ABC der Gefühle

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A Cd r e l h 端 f Ge Herausgeber: Alexander Karl

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ABC der Gefühle Eine Kurzgeschichtensammlung Entstanden aus dem Schreibprojekt „ABC der Gefühle“ auf www.hierschreibenwir.de

Herausgegeben von Alexander Karl


Vorwort Das ABC der Gefühle ist keine Anthologie wie jede andere – eine ganze Community junger und talentierter Schreiber hat eine Idee zum Leben erweckt, die eigentlich nie als großes Projekt gedacht war. Mir kam der Gedanke, zu verschiedenen Gefühlen Kurzgeschichten zu schreiben schon vor längerer Zeit, doch so recht wollte ich damit nicht anfangen, ich fand selbst nicht den Zugang, den ich mir gewünscht hatte. Glücklicherweise schlug ich Ulrike Schwermann und Dirk Moldenhauer, Betreiber der Mitschreibcommunity hierschreibenwir.de, die Idee vor. Jetzt aber als Wettbewerb aufgebaut, sodass jeder angemeldete User teilnehmen konnte. Die Resonanz war groß und wuchs mit jeder Schreibaufgabe. Darin gab ich Formalia wie die Anfangsbuchstaben der Protagonisten und Gefühle vor, teilweise haben die User auch selbst durch Votings entschieden, über was sie schreiben wollten. Elf Mal musste ich entscheiden, welche der teilweise 100 Kurzgeschichten die beste war. Keine leichte Aufgabe. Als der Buchstabe Z dann erreicht war, mussten in einer letzten Schreibaufgabe noch die Umlaute abgedeckt werden – wenn auch indirekt. Denn viel mehr ging es „um Laute“, um wichtige Gespräche, denen drei Kurzgeschichten gewidmet sind. Wer glaubt, dass die Generation junger Menschen eine verlorene sei, gescholten vom Bildungssystem, geplagt von Praktika, gefangen zwischen Web 2.0 und Realität, sollte dieses Buch lesen. Selten war ich so stolz auf Menschen, die ich eigentlich gar nicht wirklich kenne. Auch jene, die es nicht ins Buch geschafft haben, haben deutliche Fortschritte gemacht und bestätigt, dass wir Hoffnung in die deutsche Literatur haben sollten. Denn eine neue Generation von potenziellen Bestseller-Autoren hat sich ans Werk gemacht – es heißt ABC der Gefühle.

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Inhalt Lust. Reue. Treue. .................................................................................................................................... 3 Hass. Ergebenheit. ................................................................................................................................... 8 Verachtung. Trauer................................................................................................................................ 11 Verlangen. ............................................................................................................................................. 13 Schuld. Verzweiflung. ............................................................................................................................ 17 Lebenslust. Liebe.................................................................................................................................... 21 Angst. Rache. ......................................................................................................................................... 25 Wut. Aufregung. .................................................................................................................................... 28 Einsamkeit. Leidenschaft. Eifersucht. .................................................................................................... 32 Hoffnungslosigkeit. Sehnsucht. Freunde. Unsicherheit. ........................................................................ 35 Zorn. Stolz. Hoffnung. Entt채uschung. .................................................................................................... 38 Gleichg체ltigkeit. Panik. Hoffnung. Geborgenheit. ................................................................................. 41

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ABC der Gefühle Lust. Reue. Treue. (Fairy tale) – Wie ich nach Hause fand. „Wer bist du?“ „Ich heiße Azrail. Wer ich bin, das wirst du erfahren, wenn es so weit ist.“ „Warum bist du hier?“ „Wegen dir, Clara. Wegen dir.“ „Danke“, flüstere ich. „Das ist selbstverständlich, Clara.“ Benedikt schaut abwesend aus dem Fenster. Ich sehe nur seinen Rücken. Aber mir ist, als könnte ich sein Gesicht sehen. Seine Augen, glasig vor Tränen. Er weint, ich weiß es. „Noch bin ich da“, versuche ich ihn zu trösten. Jetzt ist es schon so, dass ich ihn trösten muss. Aber das ist in Ordnung. Ich habe schließlich keine Angst. Lächelnd beobachte ich die Leute unter uns, die wie kleine Ameisen hin und her wuseln. Ob ich sie später jeden Tag so beobachten kann? Wenn ich im Himmel bin? „Ja“, meint Benedikt nur. Er dreht sich nicht um. Wir sitzen in einer der kleinen Kabinen in einem Riesenrad. Einer meiner letzten Wünsche. Einmal mit einem Riesenrad zu fahren. Und meine letzten Wünsche werden erfüllt, meint Benedikt. Benedikt nimmt meine Krankheit viel zu ernst. Er ist trauriger als ich. Manchmal frage ich ihn warum. „Verstehst du nicht?“, meint er dann immer. „Ich muss danach noch weiterleben. Du nicht.“ Und dann fängt er wieder an zu weinen. Leise. Allein. Traurig. Aber er muss nicht traurig sein. Jedenfalls jetzt noch nicht. Jetzt bin ich ja noch da. Jetzt hat er mich ja noch. „Sag mal, bist du mit deinem Leben glücklich, Clara?“ „Ja. Ich bereue nur eins.“ „Was?“ „Dass ich mit diesem Typ geschlafen habe.“ „Welcher Typ?“ „Der, der HIV positiv war.“ Benedikt fragt sich oft warum. Warum ist gerade bei mir die Krankheit ausgebrochen? Ich frage mich auch oft warum. Es ist aber ein anderes Warum. Warum habe ich nur mit ihm geschlafen? Es war in der Silvesternacht zum Jahr 2000. Eine besondere Nacht. Ich war auf der Party meiner besten Freundin. Benedikt war im Krankenhaus mit einem gebrochenen Bein. Ich wollte die Nacht eigentlich bei ihm verbringen, aber er meinte, ich solle gehen, und nicht wegen ihm eine Menge Spaß versäumen. Er ließ nicht locker, also ging ich. Und dort traf ich ihn. „Hallo“, sagte er leise, als er mir das erste Mal begegnete. Es waren noch zwei Stunden bis Mitternacht. Ich stand auf dem Balkon und schaute in die Sterne. Es war eine klare Nacht und noch nicht besonders kalt. „Hallo“, entgegnete ich neutral und schaute weiter in den Himmel, denn ich war nicht in der 3


Stimmung, mich zu unterhalten. Hoffentlich verschwand er bald. Ich hatte keine Lust auf einen Flirt. „Sie haben es bestimmt schon oft gehört heute Abend, aber sie sehen bezaubernd aus.“ „Ja, das hat mir mein Freund schon gesagt“, konterte ich. Er sollte lieber gehen, ich war schließlich vergeben. Was ich mit diesem Satz auf hoffentlich deutlich gemacht hatte. Doch selbst das schien ihn nicht abzuschrecken. Er verzog keine Miene. „Haben Sie Lust auf ein Abenteuer heute Nacht?“, fragte er grinsend. „Nein.“ Er nervte mich. Ich drehte mich um, und verschwand in die Menschenmenge. Ein blöder Kerl. Er wusste, dass ich vergeben war, und versuchte es trotzdem mit blöden Anmachsprüchen. Wie unterbelichtet! Eine Stunde vor Mitternacht traf ich ihn wieder. „Ich konnte Sie nicht vergessen“, säuselte er auch sogleich. Ich seufzte. „Lassen Sie mich in Ruhe, wenn ich etwas mit Ihnen trinke? Aber bilden Sie sich nichts ein, ich bin schließlich vergeben“, sagte ich genervt. Er nickte begeistert. Ich holte gleich Wein. Als ich zurück kam, setzte ich mich neben ihn und trank einen Schluck. Er sah gut aus, das musste ich zugeben, aber ich hatte schließlich Benedikt. Und der sah auch gut aus. „Warum sind Sie auf der Party?“, fragte der Mann plötzlich. Ich nahm noch einen Schluck Wein, bevor ich antwortete. „Die Gastgeberin ist eine meiner Freundinnen“, antwortete ich. „Und warum sind Sie hier?“ „Ich bin auch mit ihr befreundet.“ Wieder Schweigen. Es war nicht besonders interessant mit ihm. „Lesen Sie gern?“, fragte er dann. Ich nickte. „Warum fragen Sie?“ „Ich bin Lektor. Und Sie?“ „Ich studiere. Psychologie.“ „Interessant.“ Ich nickte. Natürlich war mein Studienfach interessant, sonst hätte ich es ja wohl kaum gewählt. Er langweilte mich. „Bitte“, unterbrach er plötzlich das Schweigen. „Ich will Sie nicht verführen. Ich möchte mich nur mit Ihnen in ruhigerer Umgebung unterhalten. Wollen wir uns zurückziehen?“ Ich hatte zwar wenig Lust darauf, mit einem fremden Typen irgendwo in einem Zimmer zu sitzen, aber ich musste zugeben, dass mir der Lärm und der Trubel auch zu viel wurden. Also nickte ich und folgte ihm in ein leeres Zimmer im zweiten Stock. „Hier ist es doch viel besser, nicht?“, fragte der Lektor, als er die Tür hinter sich schloss. „Ja“, gab ich zur Antwort und setzte mich auf das Bett in der Mitte des Raumes. „Treiben Sie Sport?“, fragte er dann und setzte sich neben mich. „Nein. Sie?“ „Auch nicht.“ Er rutschte näher zu mir. Komischerweise versuchte ich nicht zu flüchten. Irgendwie gefiel es mir hier. Ich schloss die Augen für einen kurzen Moment, und schon fühlte ich seine Lippen auf meinen. Sie waren warm und salzig. Ich ließ die Augen geschlossen und erwiderte langsam seinen Kuss. Hitze durchfuhr mich plötzlich, mein Atem ging augenblicklich schneller. Ich zog dem Lektor näher an mich und strich mit meinen Händen durch sein Haar. Ging das nicht zu schnell? Nein. Ich wollte es so. Genau so. Lust durchfuhr mich wie ein Blitzschlag. Auf einmal hatte ich Benedikt vergessen. Ich hatte die Welt vergessen. Es gab nur mich und diesen Lektor. Ich war selbst erstaunt über mich, denn das war gar nicht meine Art. Doch ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, die Lust hatte mich übernommen. Es war mir alles egal, in diesem Moment. Ich wollte nur ihn. Den Lektor. Ich kannte noch nicht mal seinen Namen! Egal. Egal in diesem Moment. Meine Finger, wie von unsichtbaren Fäden geführt, strichen über seinen Hinterkopf. Sie drückten ihn mehr an mich und zogen ihn anschließend aus. 4


Ich war nicht mehr die Herrin meiner Sinne und Taten. Ich würde geführt. Wie eine Marionette, wurde ich gesteuert. Von einem Gefühl. Lust. „Du wärst so oder so gestorben. Nicht an Aids, aber vielleicht an Altersschwäche. Oder bei einem Unfall.“ „Ich weiß, Azrail. Ich habe kein Problem damit, aber Benedikt.“ „Er wird es verstehen.“ „Das hoffe ich.“ Ein paar Wochen später hatte ich meine jährliche Arztuntersuchung. Den Lektoren, dessen Namen ich immer noch nicht kannte, hatte ich nicht mehr getroffen. Zum Glück, denn inzwischen schämte ich mich für das, was passiert war. Benedikt wusste nichts davon. Warum auch? Er würde nie davon erfahren. Kein Grund zur Aufregung. Als ich allerdings die Ergebnisse meiner Blutwerte erfuhr, war ich anderer Meinung. „Er liebt mich so sehr, Azrail. Glaubst du, er tut sich etwas an, wenn ich weg bin?“ „Ich werde auf ihn aufpassen. Mach dir keine Sorgen, Clara.“ Benedikt nahm meinen Seitensprung gelassen. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war meine Krankheit. „Clara, was sollen wir jetzt machen?“, fragte er mich hundert Mal am Tag ganz verzweifelt. Das Schlimmste war, dass ich es auch nicht wusste. Was sollten wir denn jetzt machen? Ich bereute es so sehr. Nie in meinem Leben wollte ich so etwas machen. Ich weiß bis heute nicht, was mich in dieser Nacht steuerte. Warum ich das gemacht hatte. Es war mir unbegreiflich. Von meiner Freundin erfuhr ich, dass der Lektor schon lange HIV positiv war. Ich wollte ihm nur zu gern meine Meinung sagen, aber er schien abgehauen zu sein. „Er ist im Urlaub“, meinte meine Freundin. „Einfach abgehauen! Ich war bei seinem Haus, in seiner Arbeit, aber alle meinten, er wäre nicht da. Ich habe ihn angerufen, aber die Nummer gibt es anscheinend nicht. Es tut mir so leid, Clara, es tut mir unendlich leid!“ Auch ich fuhr zu seinem Haus. Als ob das so viel gebracht hätte, denke ich mir heute. Benedikt ging sofort zur Polizei. Das Letzte, was ich mitbekam, war, dass sie den Lektor nicht finden konnten und die Ermittlungen eingestellt wurden. Benedikt wollte vor Gericht, er wollte unbedingt, dass der, der mich ansteckte für seine Taten bestraft wurde, aber ich hielt ihn auf. Das Geld für den Prozess wäre nur aus dem Fenster geworfen, meine Krankheit wäre deshalb auch nicht weg. Natürlich sollte der Lektor bestraft werden, aber wenn wir das ganze Geld verlieren würden, wären wir auch bestraft. Doppelt. Auf einen Schlag wurde mir alles bewusst. Ich verzweifelte und versuchte, mich zu beruhigen. Es muss ja nicht ausbrechen, dachte ich mir immer. Es muss ja nicht. „Hast du mit mir gerechnet, Clara?“ „Ich weiß doch gar nicht wer du bist. Warum sollte ich dann mit dir rechnen?“ „Soll ich dir verraten, wer ich bin?“ „Später. Sag es mir später.“ Als ich dann vor einem Jahr Probleme bekam, wusste ich, was es für Probleme waren. Warum bin ich nicht bei Benedikt geblieben? Wenn ich mit ihm ins Jahr 2000 hinein gefeiert hätte, wäre nichts passiert. Ich machte mir unendlich viele Vorwürfe. Warum ignorierte ich diesen Lektor nicht? Aber es ist nicht so geschehen. Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. 5


„Azrail, gibt es dich wirklich?“ „Ich denke schon.“ „Was meinst du damit?“ „Ich bin kein greifbares Wesen. Aber es gibt mich. Wirklich.“ „Was sollen wir danach machen, Clara?“, fragt Benedikt mich, als wir aus dem Riesenrad steigen. Ich überlege. „Was du möchtest, Benedikt.“ „Ich kann auch noch in ein paar Jahren machen, was ich will, aber du…“ Er bringt den Satz nicht zu Ende. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Er tut so, als wäre ich schon tot. Dabei bin ich noch da. Ich lebe noch. Am liebsten würde ich ihn packen und schreien: „Ich bin da, Benedikt, ich lebe! Tu nicht so, als wäre ich schon tot!“ Aber ich kann nicht. „Fällt es dir schwer, dich zu verabschieden?“ „Von wem, Azrail?“ „Nicht von wem. Du musst fragen, von was.“ „Von was soll ich mich verabschieden?“ „Vom Leben.“ „Nein. Ich habe keine Angst vor dem Tod.“ „Warum nicht?“ „Ich weiß, dass er nicht böse ist. Ich stelle ihn mir wie jemanden vor, der mich mitnimmt.“ „Benedikt, suchst du dir eine Neue, wenn ich tot bin?“ „Sag so etwas nicht, Clara!“ Ich sitze auf dem Beifahrersitz unseres kleinen Autos und beobachte Benedikt. „Das wäre doch nett! Ohne Frau würdest du dich sowieso nur von Tütensuppen ernähren!“ Ich kichere. „Clara! Hör auf damit!“ Benedikt wird wütend. Er schaut stur geradeaus auf die Straße und sagt dann irgendwann: „Es tut mir leid. Ich habe nur so viel Angst davor, dich zu verlieren.“ „Das ist in Ordnung, Benedikt.“ „Was meinst du, wie der Tod ist?“ „Ich weiß es nicht genau, Azrail. Ich stelle ihn mir als jemanden vor, der mich mitnimmt. Mitnimmt, in eine bessere Welt.“ Ein paar Wochen später liege ich im Krankenhaus. Meine Kräfte werden schwächer und schwächer. Ich werde vollgepumpt mit Medikamenten, aber es hilft nichts. Ich weiß es. Benedikt ist Tag und Nacht bei mir. „Weißt du was, Benedikt?“, sage ich leise. „Was?“ „Ich bereue es. Ich bereue es so sehr.“ „Was?“ „Dass ich dich betrogen habe.“ „Aber Clara, wie oft habe ich dir gesagt, dass mir das nichts ausmacht!“ „Aber mir. Ich finde, das ist unverzeihlich. Besonders, weil du jetzt so niedergeschlagen bist.“ „Aber das doch wegen deiner Krankheit! Das liegt nicht an dir oder deinem Seitensprung. Ich weiß doch, dass du mich liebst. Das liegt an diesem Dreckskerl. Wie konnte er dir das nur verschweigen?“ 6


Benedikt nimmt meine Hand und drückt sie. Ich lächle. „Ich bereue es trotzdem. Ich war total dumm und blauäugig. Und ich finde es toll, dass du mir verzeihst, aber ich selbst werde mir nie verzeihen können.“ Ich bereue es so sehr. Ich sollte dem Lektor sagen, was er damit angerichtet hat. Aber ich kann nicht mehr. Warum habe ich das damals gemacht? Und warum kommt die Reue erst jetzt? Dafür umso stärker. Ich bereue es. Aber ich muss mich damit abfinden. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. „Verrätst du mir jetzt, wer du bist, Azrail?“ „Weißt du es nicht schon?“ „Ich bin mir nicht sicher. Wirst du mich mitnehmen?“ „Ja. Das werde ich. Sollen wir gehen?“ „Gibt mir eine Sekunde.“ „Ich liebe dich, Benedikt“, flüstere ich, dann schließe ich die Augen. Es ist richtig so. „Kann ich dich mitnehmen?“ „Ja, Azrail. Wo bringst du mich hin?“ „Nach Hause, Clara. Wir gehen nach Hause.“

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Hass. Ergebenheit. (MoonyKatie) – Verrat mir ein Gegenmittel, Gott. „...Darum möchte ich Euch und Ihnen heute eine ganz besondere Stelle aus dem Buch Gottes vortragen. Das Zitat stammt aus dem dritten Buch Moses, Kapitel 18, Vers 22. Als Gott sprach: "Kein Mann darf mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehren; denn das verabscheue ich. Und ich sage Euch, Schwestern und Brüder, wie Gott es verkündet hat, sollte es sein...“ „Schwulenbars. Schwulenhochzeit. Schwulenfilm. Schwuuuul. Schwuhuul. Schwul.“ Egal, wie ich das Wort aussprach, es schmeckte nicht. Es hinterließ eine bittere Note auf meiner Zunge, die ich nicht hinunterschlucken konnte und auch nicht wollte. Denn ich befürchtete, mich übergeben zu müssen. „Schwul“, sagte ich wieder und schüttelte den Kopf. Wütend und enttäuscht wandte ich meinen Blick von meinem Spiegebild ab. Ich hatte gucken wollen, wie mir das Wort über die Lippen kam, wie es aussah, wenn ich es sagte. Falsch. Langsam ließ ich meine Augen durch den Raum schweifen, ohne wissendlich etwas zu suchen. Für einen Moment blieben sie an dem Kruzifix kleben, der an der Wand über meinem Bett hing und spürte, dass ich intuitiv wusste, was ich suchte. Ich konnte und durfte mich nicht selbst belügen. Deshalb sammelte ich meine Kräfte und ließ meinen Blick weiter wandern, bis er an einem dünnen, weißen Buch hängen blieb, meinem Tagebuch. 21. Juli 2008.Mein Geburtstag und der Tag, an dem ich dir sagen wollte, dass ich mich in dich verliebt hätte. Du hast mir die silberne Kette mit dem Herz geschenkt und gesagt Für dich, Emma. Ich dachte, dass du das Gleiche für mich empfindest. Dann meintest du, dass du mir noch etwas Wichtiges erzählen müsstest, und ich weiß noch, wie mein Herz lauter schlug. Du liebst mich, ich war mir da ganz sicher. Schließlich hast du mir ein Herz geschenkt, ein Zeichen deiner Liebe. Du hättest einen Freund, hast du dann gesagt und ich habe nur gelacht und mich geärgert, dass du nicht gleich zur Sache kommst. Natürlich hast du einen Freund, meinte ich, ich habe ja auch eine Freundin, eine beste Freundin. Die mir aber nie so viel bedeutet hat wie du, Derrek. Das meintest du nicht, hast du leise gesagt und ich sah, wie du rot wurdest. Ich fragte dich, wie du es dann gemeint hast. Du seist schwul, so hättest du das gemeint und dass du jetzt mit Fynn zusammen wärst. Guter Witz, sagte ich dann und begann zu lachen, doch du hast den Kopf geschüttelt. Nur langsam begriff ich und fragte, warum du mir das Herz geschenkt hättest. Ein Freundschaftsherz, erklärtest du. Doch mir war das nicht genug. Es war gar nicht so viel Zeit vergangen, seit ich das geschrieben hatte. Ein Monat und drei Tage um genau zu sein. Ein Monat und drei Tage, in denen sich meine Welt ein Stück verändert hatte. Ein Monat und drei Tage, in denen du mir immer fremder geworden warst. Du, Derrek und das, was du bist. Krank. Ich hatte versucht, es zu akzeptieren, meine Gefühle zu dir zu unterdrücken, zu besiegen und dich als Person weiterhin zu mögen. Doch es ging nicht. Anfangs war es nur mein Verstand, der sagte, dass du falsch seist. Es war mein Herz, das gesagt hat, du wärst immer noch derselbe. Aber du weiß, wem mein Herz gehört, neben dir und meinen Eltern. Gott. Er ist das Wichtigste in meinem Leben und ich vertraue ihm. Ich vertraue ihm in allem, was er sagt, seinen Taten und seinen Werken. Und er hat es nicht so gewollt, dass Männer mit Männern zusammen sind. Es steht in der Bibel, Derrek. Mein Verstand hat es schon lange gewusst und mein Herz jetzt auch. Du bist falsch. Ich kann dich 8


