali unius martyris: Bildinitiale mit Lorenz. fol. 395v: In nataliciis plurimorum martyrum.
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fol. 402: In natali unius confessoris pontificis. fol. 407: In natali confessoris non pontificis. fol. 411: In nataliciis virginis. fol. 416v: In festo alicuius sancte virginis non martyris. fizien für Maria und die Toten Of fizium für den Gebrauch von Rom, stark abgekürzt, mit fol. 422v: Marien-Of Pietà. fizium für den Gebrauch von Rom, stark abgekürzt, mit fol. 428v: Toten-Of Kleinbild Hiob und seine Freunde. fol. 432v: Textende. Schrift und Schriftdekor In seiner Gesamterscheinung vereint das Brevier des Octovien de Saint-Gelais Grundzüge mittelalterlicher Buchkunst mit einem ausgeprägten Sinn für das Neue, das vor allem aus Italien und vielleicht auch bereits vom Buchdruck kam. Geschrieben ist das Manuskript in einer humanist ischen Buchschrift, die noch nicht ganz der später in Frankreich triumphierenden Antiqua entspricht. Es ist wie solche liturgischen Bücher zweispaltig angelegt; noch herrscht der Horror va cui, der nach 1500 in anspruchsvollen französischen Handschriften zunehmend über wunden wird. Psalmenverse setzen am Zeilenbeginn ein; das erfordert zahlreiche Zei lenfüller, die in den ersten drei Lagen durchweg mit Gold modelliert werden, bis man von Lage 4 an beschloß, das Blau nur noch mit Weiß zu modellieren und damit zugleich eine plast ischere Form einführte. Es mag wenigst ens zum Teil an dem gewandelten Ge schmack, zugleich an einem zunehmenden Sinn für Sparsamkeit liegen, daß man im zweiten Teil des Temporale, vom Sonntag Trinitatis an, nur noch in der erst en Lage Zei lenfüller einsetzte und von fol. 327 an schon den Text so anlegte, daß sie nicht mehr er forderlich sind. Daß dabei auch die Textsorte eine Rolle spielte, zeigt sich in den beiden Of fizien am Ende, wo sich von fol. 423 an wieder Zeilenfüller finden. In Pariser Tradition der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stehen die einzeiligen Gold buchstaben auf abwechselnd rotem und blauem Grund. Im Kalender ist der Übergang zur höheren Dekorationsstufe fließend: Die zweizeilig berechneten ligierten Buchstaben KL werden in der Art der einzeiligen Initialen gestaltet, jedoch mit einem diagonal ge teilten Grundfeld aus Blau und Rot versehen. Beim Januar sind Buchstaben und Fond größer bemessen und einfarbig, erreichen aber nicht die im Text für zweizeilige Initia len geltende Kategorie.
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Für größere Zierbuchstaben bedient man sich verschiedener Formen. Zumeist setzt man auf farbige Buchstabenkörper mit der um 1500 noch recht neuen Art von farbigem Akanthus mit weißer Modellierung auf goldenem Grund, der bei größeren Buchstaben mit Blumen gefüllt wird. Daneben setzt man Goldbuchstaben ein, die plast isch model liert sind und auf ebenfalls modelliertem einfarbigen Fond stehen. Eine Vielzahl von Va riationen ist möglich, ohne daß dabei hierarchische Unterschiede gemacht würden. Ty pisch dafür ist die erst e Seite des Textblocks mit einem vierzeiligen Zierbuchstaben aus weiß-grauem Akanthus auf einem blauen Fond, dessen Binnenfeld mit einem Erdbeer zweig auf Pinselgold verziert ist. Die größere Initiale, mit sechs Zeilen Höhe, ist hin gegen als goldener Körper mit ausstrahlenden vegetabilischen Zweigen und stilisierten blauen Blüten gebildet und auf tiefblauen Fond mit einem roten Binnenfeld gesetzt. Die in Blattgold ausgeführten Ränder verstehen sich an dieser Stelle offenbar als besondere Auszeichnung der einen Buchseite, die eine von nur zweien mit Bordüre ist. Zum modernen Gepräge des Buchs gehört die Beschränkung des Randschmucks im Prinzip auf Bildseiten. Während diese durchweg mit Vollbordüren versehen sind, wird nur zu Beginn des Psalters und zu Beginn des Commune sanctorum eine reine Textsei te mit entsprechender Vollbordüre ausgezeichnet. In den Bordüren herrscht noch weit gehend das für das letzte Drittel des 15. Jahrhunderts in Paris charakterist ische Syst em des Randschmucks aus Blumen und Akanthus auf Pinselgold, meist mit einem schma len Bodenstreifen unten, zuweilen mit Grotesken belebt; seltener eingesetzt der vielleicht hierarchisch geringer bewertete Fond aus Kompartimenten. Das Manuskript wurde offenbar in der Abfolge der Texte dekoriert, weil Randschmuck neuer Art erst gegen Ende des Temporale und zu Beginn des Commune einsetzt: Drei Bordüren, zu Pfingsten, Trinitatis und Fronleichnam arbeiten mit den zu jener Zeit hochmodernen Kandelaberformen, die in Gold auf blauen Fond gesetzt werden. Das Eingangsbild zum Commune, das sicher der letzten Arbeitsphase angehört, weil man da für offenbar das erst e Blatt der Lage 50 entfernt hat und ein Ersatzblatt benutzte, zeigt als einziges ein textloses Bild, das überdies in eine Ädikula-Rahmung gesetzt ist, wie sie im Buchdruck erst mit den Stundenbuchdrucken vorkommt, die Jean Pichore und Remy de Laistre 1504 herausgegeben haben. Zum Stil So einheitlich sich Schrift und Schriftdekor erweisen, so schlüssig ist der Stil von ei nem einzigen Meister geprägt, auch wenn nicht überall dasselbe Temperament bei der Ausführung zu erkennen ist. Das Manuskript wurde zweifellos bei Jean Pichore in Pa ris ausgemalt, der kurz nach 1500 für den Kardinal Georges d’Amboise und auf dessen Kost en auch für Ludwig XII . bedeutende Folianten gestaltet hat und der noch 1518 im Auftrag der Schöffen von Amiens für die Königsmutter Louise von Savoyen die Bilder zu den Chants royaux du Puy Notre-Dame der Kathedrale von Amiens in fr. 145 der Pa riser Nationalbibliothek lieferte.
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Unsere Handschrift, die man bis um 1990 ohne Zögern in Rouen angesetzt hätte, weil Pichore den Stil beispielhaft verkörpert, den Ritter und Lafond 1913 als École de Rou en definiert haben, wurde in Paris geschaffen; das wird heute niemand mehr bestreiten. Die Lebensumstände von Octovien de Saint-Gelais lassen nur eine Entstehung anläßlich seiner Erhebung zum Bischof von Angoulême im Juli 1494 zu. Seine Wappen waren von vornherein vorgesehen; doch scheint die Krümme nicht in jeder Bordüre geplant gewe sen zu sein. Deshalb wird die Arbeit kurz vor dem Amtsantritt, also wohl erst 1494 be gonnen worden sein. Mit einem solch frühen Ansatz rückt das Buch in eine bisher kaum erforschte Phase der künstlerischen Entwicklung von Jean Pichore. Er verfügte, wie das Brevier für Octovien de Saint-Gelais zeigt, über eine Werkstatt mit mehreren bemerkenswerten Temperamen ten. Das zeigt sich an stilist ischen Unterschieden, die das erst e Bild, David als Harfner, auf fol. 9, von der dichtesten Hauptgruppe trennt, die fol. 30 ansetzt. Mit dem Pfingst bild ergibt sich eine weitere Variante von Pichores Stil. Die Zuordnung einzelner Mi niaturen an den Meister ist seit 1992/1993 strittig; auch durch das Brevier für Octovien de Saint-Gelais will das Rätsel, welche Hand denn nun als die des verantwortlichen Meist ers angesprochen werden kann, sich nach meiner Ansicht nicht lösen. Der erst e Versuch einer Definition der Hand des Meist ers, den wir in Leuchtendes Mit telalter IV lieferten, hält der Überprüfung von diesem Manuskript ebenso wenig stand wie die von Avril, Reynaud und Zöhl vertretene Position: Den vornehmsten Platz be hauptet jene Hand von Pichores Werkstatt, die das Frontispiz zum Flavius Josephus der Bibliothèque Mazarine gemalt hat und die mit dessen Gestaltung aus der Stileinheit der sonst igen Hauptminiaturen in den monumentalen Handschriften für Georges d’Amboise, Ludwig XII . und Louise von Savoyen ausbricht. Damit träfe man nach meinen Vorstellungen von 1992 auf den Flavius-Josephus-Meist er, den Avril und Reynaud 1993 als Jean Pichore selbst ansprachen. Dessen Œuvre, wie ich es damals zusammengestellt habe, zerbricht aber, wenn man die dann folgenden Bilder zu den Psalmen einbezieht; die stehen nämlich offenbar dem eigentlichen Kernbestand des so definierten Werks sehr viel näher als unser David als Harfner oder Flavius Josephus als Autor zwischen seinen Kriegst rophäen. Der Meist er der Triumphe Petrarcas hingegen kommt gar nicht ins Spiel, wenn es um das Brevier des Octovien de Saint-Gelais geht. Eine neue Konzeption von Meist er und Mitarbeitern wird somit erforderlich; und man versteht Caroline Zöhls Verzicht auf eine detaillierte Händescheidung. Den Grundte nor von Pichores Stil trifft das Chorgebet mit Octovien de Saint-Gelais auf fol. 74 ebenso wie die Davidbilder (von fol. 30 an) sehr viel besser als das Eröffnungsbild zum Psalter. Von hier aus könnte man das Verhältnis der Frontispizien und der anderen Hauptbil der zum Gesamtschaffen des Ateliers neu durchdenken und folgern, daß Pichore zuwei len für die wichtigst en Bilder, so wie hier für fol. 9, besondere Kräfte in seiner Werkstatt eingesetzt hat: Er hätte dafür Leute wie den Meister der Triumphe Petrarcas oder den Meist er des Frontispizes zum Flavius Josephus eingesetzt, die dort auch eine Probe ihrer eigenen Kunst liefern durften, während der federführende Meist er selbst für die Gesamt
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qualität der Bebilderung einer solchen Luxushandschrift bürgte. Pichore wäre dann, wie sich das Avril und Reynaud dachten, nicht der Maler ausgefallener Raf finesse gewesen, sondern anders als der Petrarca-Meister, den ich als Pichore ansprach, ein entschieden graphisch orientierter Illuminator, der mit dieser Eigenschaft für eine umwälzende Er neuerung der Stundenbuchgraphik von 1504 an gesorgt hat. Durch das Motto und das Wappen des bedeutenden Dichters Octovien de Saint-Ge lais erweist sich das Brevier für römischen Gebrauch in franziskanischer Version als ein in vieler Hinsicht bemerkenswertes Monument: Derart bilderreiche franzö sische Breviere aus den Jahrzehnten um 1500 sind überaus selten. Unser Manuskript markiert im Leben des früh verstorbenen Dichters den Moment, da der aus der Grafschaft Angoulême stammende junge Mann im Juli 1494 dort zum Bischof erho ben wurde, und zeigt ihn persönlich, wohl in einem Idealporträt, beim Chorgesang auf fol. 74. Das Brevier beweist textlich eine moderne Haltung durch die Vernach lässigung des Heiligenkults. Es ist zwar wie solche liturgischen Bücher noch zwei spaltig geschrieben, aber in einer stark vom Humanismus geprägten Buchschrift. Randschmuck beschränkt sich auf bebilderte Incipits und zwei Textseiten, die je weils große Textblöcke eröffnen. In den Bordüren deutet sich der epochale Wandel von herkömmlichen spätgotischen Formen der Pariser Buchmalerei zu KandelaberBordüren italienischer Insp iration und Ädikula-Rahmung an. Mit dem Beginn seiner Entstehungszeit um 1494 gehört das Manuskript zu den frü hest en Werken aus dem Pariser Atelier von Jean Pichore, dessen Stil lange der École de Rouen zugeordnet wurde. Der Maler, der 1504 gemeinsam mit Remy de Laistre auch als Buchdrucker in Paris auftrat, war Chef eines größeren Ateliers, dessen Ar beit erkennbar von Pichores Stilwillen geprägt wurde, das aber über unterschied liche Temperamente verfügte. So behaupten in Octoviens Brevier Mitarbeiter der Werkstatt ihren eigenen Charakter, wenn man die Eingangsminiatur mit den übri gen Bildern zum Psalter vergleicht. Bei der Identifizierung von Octovien de Saint-Gelais bleibt offen, ob der junge Prä lat das kostbare Manuskript selbst bezahlt hat oder ob es sich um ein Geschenk sei ner Förderer handelt; da die Handschrift in Paris bestellt wurde, käme für ein Ge schenk der Königshof Karls VIII . in Amboise mit seinen engen Beziehungen zum Pariser Buchwesen eher als der Hof des Charles d’Angoulême in Cognac in Frage. Das Manuskript, das bis auf ein Blatt vollständig und makellos erhalten ist, erweist sich als ein bedeutender Zugewinn für unsere Kenntnis der Pariser Buchkunst der 1490er Jahre ebenso wie für unser Verständnis der Situation des jungen Literaten, der nach schwerer Krankheit in den geistlichen Stand eintrat und non plus wollte als ein Bistum, wie er es dann in seiner Heimatdiözese Angoulême auch erhalten hat. Der erstaunlich frische Zustand des Manuskripts, dessen Anf änge wir in die Zeit datieren, als Octovien noch um sein Amt kämpfte, erk lärt sich eventuell aus dem Charakter des Besitzers: Er mag fromm geworden sein; aber hat sicher nur so emsig gebetet wie die großen Prälaten seiner Epoche, zu denen er dann schließlich
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auch gehörte. Denkbar wäre auch – angesichts des riesigen Umfangs des Kodex mit 850 eng und zweispaltig beschriebenen Seiten – daß er erst kurz vor dem Tod des Octovien de St. Gelais fertig gestellt wurde und sich seine jungfräuliche Erhaltung dadurch erklärt. Literatur Eberhard König, Ein unbekanntes Meisterwerk. Das Brevier des Dichters Octovien de SaintGelais. Versuch über das Phänomen Jean Pichore in Paris 1490-1520. Dabei ein Stundenbuch aus seiner Produktion mit 112 Miniaturen (Illuminationen 21, Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert), Bibermühle 2014, rezensiert von Albert Châtelet in: art de l’enluminure 50, 2014, S. 75 f. Die Kenntnis dieses Buchs hat entscheidend dazu beigetragen, das Breviarium Grimani besser zu verstehen; das schlägt sich in den beiden Versionen meines Kommentarbands zum Faksimile nieder: (mit Joris Corin Heyder) Das Breviarium Grimani, Simbach am Inn 2016; (übersetzt von Elena Spangenberg Yanes), Il Breviario Grimani. Venezia, Bi blioteca Nazionale Marciana, Ms. lat. I.99 = 2138, Rom 2017, jeweils passim.
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52 Ein Stundenbuch als Panorama der Pariser Buchmalerei um 1500 – mit Miniaturen von Jean Pichore, Jean Coene, dem Meister der Philippa von Geldern und einem überragenden weiteren Maler
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in schwarzer Antiqua, mit blauen Rubriken. Paris, um 1500-1505: Jean Pichore, Jean Coene, der Meister der Philippa von Geldern und zwei weitere Künstler 41 Bilder, darunter eine ganzseitige Darstellung und neun große Miniaturen über Text mit Initialen von zwei Zeilen Höhe in Renaissance-Architekturen oder in Vollbordüren mit Blumen und Akanthus auf farbigen Gründen; dreißig hochrechteckige Bildfelder im Textspiegel, meist neun Zeilen hoch, sowie eine vierzeilige historisierte Initiale. Kleine re Zierbuchstaben mit Goldlettern auf blauen oder, seltener, rostroten Gründen mit Goldzier: Psalmenanfänge zweizeilig, vorwiegend auf blauem Grund; Psalmenverse einzeilig; Zeilenfül ler derselben Art oder als goldene Zweige. Versalien gelb laviert. 169 Blatt Pergament; je zwei Blatt neueres Pergament als fliegende Vorsätze; die Innendeckel mit rauer weißer Seide bezogen. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die La gen 1(6), 2(4), 5(4), 7(8+1; das erste Blatt mit dem vorausgehenden Textende vorn angefügt), 13(6), 21(8-1 – das erste Blatt vielleicht im Zuge eines Planwechsels entfernt; denn die Re klamante „Angele“ ist zutreffend), und die Endlage 23(8-3; die ersten drei Blätter fehlen, ver mutlich mit Text- und evtl. Bildverlust). Zu 18, in Lage 13 zu 17, im Kalender zu 33 Zeilen, regliert in Rot. Oktav (180 x 120 mm; Textspiegel: 105 x 61 mm). Nahezu vollständig und sehr gut erhalten. Roter französischer Maroquin-Einband des 17. Jahrhunderts mit Kast envergoldung auf Rücken und Deckeln, fest e Vorsätze mit heller Seide bezogen, Goldschnitt. Zwei Beter auf fol. 167 mögen auf die Besteller, aber wohl eher auf deren Nachfahren hinwei sen. Keine weiteren Hinweise auf frühere Besitzer; Angaben auf den Vorsatzblättern durch Til gung unlesbar gemacht. Der Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, einfache Tage schwarz; Feste, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstaben a blau; Sonntagsbuchstaben b-g schwarz; Kür zel der römischen Tageszählung mit Ausnahme des in Blau geschriebenen Monats-Ers ten schwarz. Die Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa (3.1.) und Dionysius (9.10.) weist auf Paris. fol. 7: Perikopen: Johannes (fol. 7), Lukas (fol. 8), Matthäus (fol. 9), Markus (fol. 10). fol. 11: Ablaßgebet: Ave sanctissima mater, mit Ablaß von 1000 Jahren durch Papst Sixtus.
