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50 Jahre in der Bundesliga – Nun droht dem HSV der Absturz

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MÜNCHNER NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT WWW.SÜDDEUTSCHE.DE

HMG

(SZ) Es gibt eine Zeit im Leben des Menschen, in der er fest an die Unfehlbarkeit der anderen und an das Gute in ihnen glaubt. Meist befindet er sich da noch im Kindergartenalter. Diese Phase endet jäh und grausam, oft mit dem Ausruf eines Schlüsselsatzes, dessen Ton von Fassungslosigkeit, Verzweiflung und Trauer über die Erschütterung des bisherigen Weltbildes kündet. „Aber du hast es doch versprochen!“, ruft der kleine Mensch. Schmerzhaft erkennt er, dass sich versprechen leider auf brechen reimt, und fortan lässt er sich nicht mehr mit Angeboten von der Art ködern, dass es später ein Eis gäbe, wenn er jetzt nur brav sei. Es soll Kinder geben, die, um sicherzugehen, bereits im Grundschulalter einen schriftlichen Vertrag für solche Deals fordern. Dieses gesunde Misstrauen der Moral anderer Leute gegenüber hält danach meist lebenslang an, nur in einer Situation vergisst man wieder alles: in der Liebe, zu deren Wesen es gehört, dass man sich grundsätzlich viel zu viel verspricht. Unzählige traurige und wütende Popsongs mit dem Titel „Promises“ wurden schon gesungen, und zwangsläufig taucht in ihnen das Wort „lies“, also Lügen, spätestens in der zweite Strophe auf. Fordert ein erwachsener Mensch vehement die Einhaltung eines Versprechens ein, ist er entweder unglücklich verliebt oder kindlich-naiv. Oder er ist Erich von Däniken, dessen Geistesverfassung durchaus als eigene Kategorie behandelt werden kann. Däniken, gelernter Kellner und gebürtiger Schweizer, tingelt seit Jahrzehnten mit der These durch die Welt, dass Außerirdische einst auf diese unsere Erde kamen, die Menschheit schufen und noch ein paar Dinge mehr erledigten, die man danach Götterfiguren oder frühen Hochkulturen zuschrieb. In letzter Zeit wird Däniken wieder öfter als sonst nach seiner Meinung gefragt, weil der Maya-Kalender voraussagt, dass Ende 2012 die Welt untergehe. Der Schweizer gibt Entwarnung: Alles Quatsch, in dem Kalender stehe nur, dass der Gott Bolon Yokte wieder auf die Erde komme. Was aber ebenfalls Quatsch sei. Denn, so sagte er nun in einem Interview mit der Welt: „Es kommt kein Heilsbringer irgendeiner Religion. Es kommen ganz einfach Außerirdische. Wie sie es versprochen haben.“ Im Zeitalter der Eheverträge, der notariellen Beglaubigungen und der eidesstattlichen Erklärungen wirkt der Glaube an das Gute im All, an das Worthalten der Aliens, fast rührend. Man möchte Däniken in den Arm nehmen und ihm ganz fest wünschen, dass das Versprechen nicht bloß ein Versprecher war. Ein Ufo hat der 77-Jährige selbst übrigens noch nie gesehen. „Ich glaube, die rauschen immer ab, wenn sie mich sehen“, sagte er einmal. Vielleicht haben die Außerirdischen ein schlechtes Gewissen. Jemand sollte Herrn von Däniken mal ein Trost-Eis für sein tapferes, aber offenbar vergebliches Warten spendieren.

MÜNCHEN, DONNERSTAG, 23. AUGUST 2012

68. JAHRGANG / 34. WOCHE / NR. 194 / 2,20 EURO

Nachtschwärmer Einst bekämpft, heute vermarktet: In keiner anderen Stadt leben so viele Fledermäuse wie in Austin. Kampfgeschwader „Angry Birds“ ist eins der beliebtesten Handy-Spiele. In Finnland gibt es nun einen Freizeitpark dazu. Schwefelschwaden Island will seine Erdwärme stärker nutzen. Das könnte Touristen abschrecken, meinen Naturschützer.

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Feste Arzneipreise im Internet „Mir ist nicht so wichtig, ob ich wiedergewählt werde“: Griechenlands Premier Samaras verspricht Reformen – und kritisiert seine Landsleute.

FOTO: EMILY WABITSCH/DPA

„Die Deutschen bekommen ihr Geld zurück“ Griechenlands Premier Samaras garantiert, dass sein Land alle Verbindlichkeiten begleichen wird. Zugleich wünscht er aber einen Aufschub für das Sparprogramm: „Unsere Wirtschaft blutet wirklich“ Nea Dimokratia sparte nicht mit Kritik an den Verhältnissen in seiner Heimat: „Ja, es ist viel falsch gelaufen. Es ist richtig, dass viele Griechen keine Steuern bezahlen. Wir müssen sicherstellen, dass das aufhört“, sagte Samaras. Nun breche eine neue Zeit an, in der die ganze Politik Griechenlands auf Wachstum ausgerichtet werde. Der 61-Jährige sagte: „Mir ist nicht so wichtig, ob ich wiedergewählt werde. Ich möchte das Land verändern.“ Konkret versprach er, Bürokratie abzubauen. Bisher hätten Investoren zu allen möglichen Ämtern rennen müssen und manchmal jahrelang nichts erreicht. Der Verkauf von Staatseigentum soll bis 2016 mindestens 30 Milliarden Euro einbringen. Frühere Regierungen kündigten noch höhere Erlöse an, ohne dass viel passierte. Samaras hofft, dass ihm die europäischen Partner mehr finanziellen Spielraum einräumen werden und Griechenland das EUDefizitziel von drei Prozent erst 2016 erfüllen muss – und nicht schon 2014, wie bis-