nicht akzeptieren, wie du bist. Genau wie ich alle anderen nicht akzeptieren kann, die so sind wie du. Es geht nicht, und Gott bestätigt mich darin. Und mit seiner Hilfe, werde ich es schaffen über dich hinwegzukommen, dich zu vergessen, dich zu verurteilen. Denn du hast es verdient. Du und er. Ich brauchte Luft, ich musste atmen. Aufgewühlt legte ich das Buch weg, ging zu meinem Kleiderschrank und zog mich an. Ein weißes, schlichtes Top und eine Röhrenjeans. Ich legte keinen besonderen Wert darauf, gut auszusehen, nein, nicht heute. Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel zu werfen verließ ich mein Zimmer, durchquerte den Flur und ging durch die Küche nach draußen in den Garten. Die Sonne schien nicht, es regnete nicht. Der Himmel war nicht blau und nicht grau. Es war ein durchschnittlicher Tag, passend zu mir. Der Garten war nicht groß, nur ein kleines Stück Rasen mit einem Apfelbaum in der hinteren, linken Ecke, eingerahmt von einen weißem Holzzaun. Ich ließ die Balkontür hinter mir zufallen und ein Schlag, der dem Donner eines Gewitters glich, fuhr durch unser altes Haus und ließ es erzittern. Zum Glück waren meine Eltern nicht zu Hause, es war Sonntag und sie waren nach der Kirche noch mit zu Freunden gegangen. Meine Eltern waren strenge Katholiken und schon seit ich denken konnte, bin ich jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Auch heute. Doch jetzt war ich alleine zu Hause, weil ich alleine sein wollte. Einfach alleine. Zum Atmen. Zum Nachdenken. Mit vier Schritten hatte ich die Mitte des Gartens erreicht und legte mich rücklings auf das Gras. Die feinen Halme kitzelten an meinen Nacken, meinen Armen und meinen nackten Füßen. Ein sanfter Wind wehte, doch schaffte es nicht mir das Gefühl von Kälte zu verleihen. Wahrscheinlich deshalb, weil ich innerlich schon erfroren war. „Schwul“, dieses Mal atmete ich das Wort aus, versuchte es der Leichtigkeit des Windes anzupassen und schaffte es tatsächlich, dass es ungefähr zwei Zentimeter mit der Luft davon flog. Jedoch nur, damit es mitten über meinem Herz wieder hinunter fiel und mich erdrückte. Es tat weh und ich hasste das Gefühl es zu wissen. Es war einfach nicht normal. Es passte nicht, es durfte nicht sein und war falsch. So falsch. „Mit wem redest du denn, Emma?“ Ich erkannte seine Stimme sofort und merkte, wie seine Worte noch schwerer auf meine Brust drückten als das, was meine Gedanken bestimmte. „Mit niemandem“, antwortete ich und drehte meinen Kopf nach links, dahin, wo er stehen musste. Dahin, wo er immer stand. Derrek, mit seinem rosa Volleyball, den er unter den Arm geklemmt hatte. Schon seit ich denken konnte, war er mein Nachbar gewesen. Und mein bester Freund. Jetzt wusste ich nicht mehr, was er war. Und da stand auch er, Fynn. Er, der Derrek angesteckt hatte. Er, der Derrek verändert hatte. Er, der mir meinen besten Freund genommen hat. Es war nur ein winziger Moment, ein Wimpernschlag, in dem ich Fynn ansah und er meinem Blick begegnete, doch der reichte, um Bilder hervorzurufen, die ich nicht sehen wollte. Bilder von Fynn und Derrek. Zusammen. Überall. In der Schule, hier, im Garten, beim Einkaufen, wie sich sich küssten. Mir wurde übel, ich wollte ihn nicht sehen und wandte mich von ihm ab. „Hallo, Emma“, sagte er, ich schwieg. Er war eine Antwort einfach nicht wert, auch wenn ich sah, wie Derrek die Augen verdrehte und sich zu Fynn hinüberlehnte. Kurz danach ging der zurück ins Haus und ließ mich mit Derrek alleine. Ich konnte nicht sagen, was es für ein Gefühl war, als er wegging. Jetzt war es wenigstens nur noch einer von ihnen. „Aber ich hab doch genau gesehen, wie du deine Lippen bewegt hast“, sprach Derrek schließlich und ich sah, dass er lächelte. Sein Lächeln widerte mich an. Es war ekelig, seinen Mund zu betrachten mit dem Wissen, dass genau diese Lippen auf denen von Fynn geruht hatten. Dass genau diese Zunge, mit der er jetzt so unschuldige, scheinbar belanglose Worte formte, in seinem Mund gesteckt und Körperstellen berührt hatte, die ich mir lieber nicht vorstellen wollte. „Was geht 's dich an?“, entgegnete ich nur. Es war zu schwer ihn anzusehen und gleichzeitig das Wort, das für ihn selbstverständlich war und nun tagtäglich in meinem Gedächtnis herumkreiste, nicht als Beleidigung zu benutzen, wenn ich mit ihm redete. „Du hörst dich an wie ein kleines, beleidigtes Kindergartenkind“, stellte er nach einer Weile nüchtern fest und kurz darauf sah ich, wie ein rosa Volleyball direkt auf mein Gesicht zuflog. Nur Sekunden, 9


bevor er aufprallen konnte, schaffte ich es, ihn abzufangen. Und zitterte. Vor Wut. „Schwul“, formte ich tonlos mit den Lippen, denn der Ball war rosa. Der verdammte Ball war rosa! „Spinnst du?“, rief ich und setzte mich auf. Mit aller Kraft, aller Wut und aller Verachtung, die sich in mir angestaut hatten, warf ich ihn zurück, wohl wissend, dass er es nur als Spaß gemeint hatte. Ich traf sein Gesicht. Dann hörte ich nur noch, wie Derrek scharf die Luft einsog, als der Ball ihm vor die Füße fiel und er sich die rechte Hand vors Gesicht hielt um sein Nasenbluten zu stoppen. Er sah mich nicht an, sondern blickte starr auf den Boden. Schon nach wenigen Sekunden bemerkte ich, wie vereinzenld Blutstropfen auf den Rasen fielen. Ich erschrak, als mir bewusst wurde, was ich getan hatte. Ich erschrak, weil es sich gut anfühlte. Ich fühlte mich nicht schuldig. Im Gegenteil. Ein schleichendes Gefühl von Befriedigung breitete sich in meinem Körper aus. Ich lächelte und wusste, dass es richtig war, was ich getan hatte. Gott hatte es so vorgeschrieben. Ich konnte keine Menschen akzeptieren, die falsch waren. Es ging nicht, es sollte nicht sein und es war egal, wer es war. Auch Derrek war keine Ausnahme und sollte keine sein. „Schwul“, flüsterte ich und stand auf. Ich wollte gehen, drehte mich um und stockte, als er so leise zu sprechen begann, dass ich Mühe hatte, die Worte zu verstehen: „Ich wusste, dass du gelogen hast, als du meintest, dass es dir nichts ausmacht. Ich hab es in deinem Blick gesehen. Du warst angeekelt, deine Augen haben die Worte ausgesprochen, die du deinem Mund verboten hast zu sagen. Ich verstehe, dass es ungewohnt für dich sein muss, aber ich bin doch immer noch ich, oder nicht, Emma?“ Ich schwieg für einen Augenblick, atmete ein, atmete aus und spürte, wie sein Blick mich von hinten durchbohrte. „Du hast keine Ahnung, was ich gedacht habe. Du hast keine Ahnung, was ich gefühlt habe. Du hast einfach keine Ahnung. Du weißt nicht, was du da machst, Derrek.“ Bei diesen Worten drehte ich mich um, ich wollte ihn ansehen und hörte mein Herz viel zu schnell schlagen, als ich ihn dort stehen sah, keinen Zentimeter anders als zuvor. „Es ist nicht normal. Es passt einfach nicht. Die Natur hat es nicht so vorgeschrieben. Gott hat es nicht so vorgeschrieben! Die Gesellschaft akzeptiert es nicht. Es ist widerlich. Es ist abartig. Wie eine Scheiß-Krankheit! Und Krankheiten gehen weg, das weiß du. Deshalb hör auf, davon zu reden, als wäre es normal. Denn das ist es verdammt nochmal nicht!“ Ich bemerkte erst jetzt, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte, dass ich viel lauter geredet hatte als ich wollte, und dass ich plötzlich viel näher am Gartenzaun stand als vorher. „Und guck mich an, wenn ich mit dir rede!“ Er tat es. Er sah auf, richtete sein Blick auf und ließ seine Hand sinken. Das Blut trocknete bereits, sein halbes Gesicht war verklebt. Doch das war es nicht, was mich störte, es war etwas anderes. Die Tränen in seinen Augen. „Du hasst mich, weil ich schwul bin? Du sagst, es sei eine Krankheit? Ich habe wirklich versucht, Verständnis für dich zu haben, gerade weil du so streng christlich erzogen bist, habe dir Zeit gegeben, selber nachzudenken. Aber ich weiß echt nicht, was dein Problem ist!“, sagte er, dieses mal lauter als zuvor. „Ich habe nie gesagt, dass ich dich hasse! Und du willst wissen, was mein Problem damit ist?“, rechtfertigte ich mich, konnte meiner Stimme aber nicht die Schärfe verleihen, die ich mir erhofft hatte. „Sag es mir. Sag mir, dass du mich nicht hasst und sag mir, was dein Problem ist“, er sprach ruhig, zu ruhig und hatte sich im Griff. Konnte seine Gefühle kontrollieren, im Gegensatz zu mir, ich drohte die Kontrolle zu verlieren. „Fynn ist mein Problem“, es kostete mich unglaublich viel Überwindung den Namen auszusprechen, seinen Namen, „und dass er dich schwul gemacht hat.“ Ich wusste in dem Moment nicht, was schlechter schmeckte, der Name oder das Wort, was sich in meinen Kopf gebrannt hatte. „Und das andere?“ „Wie das andere?“, erwiderte ich leise und versuchte seinem Blick zu entkommen, damit er mein Geheimnis nicht in meinen Augen las. Denn es war eine Lüge gewesen, das mit Fynn. „Das mit dem hassen“, meinte er ernst und suchte meinen Blick. Ich wollte ihn nicht ansehen, und konnte ihm nicht antworten. Ich hörte mein Herz klopfen, dachte an mein Spiegelbild. Nichts besonderes. Ich war nicht besonders, doch ich war nicht die, die falsch war. Nicht ich war es, die krank war : „Schwul.“ Ich atmete ein: „Schwul. Schwuuuul. Schwuhuul. Schwul.“ Ich atmete aus und 10


drehte mich weg, unfähig seinem Blick weiter auszuweichen. Ich weinte, und er weinte mit mir, am Gartenzaun. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, in der wir da standen, uns nicht ansahen und einfach nur miteinander weinten. Ich weinte um ihn, nur um ihn. Nicht um das, was er war. Schwul. Denn es war Fynn, der ihn mir weggenommen und angesteckt hatte, mit dieser Krankheit. Gott, verrate mir das Gegenmittel, ich bin machtlos geworden und weiß, dass es nicht so weitergehen kann. Derrek und ich konnten keine Freunde mehr sein, nicht wenn er so war. Er war nicht der, den ich kannte, den ich wollte, den ich liebte. Er war schwul, und schwul war anders. Einfach falsch. Abnormal. Abartig. „Du schuldest mir eine Antwort“, sagte er mit den ekeligen, schwulen Lippen. „Ich hasse“, begann ich schließlich und suchte nach Worten, die ich doch längst gefunden hatte, „dich. Schwuchtel.“ Ich drehte mich weg und konnte ihn nicht mehr sehen. Tränen vernebelten mir den Blick. Und ich bemerkte nicht, dass die Enttäuschung mir den Verstand vernebelt hatte. Ich hasste Derrek nicht, nur das, was er war. Schwul. Ich dachte an Gott, und an das, was er zu Moses gesagt hatte. Da wusste ich, dass ich richtig gehandelt hatte.

Verachtung. Trauer. (Philipp.) - H minus G ist H – Ernst und Parodie mit Verachtung und Trauer – G. warf den Becher um und der Wein schwappte in einer Welle über den ganzen Tisch, nur um ihn rot zu färben. Schon im selben Moment wusste er, dass sich seine Gestalt dem unterwerfenden Blick des H. nicht entziehen konnte, deshalb schwieg er, um die Situation nicht zu überreizen. H. konnte Qualen übermitteln, wenn er wollte, denn H. hatte überall und jederzeit die Möglichkeit, mit einem Fingerschnipsen Köpfe zum Rollen zu bringen. G. schwieg. Eben noch gelacht und Karten gespielt, jetzt eine Stille, die die Luft aushärtete. Manchmal irrte er sich in Menschen, nahm an, sie würden völlig anders sein, angenehmer oder umgänglicher, aber bei H. hatte er so etwas schon immer geahnt. Dann hatte er es gewusst, als vor ihm die Köpfe rollten. Köpfe rollten war eine Metapher. Es rollten nämlich keine. Sie schlugen nur auf und blieben so liegen, wurden sie nicht weggetragen samt Körper und Seele. „Der gute Wein.“ H. deutete ein federleichtes Lächeln an, ein erleichterndes Lächeln, klopfte seinen Kartenstapel auf dem Tisch zurecht und fächerte ihn sorgfältig in seinen Händen auf. G. konnte nicht ausschließen, dass seine Finger dabei zitterten. Er dachte an dünne Zweige, Trauerweide vielleicht. An einem ruhig plätschernden Bach, in dem die Steine hin- und herrollten. Rot und blutig. Augen starrten, erschrocken vom plötzlichen Tod, aus ihnen hervor, ein leiser Schrei, Zuende. Mehr Steine. Aber es war nur eine Metapher. Pik König. Herz 10. Herz Bube. Karo 4. „Sie haben verloren. Der Einsatz geht an mich.“ „Ich sollte mir mehr Mühe geben.“ G.s Lust auf Karten wurde durch die grauen Wände total zerstört. Grauer Beton oder Zement und Putz oder was es war. Er hustete, der Staub hier unter der Reichskanzlei brachte ihn noch um. Umbringen könnte ihn auch sein Gegenüber, aber G. dachte nicht daran, etwas dafür zu tun. „Sie sollten nicht gegen mich spielen.“ Langsam wurde die Luft hier unten wirklich dick, was an den Lüftungsschächten liegen könnte. Oder die Luft draußen war auch so zäh, durch den aufgewirbelten Staub und den Geruch des... 11


„Sie bezahlen mir den Wein, wenn wir hier wieder draußen sind, ja?“ So ein Arsch. G. kratzte sich am Kopf, während er kurz nickte. Durch die Einöde dieses kleinen Raumes schlich sich bei G. ein Spruch in den Kopf, mit seiner eigenen Stimme gesprochen. Sturm bricht los! Eigentlich wusste er nicht, warum das nun geschah, aber es gefiel ihm. Vermutlich war der Sturm auch der Grund für den Geruch des... dort vor der Tür. Oder die Staubaufwirbelung. Er hatte wirklich keine Lust mehr auf Kartenspielen. Den Eindruck verstärkte auch die Frau, die dort in der Ecke saß und weinte. Und die andere Frau gegenüber, die ihre sechs jungen Kinder an sich drückte. Weinte. Eigene Familie. H. hatte wieder gewonnen, schob gleich die Münzen von der Tischplatte in seine weite Hosentasche. Sein Mitspieler hätte gleich aufgeben sollen. Und die dort draußen auch. Verdammte Hundesöhne, die immer fest an ihren Sieg glauben müssen, auch wenn sie genau wissen, dass alles überhaupt nicht den Ansatz eines Sinns hatte. Jetzt hatte er Lust, die Tür zu öffnen und mit seinen kräftigen Schritten und einem breiten Grinsen in die Welt zu spazieren. Kartenspielen war ihm vergangen bei diesem schönen Gedanken. Frische Staubluft atmen, den Geruch des Todes. G. könnte hier warten. G. war ein nutzloser Feigling. Dieser Gedanke machte G. wirklich unbändig traurig. Dieser H. war verantwortlich für die Metapher, die in seinem Kopf herumschwirrte und ihm auch im Schlaf immer Befehle zubrüllte. Anweisungen, Morddrohungen, Propagandafeldzüge. Er hatte keine Lust mehr darauf. Ein ganz flüchtiger böser Blick zu H. Wirklich kaum sichtbar, aber für G. selbst furchteinflößender als eine Pistole, die ihm an den Schädel gehalten wird. Dieser knorrige Trauerweide hatte Macht – am meisten, wenn sie die Steine beobachtete und lachte. Er lachte wirklich. Und G. fragte sich, ob er überhaupt etwas dafür hätte tun können, H.s Sieg zu verhindern. Vielleicht hätte er die Karten ein wenig anders legen sollen oder aber H. selbst hatte das getan. Das wäre wirklich nicht in Ordnung gewesen, denn immerhin ging das Spiel um bares Geld. Synchrones Schluchzen aus den Ecken. Die Gedanken versinken manchmal in sich selbst, aber dann weiß man nicht mehr genau, auf welchen man achten muss, ganz einfach weil man sie nicht mehr einzeln realisiert. G. denkt an die Köpfe - seine Metapher, die er gerne abgeschüttelt hätte -, an Karten, an Geld, an die Propaganda und Siegenhymnen, dann kurz an Qualen. Trauer war es nicht ganz, die ihm dabei einholte, eher ein ungutes Gefühl. Wie, wenn man zu viel Wein getrunken hatte. Trauer oder Wein? Schnelle Entscheidung. Er nahm den Wein. H. spürte die Kühle seiner Waffe in der Hand. Ihr Stahl war wirklich erhaben. Er wollte jemanden damit erlegen, ein paar Franzosen vielleicht. Jeder Stoß ein' Franzos'. Eine gute und bewehrte Divise für einen Kampf. Die Lust durchfuhr ihn ruckartig. Es war der 30. April, irgendwas musste passieren, das spürte G. in jedem seiner Körperteile. Der arische Klumpfuß zitterte erwartungsvoll. Langsam ging ihm nicht nur der Krach von draußen auf die Nerven, sondern auch das ständige Gejammere aus den Ecken. Frauen konnten perfekte Familie spielen, aber für sowas waren sie eindeutig nicht zu gebrauchen. Sie konnten sich am 29. mit Führern verheiraten, aber hier war Schluss. Er fuhr sich durch die Haare. Sie waren feucht. Heute musste noch irgendwas passieren. Hier war es langweilig. 12


Sie werden ihren Sieg gegen mich nicht bekommen. Ich bin irre. Und sie sind irre. Und ich bin irre und Deutschland. Es wollte mir nicht helfen und deshalb wird es heute im Anmarsch dieser übermächtigen Kreaturen untergehen müssen. G. genoss das Geschehen. Das leise Getuschel hinter der Tür. Wieder verweichlichtes Schluchzen. Dann schoss H. und G. hörte zwei dumpfe Aufschläge auf den staubigen Boden. H. schwieg endgültig. Stille Minuten verstrichen. Er wusste einfach nicht, woher dieser Geruch des Todes kam - wahrscheinlich starb eine Ratte irgendwo im Bunker. G. trank genüsslich den letzten Schluck Wein aus der Flasche, während er sich vornahm, morgen eine glückliche Familie zu morden. Gab es in Russland eigentlich auch glückliche Familien? Aus der Ecke kam wieder ein Schluchzen. Morgen gewänn er. Und wär dabei Chef für einen Tag.

Verlangen. (Saphire) – Als mein Leben nicht mehr mir gehörte

Ein rauchiges Lachen, die harten Züge seines Gesichts, dieser durchdringende Blick, kräftige Berührungen, unter denen mein Körper bebte. Verdammt. Schon wieder geträumt. Reflexartig ballte ich meine Hände zu Fäusten, was sich als keine gute Idee herausstellte: Prompt entglitt das Mathebuch meiner rechten Hand und landete, mitsamt der eben gerade ausgeteilten Matheklausur, auf dem Boden des Schulflures. Seufzend hob ich sowohl das Buch, als auch meine Arbeit auf und betrachtete diese wehleidig. Groß und rot stand auf der ersten Seite 3 Punkte. Eine Fünf in Mathe. Schlecht. Das wäre nie passiert, hätte noch etwas anderes als diese Gedanken Platz in meinem Kopf. Auf dem Weg zum nächsten Raum, versuchte ich mich auf andere Dinge zu konzentrieren, doch letztendlich verlor ich mich wieder in… blauen Augen, dunklem Haar, Locken, die ihm ins Gesicht fielen, schmalen Lippen, diesem zufriedenem Lächeln. Mein Herz schlug fordernd gegen meinen Brustkorb. Schon gut, ermahnte ich mich zur Ruhe. Er brachte mein ganzes Leben durcheinander. Aber ich konnte einfach nicht aufhören, an ihn zu denken. Und da Denken und Laufen für mich keine all zu gute Kombination darstellten, war es nicht sehr verwunderlich, dass ich nach kaum zehn Metern mit einem Kerl aus meiner Stufe zusammenstieß. Ich funkelte ihm böse zu und erblickte gleichzeitig jemanden hinter ihm. „Hey, Juan“, begrüßte ich ihn. „Isabel“, entgegnete er mürrisch und ging weiter. Wärme erfüllte meinen Körper und ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Mit genau diesem verzückten Gesichtsausdruck blieb ich stehen und versuchte die Begegnung im ohnehin schon überfüllten Ordner Juan in meinem Kopf abzuspeichern. Kein Moment sollte verloren gehen. 13


Und wie es der Zufall wollte - Nach der Schule traf ich ihn wieder. Er stand mit einem brünetten, auffällig geschminkten, lederjacketragenden Mädchen, vor dem Haupteingang, während ich gerade meinen Heimweg antreten wollte. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und er küsste sie energisch. Eine angenehme Wärme durchfuhr meinen Körper und ich merkte, wie meine Lippen ein Lächeln formten. In diesem Moment ließ er von seiner Flamme ab, fing meinen Blick auf und warf mir seinerseits ein zufriedenes Lächeln zu. Sein Lächeln. Dieses Lächeln, das ich so sehr liebte. Als ich am Abend im Schneidersitz auf meinem Bett saß und ohne rechten Erfolg über meinen Hausaufgaben brütete, klingelte mein Handy. Ich nahm ab und erkannte die sanfte Stimme sofort. „Was willst du?“, hauchte er boshaft ins Telefon. „Was soll ich wollen?“, fragte ich irritiert und zugleich freudig erregt ins Telefon. „Du grinst mich an.“ „Ist das verboten?“ Ich musste erneut lächeln und spielte mit einer meiner schulterlangen Haarsträhnen. „Nein, mein Gott, natürlich nicht. Aber es ist aus zwischen uns. Du siehst mich mit einer anderen rumknutschen und lachst dabei? Ist das dein Ernst, Isabel? Ich dachte, dass du eher…“ „Rumheulst?“, brachte ich es auf den Punkt. „Genau.“ „Nein, habe ich nicht und werde ich auch nicht.“ „Als ich mit dir Schluss gemacht habe, warst du am Boden zerstört“, gab er zu bedenken. Und ich hörte aus seiner Stimme heraus wie verwundert er war. „Tja, das ist ja jetzt schon mehr als zwei Monate her.“ „Also willst du mich nicht zurück?“ Ich war erstaunt über diese Frage, antwortete aber mit kühler Ruhe: „Das habe ich nicht gesagt.“ „Also schon?“ „Was willst du?“ Für einen Moment schwieg er und ich hörte durch das Telefon nur ein, zwei Atemstöße, die ich sofort in mich aufsog. „Etwas ganz Unverbindliches, nur Spaß“, raunte er genüsslich. „Völlig ohne Gefühle?“, flüsterte ich anziehend. „Ganz und gar ohne.“ Das versetzte mir einen schmerzenden Stich ins Herz. Ich musste lächeln. „Morgen um sieben bei mir. Gute Nacht.“ Ich nahm den Hörer von meinem Ohr, hörte Juan noch etwas sagen, verstand aber kein Wort. Dann beendete er den Anruf und ich ließ mich glückselig in die Kissen fallen. Ich bekam genau das, was ich wollte. Schon jetzt sehnte ich mich wieder danach, mit meinen Fingerkuppen über seine verschwitzte Brust zu streicheln. Nach seinem leisen Stöhnen, wenn es kein Zurück mehr gab. Ihm dann zu zusehen, wie er beinahe direkt danach aufsteht, sich anzieht. Nach dem Abschiedskuss, den er mir nicht gibt. Und nach dem Verlassenwerden. Juan war der Sinn meines Lebens. Nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen war, wusste ich nicht, wie ich die entstandene Leere in meinem Dasein füllen sollte. Ohne Juan ging es einfach nicht. Es war die Hölle für mich gewesen, ihn tagtäglich in der Schule zu sehen. Wie sein Lächeln nicht mehr nur mir galt. Sondern jedem x-beliebigen Mädchen – er war nun frei, so wie ich. Obwohl ich es nie Freiheit nennen könnte, denn in mir drinnen zerriss es mich nach ihm. Aber er liebte mich nicht, daran konnte man nichts ändern, damit hatte ich mich abgefunden. Niemals wieder würden wir ein Liebespaar sein. Aber wer sagte eigentlich, dass man nur als Liebespaar glücklich werden konnte? Wer sagte, dass nur seine Liebe mich erfüllen konnte? Vielleicht reichte mir etwas Juan, nur ein Stückchen – wenn ich den ganzen Kuchen schon nicht haben konnte. Et voila: Das war mein Plan. „Oooh, Isa. Mit dir zu schlafen ist immer noch das Beste“, teilte er mir zufrieden mit, als er sich ächzend zurück auf die Matratze fallen ließ. Ich widerstand dem Wunsch, mich an ihn zu kuscheln und ihn liebevoll zu streicheln. Ich schaute in seine Augen und entdeckte keine Gefühlsregung. 14