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fol. 12: Johannes-Passion als Suffragium. fol. 20v: Gebetsfolge: darunter Salve sanct a facies als Suffragium (fol. 20v), vom heiligen Gregor: O domine ihesu adoro te in cruce pendentem (fol. 22v), Suffragien: Trinität (fol. 23), Gottvater (fol. 23v), Jesus (fol. 24), Heiliger Geist (fol. 24v); zweites Gregorsgebet: Domine deus pater omnipotens rex creator (fol. 25); fol. 27v leer. fol. 28: Mariengebete redigiert für einen Mann: Obsecro (fol. 28), O intemerata (fol. 31), Gebet über die VII Körperlichen Freuden Mariä: Virgo templum trinitatis (fol. 35) und Stabat mater (fol. 38). fizium für den Gebrauch von Rom mit den Horen von Heilig Kreuz fol. 40: Marienof und Heilig Geist: Marien-Matutin (fol. 40, mit drei Psalmengruppen), Laudes (fol. 52), Kreuz-Matutin (fol. 60), Geist-Matutin (fol. 61), Marien-Prim (fol. 62), Terz (fol. 66v), Sext (fol. 70), Non (fol. 72v), Vesper (fol. 75v), Komplet (fol. 80v); Advents-Of fizium (fol. 85); fol. 92v-93v leer. fol. 94: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 103); die vielen Heiligen weisen auf Paris. fol. 112: Totenof fizium: Vesper (fol. 112), Matutin (fol. 116), Laudes (fol. 135v). fol. 143v: Ordinatio de beata maria: Eine Art Advents-Of fizium, mit Texten für die acht Stunden; zunächst für den Advent (fol. 143v), dann für Weihnachten bis zur Oktav von Lichtmeß (fol. 148), schließlich für die Osterzeit (fol. 150); gefolgt von einem Gebet gegen schlechte Gedanken (contre les mauvaises pensées): Omnipotens mitissime deus (fol. 150v). fol. 150: Suffragien mit Pariser Heiligen und einigen in der Hauptstadt und am Königs hof erst um 1500 aktuellen Kulten wie Claudius und Rochus: Michael (fol. 150), Johannes der Täufer (fol. 151), Johannes der Evangelist (fol. 151v), Peter und Paul (fol. 152), Andreas (fol. 152v), Jakobus der Ältere (fol. 153), Stephanus (fol. 153v), Laurentius (fol. 154), Chris tophorus (fol. 154v), Sebast ian (fol. 156), Adrian (fol. 157), Dionysius (fol. 158), Martin (fol. 159), Nikolaus (fol. 159v), Claudius (fol. 160), Hieronymus (fol. 161v), Benedikt (fol. 162), Antonius Abbas (fol. 162v), Fiacrius (fol. 163), Rochus (fol. 163v), Ludwig IX . (fol. 164v), Barbara (fol. 165), Apollonia (fol. 166), Ursula und die 11.000 Jungfrauen (fol. 167), für die beerdigten Toten (Oratio pro fidelibus defunctis in cymiterio inhumatis): Avete omnes anime fideles – fol. 167v). Schrift und Schriftdekor Dieses Stundenbuch gehört in unserer Auswahl zu den frühesten Beispielen für ein fran zösisches Gebetbuch in einer fast rein humanistischen Schrift. Myra Orth hat deren Ver breitung untersucht. Zum italienischen Geschmack gehört der Verzicht auf Bordüren bei Bildern im Textspiegel. Dabei wird in bester Tradition streng die Schriftgröße für die Psalmen und entsprechende Texte von den kleineren Buchstaben für Antiphonen und verwandte Passagen geschieden
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Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien Spätgotik und Humanismus is in gebrochenen Buchsabenformen zu spüren; sie prägt auch die Randzier der großen Bilder: Diese sind entweder wie kleine Ädikulen umgeben von ockerfarbenen Architekturen, die überreich mit Gold gehöht sind, oder in älterer Weise von Bordüren, auf deren meis farbigen Gründen ein flach silisiertes Blattwerk liegt. Die Bildfolge fol. 7: Von den Perikopen is nur die Johannes-Passion bebildert mit einer großen Miniatur, die den Schmerzensmann mit den Passionsinsrumenten zeigt (fol. 11v): Chrisus seht im Lendentuch mit der Dornenkrone und den fünf Wunden, zeigt auf die Seitenwunde und umfaßt den Kreuzessamm. Auf dem grünen Steinboden liegen der Ungenähte Rock und die Geißel. Links seht der Sarkophag, dahinter die Geißelsäule mit zwei Reisigbündeln; auf ihr sitzt der Hahn. Vor dem Stab mit dem Essigschwamm erscheint das Schweißtuch der Veronika, unter Chrisi rechtem Arm der Hammer. Rechts is die Lanze des Longinus aufgerichtet. Dazu erkennt man Petri Schwert mit dem blutenden Ohr des Malchus und die Laterne aus der Gefangennahme. Dieselbe Komposition, vom Meiser der Apokalypsenrose, findet sich in gedruckten Pariser Stundenbüchern seit 1498 (Horae IX , Nr. 18,16, Abb. S. 3978); ein großformatiger Einblattholzschnitt vom Meiser der Apokalypsenrose kommt hinzu (Paul-André Lemoisne, Les xylographies du XIVe et du XVe siècle au cabinet des estampes de la Bibliothèque nationale, Paris/Brüssel 1930, Taf. CIX – zu den Zusammenhängen siehe auch Horae I, S. 230), die Zange und schließlich das Haupt des Judas mit dem Geldbeutel um den Hals. fol. 20: Kleinbilder genügen zur Gebetsfolge: Das Gebet Salve sancta facies eröfnet mit dem Schweißtuch der heiligen Veronika (fol. 20v): Vor einem purpurnen Brokat als Ehrentuch seht Veronika und präsentiert das Tuch mit dem übergroßen Antlitz des Erlösers mit der Dornenkrone und einem aus goldenen Strahlen besehenden Kreuznimbus. Die Gregorsmesse verweis auf Autor und Inhalt des anschließenden Passionsgebets (fol. 22v): Links erscheint im Sarg der Schmerzensmann, nicht unähnlich der Darsellung auf fol. 11v, die Rückwand des Bildes is mit den Passionsinsrumenten, den sogenannten Arma Chrisi um das Kreuz besetzt. Am Altar mit dem aufgeschlagenen Meßbuch, dem Kelch, in den aus der Seitenwunde Chrisi Blut srömt, und der rotgrundigen goldenen Mitra des Papses kniet der Kirchenvater Gregor als junger Mann, tonsuriert, und von zwei jungen Akolythen begleitet. Die Darsellung der Trinität (fol. 23) zum Sufragium greift auf die Illusration von Psalm 109, Dixit dominus domino meo, zurück und zeigt Vater und Sohn, selbs mit dem Kreuznimbus nicht unterscheidbar jeweils mit Jesu Antlitz, das Buch des Lebens mit je einer Hand aufgeschlagen vorweisend; zwischen ihren Häuptern schwebt die Taube des Heiligen Geis in großer leuchtend weißer Gesalt. fol. 28: Die Mariengebete werden unterschiedlich gewichtet: Eine große Miniatur, die dem Bildvorrat der gedruckten Stundenbücher entlehnt is, eröfnet das Obsecro mit einem Bild der Maria Immaculata (fol. 28): Ebenfalls seit 1498 is die Verwendung eines
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seitengleich angelegten Metallschnitts vom Meiser der Apokalypsenrose nachweisbar (Horae IX , Nr. 18,17, Abb. S. 3978). Gezeigt wird die Jungfrau Maria in weißem Kleid, mit goldenen Strahlen, die aus der Vorsellung des apokalyptischen Weibes amicta in sole sammt. Gottvater, mit der päpslichen Tiara auf dem Haupt und der Sphaira in der Linken, erscheint als Halbfigur segnend über der schwebenden Marienerscheinung. Sie is umgeben von Bildmotiven, die eine möglichs umfassende Zusammensellung der Mariensymbole bieten: Die Zeder vom Libanon und der Ölbaum flankieren sie unter der Sonne und dem Meersern. Von der Porta clausa links oben geht es über die Rose zur Wurzel Jesse, dem Brunnen und dem Beschlossenen Garten, um rechts unten, beginnend mit der Himmelssadt über den Paradiesesbrunnen zum fleckenlosen Spiegel und dem Turm Davids, zur Lilie zu gelangen. In gedruckten Stundenbüchern eröfnet dieses Bild die Horen der Empfängnis Mariä. Die Darsellung lebt fort bis zu bedeutenden spanischen Gemälden des 17. Jahrhunderts, z.B. in der Berliner Gemäldegalerie (zu den Zusammenhängen mit den gedruckten Stundenbüchern siehe Horae I, S. 230 sowie König mit Heyder, Breviarium Grimani, Simbach 2016, S. 191-197). Bildlos bleiben das O intemerata (fol. 31) und die VII Freuden Mariä (fol. 35). Ein Kleinbild mit Maria unter dem Kreuz, von Johannes und Magdalena begleitet, weis auf das Stabat mater (fol. 38) hin. fol. 40: Das Marien-Ofzium wie die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geis eröfnen zur Matutin mit großen Miniaturen; vier Mariensunden (Laudes, Terz, Sext und Non) sind nicht bebildert; Prim und Vesper werden von der Bildgröße der Matutin gleichgesellt; für Komplet genügt ein sechs Zeilen hohes Kleinbild. Die großen Miniaturen erscheinen in einer Renaissance-Architektur, die den Textanfang und gegebenenfalls auch das Textende mit einschließt. Als Trompe-l’œil versehen sich die Schriftfelder mit dem Incipit; ihre vertikalen Enden sollen eingerollt erscheinen. Für die Marienverkündigung zur Marien-Matutin (fol. 40) hat der Maler die Illusion eines Einheitsraums hinter dem Incipit hier nicht gut durchzuhalten vermocht: Er läßt den Fliesenboden zu Seiten des Textfeldes unverkürzt, nimmt die Verkürzung ers unten wieder auf und zeigt dort den Unterteil der vergoldeten Metallvase, in der über dem Incipit die Lilie seckt. Der Engel kniet und hält die Rechte weisend erhoben; Maria kniet ihm gegenüber mit verschränkten Armen über ihrem Betpult, während die Taube von links in goldenen Strahlen auf sie zufliegt. Am Seitenende über nur zwei Zeilen Incipit seht die Kreuzigung mit Maria und Johannes zur Kreuz-Matutin (fol. 60): Unten blickt man auf Schädel und Knochen zur Kennzeichnung von Golgatha, den Fuß des Kreuzes und die untere Partie der beiden Beifiguren. Maria und Johannes erscheinen dann groß vor schlichter Landschaft, während der Gekreuzigte vermutlich aus Platzgründen recht klein wiedergegeben is, um seine Gesalt nicht vom Schriftfeld überschneiden zu lassen. Auch das Bild von Pfingsen zur Geis-Matutin (fol. 61) erscheint unter einem Textende mit nur zwei Zeilen Incipit. Wieder setzen die Figuren darunter an und auch diesmal
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wirkt ihre Disposition sehr viel organischer als bei der Verkündigung. Maria sitzt links unter einem üppigen purpurroten Goldbrokat; neben ihr Petrus und ein zweiter Aposel, weitgehend verdeckt, während der jugendliche Lieblingsjünger Johannes rechts seinen Heiligenschein so gedreht hat, als wolle er sich im verlorenen Profil zu Maria wenden. Die Anbetung des Kindes zur Marien-Prim (fol. 62) folgt auf nur zwei Zeilen Restext, die in einen fesen architektonischen Rahmen eingeschlossen sind. So ergibt sich um die vier Zeilen des Incipits eine recht große Bildfläche. In ihr hat der Stall mit seinen monumentalen Bögen und dem schadhaften Dach über der eingebrochenen Rückwand Platz. Maria und Joseph knien um den nackten Jesusknaben, der auf einem rechteckigen weißen Tuch liegt, während der Ochse hinter Maria verharrt und sich der Esel vordrängt, um das Neugeborene zu sehen. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 75v) schreitet die Heilige Familie nach links. Der Esel scheint sie anzuführen, denn dynamisch sreckt er den Kopf vor. Maria mit dem rot gekleideten Jesuskind hat im Damensitz auf ihm Platz genommen. Joseph, nimbiert, kommt mit einem Bündel hinterdrein. Im Kleinbild der Marienkrönung (fol. 80v) sitzt Gottvater als barhäuptiger Greis links in Rot vor blauem Grund, während Maria in Blau vor Rot erscheint; kniend taucht sie nur in der rechten Ecke auf, weil dann doch ein Blick auf Himmel und Wolken über ihr gegeben wird. fol. 94: Eine besonders großartige Miniatur is den Bußpsalmen vorgeschaltet mit Davids Buße: Über acht Zeilen Text bleibt nicht viel Platz; doch gerade das nutzt der Maler für eine dramatische Wirkung: Indem er das benutzt, was Sixten Ringbom als Dramatic Close-Up bezeichnet hat, beschränkt er den Blick auf die Halbfigur des Königs, der aus einer Felsspalte herausgetreten zu sein scheint. Die Hände fügt der König zum Gebet und wendet sein Antlitz zur Erscheinung Gottes, der sich mit den Zügen Chrisi in kleiner Gesalt über einer Wolke zeigt. Auch David is noch recht jung, mit braunem Bart und üppig wallendem Haupthaar. Kronhut und Harfe hat er links vor sich abgelegt. fol. 112: Einer Tendenz, die sich ers zum Ende des 15. Jahrhunderts hin durchsetzt, folgt die Bebilderung des Toten-Ofziums: Als ein nun besonders beliebtes Thema sorgen die Drei Lebenden und Drei Toten dafür, daß man ihre Darsellung nicht wie in den Nrn. 6 und 22 der Neuen Folge VI von Leuchtendes Mittelalter, 2009, in eine Miniatur preßt, sondern – wie dort in Nr. 21 und häufig in frühen Stundenbuchdrucken – zwei große Bilder auf eine Doppelseite verteilt. Dabei muß die linke Miniatur unter vier Zeilen Text untergebracht werden: Ein Vergleich mit jenen doppelseitigen Metallschnitten des Meisers der Grandes Heures royales bietet sich an, die für Ausgaben von 1491 an Simon Vosre, A. Verard und die Brüder Hardouin und andere in verschiedenen Auflagen verwendet haben (siehe Horae IX , Nr-12, Abb. 14-15 auf S. 3953, und Nr. 13, Abb. 16-17 auf S. 3961). Doch wird hier der Ausschnitt kühner genommen; der vorderse Reiter dreht dem Betrachter den Rücken zu; die Art, wie die Gesalten vom Bildrand beschnitten sind, sorgt für größere Spannung. Im Toten-Ofzium is auch die Matutin mit
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einem Bild versehen, einer historisierten Initiale: Hiob und seine Freunde (fol. 116), die von links kommen und intensiv auf den Dulder einreden, dessen eindrucksvoll gestalte ter Kopf und Oberkörper in schönstem Licht erscheinen. fol. 150: Die Suffragien erhalten durchweg Kleinbilder, die anzeigen, wer im einzelnen angerufen wird: Michaels Kampf mit dem Teufel (fol. 150) in prachtvoll ausgreifendem Schwung, vor einer ganz ins Blau der Ferne getauchten Landschaft. Johannes der Täufer (fol. 151) mit dem Lamm auf seinem Buch, vor einem Wald; der purpurne Mantel wird von wildem Wind aufgewühlt. Johannes der Evangelist (fol. 151v) mit dem winzigen Dra chen, der aus seinem Kelch entweicht. Peter und Paul (fol. 152) in einer belebten Diskus sion, Schlüssel und Schwert wie Waffen erhoben. Andreas (fol. 152v) mit dem X-förmi gen Kreuz. Jakobus der Ältere (fol. 153) mit Buch, Pilgerstab und Muschelhut als Pilger. Stephanus (fol. 153v) mit Märtyerpalme und Buch, einen Stein auf der Tonsur, in pur purner Dalmatika. Laurentius (fol. 154) in der gleichen Dalmatika, mit dem Rost in der Hand, der freilich nur dem Kenner auffällt. Christophorus (fol. 154v) mit dem Christus knaben, der eine goldene Sphaira hält, auf einen kahlen Baumstamm gestützt, im Was ser. Sebastian (fol. 156) an einen grünen Baum gebunden, mit einem modisch gekleide ten jungen Peiniger links, von dem er das Antlitz abwendet. Adrian (fol. 157) in goldener Rüstung mit goldenem Helm, ein Schwert geschultert, zwischen Amboß links und Lö wen rechts. Dionysius (fol. 158) mit dem abgeschlagenen Haupt, das noch die weiße Mitra trägt, in beiden Händen. Martin (fol. 159) in der schönsten kleinen Miniatur dieses Manuskripts, mit dem Bettler links vorn, der schon ganz in den Purpurmantel gehüllt ist, auf einem Schimmel, jugendlich und mit hübschen Farben, einem blauen Wams über violettem Unterkleid sowie Kappe, Beinkleidern und Zaumzeug in Rot, vor der Kulis se von Stadttor und Türmen von Tours. Nikolaus (fol. 159v) vor einem Tuch in Altrosa, halb erstaunt, halb segnend zum Bottich mit den drei nackten Knäblein blickend. Clau dius (fol. 160) als Bischof vor purpurnem Tuch, einen nackten Jüngling segnend, der vor ihm in der Landschaft niedergekniet ist. Hieronymus (fol. 161v) als Kardinal mit Kreuz stab und dem flachen roten Kardinalshut, den Löwen kraulend, in der Landschaft nach links gewandt. Benedikt (fol. 162) als noch recht junger Mönch in schwarzer Kutte mit Abtskrümme und rotem Buch, auch er unter freiem Himmel. Antonius Abbas (fol. 162v) vor seiner Klause im Wald, in blauer Kutte mit Mantel und Kapuze in Schwarz; ohne erkennbare Attribute; nicht einmal der Stab hat die spezifische Form mit dem Taukreuz als Bekrönung. Fiacrius (fol. 163) als Mönch in weißer Kutte mit Schwarz darüber und einer schwarzen Kappe, vor einer Klause in der Landschaft. Rochus (fol. 163v) als Pilger, vom Engel besucht, dem er die Wunde an seinem Bein zeigt. König Ludwig der Heili ge mit breitem Hermelinkragen, das Gewand in Altrosa, der Mantel in Blau mit golde nen fleurs de lis semées, also Lilien in unendlichem Rapport (fol. 164v). Barbara (fol. 165) mit goldener Märtyrerpalme, das Modell eines runden Turms mit drei Fenstern auf der Rechten. Apollonia (fol. 166) mit Buch und Zahnzange in der Landschaft. Ursula und ihre Jungfrauen (fol. 167), die alle goldene Märtyrerpalmen tragen, dicht gedrängt, un ter freiem Himmel. Zum Seelengebet auf dem Friedhof Zwei Männer, die für die be