VON ALEXANDER HAGELÜKEN UND CHRISTIANE SCHLÖTZER

Athen – Der neue griechische Premier Antonis Samaras verspricht den Deutschen, sein Land werde die Hilfskredite von weit mehr als 100 Milliarden Euro zurückzahlen: „Das garantiere ich persönlich“, sagte Samaras der Süddeutschen Zeitung. Vor seinem Besuch bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Freitag kündigte der konservative Politiker neue Reformen an, darunter bessere Investitionsbedingungen und Privatisierungen von Staatsbetrieben. Damit will Samaras das Vertrauen der Kreditgeber wiedergewinnen. Ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone nannte er „für uns katastrophal, aber auch schlecht für Europa“. In einem seiner ersten Interviews versuchte der im Juni gewählte Premier, die wachsende Skepsis gegenüber seinem Land zu kontern: „Ich versichere Ihnen: Wir werden liefern!“ Der Parteichef der

ro fordern. Bei solchen Äußerungen denke er jedes Mal: „Wie soll ich da Staatsbetriebe privatisieren? Welcher Unternehmer investiert Euros bei uns, wenn er vielleicht Drachmen zurückkriegt?“ Bei einem Austritt aus dem Euro werde die Arbeitslosigkeit im Land über 40 Prozent steigen. Dies hätte soziale Unruhen zur Folge, die auch auf andere Staaten übergreifen könnten, warnte Samaras. Der Athener Regierungschef kündigte an, die geforderten Einsparungen von 11,5 Milliarden Euro auf jeden Fall zu erfüllen. Das ist Voraussetzung für die nächste Hilfstranche von 31 Milliarden Euro, über deren Auszahlung seit Längerem spekuliert wird. Samaras sagte, wenn dieses Geld nicht fließe, „ist Griechenland pleite“. Bei einem Treffen mit Samaras forderte EuroGruppen-Chef Jean-Claude Juncker am Mittwochabend „robuste und glaubwürdige Schritte“ zur Senkung von Griechenlands Schulden. „Es ist die letzte Chance“, sagte Juncker. R Seiten 2 und 4

lang von der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds vorgesehen. Er ließ aber offen, ob er dies schon bei Angela Merkel in Berlin konkret fordern wird. Samaras sagte: „Erst müssen wir allen zeigen, dass wir liefern.“ Den Wunsch nach Aufschub begründete er mit der tiefen Rezession in Griechenland. „Unsere Wirtschaft ist um 27 Prozent geschrumpft. Griechenland blutet. Es blutet wirklich.“ Regierungspolitiker in Berlin haben bereits deutlich gemacht, dass Athen nicht mit einem zusätzlichen Hilfsprogramm rechnen kann. Auch ein Aufschub des vereinbarten Sparprogramms würde zusätzliche Milliardenhilfen nötig machen. Samaras sagte, er bedaure, dass die deutschgriechische Freundschaft belastet sei. „Es wurden viele negative Dinge gesagt von beiden Seiten.“ Die sollte man aber nun beiseiteschieben. Der Premier kritisierte CSU- und FDP-Politiker, die immer wieder einen Austritt Griechenlands aus dem Eu-

HEUTE Meinung Statt des Ringens um Inhalte eskaliert im US-Wahlkampf die Propagandaschlacht

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Politik Wie es vor zwanzig Jahren zu den Ausschreitungen in RostockLichtenhagen kam

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Panorama Warum selbst die besten Extremschwimmer an der Durchquerung des Bodensees scheitern

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Feuilleton Die 13. Documenta in Kassel versucht, Kunst und Literatur zu vereinen

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Der Ministerbesuch war als Trost gedacht, als politische Besänftigungstour, wurde aber zur Geiselnahme, zumindest für eine Stunde. Im Krankenhaus der ägyptischen Stadt Menufija im Nil-Delta liegen die Opfer der jüngsten Wasserkrise. Dutzende Patienten waren in den vergangenen Tagen eingeliefert worden, schwerste Fälle von Durchfall, Erbrechen und hohem Fieber, vergiftet durch das Wasser aus dem Hahn. Tausend weitere Bewohner des Dorfes Sensaft waren erkrankt, die Wut entsprechend groß, und als Gesundheitsminister Mohammed Mustafa und der Provinzgouverneur die Patienten besuchten, sperrten empörte Angehörige sie kurzerhand ein. Einige hielten den Politikern Flaschen mit brackigem Inhalt entgegen und riefen „Trink das!“. Nach einer Stunde wurden Minister und Gouverneur wieder freigelassen. Der Minister ordnete eine Untersuchung des Wassers an.