„War wohl einer der einzigen Gründe, warum unsere Beziehung dreizehn Monate lang gehalten hat“, stellte ich nüchtern fest. „Der Einzige“, sagte er völlig taktlos. Ich hielt eine Sekunde lang den Atem an und ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich seine Bemerkung traf. Ich schluckte das stechend schmerzende Gefühl hinunter, stützte meinen Kopf auf meinem angewinkelten Arm ab und sah Juan einfach nur ausdruckslos von oben herab an. Letztendlich konnte ich mich doch nicht zurückhalten und strich mit zwei Fingern über seine Brust. Er musterte mich verständnislos. „Was soll das werden?“ Seine Augen weiteten sich ungläubig, er musterte mich von oben bis unten, bevor er sich wieder aufsetzte. „Willst du etwa kuscheln? Wir hatten einen Deal, Isa. Nur Sex. Guter Sex. Keine Zuneigung. Versteh es einfach. Ich gehe.“ So war er schon immer gewesen, er rastete schnell aus und scherte sich nicht um Höflichkeit. Wütend schubste er mich weg, sprang auf, suchte seine Klamotten, fluchte, weil er eine Socke nicht finden konnte und starrte mich dann, als er aufbruchsbereit war, an. Ich hatte das ganze Theater geduldig verfolgt und lächelte jetzt liebenswürdig, fast schon verführerisch, mit neckisch geschwungenem Körper vom Bett aus. „Wann wiederholen wir das?“, säuselte ich und Juans Blick wurde misstrauisch, seine Augen kamen mir vor wie Waffen. Waffen, die sich in mein Herz bohrten und es zerschlugen, die damit spielten, rücksichtslos und brutal. Trotzdem hielt ich seinem Blick stand. „Ich ruf dich an.“ Damit verließ er mein Zimmer und schlug die Tür zu. Ich griff nach meiner Decke und kuschelte mich eine halbe Stunde lang hinein, sog den Geruch seines Körpers, den ich in der Decke verewigt zu wissen glaubte, ein. Einatmen. Ausatmen. Ich genoss das Schlachtfeld in meinem Herzen. Genoss das schmerzliche Pochen. Genoss die Gewissheit, dass ich wenigstens das noch von Juan bekommen konnte. Ich erhielt zwar keine Liebe, doch auch Schmerzen konnten so furchtbar wohltuend sein. Es war zumindest besser, als komplett auf Gefühle zu verzichten. Am nächsten Tag in der Schule ignorierte er mich. Ich wartete auf einen Anruf. Keiner kam. Aber auch das befriedigte mich. Auch wenn wir jetzt schon einige Zeit lang getrennt waren, konnte ich einfach nicht auf Juan verzichten. Und wenn ich seine Liebe nicht bekommen konnte, so wollte ich ihn trotzdem haben. Irgendwie. Und den geeignetsten Weg hatte ich gefunden und nicht gescheut ihn zu beschreiten. Keine Liebe, dafür dauernde Enttäuschung. Ich war süchtig nach den Schmerzen, die er mir zufügte. Mein Verlangen nach seinen bissigen Bemerkungen und der Versicherung, dass ich ihm nichts mehr bedeutete, war schon fast krankhaft. Natürlich fühlte ich mich schlecht. Doch schlechter würde ich mich fühlen, wenn ich ihn ganz aus meinem Leben verbannen müsste. All die Monate war ich ihm hinterher gelaufen, hatte meine Hoffnungen auf den kleinsten Liebesbeweisen aufgebaut und war dafür ständig bitter enttäuscht worden. So hatte er mir schon immer weh getan. Nie hatte er sich gemeldet, wenn er es versprochen hatte, mir immer wieder das Gefühl gegeben, nur eine zu sein und nicht die Eine. Ständig waren seine Freunde wichtiger als ich gewesen. Dann das Fitnessstudio, immerhin trainierte er seinen Körper ja auch für mich, versicherte er mir zumindest. Oder es kam ein wichtiger Besuch bei seiner Tante dazwischen. Immer waren ihm neue, unglaubwürdige und lächerliche Ausreden eingefallen, wieso er für mich keine Zeit gehabt hatte. Trotzdem hatte ich ihn nicht loslassen können, ich liebte ihn. So sehr er mich auch verletzte, so sehr versorgte er mein Herz doch auch kurzzeitig mit Glück. Erst, als er keine Lust mehr auf mich hatte, beendeten wir die Beziehung. Dennoch kam er jedes Mal wieder auf mich zurück. Ich verstand nicht wirklich wieso, aber ich wusste einfach, dass er sich bald bei mir melden würde. Das tat er immer. Manchmal dauerte es länger, manchmal eben nicht. Aber irgendwann kam immer ein Anruf. Und auf diese Anrufe lohnte es sich zu warten. 15


„Sex? Heute? Bei mir zu Hause um halb acht?“ Ich hörte die Gier in seiner Stimme. Bei ihm im Hintergrund rauschte es, ich hörte den Autos zu und vergaß seine Frage fast. „Isabel? Hallo? Jetzt antworte doch endlich.“ Er wurde ungeduldig. „Ich werde da sein.“ Nachdem er aufgelegt hatte, seufzte ich tief. Eine neue Gelegenheit ihn zu sehen. Darauf hatte ich tagelang gewartet. Niemals hätte ich Nein zu ihm sagen können. Seine Mutter öffnete mir am Abend die Tür. Sie begrüßte mich liebenswürdig aber verwirrt. Ich ging die knarrenden Stufen hinauf zu Juans Zimmer und wusste, als ich die Tür öffnete, sofort, was seine Mutter denken musste. Womit sie wahrscheinlich auch recht hatte. „Isa“, sagte er kühl und mit freudig funkelnden Augen, „das ist meine neue Freundin. Aber gesehen hast du sie ja schon mal. Du hast sicher nichts dagegen, wenn sie heute mal mitmacht. Sie steht total auf Dreier." Das fremde Mädchen, nur mit einem BH und dem dazugehörigen Höschen bekleidet, lag auf Juans Decke und würdigte mich eines abschätzenden Blickes. Ich empfand augenblicklich Abscheu für sie. „Kein Wunder, dass du sie abserviert hast“, meinte ich sie murmeln zu hören, ließ mir aber nichts anmerken. Dieses Mädchen war es nicht wert, wegen ihr würde ich mich nicht aufregen. Aber natürlich tat mir die Situation weh. Es war dieser süße Schmerz, den mir Juans nicht vorhandene Liebe ständig bescherte. „Na dann, Mädels...“ Juan lachte und es klang falsch. Dann warf er sich auf sein Bett und seine Freundin, deren Namen mir Juan noch nicht einmal genannt hatte, griff sofort nach seinem Gürtel. Ich wusste, er erwartete von mir, dass ich mich jetzt genauso auf ihn stürzte. Er erwartete, dass ich für ihn tat, was er sich wünschte. Und ich wollte es tun. Alles wollte ich machen, was mich in seine Nähe brachte. Doch es kam mir vor, als wäre ich nicht mehr im Geschehen, nicht mehr in diesem Leben. Plötzlich war ich nur noch ein Zuschauer, ich betrachtete Juans Leben als Außenstehende. Juans Film lief vor mir ab. Und ich entdeckte auch meine Rolle darin. Sie war nicht klein, aber auch nicht groß. Sie befand sich nicht in seinem Herzen und war auch nur ganz klein in seinem Kopf vertreten. Meine Rolle war Befriedigung. Meine Rolle war das Objekt, an dem er seine Macht ausüben konnte. Meine Rolle stärkte sein Ego. Meine Rolle sollte nur für ihn da sein, wenn er sie brauchte. Meine Rolle sollte tun, was er befahl. Meine Rolle sollte sich nicht wehren. Meine Rolle sollte ergeben sein und alles ertragen. Das hatte ich auch vorher schon gewusst. Das war mir alles bewusst gewesen. Doch etwas Entscheidendes geschah jetzt: ich merkte, was meine Rolle sonst noch war. Dumm. Dumm und zerstörerisch. Sie fraß sich selbst auf. Ich fraß mich damit auf. Ich starrte Juan an und mein Herz schien stehen zu bleiben, das Atmen fiel mir schwer und meine Knie begannen zu zittern. Ich spürte, dass ich die folgen Worte sagen musste und hoffte, dass meine Stimme nicht so wackelig war, wie sie sich anfühlte. „Juan…Wie kannst du nur? W…wie kannst du nur so mit den Gefühlen anderer Menschen spielen? Und ich Idiot habe es dir auch noch so einfach gemacht. Du hattest bestimmt viel Spaß mit mir. Du bist so erbärmlich! Ich will dich nie wieder sehen, Juan. Nie, nie wieder!“ Diese Worte verließen meinen Mund zwar wie ein Wasserfall, dennoch beherrschte ich mich und ließ Juan meine Gefühle nicht erkennen. Nach außen hin gab ich gar nichts preis. Denn diese Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen. Er konnte mich zum Weinen bringen, wenn er nur wollte, doch das sollte er nicht erfahren. Denn weinen war noch das kleinste Übel. Die Erkenntnis meiner Dummheit und Naivität ließ mir mich wertlos vorkommen. Scharfe Klingen bohrten sich in meine Lungen und raubten mir den Atem. Mein Herz steckte massenweise Fausthiebe ein. Und dieser Schmerz tat nun gar nicht mehr gut. Er war nicht süß, sondern bitter. Nach meiner kleinen Ansprache, ließ Juan auf seinen Lippen dieses Lächeln erkennen. Sein Lächeln. Dieses Lächeln, das ich nur noch verabscheuen könnte. 16


Einmal, nur ein einziges Mal wollte ich ihm wehtun, ihm dieses selbstzufriedene Lächeln austreiben. Denn plötzlich kamen statt der bedingungslosen Liebe und der ständigen Demütigung, die ich für Juan empfunden oder ertragen hatte, andere Gefühle zum Vorschein. Ekel und Wut. „Ach ja“, fauchte ich, „im Bett bist du übrigens eine Niete.“ Auf einmal fühlte ich mich seltsam leicht. Ich sah Juan neugierig an und seine Augen funkelten ungläubig. Seine neue Freundin kicherte und das wirkte wie eine Bestätigung für meine Worte. Juans Lächeln verschwand augenblicklich und machte Unsicherheit Platz. Genugtuung durchströmte mich. Ich drehte mich um, ging langsam aus dem Zimmer, aus dem Haus. Auf dem Weg ließ ich noch mal jede Minute mit Juan Revue passieren. Mit dem Griff der Haustür ließ ich auch ihn los. Ich atmete tief die kühle Abendluft ein. Sie roch so ganz anders als all die Abende zuvor, so viel besser, so viel klarer. Meine Lungen füllten sich mit dieser Luft, meine Augen sogen jede Kleinigkeit, die sie sehen durften, begierig auf. Begierde, Verlangen, was auch immer – aber nur nach Luft und Leben, nicht nach Juan.

Schuld. Verzweiflung. (DiaryPrincess) – Ein Mädchen wie Lara „Sie haben bestanden, Glückwunsch!“, rief der Prüfer und Karolina Klein stand nur da, das kleine, weiße, rechteckige Viereck von Blatt in der Hand haltend und überlegte freudig, was sie heute Abend zu ihrer Party anziehen würde. Du. Bist. Schuld. Draußen ist es grau. Einzelne Tropfen fallen vom Himmel, dunkel jagen die Wolkenfetzen und die Blätter wirbeln umher, fliegen davon, wohin auch immer der Wind sie trägt. Es ist eine einsame, verletzliche Stille, die Karolina Klein umgibt. „Und nun wollen wir Abschied nehmen, von Lara Leffers, einer Tochter, einer Freundin, einem vom Herzen guten Menschen der sein Leben noch vor sich hatte! Gütiger Gott, sei ihrer Seele gnädig! Lasset uns beten!“ Dicke, salzige, diamantengleiche Tränen laufen Karolina über die Wangen, tropfen von ihrer wohlgeformten kleinen, kecken Nase auf den Boden, mischen sich mit den Regentropfen, als würde auch der Himmel mit ihr weinen. Es tut so weh! Nur schmerzlich kann sie ein Schluchzen unterdrücken, dem Drang widerstehen weg zu laufen und versuchen zu vergessen. Karolina fährt sich mit einer Hand durch ihre langen blonden Locken, die über ihren Rücken fallen wie pures Gold, lässt sie einzeln durch ihre kleinen, schlanken Finger gleiten und denkt dabei an das Mädchen im Sarg, das genau so schöne Haare hatte wie sie. In der anderen hält sie eine dunkelrote Rose. Um sich herum hört Karolina Schluchzer, die Mutter bricht neben dem Sarg zusammen, der Vater versucht sie zu stützen, aber er kann sie nicht halten. Beide sitzen auf der Erde, im feuchten, nassen Gras und versuchen mit der erschreckenden Wahrheit klar zu kommen, dass sie ihre Tochter nie wieder sehen werden. „Meine Tochter!“, klagt die Mutter verzweifelt und neue Tränen sammeln sich in Karolina Kleins Augen, jetzt kann sie ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Meine Tochter“, wiederholt die Mutter leiser, mehr zu sich selbst als zu irgendwem anders. Karolina schlingt die Arme um sich, versucht sich fest zu halten, um nicht auseinender zu brechen. Niemand achtet auf sie. Der Sarg wird angehoben und in die offene Erde gelassen. Klagelaute ertönen, der Regen trommelt auf den Sarg, die kleinen Tropfen spritzen auseinander und es werden immer mehr. Vermehren sich ebenso wie die Tränen auf den Gesichtern der Trauernden. Im Takt des Regens schlägt Karolinas Herz. 17


Wird ihr Herz aufhören zu schlagen, wenn es aufhört zu regnen? Karolina Klein weiß die Antwort nicht. Es ist kalt. Mechanisch zieht sie ihren schwarzen Schal enger, über Mund um Nase. Es kommt ihr so vor, als würde ihre Anwesenheit die Luft verpesten. Sie kämpft mit sich, hält inne und redet sich ein, dass das Leben weiter geht, aber mit dem Wissen, ein junges, unschuldiges Mädchen auf dem Gewissen zu haben. Sie muss stark sein. Für sich. Für das Mädchen im Grab. Die Menge scharrt sich enger um das Grab, doch Karolina bleibt abseits, stellt sich nicht dazu, denn sie gehört hier nicht hin. Blumen werden in das offene Grab geworfen, Briefe, Bilder. Niemand sagt oder spricht ein Wort und doch sind sie eins mit der Trauer und der Verzweiflung und mit der Frage, wie es weiter gehen soll. Langsam wird die Menge dünner, sie verlassen diesen traurigen Schauplatz und Karolina kann den offenen, rechteckigen Fleck sehen. Die dunkelrote Rose dreht und wendet sie in der Hand, rollte sie hin und her. Eine Stille umgibt sie, einsam und hoffnungslos. Tränen laufen lautlos, fallen zu Boden. Den Kopf hält Karolina gesenkt, zu Boden gerichtet, die Schultern angehoben, auf der sie die Last trägt, die sie ein Leben lang begleiten wird. Ich bin Schuld , denkt sie, Für all das Leid hier bin ich verantwortlich. Für all die Tränen, all den Schmerz und die Verzweiflung! Karolina hebt den Kopf und die nassen, blonden Locken fallen in ihr Gesicht. Die Mutter steht da, ihren linken, ausgestrecktem Zeigefinger auf sie gerichtet, keine Regung in ihrem Gesicht, nur die Maske einer Verzweifelten. Die Tränen sind versiegt, sie hat die Augen vor Wut zusammengekniffen und bewegt sich mit schwankenden, kleinen Schritten auf Karolina Klein zu. Die Welt ist eingehüllt in graue Schleier, in weißes Nichts. Die Frau öffnet den Mund und will etwas sagen. Aber ihre Stimme ist fort, zu weit, um sie zu packen und zu benutzen. Zu sehr von ihrem eigenen Schmerz betäubt. Hilflos steht sie neben dem Grab, in ihren Augen liegt der Schmerz und ihr Gesicht ist verzerrt vor Kummer und Hass. Karolina Kleins Lippen fangen an zu beben. „Lass doch!“, sagt der Vater, zieht die kleine, schmächtige Frau weg von Karolina, deren Anblick er nicht erträgt, legt den Arm um seine schluchzende Frau und spricht beruhigend auf sie ein. Es war ein Unfall. Karolina starrt auf die schmutzige Erde, sie ist durchnässt und eine Kälte in ihrem Innern bringt sie zum Zittern. Es ist wie damals. Der Regen fiel lautlos und es ist, als sollte es so sein, dass Karolina Klein zum zweiten Mal zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Die Erinnerung tut weh: 0KmH Karolina stieg in ihr Auto und grinste in sich hinein, als sie die Musikanlage lauter drehte und schon im Rollen, ihren bereits perfekten Liedstrich nachzog. Ihre blonden Locken hatte sie kunstvoll aufgesteckt und die blauen, unschuldig wirkenden, großen Augen geschminkt, was sie eigentlich nie tat. Heute Abend wollte sie gut aussehen, denn sie hatten was zu feiern! Den Führerschein hatte sie bestanden und erst vor einer Woche war sie achtzehn Jahre alt geworden. Lächelnd und laut mitsingend drehte sie den Schlüssel und fuhr los. 30KmH Es war kurz nach acht am dreizehnten Novemberabend. Karolina fuhr unkonzentriert, leichter Nebel verschlechterte die Sicht und sie warf genervt einen Blick auf die Uhr, nahm für einen kurzen Moment nur den Blick von der regennassen Straße. Zum Takt der Musik trommelte sie auf dem Lenkrad und ihr Mund bewegte sich leicht zum Text der Musik. Karolina Klein lächelte. 70KmH Dann blickte sie auf den Tacho, erinnerte sich an die Worte von ihrem Fahrlehrer, der ihr eingeschärft hatte, bei Nebel bloß nicht zu schnell zu fahren. Und regnen tat es auch noch... Genervt bremste sie etwas. Was hätte sie davon, wenn sie bei ihrer ersten Fahrt einen Unfall baute? Draußen war es grau. 55KmH 18


Und es war dieser kleine, flüchtige, unaufmerksame Moment, der Blick zum abnehmenden, leuchtenden, friedlichen Mond, der Karolina Klein unfähig machte zu reagieren. Das Mädchen stand plötzlich da, auf der kaum befahrenen Landstraße und sah Karolina mit großen Augen an. Karolina schrie laut, aber das Mädchen reagierte nicht... 40KmH Karolina schrie, sie sah das Mädchen, nahm den Fuß vom Gaspedal, trat auf die Bremse. Sie musste halten, das Mädchen! Karolina nahm ihre Hände vom Lenkrad, sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, legte einen Arm um ihre Brust, den anderen um den Kopf und sah nur noch, wie das Mädchen immer näher kam. Es waren ein paar Sekunden, Karolina hörte ihren Herzschlag im Ohr. Das Auto schlingerte zunächst auf der regennassen Fahrbahn, dann rutschte es weiter, schneller und schneller, das Mädchen stand da wie angewurzelt, starrte auf das immer näher kommende, außer Kontrolle geratene, quietschende Auto. Doch sie konnte sich nicht bewegen, ihre Beine gehorchten ihr nicht. 25KmH Es war der laute Knall, der in ihren Ohren widerhallte, das brechen von Glas und der messerscharfen Glassplitter. Karolinas Kopf wurde zurück geschleudert und sie merkte, wie das schnelle Schleudern ihr die Luft nahm. Das Auto drehte sich ein letztes Mal und stieß gegen einen Baum. Immer wieder hörte sie den lauten Knall, das Splittern vom Glas. Dann war da nichts mehr. Um Karolina wurde es dunkel. 0KmH Karolina Klein öffnete die Augen. Ihr schmerzte alles. In ihrem Kopf hämmerte es und den linken Arm konnte sie kaum bewegen. Karolina stöhnte leise, öffnete ihren Sicherheitsgurt und die eingebeulte Türe. Nur mit Mühe kletterte sie aus dem ramponierten Auto. Die Frontscheibe war gebrochen, überall lagen Scherben und schnitten ihr ins Fleisch. Doch Karolina achtete nicht darauf. Sie sah nur ein paar blonde Haare im Seitenspiegel, ihr flach gehender Atem stockte und sie taumelte um das Auto herum. Da lag das Mädchen, die Arme und Beine unnatürlich abgewinkelt, den schönen Kopf zur Seite gelegt und den Mund noch zum Schrei geöffnet. Karolina Klein schluchzte laut. Es regnete. Der Himmel brach auf und Tropfen fielen zu Boden. Langsam und bedächtig nahm Karolina den Kopf von dem Mädchen in die Arme und bette ihn in ihren Schoß. Stabile Seitenlage , schoss es ihr durch den Kopf. Sie zitterte, Adrenalin schoss durch ihre Adern. Das Mädchen stöhnte leise und krümmte sich. Tränen liefen über Karolinas Gesicht, Blut verfärbte die blonden Haare des Mädchens. „Hilfe“, flehte sie leise und eine Welle von Schmerzen schüttelte sie. Wo war ihr Handy? Karolina strich dem Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht. Sie konnte sie nicht alleine lassen, aber sie brauchten Hilfe! Karolinas zog ihre Jacke aus, legte diese unter den Kopf des Mädchens, dessen Namen sie nicht wusste und wankte mit unsicheren Schritten zum Auto. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Ihr Handy lag auf dem Beifahrersitz. Karolina Klein drückte hektisch ein paar Tasten, aber es funktionierte nicht. Kein Netz. Sie schluchzte und sah sich um. Dunkles Nichts. Sie schmiss ihr Handy zurück ins Auto, schaltete die Warnlichter ihres Autos an. Erste- Hilfe Kasten , war ihr nächster Gedanke, als sie all das Blut auf der Straße sah. Karolina lief mit eiligen Schritten ums Auto herum und versuchte den Kofferraum zu öffnen. Er klemmte. Sie versetzte dem Auto einen wütenden, hilflosen Tritt. Panisch lief sie um das Auto herum, zwängte sich auf den Rücksitz und angelte sich unter Schmerzen über die Sitzbank den Erste- Hilfe Kasten. Dann taumelte Karolina zu dem Mädchen zurück. Warum half ihr denn niemand? Warum war 19


niemand da? Sie mussten warten... Das Mädchen atmete flach. Was sollte sie tun? Karolina fluchte. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, sie wusste einfach nicht was sie machen sollte. Sie saß da mit dem Mädchen am Straßenrand, blutend, verzweifelt. „Wie heißt du?“, fragte sie zitternd und sah zu dem entstellten Mädchen herab, während sie mit der anderen Hand den Koffer durchwühlte. Mit den Verbänden konnte sie nichts anfangen. Unsicher griff sie zur Wärmedecke. Besser als nichts. Das Mädchen öffnete leicht die Lippen, doch kein Wort verließ ihren Mund. Sie versuchte es wieder und Karolina nahm ihre kleine Hand und drückte diese sachte. Die Wärmedecke legte sie schützend über den schmalen, zerbrechlich wirkenden Körper. Karolina hatte Angst, das Mädchen zu bewegen. Sie erschauderte. Das Mädchen versuchte es wieder. „L..-!“, krächzte sie und Karolina weinte, bittere, salzige Tränen. "Linda? Laura, Lisa?" fragte sie, doch das Mädchen antwortete nicht, bewegte ihren Kopf kaum mehr als ein paar Millimeter nach rechts. Also nein. Karolina riet weiter. "Larissa, Lindsay...Lara?" fragte sie schnell und das Mädchen zuckte beim Klang des letzten Namens zusammen. "Lara also?" sagte Karolina Klein mehr zu sich selbst. Jetzt wo sie einen Namen hatte, kam ihr alles so viel wirklicher vor. Es tat weh. Ein Schluchzen schüttelte sie. „Wie alt bist du, Lara?“, fragte Karolina, bedacht darauf, Lara wach und bei Sinnen zu halten. "Dreizehn? Vierzehn? Fünfzehn? Sechzehn?" „Fünfz...-“, stammelte Lara und ein roter Faden tropfte aus ihrem Mund. Karolina drehte sich zur Seite und übergab sich. „Es kommt Hilfe“, versprach sie dem Mädchen mit Mühe und diese nickte leicht und verzog das Gesicht. Karolina öffnete die Kette um ihren Hals, ein goldenes Kreuz, und legte es Lara in die Hand, schloss die kleinen, schlanken Finger und Lara hielt das Kreuz ganz fest, als sei dieses ihr letzter Halt. Sie brauchten Hilfe! Verzweifelt sah Karolina Klein sich um, ihr Herz klopfte bis zum Hals, die Straße war leer und es war dunkel, still und einsam. Es schien, als würden Ewigkeiten vergehen. Hilflosigkeit überkam sie, sie fühlte sich so wehrlos und das brachte Karolina um den Verstand. Karolina hielt nur mit Mühe ihre Augen offen, alles tat ihr weh, das Mädchen auf ihrem Schoß rührte sich nicht mehr. Alles in Karolina war taub, aber sie hielt noch immer Laras kalte Hand. Und dann waren da Stimmen. Hektische. Blaue Lichter blitzten auf der regennassen Fahrbahn. Stimmen von überall brachten Karolina allmählich wieder zu Besinnung. Jemand legte ihr eine Decke um die Schultern, fragte, ob alles in Ordnung sei, löste ihre Hand aus Laras und zog sie hoch. Ein letzter Blick zu LaraDann wurde alles schwarz um Karolina Klein. Und jetzt steht Karolina Klein alleine am Grab der fünfzehnjährigen Lara Leffers und sie ist alleine mit der Toten, wie damals. Dicke, salzige Tränen laufen ihr über die Wangen, die Stacheln der Rose in ihrer Hand, reißen die Haut ihrer Finger auf, doch Karolina spürt keinen Schmerz. Nichts kann den Schmerz in ihrem Herzen heilen, niemand kann ihre Schuld tragen oder abnehmen. Lara Leffers. Fünfzehn. Karolina weiß so wenig und doch so viel. Sie weiß, wie sie ums Leben gekommen ist. Weil es alles ihre Schuld ist. Karolina senkt den Kopf und betet für das Seelenheil der Toten und dafür, dass ihr irgendwann verziehen würde. Dann wirft sie die Rose in das rechteckige Loch, das Grab, dreht sich um und geht. Draußen ist es grau. Einzelne Tropfen fallen vom Himmel, dunkel jagen die Wolkenfetzen und die Blätter wirbeln umher, fliegen davon, wohin auch immer der Wind sie trägt. Es ist eine einsame, verletzliche Stille, die Karolina Klein umgibt. Du. Bist. Schuld. 20