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erdigten Toten auf dem Friedhof beten (fol. 167v), vor einer Bogenreihe, wie man sie für die Gebeine um Friedhöfe wie jenen der Unschuldigen Kindlein in Paris errichtet hat. Zum Stil Die Händescheidung steht in diesem Buch vor nicht unerheblichen Problemen. Am leichtesten zu erkennen ist Jean Pichore, dessen Rolle seit unserem Katalog Leuch tendes Mittelalter IV (1992) und Avril und Reynaud 1993 inzwischen klarer definiert wurde, bis hin zu unserer Auseinandersetzung mit den gedruckten Stundenbüchern in Horae und der verdienstvollen Monographie von Caroline Zöhl aus dem Jahre 2005. Pichore kommt in diesem Manuskript jedoch nur eine nachgeordnete Rolle zu; denn so gut seine Beiträge auch sind, so beschränken sie sich auf kleine Bilder: Man findet ihn beim Stabat mater auf fol. 38 und dann am Ende der Handschrift, wo er alle Bilder zu den Suffragien (fol. 150-167v) gestaltet hat. Ein Meister von mindestens gleichem, wohl noch höherem Rang ist jener Künstler, des sen Temperament sich in der ungemein dramatischen Darstellung der Drei Lebenden und Drei Toten (fol. 112) gegen die Vorgabe aus den gedruckten Stundenbüchern bril lant durchsetzt. Von ihm stammt auch das Davidsbild auf fol. 94 und vielleicht die bril lante Bild-Initiale mit Hiob (fol. 116). Wir konnten diesen Künstler bislang nirgendwo anders nachweisen. Neben diesen beiden Meistern der großzügigen Form, die ihre Kunst entschieden den Einflüssen der italienischen Renaissance gegenüber öffneten, treten in drei Maler auf, deren Anteile sonst klarer zu scheiden sind als hier: Bei den beiden Miniaturen mit engsten Bezügen zu den gedruckten Stundenbüchern mag das teilweise auch an dem prägenden Einfluß des Vorbilds liegen: Gegen unsere Ge pflogenheit, auch in schwierigen Fällen wenigstens einen Vorschlag zu wagen, verzagen wir hier angesichts der Maria Immaculata auf fol. 28; sie kann von Jean Coene ebenso ausgeführt sein wie – wohl noch eher – vom Meister der Philippa von Geldern. Ähnlich schwierig wird es beim Schmerzensmann, dessen Zugehörigkeit wir heftig dis kutiert haben: Der eine hält das Bild für eine charakteristische Arbeit vom Meister der Philippa von Geldern, der andere schwört auf Jean Coene. Dabei scheinen uns die bei den anschließenden Bilder, Veronika und die Trinität, vorzügliche Arbeiten vom Meis ter der Philippa von Geldern sein. Jean Coenes Identität ist von einem Einzelblatt mit der Kreuzigung, aus einem Missale in Quartformat, aus bestimmt, die der Maler aus der alten flämischen Familie in Paris im Rahmen rechts unten sorgfältig signiert hat (Leuchtendes Mittelalter NF I, S. 306309, und Abb. S. 320, s. Abb. hier in der Einleitung). Wir finden ihn hier wieder von der Kreuzigung bis zur Marienkrönung. Die Maria im Bild zur Prim erlaubt allerdings nicht, ihm auch die schwer zu bestimmende Marienverkündigung zuschreiben, die allein steht.
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Für ein Antiquariat, das sich mit Nachdruck um die Erforschung der gedruckten Stundenbücher kümmert, ist dieser Kodex von ganz besonderem Interesse, denn er enthält Miniaturen, in denen eindrucksvolle Bildfindungen aus gedruckten Pariser Stundenbüchern wiederholt sind: der Schmerzensmann mit den Arma Christ i und die Maria Immaculata ebenso wie die auf zwei Seiten verteilte Darstellung der Drei Lebenden und Drei Toten. Außerordentlich bemerkenswert ist dieses Manuskript noch in anderer Weise: Man erkennt, wie unterschiedliche Arten, Bilder auf Buch seiten unterzubringen, nebeneinander bestehen können: Da gibt es die ganzfigurige Darstellung in goldgrundiger Vollbordüre ebenso wie die bogenförmig abgeschlos sene traditionelle Miniat ur, ebenfalls ganz von Randschmuck umfaßt, aber auch das Kleinbild mit machtvoller Halbfig ur von sehr viel fortschrittlicherem Zuschnitt. In ganz anderer Weise können Bilder mit Textfeldern in Ädikulen aus der Renais sance-Architektur untergebracht werden. Hingegen verzichtet man bei den kleinen im Textspiegel untergebrachten Miniaturen auf jeden Randschmuck. Zur Ausmalung hat man eine ganze Anzahl guter Pariser Buchmaler herangezo gen und jeden offenbar auf seine Weise arbeiten lassen. Dabei haben vielleicht Jean Coene und der Meist er der Philippa von Geldern den Hauptpart innegehabt, wäh rend Jean Pichore nur kleine Bilder, allerdings von brillanter Qualität, beisteuer te. Ein Rätsel für die Zuschreibung bleiben aber die best en Miniaturen des Manus kripts: David und das Totenbild. Literatur Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge VI , 2009, Nr. 24.
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53 Ein Stundenbuch für den Gebrauch von Coutances vom Martainville-Meister in Zusammenarbeit mit Jean Pichores Werkstatt
Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Coutances. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, geschrieben in Textura. Paris, um 1500: Martainville-Meister, zusammen mit einem Maler aus der Werk statt von Jean Pichore 22 Bilder: 17 große Miniaturen, davon zwei textlos, die anderen über fünf Zeilen Inci pit mit vierzeiligen blauen Akanthus-Initialen auf braunroten Feldern. Ohne hierarchi sche Unterscheidung richtet sich die Bildform nach Interieur oder Landschaft: 9 Kopfbil der mit Interieurs, in Vollbordüren vorwiegend aus französischen Königslilien auf Blau mit leeren Schriftbändern, seltener Goldgrund oder Kompartimente aus Pergament und Goldg rund; 8 mit Bildfeldern in Architekturrahmen, bis auf eine aus unterschiedlich dicken goldenen Säulen, dazu gehören die beiden textlosen Bilder auf Versoseiten; die übrigen mit Incipit und Initiale illusionistisch vorgeblendet. Ein 19 Zeilen hohes Bild und ein 13 Zeilen hohes Wappenbild in Restfeldern an Textenden; das Figurenbild ohne Randschmuck, das Wappen in Vollbordüre. Zwei Vollbordüren als Bildfelder; ein Rand bild in voller Höhe des Textspiegels. Eine vierzeilige Initiale ohne Bild oder Bordüre, blau auf Rot; die zweizeiligen Initialen zu den Psalmenanfängen von derselben Art, vorwiegend blau auf Rot, seltener in Pinselgold auf Rot; einzeilige Initialen zu den am Zeilenanfang stehenden Psalmenversen in Gold auf Rot, seltener auf Blau mit Pinselgolddekor; Zeilenfüller derselben Art. Versalien nicht farbig hervorgehoben. 146 Blatt Pergament; je ein fester und fliegender Vorsatz vorne und hinten aus modernem Per gament. Bei Rest aurierung viele Blätter durch neue Fälze verstärkt; deshalb heute vorwiegend gebunden in Lagen zu sechs Blatt, davon abweichend die Lagen 1 (6-1: Anfangsblatt entfernt), 2 (8), 7 (4), 9-10 (4), 12 (8), 19 (8), 22 (4) und die Endlage 25 (4-1, das textlose Endblatt ent fernt); am Ende zweier originaler Quaternionen, Lage 3 und 19, finden sich Reste vertikaler Reklamanten, geschrieben in der Schrift des Buchblocks. Rot regliert zu 20 Zeilen. Oktav (168 x 115 mm; Textspiegel: 108 x 64 mm). Einige Bordüren vom Buchbinder getrimmt; der Kalender und drei Incipits (Johannesperikope sowie Marien-Sext und -Vesp er) fehlen. Modern gebunden in auberginefarbenen Samt auf Holzdeckeln; Schnitt rot gefärbt. Das Wappen des Bestellers auf fol. 10v ist ungedeutet: Auf Blau ein silberner Sparren und drei goldene T über steigenden goldenen Mondsicheln. Von weißen Windhunden präsentiert und mit der Büste eines weißen Windhundes als Helmzier. Zuletzt Kat. Fleury, Paris 1990 (frs. 625.000). Der Text fol. 1: Perikopen: Johannes (Anfang fehlt, fol. 1), Lukas (fol. 1v), Matthäus (fol. 3) und Markus (fol. 4v).
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fol. 5v: Mariengebete: Obsecro te, redigiert für einen Mann (fol. 5v), O intemerata, an Ma ria und Johannes gerichtet (fol. 8v). fizium für den Gebrauch von Coutances mit den eingeschalteten Ho fol. 11: Marienof ren von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 11), Laudes (fol. 19), Kreuz-Matu tin (fol. 27), Geist-Matutin (fol. 29v), Marien-Prim (fol. 29v), Terz (fol. 34v), Sext (Anfang fehlt auf Verso vor fol. 38), Non (fol. 41v), Vesper (Anfang fehlt auf Verso vor fol. 45), Komplet (fol. 50v). fol. 57: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 65v); mit vorwiegend Pariser Heiligen. fizium für einen nicht zu bestimmenden nordfranzösischen oder engli fol. 69: Totenof schen Gebrauch: Vesper (fol. 69), Matutin (eingeleitet von einer Rubrik, fol. 75), Laudes (fol. 92v, nicht markiert). fol. 103v: Mariengebete: Salve regina mater misericordie vita dulcedo…, Ave regina celorum (fol. 105), Stabat mater dolorosa als Suffragium (fol. 105), Concepcio tua dei genitrix (fol. 106), Ave cuius concepcio als Suffragium (fol. 106v), Ave ancilla trinitatis (fol. 107), Saluto te sancta virgo maria (fol. 107v), Gaude flore virginale (fol. 108). fol. 109: Suffragien: Sebast ian (fol. 109), Johannes der Täufer (fol. 111), Christ ophorus (fol. 112), Barbara (fol. 113), Michael (fol. 113v), Claudius (fol. 115), Magdalena (fol. 116). fol. 118: Herrengebete: Summe misericors omnipotens sempiterne trinus et unus deus imm ortalis…, Te invocamus te adoramus te laudamus (fol. 118v), Gratias etiam tibi ago (fol. 119). fol. 120: Suffragien: Martin (fol. 120), Cosmas (fol. 121v), Fiacrius (fol. 122 und fol. 124), Nikolaus (fol. 124v), Genovefa (fol. 126 und fol. 127). fol. 128v (mit einem Vollbild auf Recto): Kreuzgebet: Salve crux preciosa o bona crux. fol. 130 (mit einem auf 129v vorgeschalteten Vollbild): Johannesp assion: Egressus est do minus. fol. 138: Lukasp assion: Appropinquabat dies fest us. fol. 146v: Textende. Schrift und Schriftdekor In diesem Manuskript ist eine Art von Textura verwendet, die sich durch ihre niedri gen und breiten Formen völlig aus der Tradition dieser Schriftsorte löst. So wirkt es, als habe man sich an der moderneren rundlichen Fere-humanistica orientiert, aber durch die vielen Brechungen den Grundcharakter der älteren Schreibkulturen wahren wollen. Dem entspricht auch die konsequente Unterscheidung der Schriftgrößen mit den nied rigen Lettern für Antiphonen und entsprechende Texte. Ungewohnt ist die Vielfalt von Bildformen, in der hierarchische Unterscheidung außer Kraft gesetzt ist. Die beiden Vollbilder ohne Text stehen am Ende des Buches und wirken
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ebenso wie die zugehörigen Texte wie Nachträge. Gewohnt war man, nach verwendeten Flächen Bilder hierarchisch zu ordnen; sattdessen orientiert sich die Bildform daran, ob Interieur oder Landschaft die Darsellung besimmen. Deshalb wirkt das Kopf bild der Verkündigung zur Marienmatutin hinter die Heimsuchung zu den Laudes, wo Landschaft seitengroß das Incipit hinterfängt, zurückgesetzt. Dreimal hat der Schreiber keinen Platz gelassen, der Maler aber zwei Szenen in Vollbordüren und eine große Figur in einen Randsreifen gemalt. Bilder in Resfeldern belegen in ähnlicher Weise, wie weit man sich von der gewohnten Zuordnung von Bildern zu Incipits gelös hat. Noch särker lös sich der Bildschmuck dort von den Konventionen, wo er in Resfelder und in die Ränder ausweicht. Die Zierbuchsaben mit den vierzeiligen blauen Akanthus-Buchsaben auf braunroten Feldern für die großen Incipits sowie für die zweizeiligen Psalmen-Initialen nehmen ältere Formen auf; denn sie sind vorwiegend in blauem Akanthus auf Rot, seltener in Pinselgold gesaltet wie die am Zeilenanfang sehenden Psalmenverse, die wiederum nur selten auf Blau erscheinen; auch bei den Zeilenfüllern wird mit Blau gespart. Daß Versalien nicht farbig hervorgehoben werden, mag an der fortschrittlichen Grundgesinnung der Schrift liegen. Unklar bleibt, ob man die ungewöhnlichen Züge des Buchblocks mit der Besimmung des Marien-Offiziums für Coutances verbinden darf. Möglich is immerhin, daß der Schreiber in der Normandie ansässig war und das Manuskript wie Werke für den Kardinal Georges d’Amboise zur Illuminierung nach Paris geschickt wurde. Die Bildfolge fol. 1: Den Perikopen sind große Evangelisenbilder vorangesellt, die von doppelten bunten Säulen gerahmt sind; in die flachen Rundbögen is feines Maßwerk einbeschrieben. Durch einen hängenden Schlußsein in der Mitte bilden sich Doppelbögen, die jeweils dazu anregen, die Bilder zweiteilig zu gliedern; dabei nimmt der Evangelis nur jeweils eine der Hälften ein. Alle drei Incipits sind mit Goldgrundbordüren versehen. Lukas (fol. 1v) sitzt als älterer Mann mit weißen Haarkranz, Petrus ähnlich, auf einem hohen Lehnsuhl, mit einem klappbaren Schreibpult vor fas schwarzem Fond; rechts neben ihm lagert der Stier vor einer mit Pilasern und bunten Steinspiegeln gesalteten Apsis, ganz in Renaissance-Dekor, und schaut aufmerksam zu dem Evangelisen, dessen Arbeit ganz vom Pult verdeckt is. Matthäus (fol. 3), mit roter Kappe auf dem grauen Haar, hat vor einem blauen Ehrentuch auf einer Bank Platz genommen und sein Schriftband auf dem Schoß ausgebreitet. Ihm gegenüber seht ein jugendlicher Engel mit zart hellgrünen Flügeln und präsentiert ihm ein Buch; eine bildparallele Rückwand wird hinter ihm sichtbar. Markus (fol. 4v), mit langem Bart und einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß, erscheint diesmal ohne sein Attributswesen, den Löwen. Dessen Bildhälfte wird ganz vom Buchpult vor Renaissance-Architektur eingenommen. Auf das dort liegende Doppelblatt
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blickt der wohl vom Martainville-Meiser gemalte Evangelis konzentriert. Seine eindrucksvolle Gesalt wird von einem hellgrünen Ehrentuch hinterfangen. fol. 5v: Von einem Säulenpaar gerahmt, werden die Vollbilder hinter die fünfzeiligen Incipits der beiden Mariengebete gebreitet; dabei wird dem im Layout gewohnten Ungleichgewicht zwischen Falz und Außenseite geschuldet, daß die äußeren Säulen deutlich dicker als die inneren sind. Schon die prächtige Bildaussattung versößt gegen den Brauch. Das Obsecro te wird, abweichend von der Tradition, mit dem Kuß an der Goldenen Pforte eröfnet (fol. 5v). Die rahmenden Säulen regen an, auch die Pforte der Stadtmauer von Jerusalem ähnlich zu rahmen; dazu dienen goldene Türme gleichen Ausmaßes, die entschieden gegen die hellbraunen und nur schulterhohen Mauern sich abheben. Dadurch werden die beiden Hauptfiguren Anna und Joachim majesätisch hinterfangen, wie sie sich da hinter einem kleinen Flußlauf begegnen, Anna, wie Maria in Blau gekleidet, wirkt, als trete sie wie ihre Tochter bei der Heimsuchung von links hinzu; Joachim, ein prächtig aussaffierter Greis, nimmt damit einen größeren Raum ein, obwohl er der Legende nach ja von den Hirten in die Stadt zurückkehrte, um dort seine Gemahlin zum Kuß an der Pforte zu trefen. Behutsam nimmt der in Rot gekleidete Joachim die sich an ihn schmiegende Anna in den Arm. Der Maler findet so ein besonders zärtliches Bild für die Verbindung der beiden solzen Figuren. Das O intemerata, das sich in der hier verwendeten Version an Maria und Johannes richtet, ziert eine ganzfigurige Darsellung von Johannes dem Evangelisen mit dem Giftkelch und Maria (fol. 8v). Die beiden Heiligen sehen monumental vor einer Landschaft, die im himmlischen Glanz ersrahlt. Auf dem letzten Textblatt vor dem Beginn des Marienoffiziums erscheint eine Wappenminiatur auf rotem Grund (fol. 10v). Zwei weiße Windhunde halten ein Wappen, das auf blauem Grund einen silbernen Sparren trägt und drei seigende goldene Monde jeweils unter einem T. Als Helmzier prangt die Büse eines weißen Windhundes nach links¸ feiner Golddekor geht davon aus und schmückt den weinroten Grund, der wohl Purpur assoziieren soll. fol. 11: Bildgröße allein bildet kein Kriterium der Dekorationshierarchie: Das Marienoffizium eröfnet mit einem Kopf bild derselben Art wie die Perikopen; nun mit Kompartimentbordüren aus fleurs de lis und einer Art Purpur. Über die ganzen Seiten ausgebreitete Bildfelder hinterfangen hingegen in der Hierarchie minder bewertete Stundenanfänge wie die Laudes. Bei der Verkündigung (fol. 11) zur Matutin sorgt der doppelte Bogen des Maßwerks wieder für eine Halbierung des Raums: Hauptfigur is Maria, die links in Blau vor ihrem in Altrosa gehaltenen Baldachin kniet, während der Erzengel Gabriel wie die Attributswesen vor den Renaissanceformen der Rückwand erscheint. Mit erhobenem Zeigefinger und Liliensab, begleitet von der Taube des Heiligen Geises, kniet er vor dem Betpult Marias, die andächtig die Hände zum Gebet gefügt hat.