Wirtschaft Eine Studie bescheinigt deutschen Profi-Fußballvereinen, dass sie solide wirtschaften

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Medien, TV-/ Radioprogramm 31,32 Forum & Leserbriefe 13 Kino · Theater im Lokalteil Rätsel 31 Familienanzeigen 24 Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0, Telefax -9777; redaktion@sueddeutsche.de Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt), 089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte). Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo A, B, E, F, GR, I, L, NL, P (Cont.), SLO, SK: € 2,80; CY: € 3,60; M: € 3,10; dkr. 21; £ 2,80; kn 25; sfr. 4,80; czk 84; TL 18,50; Ft 720

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Gift im Nil In Ägypten droht ein Aufruhr, weil es kaum sauberes Wasser gibt Gelbe Brühe ist für die Menschen aus Sensaft nichts Neues. Viele Ägypter leiden unter schlechtem Trinkwasser. Aufbereitungsanlagen sind teuer, die Kanalisation oft unzureichend. Vor vier Jahren meldete das Nationale Toxikologische Zentrum der Universität Kairo, eine halbe Million Ägypter litten an Vergiftungserscheinungen. Das Land ist der größte Verbraucher des Nil-Wassers, was die Anrainer in Äthiopien und Sudan zusehends erbost. Doch selbst der längste Fluss der Welt, Grundwasser und Regen decken inzwischen nicht mehr den Bedarf. Zwar ist der Pro-Kopf-Verbrauch gesunken, aber die Bevölkerung explodiert. Milliarden Kubikmeter versickern in löchrigen Rohren, verdunsten oder werden in privaten

Haushalten verplempert oder auf Golfplätzen verschwendet. Bislang traf der Wassermangel vor allem Menschen auf dem Dorf oder in den Armenvierteln. Nun aber hat die Krise auch die Wohlhabenden erreicht. Im Juni ließ Gesundheitsminister Mustafa sieben Mineralwasserfabriken schließen, nachdem Stichproben eine Verunreinigung ergeben hatten. Seitdem haben sich die Preise für Mineralwasser mancherorts verdoppelt, sofern es überhaupt zu haben ist: Supermärkte kontrollieren, welche Kunden wie viele Kartons kaufen. Einige Geschäfte wurden tagelang nicht beliefert. Die Ernennung des früheren Wasserministers Hischam Kandil zum Premierminister sollte zeigen, dass die Muslimbrü-

der und ihr Präsident Mohammed Mursi das Thema ernst nehmen. Nun aber vermuten viele Ägypter hinter den Ärgernissen politische Kräfte. In Saft al-Laban, einem Slum in Gizeh, gab es vorübergehend gar kein Trinkwasser mehr, und so schleppen die Frauen Kanister und schimpfen auf die Revolution. Die Wasserknappheit sei künstlich herbeigeführt, um die Menschen gegen Präsident Mursi aufzubringen, sagte eine alte Frau ägyptischen Medien: „Viele hier haben Mursi unterstützt, denn er ist ein guter Mensch und folgt Gottes Wort.“ Seit Wochen schüren Anhänger und Gegner der Muslimbrüder Ängste: Radikale Mursi-Gegner haben am Freitag zu einer „zweiten Revolution“ gegen die Islamisten aufgerufen. In einer Art Gegenzauber verbreiten islamistische Scheichs Fatwas gegen die Protestierenden und Gewaltaufrufe. Die Wasserkrise könnte so zur ersten Woge eines neuen Aufruhrs werden. SONJA ZEKRI

Oberste Gerichte: Preisbindung gilt auch für EU-Versandapotheken Karlsruhe – An die deutschen Festpreise für rezeptpflichtige Medikamente sind auch ausländische Online-Anbieter gebunden. Das hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes am Mittwoch in Karlsruhe entschieden. Geklagt hatte ein deutscher Apotheker gegen eine niederländische Internet-Apotheke, die bis zu drei Prozent Rabatt gewährte. Der Europäische Verband der Versandapotheken eine Beschwerde bei der EU-Kommission an. DPA R Wirtschaft

Strengere Regeln für Banken Berlin – Die Banken in Deutschland müssen in Zukunft sehr viel strengere Regeln einhalten. Die Bundesregierung beschloss am Mittwoch eine weitreichende Reform. Banken müssen demnach erheblich mehr Eigenkapital bilden und eine neue Schuldenobergrenze einhalten. Zudem werden drakonische Strafen bei Verstößen eingeführt. HUL R Wirtschaft

Unruhen in Platin-Minen erschüttern Südafrika Rustenburg – In Südafrikas Platin-Bergbau weiten sich die Unruhen aus, nachdem die Polizei vorige Woche 34 streikende Kumpel erschossen hatte. Eine der Minen wird von Arbeitern blockiert. Hintergrund ist ein Streit zwischen einer Gewerkschaft und einer militanten Abspaltung im Kampf um mehr Lohn. SZ R Seite 3

