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Die Verurteilung des einzig Gerechten

von Benjamin Schmidt

Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als zu Unrecht beschuldigt und bestraft zu werden. Noch viel schlimmer ist es, wenn Freunde an diesen Beschuldigungen beteiligt sind, wenn sie uns ebenfalls ungerecht behandeln und hintergehen. Mit der Zeit bekommen wir den Eindruck, dass alle gegen uns sind. Wir werden gemieden, belächelt, gering geschätzt, Gutes wird uns negativ ausgelegt. Und irgendwann fragen wir uns, warum Gott das zulässt.

Hast du so etwas schon einmal erlebt? Wenn ja, dann darfst du wissen, dass Jesus genau an diesem Punkt war. In Jesu Leben gab es durchaus Zeiten, in denen er seinen Ruf um der Wahrheit des Evangeliums Willen verteidigen musste (vgl. z.B. Joh 7,14 ff.). Aber seine Leidensgeschichte zeigt uns, dass es durchaus auch Zeiten gibt, in denen wir die Dinge Gott überlassen und ihm als Richter vertrauen müssen, in dem Wissen, dass er uns zu seiner Zeit rechtfertigt (vgl. 1Petr 2,18-20).

Von den religiösen Führern verurteilt

Obwohl Jesus schon mehrfach, vermutlich schon Wochen vorher, seine Jünger darauf vorbereitet hatte, dass man ihn in Jerusalem verhaften und hinrichten würde, zögerte er nicht, die Hauptstadt zu betreten, dort in aller Öffentlichkeit aufzutreten, zu predigen und Gottes Ehre zu verteidigen (vgl. Lk 19,45-48).

Wer meint, dass vor diesem höchsten Gerichtshof alles nach Recht und Ordnung verlief, der irrt. Der Prozess um Jesus ist voller Gesetzesbrüche und Grausamkeiten. Angefangen damit, dass sie Jesus bei Nacht verhörten. Laut jüdischem Gesetz waren nächtliche Verhöre strikt verboten. Nur um die Form zu wahren, warten sie mit der offiziellen Befragung bis zum Tagesanbruch (V.66). Verhaftet wurde Jesus von denselben Priestern und Ältesten, die auch seine Richter waren. Sie waren es auch, die Judas, Jesu Verräter, bestochen hatten!

Während Jesus auf das offizielle Urteil wartete, vertrieben sich seine Wärter im Beisein des Hohen Rates die Zeit, indem sie Jesus verspotteten, verprügelten und über ihn lästerten. Was höchstens eine Anhörung hätte sein dürfen, mutiert zur Folter, ohne jegliche Beweise, Zeugen und ohne abschließendes Urteil. Nach jüdischem Gesetz durfte niemals an ein und demselben Tag das Todesurteil gesprochen und vollzogen werden, es musste immer mindestens ein Tag dazwischen liegen (Mishna, IV, 1). All dies gilt bei diesem Prozess nicht. Doch Jesus schweigt und erduldet all das Unrecht, das ihm seine Peiniger antun, ganz so, wie Jesaja es über ihn als den leidenden Gottesknecht vorausgesagt hatte (vgl. Jes 53,7).

Es kam, wie es kommen musste: Jesus wurde von einem seiner engsten Jünger an die Leute verkauft und verraten, die Jesus schon lange beseitigen wollten (vgl. Mk 11,18). Wie ein Verbrecher wurde er vor den Hohen Rat geführt (nachdem er zuvor eine kurze, aber schmerzhafte Begegnung mit Hannas, dem ehemaligen Hohepriester hatte; vgl. Joh 18,19-23). Der Hohe Rat war das höchste jüdische Gericht, bestehend aus 71 Männern, unter dem Vorsitz des Hohepriesters.

Erst, als sie ihn fragen, ob er der Messias sei, reagiert Jesus auf sie. Zwar weigert er sich, ihnen direkt zu antworten, weil er weiß, dass sie bereits ihr Urteil über ihn gefällt haben, aber die Antwort, die er ihnen gibt, ist für sie noch viel schockierender. Er ist nicht einfach nur der Messias, er ist auch „der Menschensohn“! Bis auf eine Ausnahme (in Joh 2,26) hatte Jesus niemals für sich den Titel „Messias“ (griechisch: „Christus“) in Anspruch genommen. Der alttestamentliche Titel, den Jesus immer wieder für sich in Anspruch nahm, ist der Titel „Sohn des Menschen“.* Dieser Titel stammt aus Daniel 7,13-14 und er vereint und offenbart zwei wundervolle Wahrheiten über Christus: er ist wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. In Daniels Vision vom Menschensohn, tritt dieser nach seiner Himmelfahrt in Gottes Gegenwart und empfängt aus Gottes Hand die Königsherrschaft über die Welt. Darauf spielt Jesus an, und sagt den ausgebildeten Theologen vor sich mit anderen Worten: „Ich bin der göttliche König, von dem Daniel sprach.“ Und der Hohe Rat versteht ganz genau. Denn sie rufen entrüstet: „Du bist also der Sohn Gottes?“ (Lk 22,70). Die Behauptung, der Messias zu sein, war technisch gesehen keine Gotteslästerung, aber zu behaupten, der Sohn Gottes zu sein, war Gotteslästerung. Nun haben sie endlich das, was sie brauchen, um Jesus hinrichten zu lassen.