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Zur Heimsuchung (fol. 19), die die Laudes eröfnet, is die in Blau gewandete Maria über’s Gebirg gekommen, vor dem sie nun ihre Base, die greise Elisabeth trif t, die ebenfalls ein Kind erwartet, Johannes den Täufer. Diese hat als verheiratete Frau die Haare unter einem weißen Tuch verborgen, ihr mit Gold besicktes blaues Gewand schaut unter ihrem roten Überkleid hervor. Lichtdurchflutet is die Landschaft, für die die ganze Fläche der Seite beansprucht wird, so daß das Incipit wieder von Malerei umflossen is; nichts weis auf das Haus von Elisabeth und Zacharias hin. Imposant ragen die beiden Frauen auf; göttliches Licht srahlt in Gold aus den Wolken auf das Spiel ihrer Hände. Die eingesellten Heilig-Kreuz-Horen eröfnen zur Matutin mit einer ungewöhnlichen Darsellung in einem Kopf bild. Vor schwarzem Grund, gerahmt von den Werkzeugen seiner Marter, erhebt sich die Figur des gegeißelten, mit Dornen gekrönten Schmerzensmannes (fol. 27). Die Hände zum Gebet gefaltet, blickt er nicht direkt zum Betrachter, sondern klagend aus dem Bild, als seien hier die Darsellungsraditionen des jeglicher Hofnung entbehrenden Chrisus auf der Ras mit jener des Schmerzensmannes ineinander verwoben. Auf dem blauen Grund der Bordüre sind fleurs de lis in unendlichem Rapport gezeigt, auf denen goldene und rote Schriftbänder liegen, die hier allerdings leer geblieben sind. Vielleicht wollte man hier wie im Stundenbuch der Marguerite de Coesmes (Nr. 55) Incipits von an den Salvator gerichteten Fürbittgebeten eintragen. Das Pfingsbild (fol. 29v) zur Matutin der Heilig-Geis-Horen is ganz auf Maria konzentriert. Sie kniet im Vordergrund an einem Betpult, leicht nach rechts gerichtet, und hat die Arme vor der Brus gefaltet. Würdig senkt sie das Haupt, während Petrus und die älteren Aposel zur Taube des Heiligen Geises aufschauen, zwei für Johannes in Frage kommende jüngere aber die Muttergottes flankieren und, ohne das Antlitz zu heben, doch leicht nach oben blicken. Die Marien-Prim eröfnet mit der Anbetung des Kindes (fol. 29v). Unter dem schadhaften Dach des Stalls kniet Maria im Gebet; sie hat den winzigen Jesusknaben auf den Saum ihres blauen Mantels gebettet. Geradezu schmerzerfüllt blickt Joseph auf, die Hände hilflos ausgesreckt, in die Knie gesunken und deutlich kleiner als die Jungfrau, hinter der links der Esel, rechts der Ochse mit großen Augen blicken. Landschaft und nicht Dekorationshierarchie entscheidet, ob die Malerei die ganze Seite hinter dem Incipit einnimmt, so auch bei der Marien-Terz für die Hirtenverkündigung (fol. 34v), bei der das Textfeld wieder vorgeblendet is. Zwei große bärtige Männer haben sich an einem Gewässer mit ihrer Herde niedergelassen. Während einer bereits die Hände zum Gebet gefaltet hat, schützt der andere noch die Augen vor den Goldsrahlen, die von dem Engel ausgehen, der in Halbfigur mit leeren Spruchband erscheint. Die Darbringung im Tempel eröfnet die Non (fol. 41v). Maria kniet im Profil vor dem Altar, begleitet von zwei Frauen und Joseph, der den Korb mit drei Tauben trägt. Unter dem rosafarbenen Baldachin seht Simeon und hält den nackten Knaben in einem Tuch über der Mensa des Altars, ersaunlich klein und inaktiv; die Arme gar nicht sichtbar; doch auf ihn richten sich alle Blicke im Bild. Eine ähnliche Komposition, die den Fokus
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auf Maria und Jesus satt auf den Hoheprieser legt, findet sich in einem Stundenbuch vom Gotha-Meiser (unsere Nr. 58). Wie der Schmerzensmann auf fol. 27 is das Kopfbild von fleurs de lis auf blauem Grund umgeben; die Schriftbänder sind auch hier leer. In der gleichen Bordüre mit den Königslilien, somit auch als Kopf bild, erscheint zur Komplet des Marienoffiziums srahlend schön die Mondsichelmadonna (fol. 50v). Vor einer flammenden gelb-roten Mandorla, gerahmt von Cherubim, seht die in einen weißen Mantel gehüllte Madonna mit dem Chrisuskind auf einer silbernen Mondsichel. Auf dem Kopf trägt sie die Krone und is durch die Position des Bildes im Buch eine raffinierte ikonographische Kombination von Assunta und Apokalyptischem Weib. Zur gleichen Zeit hat Jean Bourdichon in Tours das Bildthema der Assunta mit der wieder jugendlichen Jungfrau Maria besetzt, so im sogenannten Stundenbuch Karls VIII . in der Pariser Nationalbibliothek (latin 1370) und in seinem kleinen vatikanischen Stundenbuch (Vat. lat. 3781; siehe meinen Kommentarband von 1984). fol. 57v: Ein Moment aus der Davidgeschichte, das in französischen Stundenbüchern sons so gut wie nie vorkommt und eher aus flämischen Brevieren wie dem Breviarium Grimani bekannt is, eröfnet die Bußpsalmen: Samuel salbt David. Diese erse Salbung spielt im Freien, also wieder in einer ganzseitig konzipierten Miniatur. Als Hirtenknabe sinkt David vor seiner Herde in die Knie, um aus einem Horn die Salbung durch den würdigen Alten – eine solze aufrechte Figur, wie sie charakterisisch für den Maler is – zu empfangen. Die beiden Figuren sehen nicht auf einer Ebene; denn David taucht hinter dem Schriftfeld etwas ungeschickt auf. Das Bildthema hatte die Werksatt des Meisters der Apokalypsenrose in die Metallschnitte für Gillet und Germain Hardouin von 1503 für die Bußpsalmen aufgenommen (Horae IX , Nr. 21, S. 3992, Abb. 11). Durch die mächtige Statuarik aber seht der zwischen 1504 und 1506 entsandene Metallschnitt aus der Pichore-Werksatt für Thielman Kerver (ebenda, Nr. 23, S. 4003, Abb. 12) unserer Miniatur näher. Die Vesper des Totenoffiziums eröfnet mit Hiob auf dem Dung mit seinen Freunden (fol. 69). Fas schamhaft scheint sich Hiob, in Lumpen gehüllt, abzuwenden und im Dung zu knien, zurückgewendet zum ältesen der Besucher, der weißbärtig und in ein langes rotes Gewand gekleidet, die Arme vor der Brus verschränkt und den Blick zu Goldsrahlen aus dem Himmel wendet. Die Anlage des Bildes im Freien vor dem sattlichen Gehöft Hiobs verlangt die ganze Buchseite. Da der Schreiber in den Sufragien keine Räume für Bilder freigelassen hat, nutzten die Maler an einigen Stellen die Randsreifen. Eröfnet wird die Bebilderung zu Beginn der Sufragien mit einem bartlosen, ofenbar jugendlichen Bischofsheiligen (fol. 108v), der keinem Text zugeordnet werden kann und am Seitenende nach fünf Zeilen Text ein großes Bildfeld erhielt, das nach unten vier Zeilen über den Rand der Reglierung hinausragt. Darauf folgt in voller Höhe des Textspiegels als Bildfeld im äußeren Randsreifen: Sebasian als Edelmann in hermelin-besetztem Mantel und einem Hut, mit einem Pfeil in
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der Hand (fol. 109) als Hinweis auf sein Martyrium; damit wird die gewohnte Darsellung der Pfeilmarter durch ein seltenes Bild ersetzt, das den jungen Heiligen wie einen Vertreter der gens de robe longue behandelt. Johannes der Täufer (fol. 111) seht mit dem Lamm in einer Landschaft, die als vierseitige Bildbordüre um den Text geführt wird. Das Gleiche hat der Maler auf dem Folgeblatt mit Chrisophorus zu dessen Sufragium (fol. 112) gemacht; doch ausgerechnet der Riese wird in den unteren Rand verbannt, wo er als recht kleine Figur den Chrisusknaben durch das Wasser trägt: Derweil erhebt sich im rechten Randsreifen eine seile Felskante, auf deren Spitze der Eremit mit seiner Lampe den Weg leuchtet. Dem Kreuzgebet wird eine ganzseitige textlose Miniatur mit den Passionswerkzeugen Chrisi vor dunklem Grund (fol. 128) vorangesellt. Es is das erse die ganze Buchseite bedeckende Bild, bei dem die goldene Säule außen durch einen polygonalen Pilaser in Brauntönen ersetzt is, in dessen Bogenfeldern übereinander zwei Prophetenfiguren in Goldcamaïeu sehen. Die untere Kante wird scheinbar von einem hohen Sockel gebildet, der sich jedoch als Chrisi Sarkophag erweis. Vielleicht dadurch angeregt, sehen auch in der breiteren Säule der letzten Miniatur Statuetten von zwei Propheten. Ungewöhnlicherweise wird die Johannespassion von einer nun textlosen, ganzseitigen Miniatur mit dem büßenden Hieronymus in der Einöde (fol. 129v) eingeleitet. Seinen für Kardinalspurpur viel zu hellroten Habit hat der Heilige im Gebüsch abgelegt; über dem Bauch hat er die Knöpfe des Hemdes geöfnet, um den eigenen Leib im Angesicht des Kruzifixes zu kaseien. Zum Stil Das Marienoffizium in diesem Stundenbuch is für den Gebrauch der normannischen Diözese Coutance besimmt; aber es entsand in einer Zeit, da Pariser Verleger für solche teilweise weit entfernten Gegenden gedruckte Stundenbücher lieferten. Bei der Diskussion der Schrift war nicht ausgeschlossen worden, daß das Buch in der Normandie angelegt wurde. Die beiden wesentlichen Stiltendenzen in den Miniaturen aber weisen auf Paris. Deshalb wird zumindes die Bebilderung mit dem Randschmuck aus der Hauptsadt sammen. Weder der Stil des Martainville-Meisers noch der Jean Pichores tritt in den Miniaturen mit wünschenswerter Klarheit zu Tage, dabei enthält dieses Buch bemerkenswerte Bilder und beweis zugleich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber herrschenden Konventionen. Die Rahmung einzelner Miniaturen mit Maßwerk, das durch hängende Schlußseine die Bildfelder in zwei Hälften teilt, folgt Motiven der beiden François Le Barbier, die wir im dritten Band diskutiert haben. Bei den Evangelisenbildern irritiert die Nähe des Matthäus-Engels zu Pichore und die ausgeprägte Charakterisik des Markus in der Manier des Martainville-Meisers. Pichores Stil, nicht seine Hand besimmen dann die folgenden Miniaturen. Hingegen wird man den Schmerzensmann mit der intensiven Passionsfrömmigkeit des Martainville-Meisers verbinden.
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Das Nebeneinander beider Stiltendenzen in diesem Buch belegt in bemerkenswerter Weise gleich zwei verschiedene Aspekte: Es besätigt die Ausmalung des Manuskripts in der Hauptsadt und särkt die Lokalisierung des Martainville-Meisers in Paris. Mit 22 Bildern, darunter 17 großen Miniaturen, von denen zwei textlos sind, ist dieses in einer schönen modernisierten Textura geschriebene Stundenbuch ein eindrucksvolles Beispiel der Pariser Buchmalerei zwischen Jean Pichore und dem Martainville-Meister. Es überrascht durch die Tatsache, daß die hierarchische Unterscheidung der Bildformen durch eine Orientierung nach Bildräumen – Interieur oder Landschaft – ersetzt wird. Mit dem Schmerzensmann, dem Apokalyptischen Weib und den Passionsinstrumenten ebenso wie mit der eindrucksvollen Einsiedlerlandschaft des Kirchenvaters Hieronymus bietet das Manuskript bemerkenswerte Bilder – die Spiritualität wie auch die Buchkunst betreffend. Literatur Das Manuskript is unveröfentlicht.