Busunfall in Freising: 30 Kinder verletzt Freising – Bei einem Busunfall auf der Autobahn 92 nördlich von München sind am Mittwochnachmittag 33 Menschen verletzt worden, darunter 30 Kinder. Einige Kinder wurden aus dem Fahrzeug herausgeschleudert. Der Bus war laut Polizei an einer Baustelle nahe der Ausfahrt FreisingSüd umgekippt. SZ R Lokales

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Fleisch und Milch werden teurer

DAS WETTER

Bauern kündigen trotz guter Ernte höhere Preise an. Präsident Rukwied verteidigt Biosprit: „Wir können Teller und Tank“ Berlin – Verbraucher werden bald mehr Geld für Lebensmittel ausgeben müssen. Vor allem bei Fleisch- und Milchprodukten rechnet der Deutsche Bauernverband mit steigenden Preisen. Die Landwirte hätten zuletzt deutlich höhere Futtermittelkosten gehabt, sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied bei der Vorstellung der Erntebilanz am Mittwoch in Berlin. Diese Kosten müssten sie an die Verbraucher weitergeben. „Die Preise für Lebensmittel werden deshalb nicht durch die Decke gehen“, versicherte er. In den vergangenen Jahrzehnten seien Lebensmittel in Deutschland extrem billig gewesen. Jetzt würden sich deren Preise gerade mal im Rahmen der allgemeinen Inflation bewegen. Grund für den Anstieg der Futtermittelpreise sind unter anderem die erwarteten

Ernteausfälle in den USA, wo riesige Maisanbaugebiete seit Monaten unter einer Dürre leiden. In Deutschland dagegen rechnet der Bauernverband in diesem Jahr mit einer „ordentlichen Ernte“. Mit rund 44 Millionen Tonnen Getreide hätten die Landwirte fast zwei Millionen Tonnen mehr als im Vorjahr geerntet. EU-weit werde in etwa so viel erwartet, wie im Schnitt der vergangenen Jahre. „Deutschland und Europa tragen somit dazu bei, dass sich die Lage an den Weltgetreidemärkten entspannen kann“, sagte Rukwied. Vor allem die Preise für Mais und Soja waren zuletzt weltweit auf Rekordniveau gestiegen. Umwelt- und Hilfsorganisationen hatten das erneut zum Anlass genommen, den umstrittenen Biosprit infrage zu stellen. So enthält das in Deutschland er-

hältliche E 10 zehn Prozent aus Biomasse hergestelltes Ethanol. Anfang vergangener Woche hatte Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) gefordert, den Verkauf von E 10 komplett zu stoppen. Später sprach er sich jedoch für flexible Beimischungsquoten aus. „Sie würden erlauben, bei Nahrungsmittelknappheit auf Beimischung zu verzichten, um die Preisentwicklung zu entlasten“, sagte Niebel. Bauernpräsident Rukwied wies beide Vorschläge am Mittwoch zurück. „Wir sind für die Beibehaltung des Beimischungszwangs“, sagte er und widersprach dem Argument, dass die Produktion von Pflanzen für Bioenergie zu steigenden Nahrungsmittelpreisen führen würde. „Wir können beides, Teller und Tank.“ Zwar seien im vergangenen Jahr in Deutschland insgesamt

knapp 18 Prozent der Ackerfläche für die Herstellung von Biodiesel, Biogas und Bioethanol genutzt worden. Doch heiße das nicht, dass deshalb 18 Prozent weniger Lebensmittel hergestellt worden seien, sagte Rukwied. „Aus einem Hektar Zuckerrüben beispielsweise, die wir für E 10 verwenden, gewinnen wir zusätzlich noch eiweißhaltiges Futter für Tiere.“ Dadurch ließen sich die ebenfalls umstrittenen Sojaimporte aus Südamerika reduzieren. Er könne daher die Diskussion der vergangenen Tage „schlichtweg nicht nachvollziehen“, sagte Rukwied. Die Herausforderung bestehe vielmehr darin, durch innovative Anbaumethoden und neue wissenschaftliche Erkenntnisse die „Ertragfähigkeit der Landwirtschaft weltweit zu erhöR Seite 4 hen“. DANIELA KUHR

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Heiter bis wolkig, dabei im Süden örtlich Gewitter. Sonst ist es zunächst meist trocken. Später auch im Norden Schauer. Temperaturen zwischen 19 Grad auf den Nordfriesischen Inseln und vereinzelt 29 Grad im Süden. R Seite 13 und Lokales Mittwoch-Lotto (22.08.2012) Gewinnzahlen: 1, 7, 11, 15, 31, 49 Zusatzzahl: 8 Superzahl: 6 Spiel 77: 9 7 6 4 6 3 8 Super 6: 0 8 7 2 0 3 (Ohne Gewähr)