Bis hierher erduldet Jesus bereits sehr viel Unrecht und Schmerzen. Doch ist es bewundernswert, wie stark er dem entgegensteht. Ja, Jesus ist der ewige Sohn Gottes, und doch ist er auch wahrer Mensch geworden. Wenige Stunden zuvor konnten wir in Gethsemane einen Eindruck davon bekommen, wie sehr ihn als Mensch das bevorstehende Leid ängstigte (Lk 22,39 ff.). Doch hier im Gerichtssaal haben wir einen deutlichen Beleg dafür, dass der Vater sein dreimaliges Gebet erhört hat. Er gab ihm die Kraft, den Leidenskelch zu trinken. Wie oft fürchten wir uns vor Leid und denken, wir seien nicht in der Lage, es zu ertragen. Oder wie oft stecken wir in Leid und meinen, Gott erhört unser Gebet um Hilfe nicht. Wenn wir aber wirklich Gottes Kinder sind, dürfen wir immer wissen, dass wir denselben Beistand und dieselbe Kraft des Gebets haben wie Jesus. Und falls wir meinen, Gott greift nicht ein, sollten wir auf Christus schauen. Der Vater hat den Kelch nicht von ihm genommen, weil es nötig war, dass er ihn erduldete, aber er hat ihm die Kraft gegeben, ihn zu ertragen. Kann es sein, dass du für dieselbe Kraft beten musst?

Von den politisch Mächtigen abgelehnt

Jesu Aussage ist ihrer Meinung nach genau der Beweis, den sie brauchten. Und sie, die 71 Zeugen, sind genau die Zeugen, die ihnen noch fehlten (von Matthäus und Markus wissen wir, dass die bisherigen Zeugen mit ihren Falschaussagen keinen Pfifferling wert waren; vgl. Mt 26,5961; Mk 14,55-57). Nun war Jesus die Todesstrafe sicher. Sie brauchen nur jemanden, der die Drecksarbeit für sie erledigt. Also machen sie sich auf den Weg zu Pilatus, dem Repräsentanten des römischen Kaisers, des Herrschers des mächtigsten und größten Reiches, das es bis dato gab.

Warum sie Jesus vor Pilatus führen, hat zwei ganz entscheidende Gründe – einen aus Sicht des Hohen Rates, einen aus Gottes Sicht. Um den Grund des Hohen Rates besser zu verstehen, müssen wir kurz ins Johannesevangelium schauen. Als Pilatus nach dem Grund der Hinrichtung fragt und der Hohe Rat keinen triftigen Grund nennt, entgegnet Pilatus: „Dann nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz“, woraufhin der Hohe Rat antwortet: „Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten“ (Joh 18,31-32). Moment mal, hatten die jüdisch-geistlichen Leiter nicht auch in anderen Situationen Hinrichtungen durch Steinigungen durchgeführt? Z. B. bei Stephanus, den sie wegen angeblicher Gotteslästerung steinigen würden (vgl. Apg 7,59), oder Paulus (vgl. Apg 14,19; 2Kor 11,25) und Jakobus. Und auch bei Jesus hatten sie es schon einmal versucht, aber nicht gekonnt (vgl. Joh 10,31). Hintergrund ist, dass die römische Besatzungsmacht damals sehr klug handelte, und die Gesetze, Gebräuche und Religionen der eroberten Völker respektierte. Auch bei der Rechtsprechung ließ sie ihnen einen großen Spielraum. In allen Provinzen wurde ein römischer Statthalter eingesetzt, der die oberste Befehlsgewalt hatte und dafür sorgte, dass Ordnung herrschte und die Belange und Interessen des Kaisers Vorrang hatten. Doch gerade aus diesem Grund durften schwerwiegende Urteile wie die Todesstrafe nur von den Römern durchgeführt werden. Steinigungen, wie in den oben erwähnten Fällen, gab es nur selten und geschahen meist während eines Aufruhrs, hinter dem sich der Hohe Rat versteckte. In Jesu Fall konnte der Hohe Rat Jesu nicht öffentlich steinigen, denn sie fürchteten das Volk, denn das Volk liebte Jesus und hielt ihn für den Messias (vgl. Lk 20,19; 22,2).