Lebenslust. Liebe. (OrangenPrinzessin) – Das Lebendige Blau Millas schwarzer Kater reibt seine Nase an meinem nackten Unterarm und kitzelt mich mit seinen Schnurrhaaren. Die kleinen Krallen an seinen Pfoten bohren sich in meine Oberschenkel, schmerzhaft, obwohl er versucht, behutsam mit mir umzugehen. Mit meiner freien Hand kraule ich ihm den Bauch und lasse mich von seinem tiefen Schnurren ablenken. In der Rechten halte ich eine Bierflasche. Die Flüssigkeit kühlt angenehm nach einem so langen, anstrengenden Tag. Draußen ist es noch immer drückend heiß. Es ist ein außergewöhnlich heißer August dieses Jahr. Fünfunddreißig Grad waren es tagsüber gewesen, jetzt, da die Sonne untergegangen ist, sind es laut Thermometer nur noch Dreißig. Ich sitze auf diesem unbequemen Ledersofa in Millas Appartement und obwohl ich dieses Sofa nicht mag, ist das Leder momentan doch sehr angenehm. Es kühlt. Hier oben im fünfundzwanzigsten Stock ist der Lärm der Autos auf den Straßen der Upper East Side nur noch gedämpft zu hören. Trotzdem wünsche ich mich an einen anderen Ort, wo es einfach leise ist. Still und friedlich. „... ich muss den ganzen Tag arbeiten, den ganzen Tag sind rund um mich herum diese unausstehlichen Filmmacher, die meinen, sie wären die Größten und könnten jeden herumkommandieren wie es ihnen passt und wären überhaupt die Tollsten, dazu dann noch diese ganzen unfähigen Mitarbeiter am Set, die nichts auf die Reihe kriegen, das ist anstrengend!“, Milla holt einmal tief Luft. „Und dann wenn ich nach Hause komme, will ich doch auch nur ein bisschen Aufmerksamkeit. Aber nein, dann bist du schlecht gelaunt und müde und willst auch nichts von mir wissen und das regt mich auf. Und ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Bin ich zu langweilig, zu hässlich, zu dick, zu beschäftigt oder was weiß ich? Alles andere ist viel wichtiger als ich. Deine Kumpels hier, die Arbeit da, ich komme nur noch ganz am Rande vor. Es kommt mir so vor, als siehst du mich gar nicht mehr. Noah, Noah, hörst du mir überhaupt zu?“, tobt Milla und baut sich aufgebracht vor mir auf. Verzweifelt fuchtelt sie mit den Armen herum. Eine Zornesfalte zeichnet sich auf ihrer Stirn ab und ihre Augen werden glasig. Ich atme tief ein und massiere meine Schläfen. Diese Frau hat in zu vielen Liebesdramen mitgespielt. „Milla, jetzt reg dich nicht auf. Komm, setz dich.“ Ich breite die Arme aus und fasse sie an den Händen. Der Kater springt auf, als er merkt, dass er nicht mehr gekrault werden wird und stolziert zu seinem Futternapf. 21


Milla seufzt, als sie sich neben mir nieder lässt und ich halte ihr mein Bier hin. Sie schaut mich einen Moment an, dann nimmt sie einen großen Schluck, verzieht angeekelt das Gesicht und reicht mir wieder die Flasche. „Danke.“ Um irgendeine Reaktion zu zeigen, lächle ich sie an. In der Hoffnung, dass es echt wirkt und sie nimmt es mir ab. Ich versuche einfühlsam zu wirken: „Sei mal ehrlich, was ist los?“ Sie zieht ihre Beine an und klammert sich daran. Ich sehe, wie sie zittert, trotz der Hitze. Die Fenster stehen weit offen und die heiße Luft wird mit einem Schwall von Meeresluft hineingeweht. Ich spüre, wie mir das Tshirt am Körper klebt. Mir hängen diese ewigen Schauspieleinlagen und Pseudointeressiert-mich-wirklich-was-du-sagst-Heuchelei schon zu lange aus dem Hals. Ich will unter die Dusche. „Noah?“ Ich betrachte ihren Körper. „Ich...“ Sie ist dünn geworden. „Ich glaube...“ Zu dünn. „Ich...“ Liebe ich sie noch? „Ich habe Angst.“ Nein. „Betrügst du mich?“ Aber sie liebt mich. Immer noch. Dabei will ich das gar nicht mehr. Sie soll mich nicht mehr lieben. Sie soll mich hassen. Dann könnte ich sie einfacher verlassen, ohne ihr das Herz zu brechen. Aber ich sehe unser Ende kommen. Bald. „Noah?“ Ich sehe ihr in die Augen. Das erste Mal an diesem Abend. Und was ich sehe, ist nicht das, was ich mir wünsche. Es ist eben nur Milla. „Nein. Wie könnte ich denn? Meine Milla...“, lüge ich. Ich beuge mich vor und küsse sie. Doch ich fühle nichts. Es ist so, als würde ich nur noch funktionieren. Als wäre mein Leben ein Film und ich müsse ein falsches Ich spielen .Denn ich kann ihr nicht das Herz brechen. Nicht, nach all dem, was wir gemeinsam bisher erlebt haben. So viele wunderbare Momente, doch alles Gute hat irgendwann auch mal ein Ende. Als Milla eingeschlafen ist, stehe ich auf. Sie liegt auf der anderen Seite des Bettes, eingekuschelt in ihre Decke, als würde sie immer noch frieren. Ich hebe meine Sachen auf, die ich achtlos und mit gespielter Lust zu Boden geworden habe, und schleiche auf Zehenspitzen ins Bad. Als das kalte Wasser auf meinen Körper hinabsaust, spüre ich, wie ich mich aus meiner Verkrampfung löse. Ich habe mit Milla geschlafen, aber nur, weil sie damit ruhig gestellt wird. Beruhigt wird. Wir lange ist es schon her, dass ich mit ihr geschlafen habe, weil ich es auch gewollt habe? Als ich aus der Dusche herauskomme, fällt mein Blick auf den Spiegel. Ich schaue mich an und sehe, wie müde ich wirke. Meine grünen Augen starren stumpf zurück und obwohl mein Körper noch nie so gut gebaut war wie jetzt, fühle ich mich müde und schlapp. Mein schon immer kantiges Gesicht, wirkt nun verhärmt und abweisend. Ich versuche zu lächeln, für einen Moment erkenne ich den alten Noah wieder, doch dann verschwindet er ebenso schnell wieder, wie er gekommen ist. Zurück bleibt eine erstarrte Maske der Frustration. Ausgelaugt und erledigt. Genauso, wie ich mich fühle. Viel zu lange bin ich schon nicht mehr richtig glücklich mit Milla. Ich trockne mich nicht ab, sondern schlüpfe schnell wieder in meine Klamotten. Als ich aus dem Bad herauskomme, stolpere ich in meiner Hast fast über den schwarzen Kater und halte mich gerade noch an der Kücheninsel fest. Ich verharre in der Bewegung, horche, ob Milla aufgewacht ist, doch nichts rührt sich in der Wohnung. Ich greife nach meinem Schlüssel und verlasse die Wohnung so leise, wie ich nur kann. Ungeduldig drücke ich auf den Knopf um den Aufzug zu rufen, kann es aber nicht abwarten und benutze die Treppe. Ich nehme immer zwei Treppenstufen auf einmal und spüre, 22


wie der Druck immer mehr nachlässt, je mehr Stockwerke ich zwischen Milla und mich bringe. Mein Handy in der Hosentasche vibriert einmal und ich werfe einen raschen Blick darauf. Bin in zwei Minuten am alten Treffpunkt. Du auch? Kuss, O. Ich muss lachen. Offenbar hatte sie wohl die selbe Idee. Ich spüre, wie der Schweiß an meiner Wirbelsäule hinabläuft und wie sich meine Muskeln aufwärmen. Gleichzeitig schlägt mein Herz immer schneller. Erleichterung macht sich in mir breit. Mir wird klar, dass ich eine Entscheidung getroffen habe. Die Schritte werden leichter und am Schluss nehme ich gleich drei Stufen auf einmal und schon bin ich da. Ich stoße die letzte Tür auf und atme tief die frische Luft ein. Ich stehe auf dem Dach des Hochhauses. Hier oben ist man den Sternen noch viel näher als sonst und ich breite die Arme aus. Sehe, wie der Mond scheinbar lächelt und lache laut auf. „Na? Alles klar?“ Zwei warme Hände greifen von hinten um meine Taille und ich fühle, wie sich in mir drin etwas verändert. Plötzlich kribbelt meine Haut an den Stellen, an denen die zwei Hände mich berühren. „Olli.“ Ich drehe mich um und betrachte sie gut gelaunt. Jegliche Müdigkeit und Anstrengung ist von mir gefallen. „Noah.“ Sie lächelt mich verschmitzt an. Kleine Grübchen an den Wangen vollenden ihr wunderschönes Gesicht und ich fahre mit meiner Hand über ihre kurzen, schwarzen Haare. Sie ist viel kleiner als ich, schmaler, filigraner und ganz anders. Und doch brauche ich sie. Irgendwie. Das ist mir erst jetzt klar geworden. Ich beuge mich vor und umarme sie. Drücke sie an mich. Atme ihren Duft ein. Werde lebendig. Der Mond leuchtet hell, trotz der bunten Reklameleuchtschildern, rund um uns herum. Man hört die durchdringende Sirene eines Krankenwagens, bevor nur noch der normale allnächtliche Lärm zu hören ist. „Wie liefs?“, fragt Olli. „Hmm.“ Mir fällt auf, dass sie das erste Mal nach Milla gefragt hat. Es war immer eine unausgesprochene Regel gewesen, nicht über den Partner zu sprechen. Doch jetzt ist es anders. Als ich Olli kennen gelernt habe, fand ich sie bloß interessant und das zwischen uns war nur wegen des Nervenkitzels. Ich habe damals Milla noch immer geliebt und bewundert, doch sie war ständig unterwegs, Filme drehen, Filme promoten, Autogrammstunden geben und so weiter. Ich war nicht mehr ganz befriedigt, doch Olli und mir war von anfangs an klar gewesen, dass das nichts ernstes werden würde. Wir waren beide in einer festen Beziehung gewesen, glücklich, wenn auch nicht mehr ganz befriedigt. Und ich habe Olli kein einziges Mal auf den Mund geküsst. Ebenfalls eine unausgesprochene Regel. Ich habe nur mit ihr geschlafen, nie waren da Gefühle mit im Spiel, bloß Lust und Verlangen. Doch in letzter Zeit hatte sich etwas verändert. Olli hatte sich getrennt, ich war nur mehr angestrengt von Millas Launen und ihrem Drang nach Aufmerksamkeit. „Tanzen wir?“ Sanft holt mich Ollis weiche Stimme aus meinen Gedanken. „Hier?“ „Warum denn nicht?“ „Wir haben keine Musik.“ Sie lacht. „Na und?“ Ich beobachte sie, wie sie vorsichtig aus ihren hohen Schuhe schlüpft. Sie trägt das blaue Kleid, was ich ihr bei unserem vorletzten Treffen geschenkt habe... „Wow, das ist aber schön. Soll ich es gleich mal anprobieren?“ Ich liege noch eingewickelt in der Decke auf ihrem Bett und stütze mich mit dem Ellenbogen auf der Matratze ab um ihr zuzusehen. Der Schweiß klebt noch an meinem Körper, und auch ihre Haare sind noch immer zerzaust und durcheinander. Ihre Wangen glühen und in ihren Augen funkelt es. Sie steht mit dem Kleid vor dem großen Spiegel ihres Zimmers. „Okay, ich mach es.“ Sie wartet nicht mal auf meine Antwort ab, sondern verschwindet mit dem Kleid aufgeregt im Badezimmer. Ich lache in mich hinein und warte gebannt, bis sie wieder herauskommt. Als sie die Tür vorsichtig 23


öffnet, bleibt mir der Atem weg. „Und?“ „Wow.“ Sie lacht und läuft mir entgegen. Ich breite die Arme aus und sie setzt sich auf meinen Schoß. Geheimnisvoll lugt sie unter ihren braunen Haaren zu mir auf, die ihr immer ins Gesicht fallen. „Wusstest du, dass dieses Blau für mich etwas ganz Besonderes ist?“ „Wieso?“ „Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte, trug sie ein Kleid in genau dem Farbton. Sie hat es bis zu ihrem Tod nicht weggeben.“ Sie streicht vorsichtig über den weichen Stoff. Ich mache den Mund auf, um ihr mein Beileid auszurichten. Das mit ihrer Mutter hatte ich nicht gewusst. Doch sie redet ohne auf mich zu achten weiter. „Sie hat es immer „Das Lebendige Blau“ genannt. Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen ist, aber ich finde, dass das wunderschön klingt.“ Gebannt lausche ich ihr, wie sich ihre Eltern kennen gelernt haben. An einem lauen Sommerabend auf dem Land. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein... „Und, tanzt du mit mir?“ Ich sehe sie an. Olivia. In ihren wunderschönen, einzigartigen Lebenden Blau. „Ja“, hauche ich und obwohl sie mich unmöglich verstanden haben kann, lächelt sie herzergreifend. Unwillkürlich fühle ich mich glücklich. Ja, ich bin glücklich, dass es ihr gut geht und dass sie sich wohl fühlt. Sie greift nach meinen Händen und zieht mich an sich. Ganz nah. Bei ihr. Und ich fühle mich ganz. Sie weicht vor mir zurück, kommt zurück zu mir, dreht sich und ich beginne auf sie zu reagieren. Zögernd. Bin das Gegenstück in ihrem langsamen Tanz. Bis sie schneller wird. Langsam, ganz langsam wird sie schneller, beginnt zu lächeln, drückt meine Hände und tanzt. Wunderschön. Das blaue Kleid fliegt hoch, wenn sie sich dreht und ich spüre einen heftigen Stich in meiner Brust. Ich atme schneller und halte sie an. Dass sie sich nicht mehr dreht. Ich will mit ihr sein. Ich nehme ihre schlanken Hände und beginne mich zusammen mit ihr zu drehen. Wie kleine Kinder. Wir drehen uns, zusammen, im Takt unserer Herzen. Ich sehe ihr tief in die Augen und sie schaut zurück. Wir lachen wie schon lange nicht mehr und drehen uns immer schneller, so schnell, dass man meint, dass wir fliegen. Ich kann ihre Energie spüren, sie will sich genau so sehr wie ich drehen und tanzen und bewegen. Frei sein. Sie lässt meine Hände los und dreht sich alleine weiter und ich sehe ihr verzaubert zu, tanze selber, so, wie ich noch nie getanzt habe, hebe die Hände zum Himmel, greife nach den Sternen und sehe, wie der Mond mir zulächelt. Zwei kleine Hände berühren mich am Bauch und ich zucke zusammen. „Hallo.“ Olli grinst zu mir auf. „Hallo“, flüstere ich und beuge mich zu ihr hinab. Ihre süßlichen Lippen finden meine und ich spüre, wie mein Herz rast. Unser erster wirklicher Kuss. Ich liebe dich, Olli. „Ich komme gleich nach“, habe ich gesagt. Jetzt stehe ich vor der Tür. Halte mein Ohr an das kühle Holz. Drinnen ist alles leise. Ich wünschte, ich könnte sie noch einmal sehen, ihr alles sagen, mich verabschieden, doch ich kann das nicht. Ich kann ihr das Herz nicht brechen. Das wollte ich nie. Ich sehe auf den Schlüssel in meiner Hand hinab. Ich habe einen kleinen Zettel dran gebunden. Es tut mir leid. Noah. Ich werfe ihn durch den Briefschlitz und höre, wie er auf dem Boden aufschlägt. Es klirrt leise und ich atme auf. Eine Last fällt von meinem Rücken. Und wieder drücke in den Aufzugsknopf, kann es aber nicht mehr erwarten. Ich renne zu den Treppen und springe die Stufen hinab. Drei auf einmal. Und es tut mehr weh, als ich erwartet habe. Ich spüre, wie sich der Abstand zwischen Milla und mir vergrößert. Und ich bereue es - ein bisschen. Aber als ich die letzte Stufe hinter mir lasse und die große, letzte Tür aufdrücke, weiß ich, dass es sich gelohnt hat. Da steht sie. Olli, in ihrem Lebendigen Blau. Mein Lebendiges Blau. Das ist die Frau, mit der ich es mir vorstellen könnte, mein ganzes Leben zu verbringen. „Wie liefs?“, fragt sie nun zum zweiten Mal in dieser langen Nacht. „Gut.“ Ich lege einen Arm um ihre Schultern. Küsse sie sanft auf den Kopf und atme tief ein. Mir kommt es so vor, als sei die Luft nun frischer. Befreiend. Und zusammen mit Olli schlendere ich die 24


Straßen hinab. Durch den Lärm. Doch sie ist mein Ruhepol. „Noah?“ Sie schaut zu mir hinauf. „Hm?“ Für einen Moment bleiben wir stehen, vergessen die Welt um uns herum. Bis sie lächelt und sanft den Kopf schüttelt. "Schon gut." Ja, das ist es. Denn ich weiß, was sie mir sagen will. "Finde ich auch", antworte ich. Und wir gehen weiter. In das pulisierende Leben der Stadt, die niemals schläft.

Angst. Rache. (monaluna) - Ein Schritt zu viel! Dunkle Wolkenberge türmen sich am Horizont; neblige Schwaden ziehen in unregelmäßigen Abständen über den feuchten Boden. Eine heftige Windböe fegt ein paar vereinzelte Blätter durch die kühle Luft. Die riesigen Bäume, die hoch und bedrohlich in den dunklen Himmel ragen, lassen keinen einzigen Strahl des milchig schimmernden und fast von den schwarzen Wolken verdeckten Mond, durch ihr dichtes Blätterdach. Der weiche, nasse Waldboden gibt unter ihren nackten Füßen nach, doch Pia rennt unaufhörlich weiter. Sie stolpert über eine Wurzel, die aus dem dunklen Erdreich hervorragt und sich in geschwungenen Linien einen Weg durch den Waldboden sucht. Sie zerkratzt sich ihre nackten Beine an den Dornenzweigen, die plötzlich überall sind. Doch sie rennt unaufhaltsam, aber völlig orientierungslos weiter. Als der Saum ihres cremefarbenen Nachthemdes an einem Zweig hängen bleibt und sie ruckartig zum Stehen bringt, kann sie die Tränen nicht mehr aufhalten. Wie von Sinnen zerrt sie an dem dünnen Stoff, bis er plötzlich nachgibt und mit einem lauten, sich einprägendem Geräusch ein zackiger Riss entsteht, der sich bis zu ihren Oberschenkeln zieht. Der Regen, der plötzlich beginnt, läuft in Rinnsalen an ihr herab und hinterlässt eine nasse, kühle Hülle, die sich wie eine zweite Haut auf die ihre legt. Pia hält dem Atem an und versucht das prasselnde Geräusch des Regens auf den Blättern zu ignorieren, doch sie hört nichts außer dem monotonen Rauschen des Regens. Ihre Tränen vermischen sich mit dem Regen, der auf ihren schmalen Wangen herabläuft. Langsam, so als ob er sich verabschieden wollte, versiegt der Regen und mit ihm die Tränen. Zurück bleibt eine kühle, aber beruhigende Nässe auf ihrem Gesicht. Ein plötzliches Keuchen zerreißt die Stille. Pia wirbelt herum und ihr Blick jagt suchend durch den dunklen Wald, doch sie ist allein. Erneutes, lautes, stöhnendes Keuchen. Eisige Schauer laufen über 25


ihren Rücken. Ihre Augen versuchen krampfhaft die schemenhaften Umrisse zu schärfen, doch es gelingt ihr nicht. Wieder wirbelt sie herum, dreht sich im Kreis. Suchend. Der Wald beginnt sich zu drehen. Das Keuchen hört nicht auf, wird lauter. Es scheint von allen Seiten zu kommen. So, als ob sie nicht entkommen sollte. Schweiß läuft über ihren Rücken, heiße Schauer wechseln sich mit eiskalten ab. Ihr Kopf dröhnt, das Blut in ihren Ohren rauscht, sie meint, das Echo des Keuchens zu hören. Überall, um sie herum. Er ist hier. Er hat mich gefunden. Jetzt kann ich ihm nicht mehr entkommen. Die Stimmen in ihrem Kopf flüstern ihr monoton dieselben Worte zu. Sie versucht sie zu ignorieren, doch es gelingt ihr nicht, so sehr sie es auch versucht. Nein, bitte nicht! Ein leiser, verzweifelter Schrei entweicht ihren aufgerissenen, blutigen Lippen. Das Keuchen hallt in ihren Ohren wider. Abermals wirbelt sie herum, ihre Augen, die mit Tränenschleiern verhangen sind, bohren sich ängstlich suchend in jeden Schatten, ihr Herz noch immer in der Hoffnung, das sie nicht das finden wird, was sie denkt. Urplötzlich verstummt das Keuchen, stattdessen hört sie seinen leisen, schwerfälligen Atem. „Hier bist du also, ich dachte, ich finde dich nicht mehr!“ Seine Stimme ist rau und kehlig und ihr so nah, als ob er neben ihr stehen würde. Pias Beine knicken ein, der moosige Boden gibt ihr Halt und federt ihren Aufprall. Sie presst die Hände auf ihre Ohren, damit sie seine Stimme nicht mehr hören muss. Tränen laufen ihr unaufhörlich über das Gesicht. Ihr verzweifeltes Schluchzen ist leise, aber dennoch deutlich zu hören. Der Wald liegt ruhig und verlassen da. Ein leiser Nieselregen setzt ein und bedeckt Pia, die mit ihrem zerrissenen cremefarbenen Nachthemd wie ein Embryo zusammengerollt auf dem nassen Boden liegt und leise weint. Sie ist allein. Immer wieder hatte sie seine Blick in ihrem Rücken gespürt. Immer wieder sein anzügliches Grinsen, wenn sie an ihm vorbei gegangen war. Ihrer Tante hatte sie erst nichts davon gesagt, denn der Gärtner war noch nicht lange eingestellt und sie hatte Angst, dass ihre Tante ihr nicht glauben würde. Doch nach und nach, bekam sie immer mehr Angst vor ihm. Sie fühlte sich von ihm verfolgt, er schien überall zu sein und schließlich sprach auch ihre Tante sie an, weil sie die gierigen Blicke des Mannes bemerkt hatte. Pia war erleichtert, als ihre Tante ihr schließlich versprochen hatte, ihn zu entlassen. Eines Abends beschloss ihre verwitwete Tante eine alte Freundin zu besuchen, sie hatte Pia gesagt, dass sie so schnell nicht wiederkommen würde. Pia zündete eine ihrer Kerzen an, die sie überall mit hinnahm. Der flackernde Schein beruhigte sie, denn die Dunkelheit, die vor über einer Stunde eingesetzt hatte, bereitete ihr Angst und ließ ihr bewusst werden, dass sie ganz alleine in dem alten Herrenhaus war, das mitten im Wald lag. Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, so dass sie sich wie jeden Abend, vor dem Schlafengehen ein paar Minuten lang auf den breiten Fenstersims setzte und in die Nacht starrte. Der Wald, der hinter einem halbhohen, alten Zaun begann, machte ihr Angst, doch sie wiegte sich in Sicherheit. Sie schloss die Augen und war schon fast eingeschlafen, als sie ein lautes Rumpeln hörte. Sofort setzte sie sich kerzengerade auf und fixierte die Tür. Nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde die Klinke langsam heruntergedrückt. Pias Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, derjenige, der vor der Tür stand, könnte es hören. „Ich weiß, dass du da drin bist, Pia“, hörte sie eine kehlige Stimme. Noch bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen und im Schein der Kerze stand der Gärtner, sein Blick wanderte sofort zu dem Ausschnitt ihres Nachthemdes. „Ich weiß, dass deine Tante mich deinetwegen entlassen hat. Aber meinen Schlüssel, den hat sie mir nicht abgenommen! Du bist Schuld, dass ich keine Arbeit mehr habe, aber ich kann dir verzeihen!“, flüsterte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Pia vermochte nicht zu sprechen, geschweige denn, sich zu bewegen. Langsam trat er näher, bis er schließlich vor ihr stand. Er hob die Hand und strich ihr über die Wange. Seine Hände waren rau, schwielig und kalt. Seine Finger strichen über ihren Hals, über ihr Dekolleté, an ihren Beinen herab und wieder zu ihrem Gesicht. Pia zitterte, ihr war schlecht und in ihrem Kopf drehte sich alles. Wie durch einen Schleier merkte sie, wie er sie hochhob und zum Bett trug, wie er ihr Nachthemd nach oben schob und sich an ihrem Slip zu schaffen machte. Sie hörte sein unterdrücktes Keuchen, als er sich seine Hose herunterzerrte. Sie schlug ihn weg, doch er packte brutal ihre Handgelenke und drückte sie auf das Bett. „Wenn du dich wehrst, bring ich dich um!“, zischte er. Sie weinte lautlos, er bemerkte es nicht. Sie schloss die Augen, als er sich auf sie legte und sie schrie nicht, als der plötzliche Schmerz sie gefangen nahm, sie wegtrug, weg von ihm. 26