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MEINUNG

HF2

Donnerstag, 9. August 2012, Nr. 183 DEFGH

EURO-KRISE

AKTUELLES LEXIKON

Gabriels Alternative ngela Merkel gebührt die zweifelhafte Ehre, das Wort „alternativlos“ im politischen Diskurs der Bundesrepublik verankert zu haben. Seit einiger Zeit benutzt sie den Terminus nicht mehr, weil man ihn zum Unwort des Jahres 2010 kürte und er in einer Demokratie auf Dauer doch ein wenig autoritär anmutet. Außerdem gibt es zu ihrem Kurs in der EuroKrise selbstverständlich Alternativen. Die Pointe ist, dass der Begriff bis Anfang dieser Woche dennoch eine korrekte Zustandsbeschreibung war, wenn auch in einem anderen Sinne als dem gemeinten: Merkels Politik war lange Zeit ohne Alternative, weil SPD und Grüne ein Gegenmodell verweigerten und im Bundestag meist mit der Koalition stimmten. Natürlich hatten sie dafür Gründe, darunter einen, den man sogar nobel nennen darf: In vielen anderen Ländern jedenfalls widerstand die Opposition nicht der Versuchung, die Krise für niederste parteipolitische Ziele zu missbrauchen. Abgesehen von dieser Bereitschaft zu Mut, Verantwortung und Anstand gab es strategische Gründe für das Verhalten von Roten und Grünen. Denn die beiden

Jetzt lässt sich über zwei Konzepte streiten – das ist gut denkbaren, absolut gegensätzlichen Hauptalternativen zu Merkels Kurs werden im Wahlvolk ja kaum weniger kritisch beäugt. Die eine wäre Re-Nationalisierung – mit einem Zerbrechen der EuroZone oder gar der Rückkehr zur Mark. Die andere bestünde in einer vertieften europäischen Zusammenarbeit in der Finanz-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, zu der dann auch eine gemeinsame Schuldenhaftung gehört. Beide Optionen sind somit für eine Kanzleranwärterpartei wie die SPD gleichermaßen problematisch. Dass nun ausgerechnet Sigmar Gabriel eine Kurskorrektur vornimmt oder doch seinen Standpunkt so weit zuspitzt, dass erstmals klar wird, wohin er die SPD führen will, ist bemerkenswert. Zum einen, weil er bisher als jemand galt, dessen Meinung sich gelegentlich weniger an Inhalten als an der demoskopischen Windrichtung oder aber der Kanzlerkandidatenfrage ausrichtet (was auch diesmal eine Rolle spielen kann). Und zum anderen, weil er die Bereitschaft der SPD signalisiert, im bevorstehenden Kampf um das Kanzleramt beträchtliche Risiken einzugehen. Gabriel ist der erste der rot-grünen Anführer, der sich offensiv zu einer gemein-

samen Schuldenhaftung in Europa bekennt und darauf verzichtet, diese Position mit Technokraten-Geschwurbel etwa über die Notwendigkeit eines Altschuldentilgungsfonds zu verkleistern. Zwar mag sein Vorstoß in erster Linie der strategischen Überlegung geschuldet sein, dass die Sozialdemokraten 2013 kaum die Abwahl einer Kanzlerin propagieren können, deren Politik sie bis zum Ende mitgetragen haben. Inhaltlich aber gibt es nun erstmals eine klare Alternative zum Kurs der Koalition, die immer noch suggeriert, der Euro lasse sich langfristig mit Bürgschaften, Garantien und einer heimlichen Staatsfinanzierung über die Notenbank erhalten – also praktisch kostenlos. Für den demokratischen Diskurs kann es nur befreiend sein, dass endlich unterschiedliche Modelle auf dem Tisch liegen, über die es zu streiten lohnt. Dabei steht keineswegs fest, dass Gabriels Weg besser ist. Es mag zwar so sein, dass die EuroZone ohne eine gemeinsame Schuldenhaftung nicht dauerhaft wetterfest gemacht werden kann. Doch können auf dem Weg dorthin noch unzählige Fehler passieren, die das Haus zum Einsturz bringen – etwa bei der Auswahl des richtigen Haftungsmodells, oder wenn man in der falschen Reihenfolge vorgeht. Auch sind viele EuroStaaten allen Sonntagsreden zum Trotz gar nicht darauf erpicht, mehr Europa zu wagen. Andererseits bekäme Deutschland mit der Bereitschaft zu einer gemeinsamen Schuldenhaftung einen so attraktiven Köder in die Hand, dass plötzlich Dinge möglich würden, die sich heute noch kaum jemand vorstellen kann. Tatsache ist: Die Kanzlerin hat die Krise mit ihrer Strategie bisher nicht bewältigt; es bedarf also neuer Ideen. Merkel selbst dürfte sich mit just dieser Erkenntnis gerade den verdienten Urlaub vermiesen. Am Ende könnte es statt Gabriel nämlich sie sein, die in eine strategische Falle gerät, die im Ungefähren bleiben muss, weil sie das Für und Wider einzelner Optionen aus Rücksicht auf die Befindlichkeit der eigenen Truppen nicht ergebnisoffen abwägen kann. Stattdessen spricht Merkel schon jetzt nebulös davon, dass der Konstruktionsfehler der Währungsunion, nämlich das Fehlen einer politischen Union, beseitigt werden müsse. Was aber bitte schön soll eine politische Union sein, wenn nicht die stärkere Vergemeinschaftung wesentlicher Politikfelder, inklusive der Haushaltspolitik? Diese Frage wird die Kanzlerin bald schon beantworten müssen. Denn ihre Politik ist nicht länger alternativlos.