Der bisherige Anklagepunkt lautete noch: Gotteslästerung. Aber weil dies im polytheistischen Rom kein Vergehen war, solange man die Autorität des Kaisers anerkannte, änderten sie ihre Strategie und schwenkten von religiös- zu politisch-besorgten Bürgern um. Und obwohl sie eigentlich diejenigen waren, die innerlich die Autorität und Rechtmäßigkeit des Römischen Kaisers ablehnten, machten sie genau das nun Jesus zum Vorwurf: „Er verführt unsere Nation und bringt sie davon ab, dem Kaiser Steuern zu geben …“ Das war eine glatte Lüge, wie mehrere Zeugen hätten bestätigen können (vgl. Lk 20,25).

Pilatus durchschaut sie und bringt mit seiner Reaktion noch einmal das bösartige Herz der geistlichen Leiter ans Tageslicht. Das, was bisher im Schatten der Nacht hinter den Mauern eines dunklen Gerichtssaals passiert ist, wird hier vor aller Augen deutlich: hier wird ein Unschuldiger zum Sündenbock gemacht. Pilatus erkennt das und spricht es auch mehrfach öffentlich aus, und doch lässt er den Unschuldigen Jesus zuerst geißeln, übergibt ihn dann den Händen des zwielichtigen Königs Herodes, um ihn dann am Ende doch hinrichten zu lassen (vgl. Lk 23,4.15-16.2224). Schon viele Christen haben versucht, Pilatus in Schutz zu nehmen; wie schwer doch seine Position hier gewesen sei. Aber Pilatus ist nicht der Arme und Gerechte in der Geschichte, Christus ist es. Pilatus empfindet höchstens Mitleid mit ihm, aber dieses Mitleid ist geringer als sein Selbstmitleid. Ihm ist die gesamte Geschichte suspekt und lästig, und das Leben eines einzelnen unschuldigen Menschen ist ihm nicht wertvoll genug, um dem Druck einer Gruppe standzuhalten.

Genau dieser Gruppendruck ist eine der größten Herausforderungen für uns Menschen, zu allen Zeiten. Und dennoch ist es genau dieser Druck, dem Christen wie Dietrich Bonhoeffer oder Helmuth James Graf von Moltke vor 80 Jahren standhielten, weil sie wussten, dass Wahrheit und Gerechtigkeit, Menschenleben, aber vor allem ein reines Gewissen vor Gott einen weit größeren Wert haben als das Ansehen vor Millionen von Menschen.

Pilatus und Herodes waren mächtige Männer, die vor dem Allmächtigen standen, ohne es zu ahnen. Während Jesus mit Pilatus sprach, weil dessen öffentliches Urteil über Jesus vor den Ohren des Volkes von entscheidender Bedeutung war, verlor er gegenüber Herodes kein Wort. Weder Pilatus noch Herodes waren aufrichtig an Jesus interessiert. Für den einen war er ein unschuldiger, aber harmloser Mensch, der andere hielt ihn für jemanden, der seine Langeweile vertreiben sollte. Doch beide, Pilatus und Herodes, verdeutlichen Jesu Unschuld und machen das über ihn verhängte Urteil als Fehlurteil ersichtlich. Lukas weist seine Leser darauf hin, dass Jesus der unschuldig leidende Gottesknecht ist, von dem Jesaja schon 700 Jahre zuvor sprach. Gleichzeitig erfüllt Jesu Auftreten vor Herodes Jesajas Prophezeiung: „über ihm werden Könige den Mund verschließen“ (Jes 52,15). Denn in dem Moment, als Herodes eigentlich das Urteil über Jesus sprechen sollte, schweigt er und verleiht seiner Überzeugung von Jesu Unschuld dadurch Ausdruck, dass er Jesus in ein weißes Gewand hüllt und fortschickt (vgl. Lk 23,11).

Von einem Verbrecher erkannt

Am Ende wird Jesus sowohl von den religiösen als auch von den politischen Führern abgelehnt, nimmt den Platz eines Mörders ein und wird zum Tode verurteilt (Lk 23,24-25). Er, der einzig Gerechte, dem niemand auch nur eine Sünde nachweisen konnte, wird als Verbrecher abgestempelt und stirbt den grausam schmerzvollen Tod eines Frevlers unter Frevlern.

Unbegreiflich, dass der Sohn Gottes, durch den alles geschaffen wurde, sich dazu herabließ, sich von seinen Geschöpfen so behandeln zu lassen! In gewissem Sinne lässt sich Gott noch heute tagtäglich dazu herab, dass er sich von seinen eigenen Geschöpfen ablehnen, verspotten und verlästern lässt. Und obwohl er unserer absoluten Liebe, Hingabe und Anbetung würdig ist, wird ihm noch heute täglich die Existenz, die Allmacht oder seine Güte aberkannt.