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54 Ein Stundenbuch für den Gebrauch von Paris mit mehr als 100 Bildern von Jean Pichore und seiner Werkstatt
Stundenbuch, Horae B. M. V., für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift in Schwarz, mit blauen Rubriken, im Kalender ab wechselnd mit Rot und Blau, Feste in Gold, auf Pergament, in niedriger Textura. Paris, der Buchblock noch aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, die Malerei in zwei Planstufen: die frühere vor 1500, die spätere wohl gegen 1520: Jean Pichore und Werkstatt Einhundertzwölf Bilder, darunter fünf textlose Miniaturen; fünf Bildseiten mit Kopfbild über fünf Zeilen Text mit vierzeiliger Initiale, mit je zwei Bildfeldern in den Bordüren; zehn Bildseiten über entsprechenden Incipits in Vollbordüren mit Blumen und Akant hus auf Pinselgoldgrund; zweiundzwanzig Kleinbilder von acht bis neun Zeilen Höhe in Vollbordüren derselben Art mit dreiseitiger Bordüre von außen und einem schlichten Goldstreifen zum Falz hin, sechzig Bilder in den architektonisch als Ädikulen gestalteten Randleist en des Kalenders. Mit Ausnahme der Blumen-Initiale zur Marien-Matutin alle größeren Zierbuchstaben in Dornblattdekor; dazu gehören auch die zweizeiligen Initialen für die Psalmenanfänge; einzeilige Goldbuchstaben hingegen für Psalmenverse, die am Zeilenan fang stehen, auf weinroten und blauen Flächen. Alle Textseiten mit Bordürenstreifen außen in der Höhe des Textspiegels. Versalien gelb laviert; die Antiphonen in den Suffragien nur mit solchen Versalien. 130 Blatt Pergament, dazu je drei Blätter Papier als fliegende Vorsätze vorn und hinten; In nendeckel und erstes Vorsatz mit rosafarbenem Papier bezogen. Gebunden vorwiegend in La gen zu acht Blatt; davon abweichend die Lagen mit dem Kalender: 1 (6) und jene mit den fünf Vollbildern auf eingeschalteten Blättern sowie ein Ternio mit eingeschaltetem Blatt: 2 (8+1), 3 (8+1), 8 (6+1; fol. 59 nach dem zweiten Blatt eingefügt), 9(6+1), 10 (8+1), 11 (8+1) sowie die beiden Endlagen 16 (6) und 17 (4). Keine Reklamanten. Zu 21 Zeilen; der Kalender zweispaltig zu 16 Zeilen; rot regliert. Oktav (176 × 120 mm, Textspiegel 100 × 59 mm). Vollständig, breitrandig und sehr schön erhalten. In rotbraunem englischen Maroquin des frühen 19. Jahrhunderts, auf vier falsche Bünde, mit mehrfacher Rahmenvergoldung auf den Deckeln, Goldschnitt. Ohne Spuren älterer Besitzer. Im vorderen Deckel ein Kupferstich mit dem Wappenexlibris des Right Honorable William Henry Smith. Der Text fol. 1: Kalender fol. 7: leer/ fol. 7v: textloses Bild. fol. 8: Perikopen: Johannes (fol. 8), Lukas (fol. 9), Matthäus (fol. 10), Markus (fol. 11v).
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fol. 12: Mariengebete, für einen Mann konzipiert: Obsecro te (fol. 12), O intemerata, für Maria und Johannes (fol. 15). fol. 17: leer/ fol. 17v: textloses Bild. fol. 18: Marien-Of fizium: Matutin (fol. 18, mit Psalmengruppen für die Wochentage), Laudes (fol. 34), Prim (fol. 42), Terz (fol. 46), Sext (fol. 49), Non (fol. 52), Vesper (fol. 55), fol. 59v leer, Komplet (fol. 60), fol. 63v leer. fol. 64: leer/ fol. 64v: textloses Bild. fol. 65: Horen in stark verkürzter Form: des Heiligen Kreuzes (fol. 65, fol. 67v leer), des Heiligen Geist es (fol. 68); fol. 70v leer. fol. 71: leer/ fol. 71v: textloses Bild. fol. 72: Bußpsalmen mit Litanei (fol. 80v). fol. 85: leer/ fol. 85v: textloses Bild. fol. 86: To ten-Of fi zi um: Vesper (fol. 86), die anderen Stunden nicht markiert: Matutin (fol. 91v), Laudes (fol. 107), fol. 117v leer. fol. 118: Gebete in französischer Sprache: XV Joyes: Doulce dame (fol. 118), VII Reques tes: Doulx dieu (fol. 122). fol. 124v: Suffragien: Trinität (fol. 124v), Michael (fol. 125), Johannes der Täufer (fol. 125v), Peter und Paul (fol. 126), Sebastian (fol. 126v), Nikolaus (fol. 127), Antonius Abbas (fol. 127v), Anna (fol. 128), Magdalena (fol. 128v), Katharina (fol. 129), Margareta (fol. 129v), Genovefa (fol. 130), fol. 130v: leer. Schrift und Schriftdekor In diesem Buch treffen Charakterist ika verschiedener Perioden der Pariser Buchkunst aufeinander: Der Text ist in einer niedrigen Textura geschrieben und mit blauen Rubri ken versehen. Die Schrift steht nicht mehr in der großen Tradition strenger und damit oft schwer lesbarer Stilisierung, sondern erweist sich moderneren Formen gegenüber aufgeschlossen. Altem Brauch folgt der Buchstabendekor: Psalmenverse, durchweg noch am Zeilenbe ginn, eröffnen mit Blattgoldbuchstaben auf roten und blauen Flächen. Ganz der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verpflichtet ist der Dornblattdekor der größeren Initialen. Der Kalender ist zweispaltig angelegt und bietet in Pariser Tradition die französischen Angaben mit dem prächtigen Farbwechsel von Rot und Blau sowie den Fest en mit bom bierten Goldbuchstaben. Die Zusammenfassung der Monate auf jeweils einer Seite mit doppeltem Bildfeld über dem Text findet sich in Rouen und Paris bereits um 1470. Alle Textseiten sind mit Bordürenstreifen in der Höhe des Textspiegels ausgestattet. Glänzender Goldgrund trägt Blumen und Akanthus in der gewohnten Stilisierung. Bei
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den Kleinbildern werden die gleichen Bordüren als Klammer von außen um das Text feld herumgeführt und zum Falz hin durch eine Goldleiste geschlossen. Entsprechend gestaltet sind auch die Bordüren der Seiten mit Kopfbildern über Incipits, nun aber mit einzelnen Vögeln belebt. Schon von der Kollationierung her treten beim Buchblock zwei Phasen der Arbeit zu Tage: Zunächst war der Band mit einem hierarchischen Gefüge konzipiert: Kleinbilder sind für drei der Perikopen ebenso wie für die Mariengebete und die Suffragien vorge sehen; Kopfbilder über fünf Zeilen Text eröffnen die bedeutenderen Textanfänge und sind dabei so angelegt, daß je zwei Bilder in den Bordüren fünf Incipits hervorheben: die Johannes-Perikope sowie Marien-Matutin, Kreuz-Matutin, Bußpsalmen und To ten-Vesp er. Nur an diesen fünf Stellen hat man dann Blätter eingeschaltet, die auf Recto leer blieben und auf Verso Vollbilder zeigen. Da die Vermählung Mariä auf diese Wei se doppelt dargestellt ist, wird schon von der Grundkonzeption her deutlich, daß diese prächtigen Gegenüberstellungen von Vollbild und Kopfbild erst einem Planwechsel ver dankt werden. Während der Buchblock somit bereits im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts angelegt und weitgehend vollendet war, gehen die fünf textlosen Vollbilder sicher aus einer spä teren Planstufe hervor; sie sind mit breiten goldenen Rahmen versehen ohne architek tonische Inst rumentierung und erst recht ohne Bordüren; das geschah zumindest nach 1504, wie der Rückbezug des Sündenfalls auf Dürers datierten Kupferstich mit Adam und Eva beweist. Die Bildfolge Kalender Am Kopf einer jeden Kolumne steht eine Miniatur, links das Monatsbild und rechts das Tierkreiszeichen, da die Sternzeichen in der Monatsmitte anfingen. Da die Sternzeichen auf der Erde bleiben, vereint man zuweilen den Landschaftsp rosp ekt; so steht neben der Kornernte im August die Jungfrau zwischen zwei aufgerichteten Korngarben. Die Monatsbilder folgen nicht ganz dem gewohnten Schema; dargestellt sind: ein Herr am Speisetisch, ein Greis am Kamin, das Trimmen der Weinstöcke, ein Falkner, ein jun ges Paar beim Ausritt, eine Frau bei der Schafschur, ein Schnitter mit der Sense, dem eine Frau zu trinken gebracht hat, Frau und Mann beim Sicheln des hohen Korns, die Aus saat (schon im September), die Weinkelter, der Schweinehirt im Wald, der Schlachter. Die Tierkreiszeichen richten sich nach der gewohnten Reihenfolge: Wassermann als nackter Knabe mit zwei Krügen, die Fische, der Widder, der Stier, die Zwillinge als ein nacktes Paar aus Mann und Frau beim Ringen, der rote Krebs schwebend vor der Land schaft, der Löwe, die Jungfrau zwischen zwei Korngarben, die Waage in einem leeren Raum mit monumentaler Architektur an der Balkendecke befest igt, der Skorpion, der Schütze als Kentaur, der Steinbock als Halbfigur aus einem Ammonshorn entspringend.
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In der Architektur der Außenbordüren bieten zwei Nischen Platz für kleine Szenen aus dem Heilsgeschehen oder einzelne Heilige, die z. B. im Februar durchgepaust und sei tenverkehrt nur mit anderen Attributen wiederholt werden. Im unteren Rand wird in der Breite des Textspiegels ein niedriges Bildfeld eingerichtet, in dem zwei einzelne Heilige zu sehen sind oder kleine Szenen entwickelt werden. Da der Heiligenkalender in zwei Kolumnen angelegt ist, aber nur außen und unten Platz für Bildchen ist, stellt die Reihen folge ein Problem dar. Nicht alle hier Dargestellten sind auch im Kalender verzeichnet. fol. 1: Januar: unten die Anbetung der Könige (6.1.); am Rand Darbringung im Tempel (irrtümlich zum 1.1., an dem die Beschneidung gefeiert wird), Paulus mit Schwert (Be kehrung, 25.1.). fol. 1v: Februar: unten Apollonia (eigentlich am 9.2.) und Matthias (24.2.); Darbrin gung im Tempel (durchgepaust vom Recto 2.2.), Petrus mit Schlüssel (Gewand und Buch durchgepaust von Paulus, 22.2.). fol. 2: März: unten Messe mit Host ienerhebung (ohne Gregorsvision, jedoch wohl für den Gregorstag 12.3.), Madonna mit Kind (irreführend zu Mariä Verkündigung, die hier als Nostre dame bezeichnet ist: 25.3.), Benediktinerabt. fol. 2v: April: unten Georgs Drachenkampf (23.4.), Markus mit dem Löwen in Schreib stube (25.4.), Opportuna als Benediktinerin mit einem festgebundenen Hahn (22.4.). fol. 3: Mai: unten ohne präzise Bestimmung ein Bischof und ein Apostel mit Kreuz; am Rand Jakobus (1.5.), Johannes der Evangelist mit dem vergifteten Kelch (6.5.). fol. 3v: Juni: unten Peter und Paul (29.6., nur mit s. pierre ausgewiesen), Bischof (Zuord nung unklar), Johannes der Täufer mit Lamm auf dem Buch (25.6.). fol. 4: Juli: unten Anna lehrt Maria das Lesen (28.7.), Magdalena mit Salbgefäß (22.7.), Jakobus (25.7.). fol. 4v: August: unten Lorenz (9.7.) und Bartholomäus (24.7.), Madonna mit Kind (irre führend zu Mariä Himmelfahrt, die hier als N(ost)re dame bezeichnet ist: 15.8.), Petrus mit päpstlicher Tiara (1.8.). fol. 5: September: unten Michaels Kampf mit dem Teufel (29.9.), Madonna mit Kind (ir reführend zur Mariengeburt, die hier als N(ost)re dame bezeichnet ist: 8.9.), Matthäus (21.9.). fol. 5v: Oktober: unten Enthauptung eines Apost els (wohl zu Simon und Juda 28.10.), Dionysius mit dem abgeschlagenen Kopf (9.10.), Lukas (18.10.). fol. 6: November: unten Alle Heiligen, von Andreas, Petrus, Johannes und Jakobus an geführt, ohne Frauen (1.11.), Katharina (25.11.), ein Bischof, wohl Martin (11.11.). fol. 6v: unten zu Weihnachten die Anbetung des Kindes (25.12.), Thronende Madonna mit Kind (irreführend zu Mariä Empfängnis, die wie der 25.3. als Nostre dame bezeich net ist: 8.12.), Thomas (21.12.).
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Perikopen und Mariengebete Jeder größeren Textgruppe ist jeweils ein textloses Vollbild auf Verso vorgeschaltet, des sen Recto leer bleibt. fol. 7v: Beim Sündenfall stehen Adam und Eva mit dem Baum der Erkenntnis in ihrer Mitte, um den sich der Schlangenleib Satans windet. Dessen menschlicher Oberkörper mit wallenden Locken erscheint in der Baumkrone, mit Fledermausflügeln ausgestattet. Dergestalt reicht das zwischen Mann und Frau unentschiedene Wesen eine der vielen goldenen Früchte hinab. Adam ist bereits im Begriff, aus Evas Hand eine solche Frucht entgegenzunehmen, in die noch nicht gebissen wurde. Er wird als Rückenfigur gesehen, wendet sein Haupt ins Profil und scheint bereits seine Nacktheit zu begreifen, indem sei ne Rechte das ohnehin für die Betrachter nicht sichtbare Geschlecht verdeckt. Eva hin gegen dreht sich aus dem en-face ins Profil, das Geschlecht von einem Schleier verhüllt. Die Figurengruppe variiert einen berühmten Kupferstich Dürers von 1504. Die Szene spielt aber anders als bei Dürer nicht bei den wilden Tieren des Paradieses, sondern in einer zivilisierten Landschaft, die auf Kopfhöhe des erst en Menschenpaares bereits eine turmbewehrte Stadtmauer zeigt. fol. 8: Die Bilder zu den Perikopen vertreten bewährte Pariser Tradition; die Attributs wesen sind durchweg in Gold-Camaïeu gemalt: Johannes auf Patmos (fol. 8) sitzt in ei ner weiten Landschaft und schreibt auf ein Spruchband, während der Adler von links ins Bild ragt. In der Bordüre wird rechts die Ölmarter und unten die recht seltene Einschiffung nach Patmos gezeigt. Die drei anderen Evangelisten sind in Kleinbildern als Kniestücke ge zeigt: Lukas (fol. 9) malt Maria, in Halbfigur als Annunziata oder Schmerzensmutter; der Stier ragt nur mit dem Kopf in die Miniatur. Matthäus (fol. 10), der einen Turban und, als gehöre er immer noch zu den Wechslern, eine Geldkatze trägt, dreht sich beim Schreiben zum Engel um, der ihm ein offenes Buch hinhält. Markus (fol. 11v) sitzt in einer zur Landschaft offenen Loggia und schreibt, während der Löwe zum Betrachter blickt. fol. 12: Auch die Mariengebete erhalten Kleinbilder mit Halbfiguren: Zum Obsecro te die Muttergottes als Fürbitterin (fol. 12), wie sie in Diptychen aus Tours gemeinsam mit dem Erlöser dargestellt wurde (so in Tafeln vom Meister des Münchner Boccaccio, die für das dortige Stadtmuseum erworben wurden und dort als Werke Jean Bourdichons gelten. Da sich das O intemerata an beide richtet, sind Maria und Johannes (fol. 15) ge zeigt, zwischen ihnen das Kreuz, ohne Christi Leib als Erinnerung an das Geschehen von Golgatha. Das Marien-Of fizium fol. 17v: Die Vermählung Mariens wird wie in Fouquets Stundenbuch des Étienne Che fizium am Ende der valier (Chantilly, Musée Condé), wo das Bild jedoch das Advents-Of Marienstunden eröffnete, vor einer monumentalen Architektur vollzogen, in die drei
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rundbogige Portale führen. Renaissance-Formen beherrschen die große Struktur; go tisch instrumentiert sind hingegen die beiden kleinen Nischen, die das Hauptportal in Höhe des Abschlußbogens flankieren. Darin stehen steinfarbene Figuren mit roten Män teln. Durch die zentrale Tür blickt man auf den Altar, in dessen niedrigem Retabel ein Gottesbild vage erkennbar wird; darüber hängt ein rundes Ziborium mit einer Lampe. Viele Menschen drängen sich im dichten Figurenrelief vorn um Joseph und Maria, de ren Hände von einem greisen Priester zusammengeführt werden. Joseph, ein Mann in bestem Alter, wird von Männern begleitet; mit offenem Haar begleiten Jungfrauen die Jungfrau Maria. Nach diesem ungewohnten Eröffnungsbild entspricht der Bilderzyklus dem Pariser Brauch; nur die Matutin wird wie die Perikopen durch zwei Szenen in der Bordüre vor den anderen Bildseiten ausgezeichnet; dort war in älterem Stil bereits die Vermählung Mariens gezeigt worden, die dann wohl fast eine Generation später als Vollbild noch ein mal gemalt wurde. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 18) spielt in einem sakralen Raum, der rechts hinten in einer kleinen Apsis mit Muschelkalotte endet: Maria sitzt vorn links, ihr Ge betbuch auf dem Schoß, die Hände gefaltet; der Engel ist von rechts gekommen und niedergekniet, die Arme gekreuzt. Anders als Fouquets entsprechende Komposition für Étienne Chevalier (Chantilly) spielt die Szene in einem knapp bemessenen Raum. Des sen nach rechts fluchtende Seitenwand ist mit einer grünen und einer blauen Säule be setzt. Dem Maler ist die erstaunliche Idee gekommen, den Wandabschnitt hinter der Jungfrau ganz zu vergolden, als gälten hier Prinzipien, die Millard Meiss in seinem Auf satz „Light as Form and Symbol in Some Fifteenth Century Paintings“ erläutert hat (Art Bulletin 27, 1945, S. 175-181). In der Außenbordüre wird beim Tempelgang Mariens das junge Mädchen von einem Priest er in Empfang genommen, der eine weiße Mitra trägt, vor einem Altar mit golde nem Retabel. Darunter wird die Vermählung Mariens gezeigt, ähnlich, aber in anderen Farben als das Vollbild auf eingeschaltetem Blatt gegenüber. Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 34) wird Maria von der betagten Elisabeth begrüßt, die ihr offenbar aus dem teilweise befestigten Gehöft auf dem felsigen Hügel rechts hinten entgegengekommen ist und nun mit beiden Händen den Leib der Schwan geren betast et, während die Jungfrau ihre Linke zu Elisabeth ausstreckt. Dem leuchten den Blau von Marias Mantel über dem grauen Kleid begegnet das Gold von Elisabeths Oberkleid, unter dem ein weißer Rock sichtbar wird. Dieser Farbklang wirkt grandios in einer sonst nur von hellbraunen und grünen Tönen bestimmten Landschaft unter zart blauem Himmel. Rot ist aus der Miniatur verbannt. Die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 42) hat nichts mit dem Weihnachtsbild im Ka lender auf fol. 6v gemein: Der Stall öffnet sich nach rechts; vor den durch einen Zaun zurückgehaltenen Ochs und Esel kniet Maria, betend zum nackten Knaben geneigt, dessen goldene Strahlen dem blauen Mantelzipfel ein kurioses Streifenmust er geben.