Gescheiterter Haufen

SZ-ZEICHNUNG: WOLFGANG HORSCH

ÄG Y P T E N

Rückkehr auf den Sinai VON SONJA ZEKRI

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ie Einheitlichkeit macht den Übergang Ägyptens in ruhige Verhältnisse sicher leichter. Anders als in Syrien oder Irak gibt es in Ägypten kein Völkergemisch, die größte religiöse Minderheit sind die Christen, das bewohnte Territorium ist seit Jahrtausenden dasselbe. Der Sinai ist eine Ausnahme. Zwischen Sueskanal und israelischer Grenze erstreckt sich ein Wüstenstreifen, anderthalbmal so groß wie die Schweiz, durch dessen Täler Beduinen ziehen, die den ägyptischen Staat – den alten wie den neuen – als Besatzungsmacht betrachten. Das Misstrauen zwischen den Beduinen und den Machthabern am Nil könnte nicht größer sein. Die Beduinen sind verelendet und deklassiert. Nach Anschlägen auf Hotels litten sie schon in der Vergangenheit unter willkürlichen Festnahmen. Nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak entglitt die Region der Kontrolle Ägyptens, dessen Militär durch den Friedensvertrag auf dem Sinai zugegebenermaßen nicht so operieren kann, wie es

INNENMINISTERIUM

Bekenner vom Dienst VON SUSANNE HÖLL

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ie Behörden, allen voran das Bundesinnenministerium, haben Rechtsextremisten den Kampf angesagt. Das ist gut und richtig, wenn auch spät. Zehn Menschen wären vielleicht noch am Leben, hätten Polizei und Verfassungsschutz nicht jahrelang das Treiben des Neonazis-Trios übersehen. Mit Gesinnungsschnüffelei und Demokratie-Bekenntnissen jedoch kann man einen solchen Kampf weder führen noch gewinnen. Das hat inzwischen auch das Ministerium erkannt und nach Protesten aller Seiten einen absurden Plan aufgegeben. Die Beamten wollten allen Ernstes die finanzielle Förderung von Spitzensportlern davon abhängig machen, dass

die sich schriftlich zum Rechtsstaat bekennen. Was das im Kampf gegen rechte und linke Gewalttäter brächte, ist völlig rätselhaft. Die Gefahr, dass die deutsche Demokratie über extremistische Sportverbände stürzt, ist wohl äußerst gering. Und wer Sportlern so etwas abfordert, käme womöglich auf die Idee, als Nächstes allen Bürgern ein Bekenntnis abzuverlangen. Mit der Androhung, ihnen ansonsten das Kindergeld zu streichen. Vielleicht nimmt sich Familienministerin Kristina Schröder (CDU) ein Beispiel am Innenressort. Sie nämlich gibt nur dann Geld für Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit, wenn deren Träger dem Extremismus abschwören. Diese Praxis sollte endlich von ihr beendet werden. Bevor es die Gerichte für sie tun.

STEUER-CDS

Sie werten nur aus VON HANS LEYENDECKER

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er Kauf von vier weiteren SteuerCDs durch die Finanzverwaltung in Düsseldorf ist ein Geschäft und ein politisches Signal zugleich. Der Wortführer der von der SPD mitregierten Länder, NRW-Finanzminister Norbert WalterBorjans, macht auch auf diese Weise noch einmal klar, was er von dem Steuerabkommen mit der Schweiz hält: Wenig. Es lässt nach seiner Meinung viele große Schlupflöcher für Steuerhinterzieher und ehrliche Steuerzahler wie Narren aussehen. Es begünstige weiterhin Steuerbetrüger und widerspreche jedem Gerechtigkeitsempfinden. Schwarze Konten deutscher Hinterzieher würden legalisiert und die Anonymität der Konten werde geschützt.

Diese Ansicht ist durchaus plausibel, daher ist es konsequent und richtig, weiterhin die Steuer-CDs zu kaufen. Denn das Steuerabkommen ist innenpolitisch nicht bindend. Es befindet sich allenfalls im Zustand der Ratifikation. Und so, wie es jetzt ist, wird es nicht ratifiziert werden. Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat wird es dafür vermutlich keine Mehrheit geben. Und wenn doch? Selbst ein Inkrafttreten des Abkommens dürfte die Steuerverwaltung nicht prinzipiell daran hindern, weiterhin Hinweisen auf Steuerhinterziehung auch mit Hilfe von CDs nachzugehen. Wenn Fahnder ihnen angebotene Scheiben kaufen, werden sie nicht von sich aus aktiv, sondern werten nur aus. Und Auswerten muss erlaubt bleiben.