Doch es wird der Tag kommen, an dem Christus für alle sichtbar wiederkommt. Und zwar nicht, um noch einmal zu leiden, sondern um zu richten und zu herrschen. Dann müssen alle ihre „Knie beugen, sowohl derer, die im Himmel als auch die auf der Erde und unter der Erde sind, und jede Zunge wird bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“ (Phil 2,10-11).

Und während die religiöse Elite schrecklich blind ist für ihr eigenes Unrecht und für die Wahrheit der Identität Jesu, ist es ausgerechnet ein zurecht verurteilter Verbrecher, der in ihm den unschuldig leidenden Gottesknecht erkennt. Er erkennt und bekennt nicht nur seine eigene Sünde und stellt Jesu Unschuld fest (V.41, nach Jes 53,9), sondern er spricht ihn auch auf seine zukünftige Erhöhung hin an (V. 42, nach Jes 52,13). Der Verbrecher weiß, dass im Tod Jesu die Errettung des Volkes Gottes vollendet wird.

Deshalb sehen wir Jesus hier auch, wie er in der Stunde seines eigenen Todes dem Verbrecher neben ihm die Last eines schuldbeladenen Lebens abnimmt und ihm ein Leben in unmittelbarer Gottesgemeinschaft verheißt. „Eindrucksvoller lässt sich die Erkenntnis nicht darstellen, daß in Jesus der von Jesaja geheimnisvoll angekündigte Gottesknecht stirbt, der durch seinen Stellvertretungstod Sühne schafft und den Menschen dem Schuldverhängnis entreißt.“** Und eindrucksvoller als durch die Umkehr des Schächers am Kreuz, lässt sich nicht verdeutlichen, dass die Glaubenserkenntnis und die Erlösung ganz und gar Gottes Werk sind, aus reiner Gnade.

Vom Vater geplant

All das, was Lukas uns berichtet, von der Verhaftung Jesu, bis zu seinem Tod, war das schrecklichste Ereignis der menschlichen Bosheit. Und doch sagt Jesus seinen Jüngern, dass er all dies erleiden musste, und dass sich alles erfüllen musste, was über ihn geschrieben steht (siehe Lk 22,37; 24,7). Dasselbe erfahren wir auch in Bezug auf die Auslieferung Jesus an Pilatus: „damit das Wort Jesu erfüllt wurde, das er sprach, um anzudeuten, welches Todes er sterben sollte“ (Joh 18,32). Diese Ereignisse, so grauenvoll sie auch waren und so gottlos das Handeln der Beteiligten auch war, spielte sich genau nach Gottes Plan ab. Jesus musste durch die Hand der religiösen Führer Israels und durch die Hand der poli- tischen Machthaber sterben. Christus war nicht nur das Opfer einer Nation, sondern sowohl der Juden als auch der Heiden – der gesamten Menschheit (vgl. Apg 4,27-28). In derselben Weise dürfen wir wissen, dass Gott all unsere Lebensumstände sowie die gesamte Weltgeschichte in seiner Kontrolle hat. Christus konnte geduldig Unrecht erleiden, weil er wusste, dass alles nach dem Plan des Vaters verläuft.

Aber Jesus ist weit mehr als nur ein Beispiel. Wir stehen in dieser Geschichte nicht auf der Seite des Gerechten, sondern gehören zu denen, die hätten verurteilt werden müssen – sei es, weil wir selbstgerecht sind, wie die religiösen Leiter, selbstsüchtig, wie Pilatus oder gleichgültig, wie Herodes, wir stehen schuldig vor Gott. Doch wir dürfen hoffnungsvoll auf Christus schauen, wie der Verbrecher am Kreuz, weil Christus stellvertretend für Sünder gestorben ist. Er hat das Urteil all derer, die auf ihn vertrauen, auf sich genommen, damit wir durch ihn Frieden, Heil, Vergebung, ewiges Leben und eine vollkommene Gerechtigkeit haben, die vor Gott gilt (Jes 53,5-6.10-12). Lasst uns dies mutig bekennen, in einer Welt, die Christus so dringend braucht!

Benjamin Schmidt ist verheiratet mit Hanna und dreifacher Vater. Er ist Leiter der Herold-Schriftenmission und verantwortlich für die Zeitschrift „Herold“.

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* Oder „Menschensohn“ – je nach Übersetzung. Jesus gebraucht ihn ganze 69-mal in den Synoptischen Evangelien und 12-mal bei Johannes.

** Ulrike Mittmann-Richert: „Der Sühnetod des Gottesknechts“, S. 91.

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