Pias Schluchzen verstummt langsam. Sie hat keine Kraft mehr. Sie zittert am ganzen Körper, ihr ist kalt und auch Tränen kommen keine mehr. Das Keuchen ist verschwunden und auch seine Stimme hört sie nicht mehr. Sie ist allein. Sie kann sich nicht erinnern, wie sie ihm entkommen ist. Sie weiß nicht, wie lange sie gelaufen ist. Sie weiß nur, dass er sie verfolgt hat und dass es, wenn er sie finden würde, ihren Tod bedeuten wird. Der Schmerz über das, was er ihr angetan hatte und die Wut, darüber, dass sie sich nicht gewehrt hatte, überrollen sie so plötzlich, dass sie keine Chance hat, dagegen anzukommen. Langsam richtet sie sich auf und sieht sich um. Pia hat kein Zeitgefühl, weiß nicht, wo sie ist. In ihren langen, blonden Haaren kleben nasse Blätter und ihre Füße sind aufgerissen und fast schwarz vor Dreck. Eine Gänsehaut erfasst ihren Körper, als ein Windstoß an ihr vorüber streicht. Wenn er kommt, kriegt er mich nicht. Diesmal nicht. Der plötzliche Hass, der in ihr zu wachsen beginnt, erschreckt sie, aber gleichzeitig fühlt sie sich stark. Immer wieder schießen ihr die Bilder in den Kopf. Sie spürt noch immer seine kalten, ekelhaften Hände auf ihrem Körper. Unwillkürlich schaudert sie und sieht an sich herab. Er hat sie nackt gesehen, er hat sie berührt und sie hat sich nicht gewehrt. Noch niemals hat Pia sich so gedemütigt gefühlt. Das wird er bereuen. Dieses ekelhafte Schwein. Langsam formt sich ein Gedanke in ihr. Wenn er kommen wird, wird sie vorbereitet sein. Damit wird er nicht rechnen. Nicht noch einmal, würde er sie anfassen können. Er wird niemand mehr anfassen können. Pia überlegt krampfhaft, wie sie ihn überwältigen kann. Sie spürt, dass sie sich dagegen nicht wehren kann. Es beherrscht sie, sie könnte nichts dagegen tun, selbst wenn sie es wollte. Immer noch etwas ziellos läuft sie in die Richtung, in der sie ihn vermutet. Pia weiß nicht, was sie tun wird, aber sie weiß, dass der Wille ihn zu töten übermächtig ist. Das Einzige, was ihr einfällt, ist, ihn zu erwürgen. Obwohl sie Zweifel hat, denn der Mann ist deutlich größer als sie und ihre Hände schmal und schwach, dennoch ist es die einzige Lösung, die ihr einfällt. Die dunklen Schemen, die in den fast schwarzen Nachthimmel ragen, geben ihr keine Orientierung, alles sieht gleich aus. Das monotone Rascheln des feuchten, klebrigen Laubes unter ihren nackten Füßen ist das Einzige, was sie außer ihrem eigenen, gehetzten Atem wahrnimmt. Sie muss ihn finden. Er wird bereuen, was er ihr angetan hat. „Du schaffst es nicht noch einmal, diesmal werde ich dir zuvorkommen!“, flüstert sie in die Dunkelheit. Sie ekelt sich vor sich selbst, als sie merkt, dass sie der Gedanke daran, ihn umzubringen, ihn zu quälen, befriedigt. Ein stechender, explodierender Schmerz an ihrem Fuß reißt sie aus ihrer Trance, als sie sich geistesgegenwärtig zu halten versucht, aber dennoch fällt... Seine Schritte hallen durch den leeren Wald. Tiefe Schwärze umgibt ihn, als er sich vorsichtig und bedacht darauf, nicht über etwas zu stolpern, einen Weg durch den unendlichen scheinenden Wald bahnt. Ab und zu bleibt er stehen und lauscht, doch er hört nichts. Er hat gehofft, dass er sie schon nach wenigen Metern einholen würde, doch sie war schneller und geschickter, als er vermutet hat. Sie war schön, anmutig und willig. Perfekt. Sie hatte sich von ihm losgerissen, als er sie in sein Auto zerren wollte. Weggerannt war sie, das kleine Biest. Doch er ist sich sicher, dass er sie finden würde. Sie würde es bereuen, dass sie ihm entwischt war. Das ließ er nicht zu. Sollte sie doch laufen, er würde sie kriegen, und dann würde sie ihn anflehen, dass er ihr nichts tut. Ein Gefühl der Macht breitet sich in ihm aus, weicht aber augenblicklich einem Gefühl der krankhaften Freude, als er meint, etwas Helles, zwischen den Bäumen zu sehen. Er beschleunigt seinen Schritt und steuert zielsicher in die Richtung, in der er das Mädchen vermutet. „Pia, ich finde dich. Du entkommst mir nicht. Du kleine Schlampe, hast es gewagt wegzurennen, das bereust du, ich verspreche es dir!“ Seine Worte hallen laut durch den Wald. Erst nach ein paar weiteren Schritten wird ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hat. Er hätte seine Drohung nicht so laut rufen dürfen, so hatte er ihr doch verraten, wo er sich befindet. Er flucht innerlich, schleicht aber weiter. Er kneift krampfhaft die Augen zusammen, viel sieht er nicht. Alles ist dunkel und außer dem Rascheln einiger Blätter bleibt alles still. Sie kommt so plötzlich, dass er nicht darauf reagieren kann. Ein harter, schwerer Gegenstand wird in seine Hüfte gestoßen. Unfähig die Situation zu begreifen taumelt er benommen ein paar Schritte seitwärts. Aufkommende Tränen verschleiern seine Sicht. Er schreit vor Schmerz auf, als sie ihm zwischen seine Beine schlägt. Er 27


bricht, unfähig, dem Schmerz standzuhalten zusammen, kauert sich auf den Boden, wimmert. Das letzte, was er spürt, ist ein dumpfer Schlag auf seinen Hinterkopf, dann beginnt sich alles zu drehen. Um ihn wird es schwarz, einen Moment lang geschieht nichts, dann ein explodierender, aus dem Nichts kommender Schmerz, den er nicht kontrollieren kann, der ihm alle Sinne raubt. Dann nur noch unendliche Leere... Tränen laufen über Pias Gesicht. Einige Blutspritzer bedecken den zerrissenen Saum ihres Nachthemdes, doch sie bemerkt es nicht. Starrt nur benommen auf dem Mann, der vor ihr auf dem Boden liegt. Er liegt auf der kalten Erde, regungslos. Neben ihm ein armdicker, abgebrochener Ast, über den sie gestolpert war. Sie hatte nicht lange gezögert, sondern hatte mit ihrer letzen Kraft den Ast mitgeschleppt. „Ich habe gesagt, dass ich dir zuvorkommen werde!“, flüstert sie kaum hörbar. Ein Zittern überläuft sie, obwohl sie weiß, dass sie das Richtige getan hat.

Wut. Aufregung. (Yuvi) – Baumschmuser Dieses Miststück! Diese… Schlampe! Wie konnte sie nur? Er hatte ihr ALLES gegeben, sein Herz, sein Geld, seine Zeit. Und was tat sie? Sie hinterging ihn! Sie betrog IHN! Er hatte ihr sein Herz geschenkt und sie hatte es aus seiner Brust gerissen und zermalmt. Sein Geld hatte sie genommen, die Blumen, die Pralinen… und jetzt trieb sie es mit irgendeinem fremden Kerl! Und das auch noch direkt vor seinen Augen! Wahrscheinlich wollte sie sogar, dass er alles mitbekam, dass er genau wusste was sie trieb. Sie hatte ihn von Anfang an nur zerstören wollen. Sie hatte ihm den Kopf verdreht, mit ihm gespielt, mit seiner Liebe, seiner Hingabe. Alles nur für diesen einen Moment, in dem sie ihn vernichten konnte. Aber das würde er nicht auf sich sitzen lassen, nein, er nicht. Er würde es ihr heimzahlen, oh ja. Das würde sie noch bereuen. Er würde es nicht zulassen, dass so eine Schlampe so etwas mit ihm machte, nein. Er würde ihr schon zeigen, was sie damit ins Rollen gebracht hatte. Und dann würde sie darum betteln, dass er ihr verzieh! Darum betteln, dass… „Entschuldigen Sie, Mister.“ … er sie zurück nahm. Er brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, dass die Stimme ihn meinte und noch einen Moment um zu lokalisieren von wo diese Stimme kam, die ihn einfach in seinen Gedanken unterbrach. Eine Kinderstimme. Irritiert blickte er auf das kleine blonde Mädchen hinab, das ihn aus großen blauen Augen ansah. Anstarrte. „Was ist?“, fuhr er sie ungeduldig an. Ganz ruhig, sie ist nur ein Kind. Er bemühte sich, seinen harschen Tonfall durch ein Lächeln etwas abzuschwächen. Über den Erfolg ließ sich streiten. „Was machst du denn da?“ Das Mädchen musterte ihn noch immer mit großen Augen. Das 28


Springseil, das sie in den Händen hielt, baumelte unbeachtet vor sich hin. „Ich… denke nach.“ Er wandte demonstrativ den Blick ab und hoffte das würde das Kind ganz schnell vertreiben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Er musste sich schließlich überlegen was er mit dieser Schlampe anstellen würde. Wie er ihr heimzahlen würde, was sie ihm damit antat, dass sie diesen Anderen… „Und wieso sitzt du dafür auf dem Baum?“ Irritiert warf er einen weiteren Blick nach unten, das Mädchen hatte sich keinen Zentimeter weg bewegt. Ganz im Gegenteil, sie machte gar keine Anstalten wegzugehen und ihn in Ruhe zu lassen. Dummes kleines Ding. Was mischte sie sich in Angelegenheiten ein, die sie nichts angingen? „Bist du ein Baumschmuser?“ Er starrte sie noch immer mit offenem Mund an, noch verwirrter, als zuvor. Jetzt redete sie auch noch... wirres Zeug. Offensichtlich ein wenig zurückgeblieben. „Nein ich bin kein ‚Baumschmuser’. Ich…“ Verdammt, er brauchte einen Grund. „Ich beobachte hier Vögeln, äh Vögel.“ Er hielt sein Fernglas zum Beweis hoch. Er wollte doch einfach nur hier sitzen und… „Oh, ich mag Vögel.“ … diesem Kind den Hals umdrehn. Die Augen des Mädchens begannen zu strahlen und er unterdrückte den Reflex sie anzublaffen, sie solle verschwinden. Sonst würde sie zu ihren Eltern laufen und dort rumheulen, dieser Mann auf dem Baum wäre so gemein. Also besser nett sein. „Ich dachte schon du wärst ein Baumschmuser. Mein Vater redet immer von den ‚verdammten Baumschmusern’.“ Sie stemmte ihre kleinen Hände in die Hüften und versuchte den Tonfall ihres Vaters zu imitieren. Er zuckte zurück, als sie ihn erneut neugierig musterte. „Aber seit wann wohnen Vögel denn in Häusern?“ Endlich hörte sie auf ihn so anzustarren und betrachtete stattdessen die Stelle, die er die ganze Zeit beobachtet hatte. „Ähm…“ Verdammt. Dummes Kind, was jetzt? Oh, genau. „Ja, die Frau die da wohnt, die hat einen seltenen Vogel in ihrem Haus. Und den beobachte ich.“ „Ist das nicht gemogelt?“ Ihr. Nicht. An. Die. Gurgel. Gehen. Er wiederholte den Satz wieder und wieder bis er sich ein wenig beruhigt und seine Stimme unter Kontrolle hatte. „Ach was, nicht, solange du niemandem davon erzählst.“ Ein einschmeichelndes Lächeln und sie wäre Butter in seinen Händen. „Oh, ich kann Geheimnisse gut für mich behalten.“ Das Kind zwinkerte ihm verschwörerisch zu und machte eine Geste um anzudeuten, dass ihre Lippen verschlossen waren. Den imaginären Schlüssel warf sie über ihre Schulter. Er nickte zufrieden. „Wie heißt du denn?“ Bekam dieses Kind nicht irgendwann eine Genickstarre, wenn es ihn die ganze Zeit so ansah? Er verfolgte einen Moment die Überlegung ob sie dadurch bald die Lust verlieren würde ihn anzusehen und einfach weiter laufen würde, verwarf die Theorie aber wieder. „Du kannst mich Quentin nennen.“ Jetzt würde sie doch sicher gehen. „Das ist aber ein komischer Name.“ Sie fing an zu lachen, hielt sich sogar den Bauch. „Das ist KEIN komischer Name“, fuhr er sie an und hätte fast das Gleichgewicht auf seinem Ast verloren. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und er konnte die Tränen sehen, die darin herumschwappten. Die nur darauf warteten gleich herauszukullern und ihm noch mehr Ärger zu machen. Verdammt. „Wie heißt du denn?“ Er schob seinen Hut ein Stück höher und versuchte es wieder mit einem Lächeln, das wahrscheinlich mehr wie eine Fratze aussah. Zumindest wirkte das Mädchen auf ihn eher verstört als beruhigt. „Rachel.“ Eine erste Träne kullerte ihre Wange hinunter und bildete auf ihrem roten Kleid einen nassen Fleck. „Das ist ein hübscher Name. Dagegen klingt Quentin wirklich ein wenig seltsam.“ Dieses Mal gelang ihm das Lächeln, denn Rachel begann bei dem Lob wieder zu strahlen. Glück gehabt. Er atmete tief ein und blendete das Mädchen aus. Er hatte nett mit ihr geplaudert, wenn er sie jetzt ignorierte, dann würde sie bestimmt verschwinden. „Quentin?“ – „Was?“ Ein kurzer Blick nach unten sagte ihm, dass sie sich keinen Zentimeter bewegt hatte. Verdammte Nervensäge. 29


„Warum bist du so seltsam angezogen? Hast du kalt?“ Bei diesen Worten hätte Quentin fast das Fernglas fallen lassen, im letzten Moment erwischte er es gerade noch am Riemen. Das war knapp. Was hatte dieses Balg nur? Erst behauptete sie, sein Name sei seltsam und jetzt das. Was hatte sie gegen den Trenchcoat? Er hatte extra einen Trenchcoat gekauft, damit er nicht auffiel. Genau wie den Hut. Schließlich taten Spione das auch, wenn sie unauffällig sein wollten. Aber davon hatte dieses Kind natürlich keine Ahnung. Vielleicht war die Sonnenbrille doch zu übertrieben…Ach quatsch! Wieso konnte Rachel sich nicht einfach um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? Sich zum Beispiel irgendwo mit ihrem Springseil erhängen. Dann hätte er Ruhe. So lange sie sich nicht an seinem Baum erhängen wollte. Er wagte einen misstrauischen Blick nach unten, aber Rachel sah nicht so aus, als wollte sie sich gleich an seinem Baum aufhängen. Das hätte ihm echt noch gefehlt. Das hätte die ganzen Mücken angelockt, die er so schon nur mit Mühe durch Insektenspray fernhalten konnte. Mücken, das brachte ihn zurück zu Vögeln, dem eigentlichen Grund wieso er hier saß. Er warf einen prüfenden Blick durch sein Fernglas. Ein Fehler. „Diese…! Ich durfte nicht aber dieser Kerl…“ „Was denn?“ fragte Rachel zuckersüß und lächelte ihn an. Wieder dieses nervige Kind, das sich jetzt auch noch neugierig auf die Zehen stellte und versuchte einen Blick in das Zimmer zu erhaschen. „…vögeln. Füttern! Füttern, genau.“ Gerade noch gerettet. Jetzt sah ihn dieses Kind auch noch an als wäre er vollkommen irre, er konnte es in ihren Augen sehen. Aber er war nicht irre, schließlich war sie diejenige, die einfach Fremde ansprach, die irgendwo friedlich auf ihrem Baum saßen. „Musst du nicht nach Hause, oder so?“ „Nein.“ Die Kleine war wirklich hartnäckig. „Wieso durftest du die Vögel nicht füttern?“ Mit Erschrecken beobachtete er, wie das Mädchen es sich auf dem Boden unter seinem Baum bequem machte. Sie sah nicht so aus, als hätte sie vor bald nach Hause zu gehen. „Du hast aber tolles Springseil, wieso spielst du denn nicht ein wenig damit?“ Er versuchte es wieder mit einem einschmeichelnden Lächeln. „Danke.“ Sie schenkte ihm ein erneutes Strahlen, dass sie unglaublich niedlich aussehen ließ, bevor sie wieder ernst wurde. „Aber ich will jetzt nicht hüpfen. Wieso darfst du denn die Vögel nicht füttern?“ Verdammt! „Was sind denn die Baumschmuser, von denen du eben erzählt hast?“ Das brachte sie dann doch aus dem Konzept, was ihn innerlich aufjubeln ließ. „Wenn ich das wüsste…“, jammerte Rachel. Das klang so altklug, dass Quentin unwillkürlich schmunzelte. Sie rappelte sich wieder auf und strich ihr rotes Kleidchen glatt. „Papa redet immer von Baumschmusern, aber er hat mir noch nie erklärt was ein Baumschmuser ist. Ist das jemand, der gerne mit Bäumen schmust?“ Sie strich zärtlich über die Rinde des Nussbaumes. Das brachte Quentin zurück in die kalte Realität. Seine Süße. Mit einem anderen Mann. Eiskalt. „Aber ich glaube Baumschmuser sind nicht nett“, stellte Rachel ein wenig traurig fest und ließ die Arme sinken. „Weil?“ Quentin wollte nicht wissen wieso, er wollte nur noch dass dieses Kind ihn endlich in Ruhe ließ. „Weil mein Papa immer über sie schimpft. Er hat erzählt, dass ein ‚verdammter Baumschmuser’ sich an seinen Bagger gekettet hat. Wieso will jemand an einem Bagger hängen? Die sind doch schmutzig und laut.“ Rachel schien nun ernsthaft bekümmert, doch Quentin war nicht in der Stimmung darauf einzugehen. Sie lenkte ihn nur von seiner Wut ab und er wollte nicht von seiner Wut abgelenkt werden. Er wollte sie ausleben, vielleicht ein oder zwei Dinge zerstören, ein wenig herum brüllen, das ein oder andere Kind erwürgen und dann ginge es ihm vielleicht besser. „Ich kann dir nicht helfen, ich hab keine Ahnung was ein ‚Baumschmuser’ ist. Sag mal, haben deine Eltern dir nicht gesagt du sollst nicht mit Fremden reden?“ Er versuchte sich zu beruhigen, die Wut aus seinem Tonfall zu verbannen, mit mäßigem Erfolg. Ganz ruhig, gegen das Argument hat sie keine Chance. „Aber du bist doch kein Fremder, du bist Quentin.“ Er hätte schwören können, dass sie bei diesen 30


Worten ein heimtückisches Lächeln auf den Lippen hatte. Er hatte schon immer die Theorie verfolgt, dass Kinder eigentlich heimtückische kleine Wesen waren. Wesen, die stets darauf lauerten einen in eine Falle zu locken. „Eben kanntest du ihn noch nicht. Ich hätte dir etwas antun können. Ich könnte ja böse sein. Besser du gehst schnell nach Hause und redest nie wieder mit Fremden.“ Er gestattete sich ein väterliches Nicken um diese vernünftigen Worte zu unterstreichen. „Quentin?“ Unwillig unterbrach er sein Nicken und sah nach unten. „Was?“ Verzieh dich! „Du bist aber nicht böse. Und ich finde es gemein, dass du nicht die Vögel füttern darfst. Ich mag dich.“ Sie strahlte ihn an. Mit diesem unerträglich fröhlichen Lächeln. Wie unschuldig. So hatte SIE ihn damals auch angesehen. Bevor… Dieses dumme Gör! Auch nur eine kleine Schlampe, die mit seinen Gefühlen spielte. Wie sie dastand, mit dem blonden Haar, das zu zwei kleinen Zöpfen geflochten war und diesem süßen roten Kleid, mit den hübschen Blümchen. Erst ließ sie ihre Reize spielen, sorgte dafür, dass man sich in sie verliebte, klimperte mit ihren langen Wimpern. Und dann. Der nächstbeste Kerl und schon war er abgeschrieben. Er hatte seinen JOB gekündigt für diese Frau, war bei ihr gewesen. Jeden Tag. Jede Minute. Er war in ihrer Nähe gewesen wenn sie arbeitete, kochte, ausging, selbst wenn sie SCHLIEF! Er hatte immer auf sie aufgepasst! Sie hatte nicht gewusst, dass er ihr stets nah gewesen war, aber das änderte doch nichts daran, DASS er es getan hatte. Er hatte ihr sein LEBEN gewidmet. Und jetzt… Und Rachel war genauso! Jetzt erzählte sie ihm etwas davon, dass sie ihn mochte, nur um ihn dann später zu hintergehen und achtlos fallen zu lassen!“ Sein Geduldsfaden riss, diese drei Worte brachten ihn völlig aus dem Gleichgewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er verlor das Gleichgewicht und begann nach hinten zu kippen. Hektisch ruderte er mit einem Arm um die Balance wiederzufinden, während er mit der anderen Hand versuchte seinen Hut festzuhalten. Die Welt schien sich für seinen Geschmack plötzlich viel zu schnell zu drehen, bevor er in Zeitlupe nach hinten kippte. Aller Sauerstoff schien aus seinen Lungen gepresst zu werden, als er auf dem Boden aufschlug, hilflos schnappte er nach Luft. Er blieb einige keuchende Atemzüge lang einfach nur im Dreck liegen und betrachtete die weißen Wolken, die über ihn hinweg zogen, dann rappelte er sich vorsichtig auf und begann den Staub von seinen Kleidern zu klopfen. Sein Rücken reagierte sofort mit einem schmerzhaften Pochen. Rachel stand noch immer an der Stelle, an der sie eben gestanden hatte und starrte ihn mit offenem Mund an. Er setzte an um etwas davon zu murmeln, dass nichts passiert war, stockte dann aber. Das Mädchen wirkte nicht erschreckt oder besorgt, sie begann sogar zu kichern. Sein Magen zog sich bei dem Anblick zusammen, er hatte es gewusst. Wie alle anderen, heimlich lachte sie über ihn! Aus dem leisen Kichern wurde ein Glucksen, dann lachte Rachel laut und herzhaft. Sie zeigte sogar ungeniert mit dem Finger auf ihn. Sie hielt sich mit einer Hand den Bauch und lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Quentin wollte aufspringen und zu ihr rennen, sie schütteln und anschreien, aber er blieb einfach sitzen und starrte sie an. Vielleicht mit einem gezielten bösen Blick…nein. Unwillig musste er sich eingestehen, dass ein Großteil seiner Wut verraucht war. Er versuchte sich einzureden, dass dieses kleine süße Mädchen sich über ihn lustig machte, dass sie hinterhältig und verlogen war wie alle Frauen. Die ihn nur ausnutzten und dann fallen ließen. Wegen denen er den ganzen Tag auf einem Baum gehockt hatte. Es blieb bei einem halbherzigen Versuch. Sie sah einfach so süß und glücklich aus. Er hätte es strikt geleugnet, aber ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er ihr so beim Lachen zusah. 31