BUNDESWEHR

Barmherzigkeit für Oberst Klein VON PETER BLECHSCHMIDT

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ann das wahr sein? Oberst Georg Klein wird zum General befördert? Dies zu fragen, ist ein naheliegender Reflex angesichts des Umstands, dass Oberst Klein im September 2009 bei Kundus in Afghanistan die Bombardierung zweier Tanklaster befohlen hat, bei der bis zu 140 Menschen getötet wurden. Die Antwort darauf hat zwei Komponenten – eine rechtliche und eine menschliche. Oberst Klein hat in jener Nacht in Kundus folgenschwere Fehler begangen. Er hat die Lage falsch eingeschätzt und Einsatzregeln verletzt. Aber sowohl der Generalbundesanwalt als auch der Wehrdisziplinaranwalt haben ihm bescheinigt, dass er dabei keine strafbare Schuld auf sich

geladen habe. Im rechtlichen Sinne also hat Klein als unschuldig zu gelten. Ihn wegen Kundus von weiterer Beförderung auszuschließen, wäre eine unzulässige Nebenjustiz. Unabhängig davon wird Klein bis ans Ende seiner Tage mit dem Gedanken an die Opfer von Kundus leben müssen. Wer ihn in den Tagen nach dem Angriff und später vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags erlebt hat, der weiß, wie schwer Klein an dieser Last trägt. Er ist kein blindwütiger Killer. Man darf ihm abnehmen, dass ihn seinerzeit die Sorge um seine Soldaten geleitet hat. Das anhaltende Interesse der Öffentlichkeit an seiner Person macht ihm und seiner Familie das Leben nicht leichter. Auch Oberst Klein verdient ein wenig Barmherzigkeit.

möchte. Angesichts der Konzentration auf eigene Wirtschaftsinteressen und den Machterhalt ist es oft aber auch abgelenkt. Entführungen von Touristen, Menschenhandel nach Israel, Schmuggel in den nahen Gazastreifen waren eine Folge. Nun aber gibt es eine neue Dimension: Islamisten auf dem Sinai haben einen Grenzposten nach Israel überfallen, die ägyptische Armee hat ägyptische Dörfer mit Kampfhubschraubern bombardiert.

Islamisten in der Wüste bedrohen den Frieden mit Israel Dschihadisten aus dem Gazastreifen oder aus dem lokalen Beduinen-Volk zündeln an einer der heikelsten Grenzen der Welt. Was, wenn es ihnen gelingt – nicht mit diesem, aber vielleicht mit einem der nächsten Anschläge –, Ägypten und Israel gegeneinander aufzuhetzen? Die Ägypter, ausgelaugt durch mehr als ein Jahr postrevolutionärer Wirren, sind ohnehin bereit, Israel Schlimmstes zuzutrauen. Niemand will einen Krieg, aber in der Vergangenheit hat man gesehen, wie leicht selbst kalku-

lierte antiisraelische Empörung außer Kontrolle geraten kann. Monat für Monat ist die Anarchie auf dem Sinai gewachsen. Inzwischen heißt es, die Halbinsel könne ein neuer Jemen werden, ein Elendsquartier für globale Gotteskrieger, die sich in einem gescheiterten Beduinen-Rumpfstaat einrichten und von dort aus vor allem Israel bedrohen, aber auch die im Vergleich fast zivile Hamas im Gazastreifen. Vor allem aber bedroht sie die Einheit Ägyptens. Dass die Gegner des islamistischen Präsidenten Mursi nach den Anschlägen Morgenluft wittern, sollte niemanden trösten. Sie werfen ihm angesichts seines Kuschelkurses gegenüber verurteilten Militanten vor, er hätschele Gesinnungsgenossen der Angreifer und könne keine glaubwürdige Operation gegen die Radikalen durchführen. Aber ein säkularer Präsident hätte es auf der Halbinsel nicht leichter. Zu lange hat die Regierung die Region mehr bekämpft als entwickelt. Ägypten muss den Sinai zurückerobern. Das wird lange dauern. Und Kampfhubschrauber allein werden dafür nicht reichen.

PROFIL Wäre Chris Hoy nicht so ein großer Fan des Films „E.T. – Der Außerirdische“ gewesen, könnte er sich heute wohl nicht als bisher bester britischer Olympionike der Geschichte feiern lassen. In einer Schlüsselszene des 1982 erschienenen Films von Steven Spielberg rettet eine Gruppe von Kindern den Außerirdischen E.T. vor Regierungsbeamten, die ihn zu Forschungszwecken untersuchen wollen. Die Kinder sind auf BMX-Rädern unterwegs, die, als alle Fluchtwege verstellt sind, dank der überweltlichen Kräfte von E.T. zu fliegen beginnen. Der kleine Chris, gerade sechs Jahre alt, liebte diese Szene so sehr, dass er bat, bettelte und flehte, bis ihm seine Eltern schließlich ein BMX-Rad kauften. Bald nahm Hoy an BMX-Rennen teil, wenige Jahre später wurde er schottischer Meister und war Zweiter der britischen sowie Neunter der Welt-Rangliste seiner Altersklasse. Dennoch wandte er sich im Alter von 14 Jahren dem Bahnradfahren zu. Nebenbei spielte er Rugby für seine Schule, das George Watson’s College, und er ruderte – bei den Junioren wurde er britischer Meister im Zweier ohne Steuermann. 1992, als 16-Jähriger, schloss er sich erstmals einem Bahnradclub an, 1994 wechselte er zum City of Edinburgh Racing Club, einem der er-