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Vor dem Pfost en der Ruine von Davids Palast kniet Joseph in zartem Altrosa und hebt überrascht die Hände, in einer Geste, die zum Gebet eines Doppeloranten wird. Er ist jung, mit braunem Haar. Auffällig ist der steinerne Bogen rechts unten; Rogier van der Weyden hatte schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts solche verschütteten Gewölbe unter der Weihnachtsszene im Berliner Bladelin-Altar angedeutet. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 46) spielt vor einer Stadtkulisse in der Ferne unterhalb eines Hügels rechts, auf dem ein Gehöft steht. Die Schafherde drängt sich im Mittelgrund, davor ruht der Hund eingerollt. Derweil reagieren drei Hirten in un terschiedlicher Weise auf die Botschaft des Engels, der als Halbfigur im Bogen oben erscheint, mit leuchtend grünen Flügeln vor goldenem Grund, in Wolken, die ihrer seits goldene Strahlen aussenden. Ein junger Mann, der im Profil links unten sitzt, schützt die Augen vor dem himmlischen Licht; hinter ihm hat sich ein älterer Hirte mit fassungslos erhobenen Händen aufgerichtet; rechts sitzt ein dritter, die Hände zum Gebet gefügt. Das Spruchband des Engels blieb ebenso leer wie die Bänder der Evan gelisten. Die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 49) spielt nicht in demselben Stall wie das Weih nachtsbild: Nun wird eine Holzkonstruktion gezeigt, ebenfalls schadhaft, aber ohne Spuren monumentaler Vergangenheit. Die Szene spielt vor einer Wand, die von links steil in die Tiefe führt, wo der Blick durch ein Tor zur Landschaft mit Stadtprosp ekt in die Höhe führt. Links sitzt Maria, wieder in grauem Kleid unter blauem Mantel; doch über ihre Knie ist ein grünes Tuch gebreitet, von derselben Art wie über dem Altar bei Marias Tempelgang auf fol. 18! Die Muttergottes wird mithin als der Altar verstanden, auf dem der älteste König, in goldenem Gewand kniend, das Fleisch gewordene Wort verehrt. Hinter Maria drängt sich Joseph, der schon das Geschenk des ältest en Königs in seinen Händen hält, zusammen mit Ochs und Esel; hinten sprechen die beiden jüngeren Könige miteinander; einer von ihnen hat einen schweren schwarzen Säbel am Gürtel. Bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 52) hat der greise Simeon, mit goldener Mitra und Nimbus unter einem innen mit Grün, außen mit Altrosa ausgeschlagenen Baldachin am kreisrunden Altar, der wie ein monumentaler Kelch gestaltet ist, auf sei nen verdeckten Händen den nackten Christ usknaben empfangen. Maria kniet rechts vorn, während der hier geradezu jugendlich wirkende Joseph mit einer großen bren nenden Kerze und dem Taubenkörbchen zwischen beiden im Hintergrund steht. Eine zweite Frau mit prachtvollem Kopfputz hat Maria begleitet und kniet hinter ihr in der offenen Tür. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 55) ist die Heilige Familie von links ge kommen; der Esel trottet mit gesenktem Kopf; Maria sitzt im Damensitz und schmiegt ihre Wange an die des Knaben, der, in Gold gekleidet, mit seinem linken Ärmchen ih ren Mantelsaum faßt. Joseph, der hinter dem Eselskopf en face erscheint, wendet sich, ebenfalls mit geneigtem Haupt zu ihnen um. Ein Wäldchen hinterfängt diese Gruppe und verstärkt den intimen Charakter; nur am rechten Bildrand wird ein knapper Blick in die bläuliche Bildtiefe gewährt.
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Auch die Marienkrönung zur Komplet (fol. 60) kommt nicht ohne das Blau der Ferne aus, spielt also auf Erden und nicht im Himmel. Auf der mit großen Fliesen bedeckten Terrasse eines Palasts, dessen Mauern rechts aufragen, steht Gottes Thron, wie der Bal dachin der Darbringung im Tempel innen mit Grün und außen mit Altrosa. Links kniet Maria, größer als ihr thronender Sohn, der ein wenig in die Tiefe gerückt ist. Ein Engel mit gelben, außen grünen Flügeln setzt ihr die Krone aufs Haupt; dadurch wird sie als Königin, durch die Tiara aber Christ us als Papst definiert. Die Horen Da schon die Texte der nur jeweils vier Seiten langen Horen bis auf die Hymnen stark abgekürzt sind, mußten zunächst die gewohnten Erkennungsbilder genügen; doch auch diese Partie erhielt nachträglich ein textloses Bild auf einem vorgeschalteten Blatt. Daß die beiden Bilder dieser kleinen Textgruppe eine Einheit bilden sollten, die zudem hier archisch gestaffelt ist, zeigt sich an der Hervorhebung der Kreuz-Matutin durch zwei Bordürenbilder. fol. 64v: Mit monumentalen Figuren wird die Geißelung Christ i in einer Art Tempel ge zeigt: An einen grünen Säulenschaft ist Christ us gebunden, auf der Stirn bereits die blu tigen Spuren der nun wieder abgenommenen Dornenkrone. Derbe Gesellen, zwei links, einer rechts, schlagen auf ihn ein; sie sind etwas bunter gekleidet als in diesem Buch sonst üblich: Rot-gelb gestreiftes Wams bei dem vorderen links und entsprechend gefärbtes Beinkleid beim rechten erinnern auf eine sicher unpassende Weise an die Livree Lud wigs XII . von Frankreich. Die Kreuzigung zur Matutin des Heiligen Kreuzes (fol. 65) stellt wie so oft Maria und den Zenturio unter dem Kreuz als Hauptfiguren einander gegenüber: Die Muttergottes wendet sich im Schmerz ab, wird von Johannes gehalten und von zwei Frauen begleitet. Der Hauptmann trägt goldene Rüst ung und wie der Evangelist Matthäus einen präch tigen Turban. Er blickt vom Kreuz weg, wie er dem hinter ihm drängenden Soldaten den Gottessohn weist. Vor changierendem Himmel, der am Horizont rötlich beginnt, in Gelb und dann Weiß umschlägt, ehe er das Blau im Bogenabschluß erreicht, wird auf Kopfhöhe der Figuren in grauem Dunst eine Stadtkulisse ausgebreitet. Im unteren Randstreifen wird die Kreuztragung, mit nach links schreitenden Figuren gezeigt, die aus dem Stadttor rechts kommen; ein Soldat schreitet voraus; Johannes, Ma ria und wohl Magdalena folgen. Eine weitere Gestalt könnte Simon von Kyrene sein; so recht ans Kreuz fassen kann der aber nicht, weil der Kreuzesstamm hier altertümlich nach vorne weist. Nach dieser Szene, die dem Hauptbild vorausgeht, wird im Außenrand der Abstieg in die Vorhölle geschildert: Aus einem riesigen Maul mit stilisierten Zähnen, dessen Tiefe glühend rot ist, steigen Adam und hinter ihm Eva auf zu Christ us, der mit seinem Kreuzstab den Unterkiefer des Höllenmauls zu Boden drückt. Das Pfingstwunder zur Matutin des Heiligen Geist es (fol. 68) spielt in einem palastähn lichen Raum, in dem Maria vor ihrem Betpult kniet. Petrus nimmt zu ihrer Linken mit
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untergeschlagenen Armen die mächtigst e Position in der nach links gerichteten Kom position ein. Von rechts, wo man ins Freie blickt, ist eine große Schar von Frommen ge kommen, nur einer von ihnen sieht noch wie ein Apost el aus. Sie knien alle in Isokephalie und blicken auf zur Taube, die vor dunklerem Blau mit ihrem leuchtenden Lichtschein, der nach außen rötlich flammt, in einer Öffnung links oben erschienen ist. Davidszenen zu den Bußpsalmen Erst zu Zeiten, als gedruckte Stundenbücher mit Graphiken des Meisters der Apoka lypsenrose und dann in Pichores Stil verwendet wurden, tauchen Bildfolgen aus der Ge schichte Davids auf, deren Gesamtzahl im Stundenbuch gar nicht recht einsetzbar war, weil dort bestenfalls ein Bildpaar geschaltet werden konnte. So hat man die Geschich te von Davids Ehebruch mit Bathseba und die Ermordung von deren Ehemann Urias, der als Hethiter für den König kämpfte, bis hin zur Ermahnung durch Nathan und zur Buße offenbar so angelegt, daß jeweils ausgewählt werden konnte, was dann im Einzel fall eingesetzt wurde. fol. 71v: Stilist isch das fortschrittlichste Bild ist Bathsebas Bad im Garten: Vor einer von links vorn in die Bildtiefe verkürzten Häuserfront, aus der König David schaut, steht ein Stuhl für die unbekleidete Bathseba, die nur eine schwarze Haube trägt, wie sie von Anne de Bretagne bei Hofe eingeführt und auch von Louise de Savoie, der Mutter Franz’ I. getragen wurde. Mit ähnlichem Kopfputz versehen sind die beiden Dienerinnen, de ren eine mit gekreuzten Armen neben Bathseba steht und zu ihr blickt, während die an dere auf dem Boden hockt und den rechten Fuß der Schönen trocknet. Derweil kommt aus der Tiefe des in kleine Rabatten aufgeteilten Gartens ein junger Diener; er hat den Hut gezückt und hält in seiner Linken Davids Brief, der Bathseba auffordert, zu ihm zu kommen. Der Uriasbrief als Kopfminiatur zu den Bußpsalmen (fol. 72) schafft eine bemer kenswerte Analogie zur gegenüberliegenden Miniatur. In goldener Rüst ung kniet Bath sebas Ehemann, der Hethiter Urias, vor Davids Thron und nimmt jenes Schreiben entgegen, das den Feldherrn Joas auffordert, ihn selbst so aufzustellen, daß er beim nächst en Kampf fällt. Im Hintergrund vor monumentaler Architektur verharren vier Ratsherren. Während im unteren Rand mit David und Goliath wieder eine vorausgehende Szene ge zeigt wird, bietet das Bild im Außenrand die Folge, Goliaths Tod: Der Riese stürzt, vom Stein des Hirtenknaben auf der Stirn getroffen und hebt dabei noch jenes Schwert, mit dem ihm David dann das Haupt abschlagen wird. Rechts hingegen ist Davids Buße vor aufgetürmten Felsen gezeigt. fizium Bilder zum Toten-Of Wie in den meist en Stundenbüchern genügt es, die Toten-Vesp er mit einer Bildseite aus zustatten; die ist wie die übrigen Haupt-Inicpits mit zwei Randszenen versehen.
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fol. 85v: Der Reiche in der Hölle gehört zu einer Bildfolge, die ebenfalls erst um 1500 in französischen Stundenbüchern auftaucht; man hielt zu diesem biblischen Gleichnis, das bereits am romanischen Portal von Moissac dargestellt ist, wie zur Geschichte von David und Bathseba mehr Szenen vor, als im Stundenbuch Platz fanden. Hier wird gezeigt, wie bunte Teufel in einer Höllengrube, aus der man dennoch weit übers Land blicken kann, einen angeketteten Nackten peinigen und über das Feuer halten. Es ist der Reiche, der den armen Lazarus beim Gastmahl verjagen ließ; nun weist er in seinem unerträglichen Durst auf seinen Mund, wie er zum Himmel aufblickt, wo die zum Säugling gewandel te Seele des armen Lazarus auf Abrahams Arm erscheint. Das Jüngst e Gericht ist ein seltenes Bildthema zur Toten-Vesp er (fol. 86). In früheren Generationen, vor allem um 1400, zeigte man den Weltenrichter selbst lieber zu den Bußpsalmen. Hier thront er als Schmerzensmann in rotem Mantel auf dem Regenbo gen; seine Füße ruhen auf der Kugel, in der die Erde noch als Scheibe mit dem Him melsgewölbe abgebildet ist. Nackt tauchen die Verstorbenen aus ihren Gräbern auf; diesmal werden Frauen bevorzugt; sie erscheinen unten zur Rechten (also links) im Ge bet zum Richter gewendet, während die Männer rechts Schlimmes befürchtend sich ab wenden. Da die Lesungen der Toten-Matutin aus dem entsprechenden Bibelbuch stammen, hat man gegen 1500 das Of fizium immer häufiger mit Hiobsszenen eröffnet. Meist stellte man den Dulder auf dem Dung im Gespräch mit seinen Freunden dar; so auch im Bre vier des Octovien de Saint-Gelais, (Nr. 51, fol. 428v). In unserem Stundenbuch wurden zwei nicht sehr übliche Motive gewählt: Der nackte Hiob von zwei Teufeln geschlagen im unteren Randstreifen und der ebenso nackte Hiob im Gebet zu Gott im äußeren Rand. Die beiden Gebete in französischer Sprache Die in den Jahrzehnten nach 1400 überaus beliebten Gebete, mit denen die Volksspra che Einzug ins Stundenbuch nahm, wurden meist mit einer Madonna und einem Bild von Gottes Herrlichkeit eröffnet. Beide sind hier auf neue Weise behandelt: Die Madonna in der Glorie zu den XV Freuden Marias (fol. 118) steht in der Bildtradi tion des Apokalyptischen Weibes, das mit seinem Sohn flieht. Die Gestalt ist dem Of fenbarungstext zufolge in die Sonne gekleidet und steht auf dem Mond. So erscheint sie hier vor goldenem Grund, der zum Kontur hin feuerrot wird, in einen dichten Wol kenkranz eingebettet. Maria steht wie manche Statue aus der Entstehungszeit unseres Buchs auf der silbernen Mondsichel und trägt dieselbe Gewandung wie sonst und dazu eine goldene Krone. Gegen den Brauch verstößt sehr viel stärker das Ecce homo zu den VII Klagen des Herrn (fol. 122): Bildquelle ist wohl eine Komposition aus Tours, die in einer Einzelminiatur von Jean Poyer im Pariser Musée Marmottan überliefert ist und die Pichore von Poyer an anderer Stelle noch genauer wiederholt hat (Leuchtendes Mittelalter VI , Nr. 75; Zöhl 2004, Abb. 244 und 245): Vor einem großen dunklen Torbogen steht der Schmerzens
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mann mit Dornenkrone im Purpurmantel, links von einem Soldaten geführt, der auf ei gentümliche Weise schmerzverzerrt sein Haupt neigt. Pilatus auf der anderen Seite weist auf Christ us und spricht die Worte, die man heute als Bildtitel verwendet: Ecce homo. Suffragien Kleinbilder von acht bis neun Zeilen Höhe geben Gelegenheit, die angesprochenen Heili gen in unterschiedlichem Zuschnitt zwischen Ganzfigur und Büst e zu zeigen. Die Text anfänge erhalten statt Initialen nur mit Gelb lavierte Versalien. Das Bild der Trinität (fol. 124v) folgt dem für Psalm 109 entwickelten Schema der bei den großen Gestalten in einer einheitlichen Mantelfarbe; Christ us ist hier barhäuptig mit der Blutspur der Dornenkrone; Gottvater trägt die Tiara. Michaels Kampf mit dem Teufel (fol. 125). Johannes der Täufer in der Einöde (fol. 125v) sitzend und auf eine Erscheinung des Lammes in goldenem Himmelssegment weisend. Peter und Paul in der Landschaft (fol. 126). Sebast ians Pfeilmarter (fol. 126v) mit einem Bogenschützen. Nikolaus und die drei Knaben im Bottich, die zu ihm aufschauen (fol. 127). Antonius Abbas mit dem Schweinchen vor der Einsiedelei (fol. 127v). Anna lehrt Maria lesen (fol. 128), von der Randminiatur auf fol. 4 abweichend. Magdalena mit dem Salbgefäß in der Landschaft (fol. 128v). Katharina, gekrönt, mit Schwert, Rad und Buch in der Landschaft (fol. 129). Margareta aus dem Drachenleib aufsteigend, im vergitter ten Kerker (fol. 129v). Genovefa mit der Kerze in der Landschaft (fol. 130), ohne Engel und Teufel. Zum Stil Das Buch ist völlig geprägt vom Stil Jean Pichores. Doch sind die ersten Bilder im Ka lender ohne Mühe von der Illuminierung des Buchblocks zu unterscheiden. Die Arbeit ist weniger sorgfältig, und bei gleichen Bildthemen weichen die Bildformeln ab; doch ver treten auch diese Malereien Pichores Werkstattstil. Mit dem Planwechsel wird auch ein Wechsel der Bildformen vollzogen: Während die Miniaturen im Buchblock gut zu den Graphiken vor allem der Oktav-Ausgabe von Pich ore und de Laistre aus dem Herbst 1504 passen, weisen die Vollbilder fortschrittlichere Züge auf. Das mag aber zugleich an die sonderbare Situation aus dem Jahr 1504 erin nern, als Pichore mit seinem Kompagnon im früher erschienenen Quartdruck bereits drei Vollbilder schaltete, die stilist isch entwickelter waren. Für die Anbetung der Köni ge konnte Caroline Zöhl in ihrem Buch von 2004 Rückbezüge auf Dürer nachweisen, wie sie auch beim erst en Vollbild unseres Stundenbuchs zu Tage treten: War es dort ein Holzschnitt aus Dürers Apokalypse, so ist es hier der berühmte Kupferstich des Nürn berger Meist ers aus dem Jahre 1504! Dennoch erweist sich die Malerei im Buchblock als kohärent; das erschwert die Einschät zung des zeitlichen Abstands ungemein. Am weitest en entwickelt, sicher auch vom The