Einsamkeit. Leidenschaft. Eifersucht. (MoonyKatie) – Wahrheit oder Pflicht „Nimm meine Hand“, bat ich dich und du tatest es. „Auf drei!“ „Eins!“ „Zwei!“ „DREI!“ Du sprangst und rissest mich mit dir in die Tiefe. Unten war das Wasser und der Dreimeterturm war so unglaublich hoch. „Wir. Haben. Es. Geschafft!“ Deine Stimme war ein Keuchen, glücklich nahmst du mich in den Arm, das Wasser, das ich dabei aus Versehen schluckte, machte mir nichts. „Das schaffen nur wir!“ Ich lachte, wir schwammen nebeneinander zum Beckenrand. „Das schaffen nur beste Freunde!“, erklärtest du stolz, als wir vor deiner Mama standen. „Hab ich Recht, Sina?“ Aufgeregt stießest du mir den Ellenbogen in die Seite. Ich nickte. „Allerbeste Freunde!“ Das Lächeln fiel mir schwer, ich wusste nicht warum. Atme heiß auf heiße Haut, lecke ihm über den Hals, der nach Salz schmeckt. Stoße hart mit dem Rücken an die verschlossene Toilettentür. Draußen höre ich Lachen und Musik, hier drinnen nur leise Seufzer an meinem Ohr. Bebende Körper, schwitzige Haut, eiskalte Gefühle. Hände, die über meinen Nacken fahren, meinen Rücken, meine Wirbelsäule zeichnen, meine Oberschenkel streicheln, unter das Kleid wandern. Küsse, schnelle Herzschläge, Körper an Körper, Pulsieren, Bewegungen im gleichen, stockenden Rhythmus, Küsse. Küsse. Küsse, einen Schritt von der Tür weg, halte ein Gesicht in Händen, 32


Schweißperlen auf der Stirn. Küsse. Will mich, denn ich will mich selbst nicht. „Wahrheit oder Pflicht, Timo?“ „Pflicht.“ „Du musst...Sina auf den Mund küssen!“ „Bäh, nie im Leben!“ Ich fühlte, wie das Blut in meine Wangen schoss. „Küssen! Küssen! Küssen! Kü-“ Dann tatest du es einfach. Kurz und feucht, nicht direkt auf meine Lippen, aber das verriet ich niemandem. „Richtig ekelig!“ Du wischtest dir über den Mund. „Total!“ Ich machte es dir nach und wusste nicht warum. Atme heiß auf heiße Haut, lecke ihm über den Hals, der nach Salz schmeckt. Stoße hart mit dem Rücken an die verschlossene Toilettentür. Draußen höre ich Lachen und Musik, hier drinnen nur leise Seufzer an meinem Ohr. Bebende Körper, schwitzige Haut, eiskalte Gefühle. Hände, die über meinen Nacken wandern, meinen Rücken, meine Wirbelsäule zeichnen, meine Oberschenkel streicheln, unter das Kleid streifen. Küsse, schnelle Herzschläge, Körper an Körper, pulsieren, Bewegungen im gleichen, stockenden Rhythmus, Küsse. Küsse. Küsse, einen Schritt von der Tür weg, halte ein Gesicht in Händen, Schweißperlen auf der Stirn. Küsse. Will mich, denn ich will mich selbst nicht. „Probier mal!“ Du zogst an deiner Zigarette, bei dir sah es ganz einfach aus. „Ich weiß nicht...“ Da hieltest du sie mir schon hin. Als ich einen Zug nahm, musste ich schrecklich husten und du lachtest, legtest den Arm um meine Schulter. „Gibt Dinge, die besser schmecken, hm?“ „Ja.“ Ich legte meinen um deine Hüfte. „Küsse zum Beispiel.“ „Ja.“ Und ich dachte, du würdest mich vielleicht küssen, wusste aber nicht warum. Atme heiß auf heiße Haut, lecke ihm über den Hals, der nach Salz schmeckt. Stoße hart mit dem Rücken an die verschlossene Toilettentür. Draußen höre ich Lachen und Musik, hier drinnen nur leise Seufzer an meinem Ohr. Bebende Körper, schwitzige Haut, eiskalte Gefühle. Hände, die über meinen Nacken wandern, meinen Rücken, meine Wirbelsäule zeichnen, meine Oberschenkel streicheln, unter das Kleid streifen. Küsse, schnelle Herzschläge, Körper an Körper, pulsieren, Bewegungen im gleichen, stockenden Rhythmus, Küsse. Küsse. Küsse, einen Schritt von der Tür weg, halte ein Gesicht in Händen, Schweißperlen auf der Stirn. Küsse. Will mich, denn ich will mich selbst nicht. „Auf 2011!“ Sektgläser klirrten, Umarmungen wurden verteilt. Mein Blick suchte nach dir, ich fand dich in ihren Armen. Ute, blond, schlank, schön. Noch am gleichen Abend war sie deine feste Freundin. „Ja ja“, sagte ich, du warst doch betrunken. Zehn Monate später wart ihr immer noch zusammen, ich wusste nicht warum. Nimm meine Hand, denke ich, doch es ist niemand da, der sie hält. Ich stehe auf dem Dreimeterturm. Es ist Mittwochabend, das Schwimmbad macht in zehn Minuten zu, nur wenige ziehen noch unten ihre Bahnen. Ich stehe hier und fühle mich seltsam alleine. Ausgeliefert, verloren in der Hektik der Welt, obwohl es hier so still ist. Ein Plätschern, man soll doch nicht vom Beckenrand springen, der Bademeister hat es nicht sehen wollen. Ich atme ein, die Luft ist stickig und schwer, drückt auf meine Brust. Ich atme aus, die Luft strömt aus meinen Lungen, doch auf Leichtigkeit warte ich vergebens. Dann mache ich einen Schritt nach vorne, bin vom Abgrund nur noch Zentimeter entfernt, schaue hinunter, der Turm ist immer noch unglaublich hoch. Nimm meine Hand nicht, ich schaff das auch alleine, denke ich und springe. Der Weg nach unten geht schnell. Viel eher als ich erwartet habe, ist es vorbei, ich spanne alle meine Muskeln an, presse meine Arme fest an meinen Körper und spüre, wie das Wasser mich empfängt. Lasse mich bis auf den Beckenboden sinken, dann warte ich, bis meine Lungen anfangen zu schmerzen und ich kurz davor bin Luft zu atmen, die ich niemals bekomme. Auch hier nicht. Ich stoße mich vom Beckenboden ab, der Weg an die Oberfläche ist länger, als ich vermutet habe. Zeit vergeht langsamer, als ich vermutet habe. Ich durchbreche die Wasseroberfläche, für Augenblicke legt das Wasser sich um mich, schützt mich, lässt mich noch nicht gehen. Bis ich einatme und die Welt wieder klarer sehe. 33


Ich entscheide mich nicht zwischen Wahrheit oder Pflicht. Grundsätzlich will ich weder das eine noch das andere. Wahrheit heißt ertragen, verarbeiten, warten; Pflicht heißt müssen ohne zu Fragen, ohne zu Denken. Ich laufe lieber, vertausche selbst die Pfeile, die den Weg weisen sollen, bestimme selber, wann ich stoppen will und wann nicht. Wahrheit oder Pflicht. Grundsätzlich will ich weder das eine noch das andere, heute nehme ich Pflicht und stelle mir selbst die Aufgabe: Dich den besten Freund sein zu lassen, der du sein willst, Timo. Nicht mehr, nicht weniger. Als ich an der Zigarette ziehe, ist es meine erste seit vier Jahren. Wieder nehme ich nur einen Zug, wieder schmeckt der Rauch bitter auf meiner Zunge, wieder muss ich husten. Gibt Dinge, die besser schmecken, du hast Recht gehabt, damals wie heute. Ich lasse sie achtlos auf den Boden fallen, lecke mir über die Lippen, um den Geschmack loszuwerden und merke, wie sich die Frage nach dem Geschmack deiner Lippen in meinen Kopf schleicht. Aber ich schüttle sie weg, lasse die Gedanken frei und sehe für einen Moment zu, wie sie in den Himmel davonfliegen. Ich lächle, dabei will ich weinen. Fühlt sich so Vergessen an? Oder ist es Loslassen? Ich gehe weiter, dabei ist Spazieren sonst gar nicht so mein Ding. Doch die Luft ist klar und rein, es ist Sonntag, nur wenige Autos sind unterwegs, ich genieße die Ruhe. Höre Vögel und meine eigenen Schritte auf dem Steinboden, sonst nichts. Was wäre, wenn ich einfach immer weitergehen würde, alleine. Du würdest mich nicht vermissen, erst dann, wenn du jemanden zum Reden brauchst, weil du nicht weißt, warum Ute sauer auf dich ist, wenn du nicht weißt, was du wieder falsch gemacht hast. Aber woher soll ich das denn wissen? Ich kann dich nicht trösten, weil du mich immer wieder zum Weinen bringst. Ich kann dich nicht halten, weil du mich immer wieder loslässt. Ich kann dir nicht sagen, was ich denke, weil du niemals selbst die Augen aufmachst. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, weil du mich immer alleine lässt. „Auf 2012!“ Sektgläser klirren, Umarmungen werden verteilt. Mein Blick sucht nach dir, ich finde dich in ihren Armen. Ute, blond, schlank, schön. Es ist ein Déjà vu, das mir das Herz zerreißt, immer noch und immer wieder. Ich habe alles wiederholt, aber nichts vergessen und dich schon gar nicht. Du küsst sie und all die Erinnerungen an damals sind wieder da. Ich kann sie nicht überdecken, nicht abschütteln, nicht vergessen, oder zumindest soweit in den Hintergrund drängen, dass sie sich nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder in den Vordergrund schleichen. Habe mich in meiner naiven Hoffnung verloren, habe dich verloren, als einen Freund, der du nie warst. Da blickst du auf, löst dich von ihr und unsere Blicke treffen sich für Sekunden. Du lächelst, hebst das halbleere Sektglas in deiner Hand, grüßt mich. Ich lächle, lese von deinen Lippen ein 'Frohes Neues'. „Dir auch, Timo“, ich flüstere nur, du hörst es nicht, weil du zu weit weg bist; du siehst mich nicht, weil du sie wieder küsst. Wann lässt du mich dich endlich vergessen? „Hey!“ Ein Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld. Ein Mann, Mitte zwanzig, braune Haare, einen Dreitagebart. „Hi“, erwidere ich und schenke ihm mein Lächeln. „Frohes Neues! Ich glaube, ich hab mich dir noch nie vorgestellt oder? Ich bin-“ - „Shh“, unterbreche ich ihn, indem ich ihm einen Finger auf die Lippen lege, „es ist völlig egal wie du heißt.“ Er lächelt mich an und zieht mich zu sich heran. Ich fühle seinen Herzschlag an meinem, draußen werden die ersten Raketen gezündet, die ersten Knaller. „2012 wird ein gutes Jahr, das hab ich im Gefühl“, sagt er nach einer Weile, als ich noch immer in seinen Armen liege. Ich erwidere nichts, lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, sehe Ute alleine dort stehen, wo du sie vorher geküsst hattest. Sie sieht mich an, ich lächle, sie lächelt zurück und wendet sich ab. „Ich hoffe es“, antworte ich an seinem Hals, fühle, wie seine Finger meinen Rücken hinunterwandern... Atme heiß auf heiße Haut, lecke ihm über den Hals, der nach Salz schmeckt. Stoße hart mit dem Rücken an die verschlossene Toilettentür. Draußen höre ich Lachen und Musik, hier drinnen nur leise Seufzer an meinem Ohr. Bebende Körper, schwitzige Haut, eiskalte Gefühle. Hände, die über meinen Nacken wandern, meinen Rücken, meine Wirbelsäule zeichnen, meine Oberschenkel streicheln, unter das Kleid streifen. Küsse, schnelle Herzschläge, Körper an Körper, pulsieren, Bewegungen im gleichen, stockenden Rhythmus, Küsse. Küsse. Küsse, einen Schritt von der Tür weg, halte ein Gesicht in Händen, Schweißperlen auf der Stirn. Küsse. 34


Will mich, denn ich will mich selbst nicht. Will die Wahrheit nicht.

Hoffnungslosigkeit. Sehnsucht. Freunde. Unsicherheit. (Coco94) – Letzte Reise Leise brummt der Motor vor sich hin. Sie versucht sich auf die Straße zu konzentrieren, beobachtet die vorbeifahrenden Autos. Sie wünscht sich, dass morgen niemals kommen würde. Denn morgen sind sie da, morgen ist es zu Ende. Er sitzt müde auf dem Beifahrersitz. Die Augen geschlossen, in sich zusammen gesunken. Die Zeit hat sein Gesicht gezeichnet, eine Landschaft voller Täler und Berge, die sein Leben erzählen. Er ist blass, seine Haut spannt sich über den hervortretenden Wangenknochen. Manchmal hat sie Angst, Risse dort zu entdecken, so dünn kommt ihr die weiße Hautschicht vor. So wenig ist noch von ihm zu sehen, von seinem alten ich. Müde öffnet er die Augen, unter ihnen liegen violette Schatten. Sein Atem geht keuchend und stockend. Dennoch ringt er sich ein winziges Lächeln ab. Sieht hinüber zu seiner kleinen Verena, die so bemüht ist sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Trauer zu verbergen. Wilfried ist schwach und dennoch blickt er dem Ende der Fahrt mit Freude entgegen. Er sehnt sich nach der Ruhe. Er will schlafen. Für immer. Und er ist dankbar, dass sie ihn auf diesem Weg begleitet, seine kleine geliebte Tochter. Seine tapfere Verena.

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Der Arzt steht vor ihnen in seinem weißen Kittel. Wer erhebt sich schon über Leben und Tod? Er mag sie nicht, die weißen Halbgötter. Worte dringen aus seinem Mund, fallen zu Boden, gesellen sich zu den Traumscherben. Auf einmal ist seine Zeit knapp geworden, auf einmal beginnt ungewollt die letzte Reise. Sein Kopf frisst sich von innen heraus auf. Wird von einem schwarzen Loch verschlungen. Erst wird es ihm die Bewegung nehmen, dann die Sprache, die Erinnerung und dann den Atem. Neben ihm, auf dem Stuhl dem Chefarzt gegenüber, sitzt seine kleine, blonde Verena. Salzige Spuren zeichnen ihre Wangen, denn was kommt, ist unausweichlich. Sie gehen auf den Parkplatz des Krankenhauses. Seine Entscheidung ist gefallen. Eigentlich wusste er es schon im Zimmer. Hoffnung auf Verlängerung gibt es keine mehr. Nur Hoffnung auf Verkürzung, Hoffnung auf Schnelligkeit. Und als er ihr sagt, wie er beschleunigen will, schluchzt sie. Das schwarze Loch ergreift auch sie. Doch sie will ihrem Vater den letzten Wunsch nicht verwehren. Schweigend sieht er aus dem Fenster. Draußen recken dünne Bäume ihre Äste flehend in die Luft, greifen nach grauen Wolken. Hier und da bricht die Sonne mit dünnen Abendstrahlen hervor, doch letztendlich verliert sich das goldene Licht im Grau. Der Himmel saugt die Farben auf, verschluckt sie. Die Wiesen sind schmutzig, hier und da von Resten braunen Schnees verdeckt. Bald sind sie bei der Grenze und je näher sie ihr kommen, desto leichter wird ihm um sein mühsam arbeitendes Herz. Bald wird er es nicht mehr antreiben müssen, bald werden sie zusammen träumen. Je näher sie der Grenze kommen, desto schwerer wird Verena um ihr junges Herz. Sie versucht ihr Zittern zu verbergen, denn sie will stark sein und den Abschied nicht schwerer machen. Es soll leicht sein für ihn. Er soll nicht trauern müssen. Er soll sich freuen, denn es wird seine letzte Reise. So bleibt ihr junges, zartes Gesicht unbewegt und die Stille zwischen den beiden zieht sich fort wie ein unsichtbares Schild. Wenn die Zeit kurz ist, verlieren Worte die Bedeutung. Was zählt sind die Taten. Bald werden sie wieder vereint sein. Wie sehr hat er seine Frau vermisst. Jeden Tag und jede Nacht. Sie war zu schnell gegangen. Er will das anders machen. Plötzlich waren sie nur noch zwei. Nur er und seine Kleine. Aber bald werden sie sich wieder haben. Sie wartet dort und sie wird ihn empfangen. In ihre weichen Arme nehmen. Zusammen werden sie wachen über das kleine blonde Mädchen, das nicht mehr klein ist. Und sie werden jeden ihrer Schritte beobachten. Und sie werden zusammen sein. Vielleicht zwei winzige Sterne oder auch nur ein kleiner Windhauch. Die Schaumkronen auf den Wellen, die ersten Regentropfen auf der Straße, die wiegenden Grashalme im Frühling. All das werden sie sein. Und viel mehr. Darauf will er nicht mehr warten. Er hat genug gewartet und nun soll es schnell sein. Sein letzter Wunsch soll schnell in Erfüllung gehen. Dann wird er leicht, dann wird er ruhig. Sie fürchtet das Verschwimmen der Gesichter. Was wird noch bleiben, außer verblichenen Fotos und ihrer Erinnerung, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten dunkel wird. Sie sind wie Rauch, lassen sich nicht fassen und vergehen zu schnell. Sie dreht sich zur Seite und sieht in das Gesicht ihres schlafenden Vaters. Ein kleines Lächeln umspielt seine dünnen Lippen. Er sieht so friedlich aus. Im Schlaf sieht man nicht seine grauen Augen, die einst so blau und stark waren. Man hört seine raue Stimme nicht, die einstmals so bewegend erzählte. Und seine Arme, die sie immer festhielten, zittern nicht. Die letzten vereinzelten Strahlen der Sonne werfen lange Schatten auf sein Gesicht. Sie hat Angst vor der Verwandlung, die er durchmachen könnte. Das leere Gefäß, das zurückbleiben würde. Früher gefüllt mit Erinnerungen, Gedanken, plötzlich leer, verwandelt. Doch wenn alles gut geht, wird es nicht so weit kommen. Sie wird ihn als Beschützer in Erinnerung haben, als starken Mann. Nicht zusammengesunken und elend. Deshalb hält sie die Augen konzentriert auf die ewige Straße gerichtet und fährt dem errötenden Abendhimmel entgegen. Sie liegt in ihrem Bett. Sie will nicht schlafen, kann nicht schlafen. Denn niemand weiß, was in der Dunkelheit lauert. Und er sitzt neben ihr und erzählt. Seine Stimme ist so warm, so weich. Und dennoch kann sie bedrohlich wirken. Er erzählt ihr ihre Lieblingsgeschichte. Viele Male schon saß er so da und erzählt die Geschichte mit genau denselben Worten. „Wie der Elefant seinen Rüssel bekam? Das ist eine gute Frage. Es gab mal eine Zeit, aber das ist schon lange her, als der Elefant noch keinen Rüssel besaß. Er hatte nur eine schwarze, knollige Nase und…“ Er entführte sie nach Afrika, weg von den lauernden Monstern unter ihrem Bett. Er sprach und 36


sprach, bis das kleine Mädchen in seinen Armen schlief, ruhig und sich nicht mehr vor den Schatten der Dunkelheit fürchtete. Dort ist er. Der Grenzübergang. Sie reihen sich in die Autoschlange ein. Verena kann seine Aufregung spüren. Wilfried kommt seinem Ziel immer näher. Bald braucht er nur noch die knochige Hand ausstrecken. Er hebt die Hand und legt sie auf ihre. Seine ist eiskalt, doch die Kälte ist nichts gegen die in seinem Innern. Was er auf dieser Seite bekommt ist ihm nicht genug. Nicht mehr. Es wird Zeit, dass der Frühling kommt. Auf der anderen Seite ist bestimmt immer Frühling oder Sommer. Denn wer will dort noch Kälte haben? Kälte gibt es hier genug. Verena trommelt mit ihren Fingern auf das Lenkrad und beobachtet die hektischen, uniformierten Gestalten an den Schranken. Erst jetzt merkt sie, wie schnell alle Menschen durchs Leben rennen, ohne sich bewusst zu sein, dass alles bald genug vorbei ist. Endlich sind sie an der Reihe. Der Mann hinter dem Schalter prüft ihre Papiere sorgfältig. Er mustert sie und man sieht in seinen Augen, dass er weiß, warum sie hier sind. Sie sind schließlich nicht die einzigen. Als er ihnen eine gute Fahrt wünscht, sieht man Bedauern in seinen Augen. Vielleicht auch etwas Mitleid. Und die Frage nach dem Warum. Sie fahren weiter. Nun ist es nicht mehr weit. Seine Gedanken kreisen. Jetzt vergeht die Zeit schnell. Er versucht sich an alles zu erinnern. Versucht Momente einzufangen. Was macht ihn Stolz? Was bereut er? „Verdammt, was soll das heißen?“ Sie sitzt dort am hölzernen Küchentisch und schluchzt, während er vor ihr steht und sie anbrüllt. Er ist so hilflos, verwirrt. Weiß nicht wie er damit umgehen soll. Also schreit er. Denn schreien verdeckt alles, vor allem Unsicherheit. „Ich lebe mein Leben wie ich es will. Und dich geht das einen Scheißdreck an!“ „Meinst du ich lasse zu, dass du dein Leben zerstörst? Einfach alles abbrechen? Ja, Hauptsache für dich ist alles bequem.“ „Wenn du mir zugehört hättest, wüsstest du, dass ich einen Grund habe die Schule abzubrechen.“ „Ja, irgendwelche irrsinnigen Träume, von denen du keinen in die Tat umsetzen wirst. Wenn du auf der Straße landest, wer muss dich dann wohl retten?“ „Arschloch.“ Ihre Stimme ist leise, kaum zu vernehmen. Und doch schießen die Worte wie Pfeile durch den Raum. Seine Hand fährt durch die Luft, ihre Wange ist rot. Verstört sehen sie sich an. Endlich ist es wieder ruhig. Der Wagen hält an. Das Äußere des Gebäudes erklärt schon alles. Weiß wie die Räume innen, steril, unpersönlich und doch seine Rettung. Dahinter spinnt schwarze Nacht ihre Fäden, die die vereinzelten Sterne umschlingen. Endlich angekommen. Er ist erleichtert, dass alles bald vorbei ist. Die lange Fahrt hat ihn mitgenommen, genau wie sie. Doch beide schweigen, versuchen den anderen nicht merken zu lassen, wie schlecht es ihnen geht. Der Weg vom Auto zum Eingang ist lang, so lang. Sie schlingt ihre dünnen Arme um seinen gebeugten Körper und zusammen legen sie die Strecke zurück. Über schlammige Pfützen und löchrigen Asphalt, wie bei einem Hindernislauf. Was er tut, ist Gotteslästerung. Zum Glück ist Wilfried Atheist. Die Kirche hat ihm nie geholfen. Zum Glück hat er seine Kleine zu freiem Denken erzogen. Sie haben genug andere Sorgen. Doch bald nicht mehr. Die Frau an der Information hat eine warme Stimme. Doch ihre Worte dringen nicht durch den Nebel, der sein Denken verschleiert und seine Glieder zittern lässt. Aber Verena ist da. Sie hört und spricht, während sie fest seine Hand drückt. Sie kriegen sofort ein Zimmer. Man hat sie schon erwartet. Sie bringt ihn zu seinem weißen Bett und er lässt sich darauf sinken. Der Raum ist kahl, nur auf dem Nachttischchen steht ein kleiner Blumenstrauß wie ein heller Farbtupfer in dem dämmrigen Raum. Seine Glieder schmerzen. Das Gehen fällt ihm immer schwerer. Aber bald nicht mehr. Er lächelt. Sie müssen bis zum nächsten Morgen warten, erst dann kommt der Arzt. Er will nicht schlafen, sie kann nicht. Schweigend halten sie sich an den Händen. Mit ihrem Finger fährt sie über die blauen Adern, die deutlich auf seiner Hand hervortreten und umkreist die vielen kleinen Flecken, die sie bedecken. Irgendwann durchbricht sie die Stille. „Hast du Angst?“ 37


Sie packt seine Hand ein bisschen fester, als könnte sie so die Angst nehmen. Ihre Angst. Denn er schüttelt den Kopf. „Es ist Zeit. Andere wollen leben, können leben. Ich nehme nur Platz weg.“ Sie nickt, doch verstehen kann sie ihn nicht. Sie sieht das unsichtbare Band seiner Leidenschaft nicht, das ihn auf die andere Seite ziehen will. Und er wünscht sich nichts sehnlicher, als bald zu folgen „Ich habe Angst“, flüstert sie. Ihre Worte verhallen so schnell, dass man sie kaum hört. Der Mond betrachtet die beiden durch das Fenster und flüstert den Sternen zu, sie sollen für die beiden heller scheinen. Nur diese eine Nacht. Es ist die letzte Reise. „Willst du eine Geschichte hören?“ Seine raue Stimme streicht über ihr Gesicht und plötzlich ist sie wieder das kleine Mädchen. Er beginnt zu erzählen, wie der Elefant seinen Rüssel bekam. Als die Sonne den lauschenden Mond verdrängt, kommt der Mann im weißen Kittel. Sie haben schon gesprochen und geschrieben. Viele Male wurde Wilfried gefragt, ob er sicher sei. Als der Arzt nun fragt: „Sind sie sicher, Herr Wieland?“ kann er nur noch müde nicken. „Soll es sofort sein?“ „Ich bin bereit.“ Lange genug hat er sich durch sein immer zähflüssigeres Leben gequält. Er will leicht sein, frei sein. Er ergreift die Hand seiner Tochter. Ihre Lippen zittern. Er will nicht, dass sie dabei ist, doch sie weigert sich zu gehen. Der Arzt hat die Spritze. Nur ein kleines Pieksen, dann folgt er dem Band, das ihm den Weg bauen wird. „Erzähl mir das Ende der Geschichte", murmelt er. Sie versucht tief zu atmen, um den Kloß in ihrem Hals los zu werden. „Nachdem die Elefanten zurückgekehrt waren…“ Langsam senkt sich die Spritze in seinen weißen Arm. Er spürt es kaum, lauscht nur den Worten seiner Tochter, während die durchsichtige Flüssigkeit durch seinen Körper gepumpt wird und sein kühles Herz umfasst. „Seit jener Zeit haben alle Elefanten auch einen solchen Rüssel wie das unersättlich neugierige Elefantenkind.“ Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, als er endlich dem Band seiner Sehnsucht folgt, das ihn auf die allerletzte Reise mitnimmt. Die Geschichte über den Elefant ist eine Anlehnung an Rudyard Kipling – The Elephant‘s Child

Zorn. Stolz. Hoffnung. Enttäuschung. (white chocolate) – Schwarz und weiß Er beobachtet mich. Ich spüre wie seine Blicke mein Gesicht absuchen. Was hofft er zu finden? Mit gesenktem Kopf betrachte ich meine Hände, wie sie sich von der weißen Tischfläche abheben. Mit seinen Augen sticht er auf mich ein, doch ich werde nicht nachgeben. Ich lasse mir meine Nervosität nicht anmerken und starre weiter auf meine Hände, während ich meine Fingernägel säubere. Sein Stuhl knarrt leise, als er sich ein Stück nach vorne lehnt, ein Stück weiter in meine Richtung. Seine Masche wird bei mir nicht ziehen. Ich höre die Uhr an seinem Handgelenk leise ticken. Seine Haut ist wie leicht vergilbtes Papier, das Wasserflecken hat. Minute um Minute verstreicht und das Diktiergerät nimmt unser Schweigen auf. Schließlich räuspert er sich. Ich blicke nicht auf. „Ich bin Kommissar Zander.“ 38


Ich spüre sein kaltes Lächeln, das versucht zu mir durchzudringen. Er blättert in seinen Unterlagen. „Dein Name ist Xola?“ Es gibt Fragen, auf die man keine Antwort geben muss. „Kommt der Name aus Afrika?“ Guck mich an! Wie sehe ich denn aus? Wie ein Chinese? Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen. „Hört sich irgendwie weiblich an. Wahrscheinlich wegen dem ‚a’ am Ende. Ich hätte nicht gedacht, dass es ein männlicher Vorname ist. Hat er eine Bedeutung?“ Leben in Frieden. Es gibt kein Leben in Frieden. Jedenfalls nicht für mich. „Gut“, sagt er seufzend. Er wird mich nicht kriegen. „Du weißt warum du hier bist?“ Denkt er, ich bin dumm? „Es wäre schön, wenn du eine Aussage machst. Es gibt vielleicht mildernde Umstände, die bei der Gerichtsverhandlung berücksichtigt werden können.“ Ich schweige weiter. „Du weißt doch warum du hier bist?“ Weil ich in Ihren Augen ein Verbrechen begangen habe. „Du bist hier, um zu reden. Schweigen wird uns Beide nicht weiter bringen.“ Es ist kalt. Langsam atme ich ein. „Du kannst mich doch verstehen, oder?“ Ich stoße den Atemzug heftig aus, während meine Fingernägel wieder in meine Handflächen schneiden und mein Blick zu seinen eisblauen Augen hochschnellt. Sie dringen in mich ein und rasch wende ich den Kopf ab. Sein prüfender Gesichtsausdruck verfolgt mich weiterhin. Er ist nicht dumm, dieser Kommissar Zander. „Schön. Wenn du mich verstehst, kannst du auch deine Sicht der Dinge erzählen.“ Ich hätte nicht aufschauen sollen. „Nun, den vermutlichen Ablauf kennen wir schon aus den Zeugenaussagen und von den Opfern. Nur eine Frage muss noch geklärt werden. Warum? Warum hast du sie angegriffen? Sie haben dir schließlich nichts getan, oder?“ Er nimmt sie in Schutz. Er nennt sie ‚Opfer’. Zuerst versucht er Vertrauen zu mir aufzubauen und jetzt zeigt er mir, dass er auf ihrer Seite ist? Natürlich ist er das. Wenn es darauf ankommt, sind sie alle gegen uns. Ich habe das schon oft genug erlebt. Keiner von ihnen hat je etwas unternommen. Es war ihnen egal, wenn die Leute im Bus komische Kommentare gemacht haben. Es gefiel ihnen, was sie mit Yawo gemacht haben, sonst hätten sie es verhindert. So etwas kann einem nicht egal sein, wenn es genau vor einem passiert. Es muss ihnen gefallen haben. „Gut. Wenn du mir den Grund nicht nennen willst, kannst du mir vielleicht wenigstens sagen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Dein kleiner Bruder, Yawo, hat was mit der Sache zu tun, oder?“ Er mustert mich, während seine Finger über die Tasten des Diktiergeräts gleiten. Er gibt Yawo die Schuld! Yawo hat nichts getan. Wütend sage ich ihm direkt ins Gesicht: „Yawo ist noch weniger ein Verbrecher als ich.“ Er sieht mich überrascht an. Auch ich bin überrascht, dass ich gesprochen habe, obwohl ich mir geschworen hatte kein Wort zu sagen. „Ich habe nicht gesagt, dass er ein Verbrecher ist.“ „Aber gedacht.“ „Woher weißt du, was ich denke?“ Er lehnt sich über den Tisch zu mir hin und hebt fragend seine Augenbrauen. Ich rücke mit meinem Stuhl ein bisschen nach hinten. Leise beginnt er zu singen: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“ Fasziniert und gleichzeitig eingeschüchtert betrachte ich sein selbstsicheres Gesicht mit den verstörenden Augen. „Dein Bruder, das war vor zwei Monaten, oder?“ Wieso muss man Fragen stellen, deren Antwort man bereits weiß? „Wie mir bekannt ist, war er Opfer eines Verbrechens. Dagegen ist mir völlig unklar, warum du denkst, dass ich ihn beschuldige. Bei der Polizei sind wir mittlerweile soweit, dass wir bei einfachen Gewaltverbrechen Täter und Opfer auseinander halten können. Zum Beispiel wissen wir ziemlich genau, dass du Täter warst.“ „Einfaches Gewaltverbrechen?“ Ich schnaube. „Warum habt ihr dann nicht die wirklichen Täter 39


schnappen können, wenn es so einfach war?“ Ich habe es von Anfang an gewusst. Er ist gegen mich. „Hast du jede Mücke erschlagen können, die dich gestochen hat?“ Verständnislos blicke ich ihn an. Er öffnet den Mund, anscheinend weil er denkt, ich hätte den Vergleich nicht verstanden. Eindeutig. Er hält mich für dumm. „Ja, aber ich werde auch nicht dafür bezahlt, Mücken zu jagen“, erwidere ich, bevor er etwas sagen kann. Nickend blickt er mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. „ Die haben sein Leben zerstört!“, zische ich. Es tut immer noch weh, an Yawo zu denken. Es schmerzt ihn zu sehen und es macht mich rasend, dass die Verantwortlichen ihr Leben ganz normal weiter leben dürfen. Sie sind gegen uns. Die Mücken, die Yawo das Blut ausgesaugt haben, schwirren sorglos durch die Nächte und keiner stört sich an ihrem nervtötendem Surren. „Haben Sie meinen Bruder gesehen? Haben Sie einen kleinen Bruder? Haben Sie einen Sohn? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einen zwölfjährigen Sohn hätten, dem die Nase gebrochen wurde? Was würden Sie denken, wenn er jedes Mal, wenn er Fremden begegnet den Kopf und die Schultern aus Angst gesenkt hält? Würden Sie sein sorgloses Lachen nicht vermissen? Was würden Sie tun, wenn diese Leute vor Ihnen stehen würden und mit einem falschen Lächeln ihre verdorbenen Ansichten in Ihre Hände drücken würden? Yawo hat ihnen nichts getan. Nichts!“ Er hört mir mit halb interessiertem, halb versteinerten Gesicht zu. In meinen Ohren rauscht es. Mein Herz rast. Genauso wie in dem Moment, in dem ich es getan habe. Ich bin in die Schule gegangen, ich konnte meine Augen vor Müdigkeit kaum offen halten. Mein Kopf war leer, meine Beine schwer. Ich befand mich irgendwo in einem Reich zwischen Traum und Wirklichkeit, als sie es mir in die Hand gedrückt haben. Mit verlangsamten Reaktionen nahm ich es an und registrierte das breite Lächeln auf dem milchigen Gesicht. Die grauen Augen musterten mich abschätzig, während ich auf das Blättchen in meiner Hand starrte und verstand. Es durchfuhr mich wie ein heftiger Schuss und ich war plötzlich wach. Mehr noch als wach. Meine Augen blitzten zu ihnen hoch und der Donner, bei dem aller angestaute Hass in Energie umgewandelt wurde, ließ nicht lange auf sich warten. Ich kann mich an Brüllen erinnern. An das befriedigende Gefühl ihr Wimmern zu hören. An das rote Blut. Wie mein Blick durch dieses Blut verschleiert wurde. Ich hatte Yawo gerächt. Nicht umsonst ähnelt das Wort ‚gerächt’ dem Wort ‚gerecht’. „Nun, vielleicht weißt du es nicht, aber diese Männer hatten nichts mit den Angreifern deines Bruders zu tun.“ Er holt mich aus meinen Erinnerungen an die befreiende Rache in die Wirklichkeit zurück. Es braucht eine Weile, bis ich seine Worte registriere. „Sie waren auf derselben Seite.“ Seinen schwarzen Kugelschreiber in den Händen drehend sieht er mich eindringlich an. Meine Augen weichen seinen aus und fixieren den Kugelschreiber. Er dreht ihn hin und her. Hin und her. „Vermutlich hatten sie dieselben politischen Ansichten, aber woher willst du wissen, ob sie den gewalttätigen Übergriff auf deinen Bruder befürwortet hätten?“ „So etwas muss man nicht wissen, dass fühlt man.“ Während ich spreche, starre ich noch immer auf den Stift. Ich habe Angst davor, seinen Blick zu lange zu erwidern. „Gefühle? Glaubst du wirklich irgendwer wird sich für deine Gefühle interessieren?“ Er lächelt spöttisch. Ich fühle mich erniedrigt, abgewertet. „Das Gesetz entscheidet und das Gesetz beruht nicht auf Gefühlen. Was diese Männer gemacht haben, war nicht gegen das Gesetz, wogegen deine Handlungen eindeutig als kriminell gelten.“ Er hebt scheinbar bedauernd die Schultern. „Glauben Sie an Gott?“, frage ich unvermittelt. „Warum?“ Er zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Gott darf alles. Er darf Rache nehmen, wie er will und wann er will. Wieso darf der Mensch das nicht? Gott stellt sich über alles, nur weil er die Welt und die Menschen erschaffen hat. Was hat Gott denn gemacht? Die Menschen können doch genauso viel wie er, wenn nicht sogar mehr. Wir haben fliegen gelernt, wir waren auf dem Mond, wir können Menschen wiederbeleben. Was hat er denn getan, außer aus ein paar Bauklötzchen die Erde gebaut? Gott rächt sich doch dauernd, weil wir ihn 40


zu wenig anbeten, warum dürfen wir uns dann nicht auch rächen?“ „Dein Glück, dass wir uns in Zeiten befinden, in denen Religion und Gesetz getrennt sind. Und um deine Frage zu beantworten, ich glaube nicht an Gott. Und auch nicht an das Schicksal. Gib mir Fakten und Beweise, dann glaube ich dir alles.“ Ich habe keine Lust mit ihm zu diskutieren. Er ist einer von ihnen, er würde seine Meinung über alles stellen. Als er merkt, dass ich ihm keine Antwort geben werde, setzt er sich auf und ordnet seine Unterlagen. „Also werde ich jetzt festhalten, dass du deinen kleinen Bruder mit der Tat rächen wolltest. Gibt es vielleicht noch andere Beweggründe?“ Ich überlege und beobachte wie er sich mit einer energischen Handschrift Notizen macht. „Respektlosigkeit? Oder ist es respektvoll einen Mensch für sich gewinnen zu wollen mit Argumenten, die gegen diesen Mensch gerichtet sind?“ Er blickt kurz auf und schreibt dann weiter. „Kann ich jetzt gehen?“ Das Gespräch ist anstrengend. Es zermürbt mich. „Eins noch. Wenn du wirklich an Gott glaubst, solltest du respektvoller von ihm sprechen, wenn wir schon mal bei Respekt sind. Fegefeuer ist bestimmt unangenehmer als Gefängnis.“ Seine Augen blitzen. „Ich gehe lieber in die Hölle als zu diesem selbstverliebten Egoist im Himmel. Werde ich ins Gefängnis kommen?“ Obwohl es eigentlich klar war, bin ich erschrocken und überrascht. Er zuckt mit den Schultern. „Kommt darauf an, wie die Gerichtsverhandlung abläuft. Wahrscheinlich schon, aber nicht für immer.“ Der Preis ist akzeptabel. Wenn ich an Yawos wie flüssige Schokolade schimmernde Augen denke, die ihr Leuchten verloren haben, ist jeder Preis annehmbar. „Gut. Dann hoffe ich, dass Sie die Mückenjagd in Zukunft ernster nehmen.“ Ich fühle mich eigentlich nicht in der Position ihm Anweisungen zu geben, aber ich gebe mich selbstsicherer, als ich bin. „Reicht Dir als Beweis für meine Ernsthaftigkeit, dass ein Vater seinen Sohn liebt?“ Ich runzele die Stirn. „Was?“ „Ein Vater liebt seinen Sohn und würde alles tun, um ihn zu beschützen.“ Ein kleines Lächeln zeichnet sich auf seinen dünnen Lippen ab. Verständnislos wage ich es kurz in das kalte Blau seiner Augen zu schauen. Die Wärme, die mir von dort entgegenschlägt, hält mich fest. „Du kannst dir sicher sein, dass ich alles dafür tun werde, dass mein Sohn eine sichere Kindheit hat.“ Er greift nach einem Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch und dreht ihn so, dass ich das Foto sehen kann. Zwei braune Augen, ähnlich denen Yawos, strahlen mir entgegen. Der kleine Junge steht im Schnee, der einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut bildet. Ich vergleiche die Farbe meiner Hände mit seiner Hautfarbe, ungläubig, dass Menschen so anders sein können, als man denkt. aus dt. Volkslied Die Gedanken sind frei: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?

Um Laute Gleichgültigkeit. Panik. Hoffnung. Geborgenheit. (Nachtblick) – In Arms „Wolltest du nicht duschen?“

„Mhm.“ Er zuckt die Achseln. „Stimmt es, was sie erzählen? Das mit den Festnahmen drüben?“ 41


„Herrgott, bin ich drüben? Keine Ahnung.“ „Haben wohl geschossen.“ „Wer?“ Er sieht flüchtig auf. „Wir oder die?“ „Keine Ahnung, Mann.“ Jezmet reibt sich mit der rechten Fußsohle über das linke Schienbein, mühelos auf einem Bein balancierend. Er trägt eine zu lange Hose und ein ausgeleiertes, schmutziges Unterhemd. Über den ausgebleichten Stoff der Hose ziehen sich Staubspuren. „Who cares, anyway.“ „Rasier dich.“ Der Mann reibt sich prüfend das Kinn und zuckt mit den Achseln. Eine Weile steht er da und betrachtet ihn, wie er sich auszieht. Man kann nur in Unterwäsche schlafen bei der Hitze; oder gleich nackt. „Thought you were going to fuck me?“ „Nein.“ Aden reibt sich den schmerzenden Kopf. „Das war genug für heute, ich fühl mich scheiße.“ Jezmet behält das Unterhemd an, die Hose wirft er achtlos beiseite. Das Laken ist noch kühl. „Pass auf mit deinem Arm.“ „Jeez. Ist das gleiche wie bewaffnen. Arm.“ Er richtet den Zeigefinger auf ihn, den Daumen abspreizend. Er hebt die Brauen. Bist du so dumm, fragt sein Blick. „Arms, ya know.“ „Mhm. Klar, ja. Mach das Licht aus, ja?“ „Willst du schon schlafen?“ „Mhm.“ „Pussy“, murmelt Jezmet, findet sich wohl damit ab, löscht das Licht und wendet ihm den Rücken zu. Das Bett ist gerade breit genug für sie beide. Draußen flimmert die Nachthitze. Es wird meist kühler, je später es wird; noch frischt der Wind nicht auf, und unter einer Decke erstickt man. „You sleeping?“ „Nah“, murmelt Aden im Dämmerschlaf. Am nächsten Abend steht selbst das Wasser in der Dusche lauwarm vor Hitze. Sie sind beide verschwitzt. Jezmet geht in abgetragenen Flip-Flops oder gleich barfuß. Er riecht nach Sand und klebrigem Schweiß. „Komm her.“ Er zieht ihn an sich. Jezmet dreht den Kopf weg. „Was ist schon wieder los?“ Er zuckt die Achseln: „Not in the mood.“ „Nicht dein Ernst?“ Aden drückt ihn an die Wand und presst den Oberschenkel in seinen Schritt, fährt mit einer Hand unter sein verschwitztes Hemd. Der Mann wehrt sich ziemlich halbherzig gegen seine Berührungen. „Jeez“, murmelt er dann und presst mit einem Seufzen die Zunge gegen die Zähne, genervt den Kopf in den Nacken legend. Er flucht gern über Jesus. „Mother of Jesus Christ“, sagt er dann manchmal und schüttelt den Kopf. „Get off.“ Jezmet zerrt seine Hand weg, geht aber in die Knie, an seinem Gürtel nestelnd. Der Soldat greift in sein Haar und zwingt ihn, den Kopf zurückzulegen. Er starrt ein wenig missmutig zu ihm auf. „Ich will nicht, dass du das machst. Ich will Sex.“ „Vergiss es.“ Er lässt seinen Gürtel los und rappelt sich auf. „Eh! Ist das jetzt alles?“ „Looks like.“ Er zuckt im Hinausgehen mit den Schultern. „Hol dir eine Frau.“ Er wirft ihm eine Plastiktüte zu. Jezmet fängt. „Für mich? How come?“ „Ist Shampoo drin.“ „Stinke ich?“ „Du könntest besser riechen.“ „Mann, hast du nichts anderes gefunden?“ Er verzieht das Gesicht, in der Tüte kramend. „Was heißt das hier, das? Ist das Chinesisch?“ Aden seufzt. „Benutz es einfach.“ In letzter Zeit bleibt Jezmet oft die Nacht bei ihm. Er treibt sich mehr im Lager herum, als zurückzugehen. Nicht, dass ihm das nicht recht ist. Der Sex lenkt ihn ab. Von was auch immer. Er geht mit unter die Dusche. 42


Jezmet fährt ihm mit dem Handrücken übers Kinn. „You’re scratchy, you know.“ Er lässt ihn machen. Der andere mustert ihn. „Küss mich.“ Aden greift ihm ins Haar, drückt seinen Kopf vor, aber der Mann entzieht sich ihm wieder, den Arm von seiner Brust nehmend. Sein Atem ist noch mühsam von der Hitze. Stille. Die Matratze drückt schmerzhaft in seinem Rücken. Die Hitze macht das Liegen zur Qual. „Trägst du das eigentlich für mich?“ „Was?“ „Ist fast ein Muskelshirt.“ Jezmet verzieht den Mund zu einem halbherzigen Grinsen. Wieder schweigen sie eine Weile. „Hast du echt genug?“ Jezmet versucht, das Bein über seinen Oberschenkel zu legen und seine Beine auseinander zu drücken. Aden wälzt sich auf die andere Seite. „Du bist viel zu schwanzgesteuert“, brummt er. „Schwanzge-was?“, fragt der Mann mit hochgezogenen Brauen. „Du denkst mit dem Schwanz statt mit dem Kopf.“ Jezmet fängt an zu lachen, rau und vergnügt. „Gosh, never heard before.“ „Bleibst du?“ „Hm?“ „Die Nacht? Bleibst du?“ „Mhm.“ Jezmet lächelt immer noch. „Schwanzgesteuert. That’s awesome, man.“ Nach einer Weile dösen sie ein. Er hat das Bein nicht wieder von seinem gezogen. „Was ist das?“ Er nickt zu den Papieren, die er auf dem Tisch ausgebreitet hat. „Arbeit ist das. Falls du weißt, was das ist.“ Jezmet grinst sehr schief und tritt hinter ihn. „Zieh dir was an.“ „Warum? Stört es dich?“, fragt er ungerührt, während er die Papiere ansieht. „Fickst mich doch eh gleich. Sind das irgendwelche Gesetze?“ „Sicherheitsrichtlinien. Security requirements. Hier.“ „Steht da was drin, dass du keine Männer vergewaltigen darfst?“ Er besieht sich die andere Seite einer Seite und runzelt die Stirn. „All soldiers are required to keep regardful at any time. Aha. Contacts to locals are an absolute advantage.“ Er grinst. „What, no way, are they?“ Aden schenkt ihm einen herablassenden Blick. Jezmet kratzt sich den Nacken. „Warum tust du dir das auf Englisch an?“ Er zuckt die Achseln. „Ist so rausgegeben worden.“ Jezmet greift seine Hand. Er zieht sie wieder weg. Er setzt sich neben ihn auf den kleinen Tisch, der ächzt, sein Gewicht aber trägt, und drückt ihm den Fuß in den Schritt. „Es gibt einen Grund, warum wir es nicht auf diesem Tisch treiben.“ „No way?“ Er zieht die Brauen hoch und ruckelt probehalber an der Tischkante. „No risk, no fun.“ „Du sprichst fließend. Du könntest dolmetschen.“ „Wie jetzt, für dich?“ Jezmet runzelt die Stirn. Aden versucht, ihn wegzustemmen und zuckt die Achseln. „Ich meine nur. Du könntest übersetzen, statt dich zu prostituieren.“ „Schön gesagt.“ Eine Weile schweigen sie. Dann streckt Jezmet eine Hand aus und fasst sein Kinn, beugt sich zu ihm, will ihn an sich ziehen, aber er schiebt ihn weg. „Ich hab zu tun. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dusch.“ Jezmet seufzt, die Augen verdrehend, aber er nimmt den Fuß nicht weg und macht auch keine Anstalten, sich zu erheben. „Okay, scheiß drauf. Wird sich nicht viel geändert haben. Runter von dem Tisch.“ „Ist ja schon gut. Pussy.“ Seine nackten Füße verursachen ein leises, klatschendes Geräusch auf dem kahlen Betonboden. Er löscht das Licht; Jezmet zieht ihn an sich, aufs Feldbett. Die Federn ächzen. „Ich hab mehr Angst vor deinem scheiß Bett.“ Er presst den Mann zurück auf die Matratze. Jezmet bietet sich ihm regelrecht an. Sie sinken 43