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ma her, ist Bathsebas Bad. In der Weite des Gartenpanoramas kommen Assoziationen bereits zur Buchmalerei der 1520er Jahre auf. Es gehört zu den Wesenszügen der Arbeiten aus Jean Pichores Pariser Werkstatt, daß kaum ein Manuskript völlig einheitlich durchgestaltet wurde – mit Ausnahme der Tri umphe Petrarcas, fr. 594 der Nationalbibliothek, und einiger weniger Stundenbücher wie der Petites Heures d’Anne de Bretagne, latin 3027 ebenda, die das Problem der Unterschei dung von Pichore und dem Petrarca-Meist er innerhalb des Stilkreises aufwerfen. Zugleich trifft man wie im Brevier des Octovien de Saint-Gelais immer wieder auf um fangreichere Bildfolgen, die in sich einheitlich wirken. Dasselbe ist hier der Fall: Nach der relativen Buntheit der Bilder zum erst en Textblock folgen die Miniaturen zum Ma rien-Of fizium mit einem überraschend zurückgenommenen Kolorit, das auf Beigetönen, hellem Rosa, Grün, Rot und hellem Blau aufbaut und jeden kräftigen Farbton vermeidet. Dadurch entsteht ein sehr zarter Gesamteindruck, der sogar bei der in die Tiefe gestaffel ten Anbetung der Könige eine erstaunliche Flächenwirkung erzeugt. Darin scheint sich aber nicht die zwingende Eigenart eines einzelnen Mitarbeiters auszudrücken, sondern eher eine bewußte Stilisierung, also gleichsam ein Spiel mit den künstlerischen Mitteln. Innerhalb der Pichore-Werkstatt bietet sich gerade für diese Bilder ein Vergleich mit den Marien des Bandes von 1517 an, der die Chants royaux mit den Gemälden des Puy NotreDame der Kathedrale von Amiens wiedergibt (fr. 145). Die zierliche Führung der Locken und die Physiognomie der Muttergottes kehren in vielen Bildern am Anfang des Bandes wieder. Damit träfe man hier auf den wichtigst en Mitarbeiter in Pichores Werkstatt bei der von den Amienser Schöffen finanzierten Arbeit für Louise von Savoyen. Und man kommt wieder zu dem Punkt, daß wir es mit einer überaus vielstimmigen Gemeinschaft von Künstlern zu tun haben. Ein überaus bilderreiches Stundenbuch, das im Stil des 15. Jahrhunderts geschrie ben und noch mit Initialen im Dornblattdekor ausgestattet ist. Mit reichem Bor dürenschmuck, der hierarchisch aufgebaut ist, alle Textseiten berücksichtigt, den Kleinbildern einen vollen Dekor zubilligt und bei den Kopfminiaturen zwischen den einfacheren Incipits und fünf Haupttexten unterscheidet, die noch mit Randszenen ausgezeichnet werden. Grundsätzlich wäre dieser Dekor schon im 15. Jahrhundert möglich; doch könnte er auch für eine traditionsgebundene Haltung sprechen, die noch später möglich war. In einem zweiten Schritt erhielt die Handschrift fünf Voll bilder fortschrittlicherer Manier. Eines von ihnen geht auf Dürers Kupferstich mit Adam und Eva von 1504 zurück; ein anderes verbindet bereits mit dem Stil franzö sischer Buchmalerei, der erst in den 1520er Jahren voll entwickelt war. Die Malereien, die, wie der Kalender zeigt, nicht durchweg von einer Hand sind, ver binden sich in erst er Linie mit den Marienbildern für Louise von Savoyen, die 1518 von den Schöffen von Amiens bei Jean Pichore in Paris in Empfang genommen wur
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den. Damit gehört dieses Stundenbuch zum genuinen Bestand der Werke, die etwa zur gleichen Zeit Jean Pichores Atelier verlassen haben. Durch ihren Bilderreichtum und die komplexe Geschichte der Ausstattung zeichnet sich diese komplett und vorzüglich erhaltene Handschrift in einzigartiger Weise aus. Literatur Unser Katalog 74, 2014, Nr. II .
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55 Stundenbuch der Marguerite de Coësmes und des Charles d’Angennes: Mit 54 Bildern von Jean Coene
STUNDENBUCH. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, Rubriken, in Rot, mit einem Kalender in Braun, in brauner Textura, die ergänzten Partien in schwarzer Antiqua. Paris, um 1491 – 1500: Jean Coene (drei große Miniaturen aus der Zeit um 1520) 54 Bilder, davon 18 große Miniaturen über vier bis fünf Zeilen mit meis dreizeiligen weißen AkanthusInitialen auf braunrotem Fond und goldenen Binnenfeldern mit bun ten Früchten oder Vögeln: im ursprünglichen Buchblock 15 in Architekturrahmen und Vollbordüren, davon zwei blaugrundig mit goldenen Schriftbändern, die anderen mit Pin selgoldgrund, belebt von Vögeln, Insekten und kleinen, teils grotesken Tieren, drei mit Wappen; 36 achtzeilige Kleinbilder in doppelten Pinselgoldrahmen links, oben und rechts. Die drei ers später hingekommenen Bildseiten in goldenen Architekturrahmen mit Kar tuschen, die das Textfeld umschließen. Kleinere Initialen von Kalender bis Totenoffizium in Pinselgold auf Rot und Blau, in den Suffragien auf aus Rot und Blau zusammengesetzten Flächen: zweizeilig zu den Psalmenanfängen, einzeilig zu den Psalmenversen, die am Zeilenanfang stehen. In den Hinzufügungen (fol. 1-16v und 144-155v) die zweizeiligen Initialen in weißen Akanthusformen auf Gold mit Früchten. Zeilenfüller als rot- oder blaugrundige Flächen oder als Knotenstock. Versalien gelb laviert. 158 Blatt Pergament, vorne ein festes und ein fliegendes, hinten ein festes Vorsatz aus altem Pergament. Wegen der engen Bindung Kollationierung nicht möglich; der Buchblock ohne markante Zäsuren; selbst die Bußpsalmen im Lagenverlauf vermutlich recht einheitlich in Quaternionen angelegt. Eine vertikale Reklamante. Rot regliert, zu 19, im Kalender zu 33 Zeilen. Sedez (112 x 68 mm, Textspiegel: 68 x 42 mm). Vollständig und mit Ausnahme des Wappens auf fol. 34 unbeschnitten, sehr gut erhalten. Roter Maroquinband der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf drei erhabene Bünde; Rücken mit Goldprägung; Deckel mit doppelten Fileten gerahmt, in den Ecken zwei verschränkte C, in der Mitte ein Kranz aus zwei unterschiedlichen Zweigen. Reste von Schließen. Das Monogramm deutet darauf hin, daß das Manuskript wohl noch für Jahrzehnte im Besitz der Coësmes war. Das Buch ist ausdrücklich für eine MARGUER ITE DE COA ESMES bestimmt gewesen, enthält aber, wie gewohnt, auch rein männlich redigierte Formeln für das Herrengebet auf fol. 14v und für die beiden Mariengebete. Coësmes ist ein bretonisches Dorf im Arrondissement Rennes; als Familienwappen gilt der nach links aufgerichtete blaue Löwe mit roten Krallen und roter Zunge auf Gold, der jedoch meist ohne die hier gezeigte rote Krone auftritt. Am 10. Juli 1491 heiratete diese Marguerite de Coësmes Charles d’Angennes, Seigneur de Rambouillet. Dieser starb am 10. Februar 1514 und wurde in der Kirche von Rambouillet begraben (siehe Père Anselme, Histoire généalogique…, 3e Ed., Band II, 1726, S. 424).
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Im Allianzwappen tritt für Charles d’Angennes das silberne Andreaskreuz auf Schwarz hinzu: In ungewohnter Kombination schmücken drei Schilde den unteren Rand des Verkündigungsbildes, wo das Wappen des Mannes dem Allianzwappen gegenübersteht und vor beiden, weit unter den Rand der Bordüre hinausgreifend, der Schild von Coësmes steht; einzelne Schilde werden zu den Bußpsalmen und das Allianzwappen allein unter der Trinität wiederholt. Das Monogramm CM mit Liebesknoten, das im Randschmuck vorkommt, repräsentiert die Vornamen der Wappenträger. Nicht eindeutig zu verstehen ist der Eintrag S. MICHELLE,BOUCHER.M.CC. am unteren Rand von fol. 1. Er wirkt gedruckt, setzt mit einem wohl als sœur zu lesenden S. ein und gibt eine irreführende Jahreszahl an. 1907 war das Manuskript im Besitz von Edouard Rahir (Librairie Morgand), siehe dessen Bulletin Mensuel, N. S. 7, Nr. 350: 4.000,- Goldfrancs. Dort kaufte es der Bibliophile Pierre Bidoire, siehe seine Vente am 15. Juni 1927, Nr. 3: 12.000,- Francs, an Belin. Zuletzt französische Privatsammlung. Text Unfoliiertes Vorsatz: Gebet aus der Zeit um 1600. Dem Kalender vorgeschaltet sind Passionstexte, die wohl einer etwas späteren Arbeits phase entstammen. fol. 1: Johannespassion: Egressus est. fol. 9v: Passionshoren, gefolgt von dem Gebet Deus propitius esto mihi peccatori, also für einen Mann redigiert, nachdem der Buchblock für Marguerite de Coësmes bestimmt war (fol. 14v). fol. 16: Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos. fol. 17: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, jeder Monat auf einer Seite, Heiligentage in Braun, Festtage in blassem Rot, Goldene Zahl und Sonntagsbuch staben A rot, Sonntagsbuchstaben bg braun. Die Heiligenauswahl unspezifisch. fol. 23: Perikopen: Johannes (fol. 23), Lukas (fol. 24v), Matthäus (fol. 25v) und Markus (fol. 27). fol. 28: Mariengebete, für einen Mann redigiert, obwohl diese Partie wohl für Margue rite de Coësmes bestimmt war: Obsecro te (fol. 28), O intemerata (fol. 31). fol. 33v: MargaretenSuffragium. fol. 34: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom, mit eingeschalteten Horen von Hei lig Kreuz und Heilig Geis: Matutin (fol. 34), Laudes (fol. 45), Matutin von Heilig-Kreuz (fol. 55), Matutin von Heilig Geist (fol. 56v), Prim (fol. 58), Terz (fol. 62), Sext (fol. 66), Non (fol. 69v), Vesper (fol. 73), Komplet (fol. 79v). fol. 83v: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 93); die Heiligenauswahl unspezifisch. fol. 96: Totenoffizium: Vesper (fol. 96), Matutin, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 99v), Laudes, mit einer Rubrik hervorgehoben (fol. 115).
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fol. 122: Suffragien: Trinität (fol. 122), Gottvater (fol. 122v), Sohn (fol. 123v), Heiliger Geist (fol. 124), Salve sancta facies (fol. 124v), Stabat mater (fol. 125v), Mariä Empfängnis (fol. 127), Michael (fol. 128), Johannes der Täufer (fol. 128v), Johannes der Evangelist (fol. 129), Petrus und Paulus (fol. 129v), Jakobus (fol. 130), Alle Heiligen (fol. 130v), Stephanus (fol. 131), Laurentius (fol. 131v), Christophorus (fol. 132), Sebastian (fol. 133), Rochus (fol. 133v), Leobin (fol. 134), Antonius Abbas (fol. 135), Hieronymus (fol. 135v), Fiacrius (fol. 136), Ambrosius (fol. 136v), Augustinus (fol. 137), Anna (fol. 137v), Magdalena (fol. 138v), Katharina (fol. 139), Barbara (fol. 139v), Apollonia (fol. 140), Genovefa (fol. 140v), Schwestern Mariens (fol. 141v), Alle Heiligen (fol. 143). fol. 144v: Sieben Gebete des heiligen Gregor: Adoro te in crucem pendentem. fol. 146v: Verschiedene Gebete: Fünf Gebete zu den Leiden Mariens: Oratio prima: Mediatrix hominum et fons vivus; Oratio secunda: Auxiliatrix dei; Oratio tertia: Reparatrix debilium; Oratio quarta: Illuminatrix caecorum; Oratio quinta: Alleviatrix peccatorum. Gebet, das vor der Beichte zu sprechen ist: Per sanctorum angelorum (fol. 150), Gebet für die vergessenen Seelen: Miserere pie iesu super acerbissimam passionem tuam (fol. 150v). fol. 152: Gebet für die Versorbenen (Prosa de deffunctis): Panguentibus in purgatorio. fol. 153: Gebet der Sieben Schmerzen Mariens: Ave dulcis mater christi. fol. 158v: Textende. Schrift und Schriftdekor Der Grundbestand des Buches für Marguerite de Coësmes wurde in einer niedrigen braunen Textura geschrieben und mit hellroter Tinte rubriziert. Die kleineren Zier buchstaben sind durchweg in Pinselgold ausgeführt. Vom Kalender bis zum Totenof zium stehen einzeilige wie zweizeilige Initialen auf abwechselnd braunroten und blauen Gründen; in den Sufragien sind beide Farben für zweizeilige Initialen nebeneinander eingesetzt, diagonal von links unten nach rechts oben getrennt. Die beiden Lagen vor dem Kalender sind ebenso wie die Texte von fol. 144v an in der erst um 1520 allgemein verbreiteten Antiqua geschrieben. Weiße Initialen, die grau modelliert werden, stehen nun auf Pinselgold. Der Verzicht auf Randschmuck zum Text gilt für alle Arbeitsphasen. Alle kleinen Bilder gehören zum Buchblock; sie bauen auf einer schwarzen Grundlinie auf und sind an den Seiten und oben mit getreppt zu verstehenden goldenen Leisten ge rahmt. Die Kopfminiaturen stehen über vier, bei den Bußpsalmen und dem Totenof zium fünf Zeilen Text. 15 davon gehören zum Buchblock; dort erhalten meist dreizei lige, seltener zweizeilige Initialen weiße Buchstabenkörper auf braunrotem Grund mit einem Binnenfeld, das auf Pinselgold meist Blüten, seltener einen Vogel, einmal einen Frosch zeigt. Die Bildfelder werden von Säulen und einem Bogen gerahmt; von dieser Rahmung ab gesetzt sind die Bordüren, die durch Tiere oder Grotesken belebt sind. In der Regel ist
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Goldgrund mit einem Bodenstreifen verwendet; zweimal jedoch, zur KreuzMatutin und den Bußpsalmen, sorgen breite goldene Spruchbänder auf blauem Grund für eine mo dernere Wirkung. Der Sonderstellung der Sufragien entspricht, daß das Trinitätsbild eine stabilere Rahmenarchitektur und eine Bordüre erhält, die mit krautigem Akanthus, jedoch mit den sonst gültigen Wappen auf wartet. In den später hinzugefügten Partien erscheinen drei Bildseiten in Architekturrahmen, mit dem Incipit in Kartuschen. Damit repräsentiert das Layout zwei Phasen der Pariser Buchkunst, die für die Zeit um 1500 und die Jahre um 1520 charakteristisch sind. Bildfolge fol. 1: In einer RenaissanceArchitektur für die ganze Seite, vor die illusionistisch das Incipit, von einer Kartusche gerahmt, geblendet ist, eröfnet die Passion nach Johannes mit Chrisus am Ölberg. Der Tag ist schon angebrochen, während der Heiland betend gen Himmel blickt und die drei Lieblingsjünger schlafend zu seinen Füßen liegen. Durch das Tor im Hintergrund sind bereits die Soldaten in den Garten Gethsemane gedrun gen; sie sind in dunklem Camaïeu dargestellt. fol. 23: Die Perikopen eröfnen mit dem jugendlichen Johannes auf Patmos (fol. 23). Während der Adler das Tintenfaß im Schnabel hält, blickt der Evangelist von seinem Schriftband auf und wendet die Augen zum Himmel, wo sich ihm das siebenköpfige Un geheuer aus seiner apokalyptischen Vision zeigt. Für die drei folgenden Perikopen und Mariengebete genügen achtzeilige Kleinbilder mit Halbfiguren: Alle drei Evangelisten tragen Hüte mit unterschiedlichen Krempen; sie schreiben auf lange Schriftrollen, deren oberer Teil über die schrägen Schriftpulte hin abfällt. Unter einem runden Baldachin, in dessen blauem Tuch kreisförmig ausstrahlend eine goldene Sonne erscheint, die an den Thronbaldachin Karls VII . im Louvre gemahnt, neigt sich der greise Lukas (fol. 24v) nach rechts, vom Stier begleitet, vor einer Renais sancewand. Matthäus (fol. 25v) schreibt vor einer grauen Wand unter purpurnem Bal dachin, während der Engel links steht und ihm ein geöfnetes Buch präsentiert. Markus (fol. 27), ein bartloser junger Mann, ist nach rechts gewandt, vor rosafarbener Draperie und Renaissancedekor, mit dem Löwen rechts vorn, der zu ihm nach oben äugt. Vor mit goldenen Flammen besetztem rosafarbenen Ehrentuch wird die gekrönte Maria mit Kind (fol. 28) gezeigt, der das Jesuskind eine weiße Blume reicht. Eng drängen sich bei der Pietà (fol. 31) von links Johannes mit einer weiteren Trauernden und von rechts Maria Magdalena, am Salbtopf erkennbar, zur Schmerzensmutter mit dem Sohn unter das Kreuz, an dem zwei Leitern lehnen. fol. 33v: Sufragien folgen in Pariser Stundenbüchern so gut wie immer dem Totenof zium am Ende des Bandes, wo sich auch in diesem Manuskript ein großer Block solcher Texte findet; in der Normandie stehen sie hingegen bevorzugt zwischen Laudes und Prim des Marienofziums. Gegen beide Bräuche wird das MargaretenSufragium hier dem Marienofzium vorangestellt, um die Namenspatronin der Dame hervorzuheben,