übereinander. Seine Hände sind rau und nicht gerade sanft. Als er sich irgendwann von ihm wälzt, schwitzt er und ist völlig außer Atem. Der Mann liegt neben ihm und atmet ein wenig rasselnd wie jemand, der Sand in der Lunge hat. „Jesus Christ.“ Er spricht gepresst. Er hält sich mit einem erstickten, erschöpften Lachen den Unterleib. „Be fucking more gentle next time.“ Aden wälzt sich mühsam auf die andere Seite; der Mann liegt auf dem Rücken und hat die Augen geschlossen. Er riecht herb nach Schweiß und Wüste und Männerdeo und Sex. Aden lehnt flüchtig das Gesicht an seinen Kopf und atmet den stechenden, trockenen, warmen Geruch seines Haars. Es ist sein Geruch. Er ist sich sicher, ihn unter Tausenden wiederzuerkennen. „Schläfst hier?“ „Mhm“, brummt Jezmet. „Lemme?“ „Yeah.“ Er hasst das, dass er unwillkürlich schon auf Englisch antwortet. Eine Weile schweigen sie. Irgendwo hört er eine verirrte Motte flattern. Sie fliegt wieder und wieder an das noch warme Deckenlicht. Tapp-tapp-tapp. Allmählich kriecht die Kälte herauf. Aden zieht die Decke über die Schultern. Der Mann neben ihm schweigt. Es ist ständig dieses Schweigen zwischen ihnen. Tapp-tapp-tapp, dummes Ding. Er hakt die Beine in die des anderen. Jezmet knurrt leise, versucht sich ihm zu entziehen, aber als er die Beine wieder zwischen seine schiebt, lässt er ihn gewähren. Es ist ein wenig unbequem und kratzt. „Ist das eine, wie sagt man?“ „Motte.“ „Ah.“ Er hat sie auch gehört. „Moth, it is.“ Tapp-tapp-tapp. „Schon fertig?“ „Mhm.“ „Riechst gut.“ Er atmet flüchtig den Geruch ein. Shampoo. Wasser. Sand. Er streichelt ihm die Wange. Für einen Moment denkt er darüber nicht nach; er beugt sich vor und versucht ihn zu küssen. Jezmet dreht den Kopf weg. „Was ist eigentlich los mit dir?“, fragt er enttäuscht und ein wenig erbost. „Hab ich was falsch gemacht? Immer entziehst du dich, sobald es nicht einfach nur Sex ist!“ „Du bist doch derjenige, der nur harten Sex will“, knurrt Jezmet. Der Soldat verzieht verächtlich den Mund. „Ja, klar. Du lässt dich nicht anfassen, du lässt dich nicht umarmen, gar nichts. Ich kann alles mit dir machen, aber küssen lässt du dich nicht.“ „Du drehst dich immer weg“, fährt der Mann auf. „Du hast immer genug. Du hast immer keine Lust mehr. Du bist immer müde.“ „Warum suchst du dir dann nicht einen jungen Typen, mit dem du Sex haben kannst?“ „Du bist doch die Schwuchtel von uns beiden.“ „Und du die Schlampe, was?“ Er wird laut, die Wut in seiner Stimme vermischt sich mit Enttäuschung. „Gefällt es dir nicht mehr, wenn ich dich ficke?“ „Es interessiert dich doch nicht, was mit mir ist, wenn du es gerade nicht tust!“ „Es interessiert mich genauso wenig wie dich!“ „Du fragst mich nicht einmal wenigstens, wie es mir geht!“ „Dir gehen!“ Aden lacht wütend. „Gott, wie soll es dir denn schon gehen! Ich habe keine Lust auf dein Geheule! Ich dachte, das wäre typisch Frau! Ha, falsch gedacht!“ „Weißt du, wie sie mich nennen? Dein Weib nennen sie mich!“, fährt er ihn an. „Gefällt dir das? Ich“, er brüllt, „kann nicht einfach irgendeinen Mann vögeln und dann weitermachen wie immer!“ „Dann geh weg! Keiner zwingt dich, zu bleiben!“ „Wohin denn!“ Jezmet ist außer sich. „Wohin soll ich bitte gehen!“ Er blafft ihn an: „Dann komm nicht mehr zu mir!“ „Dann vergrab mich!“, brüllt er. „Erschieß mich! Hier!“ Er drückt den Zeigefinger an die Schläfe. „Tu 44


mir den Gefallen und mach es jetzt und hier und dann schleif mich nach draußen und vergrab mich irgendwo!“ „Halt den Mund!“, herrscht er. „Scum!“ „Halts Maul!“, brüllt er und schlägt ihm ins Gesicht. Jezmet stolpert rückwärts und knallt mit dem Kopf an den Türrahmen. Er sackt zu Boden, sich den Kopf haltend. Aden fährt sich über den Mund, spuckt aus, mühsam atmend. „Motherfucker.“ Jezmet drückt die Hand vors Gesicht, plötzlich kreidebleich, rappelt sich auf und wankt hinüber zur Dusche, gerade noch rechtzeitig, bevor er sich würgend übergibt. Er sieht zu, wie er sich auskotzt. Jezmet schluchzt für einen Moment, vielleicht ist es auch nur ein Luftholen. Der Gestank beißt in der Nase. Er hat ihm den Rücken zugewendet. Er stützt sich an der Wand ab und hält sich den Kopf. „He. Beruhig dich“, setzt er nach einer Weile mühsam an. Jezmet verkrampft am ganzen Körper, aber er dreht nicht einmal den Kopf, als er brüllt: „Wie denn! Du verstehst es nicht, oder!“ Er spuckt aus. „Vielleicht mag ich dich ja tatsächlich nicht nur, weil du gut im Bett bist!“ Seine Worte verschlucken. Er spuckt zähe, gallige Speichelfäden. Aden steht da und schweigt und hat das Gefühl, in seinem Magen säße ein riesiges Geschwür. „Warum packst du?“ „Wir gehen.“ „Wohin?“ Aden sieht auf. „Weg.“ Sie schweigen. Er macht sich wieder ans Packen. „So it’s your last day?“ „Yeah.“ „Ever?“ „Gib mir mal die Tasche da. Die, ja.“ Er nimmt sie ihm ab. Jezmet sieht zu, wie er fertig packt. Nach einer Weile fragt er: „Kann ich bei dir duschen?“ Er zuckt die Achseln. „Mach danach sauber.“ Während er die Taschen verstaut und ein paar Sachen für morgen sortiert, geht der Mann unter die Dusche. Er hat ihm eins der alten Handtücher gegeben. Aden sortiert im Halbdunkel alte Fotos auf dem Feldbett, als Jezmet fertig ist. „It’s yours.“ Er sieht auf. „Das? Behalt es ruhig an.“ „Wann geht ihr? Morgen früh?“ „Mh-m.“ Er stopft die Fotos zurück in seine Tasche. Als er aufsieht, steht Jezmet vor ihm. Sie sehen sich an. „Was ist?“ „Nichts.“ „Ich leg mich schlafen.“ „Ah. Musst früh raus, hm?“ „Mhm.“ „The early bird thing? How do you say?“ „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ „Ah.“ Schweigen. Sie sehen sich an. Lange Zeit ist es still. Das Bett knarzt metallisch, als Jezmet zu ihm auf die Matratze kriecht. Aden wendet sich ab und löscht das Licht. Der andere riecht nach diesem chinesischen Shampoo. „Kannst du behalten, das Zeug“, sagt er. „Mhm.“ Nach einer Weile richtet er sich auf. Er spürt seine Finger rau an seiner Wange. Jezmet beugt sich über ihm. Sein Atem riecht warm. Seine Bartstoppeln kratzen. Er küsst ihn auf den Mund. „There“, sagt er. 45


Sie schweigen. Irgendwann schiebt Aden die Beine zwischen die des anderen Mannes. Er ist warm. Er lehnt die Stirn in seinen Nacken und einen Arm um ihn. Sein Haar riecht unter dem schweren Duft des Shampoos noch immer nach Schweiß und Staub. Sein Geruch. Er würde ihn unter Tausenden wiedererkennen. Nach einer Weile sind sie eingeschlafen, Arm in Arm, brothers in arms.

(Drift94) – Die Monotonie des Gebets Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Der Rücken der alten Zenzi war so krumm wie das Spinnrad, mit dem sie so gerne arbeitete. Sie wog im Gehen hin und zurück und ihr alter Körper erzitterte bei jedem Schritt wie ein Laubblatt im Wind. Ihre Finger waren rau vom Zwirbeln des widerspenstigen Garns und kaputt von der Gicht, wie flinke Tänzer, die mitten in der Bewegung erstarrt waren. Die Augen der Zenzi waren mit einem grauen Schleier überdeckt, der ihnen das letzte Funkeln genommen hatte. Nicht, dass die Zenzi so alt gewesen wäre. Sie selbst hatte mitgestritten damals, im März ’48, auch wenn sie bis heute nicht wusste, für was sie gekämpft hatte. Noch heute glänzten die grauen, müden Augen, wenn sie von bunten Bannern, lärmenden Massen und einem unfassbaren Lärm sprach. Dann schob die alte Zenzi das Strickzeug beiseite, kniff die kaputten Augen zusammen und legte den Kopf schief, als würde sie versuchen, durch den Schleier auf ihren Augen noch etwas zu erkennen, hob eine gichtige Hand in die Höh und sagte: „Weißt, Jung, damals. Da ham mir uns noch gegen die haltn traun . Da had uns koaner ned sogn derfa, was ma zum doa habn. Aber heit, Bua, heit machns alle, was da werte Herr Kaiser erna sogt. Da traut sie koaner nix sogn.“ „Schweig, Alte!“, befahl der Ruprecht dann, - der keinen Tag jünger als die Zenzi war, aber doch so viel schneller in den Beinen und im Kopf und mit der Hand, die zuschlug, - erhob sich und stieg die steile, enge Stiege in die Schlafkammer hinauf. Heute saß Zenzi allein, weil Ruprecht mit dem Junior und der Anna-Mari das Kalb holen war, und die Zenzi wusste, dass nur der Herrgott wissen konnte, ob es ein starkes Kalb sein würde. Also hatte sie den Rosenkranz geholt und das Beten begonnen, wieder und wieder, und als der Junior nach einer Stunde in den Raum kam und ihr erzählte, dass das Jungtier wohl schief lag, hatte sie ein wenig schneller gebetet. Sie schob eine Perle weiter und begann ein weiteres Ave Maria, während sie zu überlegen begann, ob Jesus als Kleinkind wohl auch so viel geschrien hatte, bis Josef die Wiege voller Zorn in den Kuhstall stellte. Der Ruprecht, der hatte das so gemacht, wenn der Junior schrie, und mit den Mädchen hatte er es auch gemacht, weil sie Mädchen waren. Aber jetzt, dachte die Zenzi, jetzt wird der Junior bald den ersten Sohn in Händen halten – Gott gib, dass es ein Sohn ist – und überlegen müssen, was er mit dem Schreihals tat, wenn er ihm den Schlaf raubt. Die Anna-Mari, die hatte sich schon zeigen lassen, wie man Bierdiezel machte. Die Zenzi schob eine Perle weiter und betete ein Ave Maria. Das Licht der Petroleumlampe flackerte und dunkle Schatten tanzten auf dem Gesicht des hölzernen Jesus. Der altbekannte Schmerz kehrte in Zenzis Rücken zurück und sie wusste, dass jeder Schmerz nur kam, weil sie mit den Gedanken nicht beim Gebet war. Sie betete ein Vater unser, und ein Ave Maria, so lange, bis sie sich selbst zu glauben begann, dass Gott gnädig und gerecht war. Es wurde kalt im Raum, und Zenzi merkte, wie weh ihr die Gicht tat, wenn es kalt war. Sie blickte 46


schuldbewusst in die hölzernen Augen des gekreuzigten Jesus, die im flackernden Licht der Flamme fast lebendig wirkten, legte den Rosenkranz für einen Moment in den Herrgottswinkel und holte sich eine Wolldecke. Der Ruprecht hatte all das Feuerholz dem Glaser gegeben, damit er ihm eine Gedenktafel in der Dorfkirche organisierte, doch als die Tafel schließlich hing, stand Ruprechts Name nicht darauf. „Aber Gott weiß drum“, hatte Zenzi gesagt, als Ruprecht rasend vor Wut und torkelnd vor Alkohol nach Hause gekommen war. „Der Herrgott wird’s dir anrechnen.“ „Schweig, Weib!“, hatte der Ruprecht gewütet und ihr ins Gesicht geschlagen, bis sie nur noch ein Pfeifen in den Ohren hörte, „Was weißt du denn schon vom Herrgott?“ Dann war er die alte, steile Stiege zur Schlafkammer hinaufgetorkelt und Zenzi hatte sich gewundert, dass er nicht herunterfiel. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Die Zenzi hob den Rosenkranz auf und setzte sich auf ihren Stuhl am Spinnrad. Sie nahm eine rote Perle in die Hand, spürte das raue Holz zwischen ihren Reisighänden und begann zu beten, bis die Worte den Raum füllten. Der Junior kam herein und die Anna-Mari mit ihm, die Hände über dem dicken Bauch gefaltet. Schwangere erinnerten Zenzi immer an die alte Hündin, die sie gehabt hatten, die mit dem dicken, aufgeblähten Bauch, die irgendwann daran gestorben war. „S’ Kalbi liegt schiach. Da Senior mags no hoin, aber i glab, s’is äh scho hi.“ Der Junior nahm sich ein Stück Speck aus der Speisekammer und wandte sich zum Gehen. „D’Anna-Mari bleibt bei dir, Mutter. Da Bauch drucks.“ Anna-Mari ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl fallen. Sie hielt sich den Bauch. „S’Bättn huift“, sagte Zenzi zwischen zwei Ave Marias. „Wenns losgeht, huift nur nochs bättn.“ „Da Junior hat gsagt, er hoit mir an Doktor, wenns so weit is“, meinte Anna-Mari. „Des hat da Ruprecht a gsagt. Und wies nachat so weit war, is a in Saustoi gangn und hod gwart. Der Ruprecht is a guada Mo. Anderne hättn mi an dem Dog no aufm Feid arbotn lassn.“ Anna-Mari schnaubte, stimmte aber mit ein, als die Zenzi wieder zu beten begann. Der Raum wirkte still, obwohl keine von ihnen schwieg. Die Zenzi mochte Anna-Mari, auch wenn Anna-Mari manchmal etwas vorlaut schien. Sie schien alles in Frage zu stellen, und die Altbäurin hatte einen Moment um ihren Posten gefürchtet, bevor sie beschlossen hatte, Anna-Mari zu lieben. Zenzi liebte andere grundsätzlich mehr als sich selbst. Das Licht der Petroleumlampe schien auszugehen, in einem Luftzug, der darüber strich. Nur der kleine Tisch vor dem Herrgottswinkel war erleuchtet, der Rest des Raumes erstarb in einem tiefen Schwarz, das auf die Leute, die es nicht gewohnt waren, eventuell bedrohlich wirken könnte. Als Kind hatte sich Zenzi immer vor Geistern gefürchtet. Sie hatte sich in der Dunkelheit immer die Ohren zugehalten, damit sie ihr Rascheln und Heulen nicht hören musste. Manchmal schloss sie die Augen, aber dunkel war es immer noch. Ihr Mama hatte ihr von einem Mann erzählt, ein ganz ein kluger, Schiller oder so ähnlich, wie der Schiller mit dem Hasenstall von nebenan. Der Schiller, der Kluge, der ohne Hasen, hatte sich immer einen Knopf gewünscht, auf den man drückte und das Licht ginge an. Zenzi hatte über die Erzählung ihrer Mutter gelacht. „So an Knopf, Mutter, den gibt’s nirgends und den werds nie gebn.“ „Wer woaß, wer woaß“, hatte Zenzis Mutter gesagt. „Aber irgendwann, Zenzi, dann wirst an lieben Mo kriegn und brauchst koa Angst im Dungin ned haben.“ Und die Zenzi verlor ihre Angst vor der Dunkelheit. Seit der Heirat lag sie nachts wach und fürchtete sich vor viel fassbareren Geistern, wie dem Ruprecht, solche, die bestrafen. Zenzi war sich sicher, dass sie die Strafe verdient hatte. Und dennoch, sie begann die Geister zu fürchten, die sich in Ruprechts Körper setzten und ihn unberechenbar machten. Sie schwieg. Sie schwieg, wie sie immer geschwiegen hatte. Als sie die blauen Flecken am Rücken der Anna-Mari sah, war sie sich sicher: Das was der Ruprecht tat, tat jeder Mann. Und sie war schuld daran, dass man sie schlug, weil sie eine Frau war. Ruprecht kam ins Haus. „I gwinn allwei“, sagte er. „S’Kalbi lebt. Wie is gsogt hab. Anna-Mari, steh auf. S’Kalbi muss gwaschn wern. Des koa Arbeit für an Mo ned.“ 47


Zenzi legte den Rosenkranz zur Seite. „D’Anna-Mari druckt da Bauch. Die ko jetzat ned in Stoi gehn.“ „Schweig, Weib!“, herrschte der Ruprecht sie an und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. „Di hod koana ned gfragt.“ Er stapfte die enge, steile Stiege hinauf in die Schlafkammer, um sich die Hände zu waschen. Die Anna-Mari erhob sich, nach vorne gebeugt, eine Hand um den schmerzenden Bauch gelegt. „S’geht los“, sagte sie. „Zenzi, huif ma, s’geht los.“ Zenzi erhob sich, legte den Rosenkranz wiederwillig beiseite und umschloss Anna-Maris Hand. „Der Ruprecht hod gmoant, du soist erm im Stoi helfn.“ „Himmelherrgott, Zenzi! Mei Bauch duad mia so wäh, dass i nimmer gehn ko. Huif mia hoid!“ Anna-Mari sank zu Boden und presste die Hände auf den Bauch. Ruprecht kam die Treppe wieder hinunter. „Kannst mir amoi sagn, Weibi, warum d’Anna-Mari noch ned in Stoi ganga is?“ „Sie kriagts Kind.“ „Sie wirds ja wohl ned glei kriagn.“ Ruprecht zerrte Anna-Mari auf die Beine. Der jungen Frau lief der Schweiß das Gesicht hinunter. „Ruprecht, i ko jetzt ned“, meinte sie leise. „Hers wuisln auf!“, schimpfte er und schlug zu. „Und jetzt mach zua!“ Er wieß auf die Tür. Die Anna-Mari sank wimmernd zusammen. „Ich hoi a Wasser“, sagte Zenzi. „Du hoist gar nix. Du schweigst, Weib!“, tobte Ruprecht und holte aus, Zenzi zu schlagen. Zenzi duckte sich und schlich an ihm vorbei nach oben in die Schlafkammer, Tücher holen. Ruprecht, vom ganzen Körper noch viel beweglicher, holte sie schon auf der Stiege ein. „Hast du mi ned ghert, Weib?“, wetterte er. Er packte Zenzi an der Schürze. Sie wandte sich aus seinem Griff. „Aber d’Anna-Mari braucht Hilfe. Sie varreckt, wenn koana nix duad.“ „Des is immer noch mei Sach, Weib, was hier oana duad.“ „Aber wer stirbt und wer ned, des sagt immer noch der Herrgott“, meinte Zenzi. Der Ruprecht holte aus, sie zu schlagen und verlor das Gleichgewicht, fiel die Treppe hinab und blieb stumm in der Dunkelheit liegen. Die Zenzi hatte zum ersten Mal in ihrem Leben keine Angst mehr vor dem Dunklen. Sie stieg über ihn hinweg und ging, so schnell es ihr Rücken zuließ, in die Küche zurück. Sie begann zu beten. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

(Polarlicht) – Niemand Mein langes, blondes Haar und mein weißes Kleid wirbeln um mich herum. Die weißen Wolken ziehen über den blauen Himmel. Unter mir erstrecken sich grüne Wiesen und Wälder bis zum Horizont. Die Stille erfüllt mich. Ich setze mich auf einen großen Fels am Rand der Klippe. "Ich dachte, ich bin der einzige, der hierher kommt", ertönt eine sanfte Stimme hinter mir. Ich drehe mich nicht um. Bleibe sitzen. Ich merke, dass der Junge sich mit dem Rücken zu mir, auf den Felsen setzt. "Wer bist du?", frage ich langsam. 48


"Ich bin Niemand. Du?" "Ich bin ... das Polarlicht." "Was machst du hier?" "Ich denke an Selbstmord", antworte ich sachlich. Er zuckt nicht zusammen. Ich muss lachen. "Und du?", frage ich interessiert. "Ich bin Niemand. Ich bin einfach da." "Ist Niemand da, um das Polarlicht vom Selbstmord abzuhalten?" "Das Polarlicht darf nicht sterben." Eine Brise kommt auf. Ich fange an zu zittern. Niemand legt einen Arm um mich. "Warum nicht?", frage ich leise. "Es ist wichtig." "Nein." "Doch." "Warum?" "Es bringt Farbe dorthin, wo keine Farbe ist. Es ist bunt." "Und welche Farbe hat Niemand?" "Keine Farbe. Weiß. Schwarz." "Ist Niemand unsichtbar?" "Nein. Niemand ist einfach da." "Einfach da, oder für jemanden?" "Beides." Meine Hand tastet nach ihm, berührt seine Schulter. "Du bist da." "Ganz sicher?" "Ja." "Gut." Ich lehne mich an seinen Rücken und seufze. "Was tust du, um mich aufzuhalten?" "Wenn das Polarlicht sich umbringt, tut Niemand das auch." "Warum sollte Niemand das tun?" "Weil das Polarlicht Farbe in das Leben von Niemand gebracht hat. Es ist bunt." "Ja. Blutrot." "Nein. Sonnenscheingelb." "Trauergrau." "Hoffnungsgrün." Ich lege den Kopf auf seine Schulter. "Du bist kein Mensch", flüstert er. "Nein. Ich bin das Polarlicht." "Und ich bin kein Niemand." "Nein. Du bist ein Jemand." "Vielleicht." "Aber das heißt, wenn das Polarlicht sich umbringt, dann stirbt Jemand." "Das Polarlicht kann nicht sterben." "Soll ich es dir beweisen?" Ich stehe auf. "Beweis es mir nicht." "Mir ist aber danach." Ich höre, wie er ebenfalls aufsteht. "Das Polarlicht kann nicht sterben." Ich stehe am Rand. 49


Niemand steht neben mir. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Sein Blick durchbohrt mich. "Tu es nicht. Ich tue es für dich." "Lass es uns gemeinsam tun", schlage ich vor. Er nimmt meine Hand. Mein langes, blondes Haar wirbelt um uns herum. Mein weißes Kleid flattert im Wind. "Niemand, niemand auf dieser Welt liebt das Polarlicht", sage ich. "Doch. Jemand liebt das Polarlicht." Es kommt mir vor, als ob die Zeit stillsteht. "Ich liebe niemanden." Niemand schweigt. "Warum hast du es getan?" "Weil das Polarlicht nicht stirbt. Und das heißt, dass Niemand auch nicht stirbt." Wir sind fast da. Durchbrechen die Baumkronen. Ich bin als erstes unten. Niemand wird von mir abgefedert. Blut läuft aus meinem Mund. "Warum hast du das nur getan, Polarlicht?" "Weil das Polarlicht nicht stirbt." Ich sehe, wie er ein Handy aus seiner Tasche holt. "Einen Krankenwagen, bitte! Ein Mädchen..." Alles wird schwarz.

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