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für die das Buch bestimmt war: Eine Kopfminiatur in Vollbordüre zeigt Margarete, die aus dem Drachen seigt. Siegreich steigt die Heilige aus dem Untier hervor und richtet sich betend nach links zu den goldenen Lichtstrahlen, die durch die großen vergitterten Bögen fallen und ihren Kerker zu einer Art RenaissanceLoggia machen. Vor dem Gold grund der Bordüre fehlt das Monogramm CM; doch kräuselt sich eine blaue Banderole mit ihrem Namen: marguer ite de coaesmes ist dort in goldenen Lettern zu lesen. fol. 35: Ein bezauberndes Bild der Verkündigung (fol. 35) eröfnet das Marienofzium: Links, unter einem runden ZeltBaldachin, dessen Tuch sich wie durch Zauber öfnet, da keine Hand oder Stange die Bahnen hochhält, hockt Maria am Boden, während von rechts der Engel mit erhobenem Lilienzepter weisend vor ihr in die Knie sinkt. Eine un gewöhnliche Erscheinung Gottes, bartlos, aber mit Kreuznimbus, segnet die Taube des Heiligen Geistes, die gerade durch das Fenster des palastartigen Baus fliegt, in dem die Jungfrau weilt; vermutlich ist mit dem Gott der Heilige Geist gemeint, der somit selbst seine Taube zu Maria sendet. In der Bordüre sind nicht nur die VornamenInitialen C und M mit Liebesknoten zu se hen, sondern drei Wappenschilde, ein silbernes Andreaskreuz auf Schwarz (Angennes) und der nach links aufgerichtete blaue Löwe auf Gold von Coësmes, in ungewohnter Weise durch einen weit ausgreifenden Liebesknoten verbunden. Dem Schild mit dem Andreaskreuz der Angennes antwortet rechts ein Allianzwappen, während der Löwen schild unter beiden mittig steht und weit nach unten über den Bordürenrand hinaus greift. Bei der Heimsuchung (fol. 45) zu den Laudes tritt Maria von links auf die Base Elisabeth zu, die demütig kniend nach der Hand der werdenden Gottesmutter greift. Die Greisin ist aus dem stattlichen Haus rechts oben herabgestiegen, um Maria entgegenzugehen. Im kleinen Format des Manuskripts entwickelt die Kreuzigung (fol. 55) zu den Heilig KreuzHoren eine erstaunliche Figurendichte: Am Fuß des Kreuzes kniet Maria Mag dalena, unter den hoch oben aufgespannten blutenden Armen Christi trauern Maria und Johannes. Hinter ihnen hat sich eine ganze Heerschar, teils beritten, aufgestellt und zahlreiche Lanzen gen Himmel gerichtet; einer von ihnen, links hinter dem Kreuz, deu tet mit seiner Hand so, als sei er der Zenturio. Seine ungewohnte Position dürfte ebenso wie die Einrichtung der Isokephalie in entfernter Nachfolge von Jean Fouquets berühm ter Kreuzigungsminiatur für Étienne Chevalier stehen. Durch die blaugrundige Bordüre läuft eine Banderole um die goldenen Akanthusranken mit Fürbitten, die sich an Jesus und Maria richten: iesvs naZarenvs rex iudeorvm miser ere noBis und sancta maria mater dei memento mei. amen. Ein dicker grüner Frosch besetzt die Initiale. Beim Pfingswunder (fol. 56v) zu den Horen von Heilig Geist kniet vorn die Gottesmut ter vor ihrem Betpult, nach rechts gewandt, während hinter ihr vor grünem Ehrentuch zwei Apostelscharen, von der Mitte nach außen an Größe zunehmend, einander sym metrisch gegenübergestellt sind. Petrus und Johannes sind rechts zu erkennen. Betend blicken alle hoch zur Taube des Heiligen Geistes, die flammende Strahlen aussendet.
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In der Initiale erscheint die Taube ein zweites Mal, während sich in der Bordüre ein Bär mit Halsband die Pfoten leckt. Die Prim des Marienofziums eröfnet die Geburt Chrisi (fol. 58). Unter dem schad haften Dach des Stalls ist ein rosafarbener Baldachin gespannt. Maria hat das Jesuskind ins kleine Oval einer geflochtenen Krippe gelegt, um es anzubeten. Joseph hat den Hut abgelegt, aber das Haupt noch von einem Tuch bedeckt; so kniet er rechts betend, wäh rend der Esel sanft am improvisierten Bettchen des nackten Knaben schnuppert und der Ochse aus dem Bild schaut. Über die aus groben Brettern gezimmerte und oben abbre chende Wand blicken zwei Hirten, viel zu klein im Vergleich zu den Hauptfiguren vorn. Bei der Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 62) erscheint ein goldener Engel als Halbfigur im Himmel, um den Hirten die Geburt des Heilands zu verkünden. Zwei Männer links und rechts beugen die Knie; ein dritter links schützt seine Augen vor dem Glanz der Himmelserscheinung, während sich ihre Herde beim Weiden davon nicht stö ren läßt. Man lagert an einer Wasserstelle, nicht weit von dörflichen Häusern im Mit telgrund. Bei der Sext hat sich der Stall der Heiligen Familie zur Anbetung der Könige (fol. 66) nicht verändert; doch ist weder für Joseph noch gar für Ochs und Esel Platz: Maria sitzt nun unter dem Baldachin; sie hat den Sohn so auf ihren Schoß gesetzt, daß er die Gaben der Könige entgegennehmen kann. Der älteste König ist bereits zur Anbetung niederge kniet, während die anderen beiden mit ihren Gaben weiter hinten verweilen. Bei der Darbringung im Tempel (fol. 69v) zur Non wird die Heilige Familie von zwei Frauen begleitet. Joseph, der die Täubchen in einem Korb mitgeführt hat, präsentiert sie dem Priester, der seine Hände zum Gebet gefügt hat. Links vor dem runden Altartisch kniet Maria, um den nackten Knaben, der aufmerksam über die Mensa hinweg Simeon anblickt, als Gabe darzureichen (vgl. auch unsere Nr. 63). Die Vesper des Marienofziums eröfnet mit der Flucht nach Ägypten (fol. 73). Jeus ist in dieser Variante bereits so groß, daß er auf dem Schoß seiner Mutter die Zügel des Esels selbst halten kann. Joseph hat ihm diese Aufgabe überlassen und schreitet kraft voll im Profil nach links. Die Heilige Familie hat das steinige Gebirge rechts hinter sich gelassen und nun eine weite Landschaft vor sich. Zur Komplet hat der Maler die Marienkrönung (fol. 79v) ungewohnt symmetrisch an gelegt. Auf einer zwischen Wolkenbänken schwebenden Thronbank, vor deren blauem Tuch zentral die sehr große Taube des Heiligen Geistes ihre Flügel breitet, sitzen zwei Gottesgestalten mit Jesu Zügen. Beide greifen nach der Krone, um sie der zum Betrach ter gewandten betenden Maria, die am unteren Bildrand mittig kniet, aufs Haupt zu set zen. Diese Form der Marienkrönung ist in Frankreich so selten, daß man eines der be rühmtesten Beispiele der französischen Kunst des 15. Jahrhunderts heranziehen muß. Enguerrand Quarton hat die Marienkrönung mit der Dreifaltigkeit in Gestalt des Soh nes und des Heiligen Geistes kurz nach 1450 auf eine durchaus vergleichbare Weise dar gestellt (VilleneuvelèsAvignon).
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fol. 83v: Zu den Bußpsalmen erscheint Bathseba im Bade. In einer runden Brunnenscha le mit einem zentralen Wasserspender steht Bathseba, den Leib zur Hälfte verhüllt, und blickt – offenbar voller Verlangen – hinauf zu König David, der über einer Brüst ung sei nes Palast es lehnt. Sie ist begleitet von einer aufwendig gekleideten Dienerin, die mit ei nem weißen Badetuch am Brunnen hockt. Am Gatter des Gartens stehen hinten zwei unbeteiligte Männer. Auf den goldenen Banderolen in der mit Schmuckstücken besetz ten Bordüre über den getrennten Wappen mit Andreaskreuz und Löwen windet sich ein lateinisches Mariengebet: ave regina celi letare allelvia qvia qvem mervisti portare allelvia ressvrexit sicvt. Darauf folgt, orthographisch irritierend, mit Betonung auf dem Begriff „désir“: desir me pese. Etwas besser zu verstehen, aber or thographisch unsicher: diev me doient ce qve mon – kleines rotes Herz für cver – dessire. Das Wort doient könnte „doit“ oder „donne“ meinen; dann hieße es: Gott schuldet (oder: gebe) mir, was mein Herz begehrt – in heikler Nähe zu dem sündhaften Begehren, das Bathseba im Bild und David in der biblischen Geschichte zu ihrem Tun antreibt. Das Totenof fizium, in dessen Bordüre wieder das Allianzwappen der Besitzerin er scheint, eröffnet eine Darstellung von Hiob auf dem Dung (fol. 96). Vier Freunde treten an den Misthaufen, in den Hiob sich so tief eingegraben hat, daß sein Unterleib nicht mehr zu erkennen ist. Während seine Freunde wild zu diskutieren scheinen, unterstrei chen Hiobs verschränkte Arme seine Gottergebenheit und Skepsis gegenüber deren gut gemeintem Rat. Die Suffragien eröffnen mit einem großen Bild der Trinität (fol. 122). Über Seraphim unten und von weiteren Seraphim gerahmt, erscheint ungemein breit der Gottest hron, mit bestirntem blauen Tuch ausgeschlagen; dessen schlanke Rücklehne führt zu einem Baldachin, der außen mit Rosa bezogen ist und dessen zwei hellgrüne Vorhänge zu Beu teln gerafft sind. Dort sitzt Christ us mit dem Kreuz und Gottvater mit der Sphaira, je doch mit Christ i Zügen, sie halten das Buch des Lebens, über dem, recht groß, die Taube schwebt. In der flämisch wirkenden Bordüre spielt ein Affe mit einer Weintraube; unten prangt das Allianzwappen. Die nun folgenden Suffragien erhalten achtzeilige Kleinbilder und Halbfiguren: Gott vater (fol. 122v), Christus als Salvator mundi (fol. 123v), Heiliger Geist (fol. 124), Vero nika mit dem Schweißtuch (fol. 124v), Pietà mit Johannes und Magdalena (fol. 125v), Kuß an der Goldenen Pforte (fol. 127), Michael (fol. 128), Johannes der Täufer mit dem Lamm (fol. 128v), Johannes der Evangelist mit dem Kelch (fol. 129), Petrus und Pau lus (fol. 129v), Jakobus als Pilger (fol. 130), Alle Apostel mit Petrus und Johannes vorn (fol. 130v), Steinigung des Stephanus (fol. 131), Laurentius als Diakon (fol. 131v), Chris tophorus mit dem Christ usknaben (fol. 132), Sebastians Pfeilmarter (fol. 133), Rochus als Pilger mit Hund und Engel (fol. 133v), Leobinus als Bischof (fol. 134), Antonius Abbas mit dem Schwein vor der Einsiedelei (fol. 135), Hieronymus als Kardinal mit dem Lö wen beim Schreiben (fol. 135v), Fiacrius als Mönch in Landschaft (fol. 136), Ambrosi us als Bischof (fol. 136v), Augustinus im schwarzen Habit der August iner, mit Krümme
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(fol. 137), Anna lehrt Maria lesen (fol. 137v), Maria Magdalena (fol. 138v), Katharina (fol. 139), Barbara (fol. 139v), Apollonia (fol. 140), Genovefa mit der Kerze, um die Teu fel und Engel streiten (fol. 140v), die drei Schwestern Marias (fol. 141v), Alle Heiligen, angeführt vom segnenden Salvator, einem Mönch in schwarzem Habit, also Benedikt oder Augustinus, Johannes, einem Bischof und Petrus (fol. 143). fol. 144v: Zu den Versen des Kirchenvaters Gregor die Gregorsmesse als Kopfbild in Architekturrahmen: Der Papst kniet mit zwei Akolythen vor einem Altar, über dessen Mensa rechts vor Goldgrund sich der Schmerzensmann aus dem Grabkasten erhebt und vor seinem Kreuz erscheint; links spannt sich bestirnter blauer Grund, vor dem die Arma Christ i ausgebreitet sind. fol. 146v: Ein letztes Kopfbild in Architekturrahmen zeigt die Muttergottes mit den sie ben Schwertern ihrer Schmerzen vor rosafarbenem Grund. So hat sie der Ango-Meist er in Rouen (Leuchtendes Mittelalter I, Nr. 79) gemalt. Zum Stil Dieses zierliche Buch mit seiner erstaunlichen Anzahl von Bildern könnte zu den Bü chern gehören, die – unabhängig davon, ob Manuskript oder Frühdruck – in Paris für Besteller aus ganz Frankreich geschaffen wurden. Marguerite de Coësmes hätte dann von der Bretagne aus ihr Buch in der Hauptstadt bestellt, wo ja auch die Drucker Stunden bücher mit liturgischen Gebräuchen von weit entfernten Diözesen im Programm hat ten. Dem widerspricht jedoch der Umstand, daß der Band offenbar in zwei getrennten Phasen entstanden ist, die jede für sich Pariser Herkunft bezeugt. Der Buchblock ist ein solides Werk jenes Illuminators, den wir von einem signierten Bild der Kreuzigung als Jean Coene erkannt haben (LM NF I, Abb. S. 320, und hier in der Einleitung). Die helle Farbigkeit, die charakterist ische Verankerung in älterer Pariser Kunst, die vielleicht bis zu dem inzwischen als Philippe de Mazerolles erkannten Meister des Harley Froissart (siehe hier Nr. 18 in Band I) zurückgeht, ebenso wie die Offenheit für Renaissance-Dekor zeichnen diesen Maler aus, dessen Name bereits eine lange Tradition in Paris hatte, tauchte doch ein Jacques Coene aus Brügge schon vor 1400 in der Hauptstadt auf, um neue Malereirezepte vorzuführen und dann nach Mailand zu gehen, wo er unter Giovannino dei Grassi in der dortigen Dombauhütte arbeitete. Die nachgetragenen drei Bilder bieten keineswegs einen stilist ischen Bruch; eher bewei sen sie die verläßliche Kontinuität der hauptstädtischen Buchmalerei auch, nachdem sich dort eine neue Schriftsorte durchzusetzen begann. Ein kostbares kleines Stundenbuch, vollständig und unbeschnitten, in den Farben brillant erhalten, aus einer Übergangszeit zwischen der spätgotischen Kunst der beiden François Le Barbier und der schließlich allgegenwärtigen Renaissance. Im Buchblock von Jean Coene gestaltet, noch mit vorzüglichen Goldgrundbordüren, aber darin eingestellten rahmenden Bögen. Bestimmt war es für die aus der Bretagne
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stammende Marguerite de Coësmes, deren Namensheilige ebenso wie ihr Wappen zusammen mit dem ihres Mannes Charles d’Angennes und einem Allianzwappen sowie einem von Liebesknoten gehaltenem Vornamen-Monogramm den ursprüngli chen Dekor dominieren. Wohl um 1520 wurde es in Antiqua ergänzt und dabei mit drei stilverwandten weiteren Miniaturen versehen. Noch in der Zeit vor 1600 war es hoch geschätzt, als es seinen kostbaren Maroquinband empfing. Ein Stundenbuch, das für seine Gattung wirbt und durch die verschiedenen Phasen seiner Entstehung und Würdigung in sich Geschichte birgt. Literatur Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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