Das Wort schwul stammt wahrscheinlich aus dem Niederdeutschen von „drückend heiß“, wandelte sich zu schwül – als Antonym von kühl. Irgendwann fand es den Weg in den Alltag: Möglicherweise kommt es von „warmen Brüdern“, die Geschlechtsgenossen erotisch nicht gleichgültig (kühl) begegneten oder aber von der „beklemmend heißen“ Atmosphäre in einschlägigen Lokalen. Erst im 19. Jahrhundert wurde es zum Synonym für homosexuell. In der Debatte um die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe kommt es gelegentlich zu Verunsicherungen über die Begriffe. Dabei lehnen selbstbewusste Schwule das Wort homosexuell oft ab, es klingt ihnen zu klinisch. Allerdings umfasst es die Liebe zwischen Männern und die zwischen Frauen (Lesben) – und ist ergo richtig verwendet, meint zumindest der Bundesverband der Lesben und Schwulen. Laut dem Schwulenmagazin Hinnerk sind Männer schwul, „die auf Männer stehen und ausschließlich mit ihnen Sex haben. Unterschieden wird in aktiv und passiv. Aktiv ist der, der im Bett die meiste Arbeit hat“. Verwendungen in der Jugendsprache – etwa „Bist du schwul, ey“ für „Bist du doof, ey“ – empfinden Schwule als diskriminierend. Ihre Empfehlung zur Gegenwehr: „Schwul“ durch den Vornamen des Gegenübers ersetzen. Etwa: „Bist du Lars, ey.“ Pubertierende würden sich das dann schnell sparen. Geil, oder? LALA

BLICK IN DIE PRESSE

Die Zeitung aus Berlin kommentiert die Debatte über die Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften:

„Mit der Zeit ist die Anerkennung lesbischer und schwuler Partnerschaften auch in der Union kein Kampfthema mehr. In dem Maß, wie die durch und durch technisierte und globalisierte Welt das Bindungsgefüge der Menschen verändert, hat sich auch der Blick auf die klassischen konservativen Werte verschoben. Man mag Kristina Schröder unterstellen, in ihrem Amt als Familienministerin bisher wenig zuwege gebracht zu haben. In einem hat sie zweifelslos recht: Dort, wo Lesben und Schwule eine Lebenspartnerschaft eingehen, leben sie konservative Werte.“

Zum Terroranschlag auf ägyptische Grenzsoldaten schreibt die Zeitung aus Madrid:

FOTO: GETTY

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Schwul

VON CLAUS HULVERSCHEIDT

Chris Hoy Großbritanniens erfolgreichster Olympionike der Geschichte folgreichsten Vereine des Königreichs. Er spezialisierte sich auf den Sprint und das 1000-Meter Zeitfahren. An den renommierten Universitäten von St. Andrews und Edinburgh schloss der Schotte sein Studium der Sportwissenschaften ab. Später, als Hoy bereits zu den erfolgreichsten Sportlern des Landes gehörte, ernannten ihn beide Unis zum Doktor ehrenhalber. Der sportliche Aufstieg Chris Hoys begann bei den Olympischen Spielen von 2000 in Sydney, wo er Silber im Team-

sprint gewann. Vier Jahre später in Athen holte er Gold im Einzelsprint und im 1000-Meter-Zeitfahren. Diese Disziplin wurde zu seiner großen Betrübnis anschließend aus dem olympischen Programm genommen – zugunsten von BMX. Dennoch gewann Hoy 2008 in Peking dreimal Gold, in Sprint, Teamsprint und einer Disziplin namens Keirin. Anschließend konnte er sich vor Ehrungen kaum retten, unter anderem wurde er zum Ritter geschlagen und darf sich seither Sir Chris Hoy nennen. In London gewann er nun zwei weitere Goldmedaillen, in Teamsprint und Keirin, womit er den Ruderer Steven Redgrave, der zwischen 1984 und 2000 fünfmal Gold gewann, als erfolgreichsten britischen Olympioniken ablöste. Als Kraft- und Ausdauersport wird Radfahren schnell mit Doping in Verbindung gebracht. Hoy wurde nie positiv getestet und spricht sich energisch gegen Doping aus. Weitere olympische Medaillen wird der 36 Jahre alte Hoy wohl nicht gewinnen, obgleich er seine Karriere noch nicht beendet. 2014 finden die Commonwealth Games in Glasgow statt. Das örtliche Radstadion heißt „Sir Chris Hoy Velodrome“. Dort, sagt Hoy, will er den perfekten Abschluss feiern. CHRISTIAN ZASCHKE

„Das Ziel der Terroristen war es, die ohnehin heiklen Beziehungen zwischen Ägypten und Israel zu zerstören. (...) Der Anschlag bedeutet nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance. Sowohl Ägypten als auch Israel haben ein Interesse daran, die Lage an der Grenze ruhig zu halten. Kairo sollte das verlassene Wüstengebiet mehr fördern. Wie es aussieht, scheint Ägyptens neuer Staatspräsident Mursi dazu bereit zu sein.“

Die Zeitung aus London kommentiert die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen:

„Die olympischen Goldmedaillen werden das Gefühl der Einheit im Land stärken. In der Vergangenheit hatten die Befürworter der Unabhängigkeit alle Argumente für das emotionale Identitätsgefühl auf ihrer Seite. Jetzt sprechen die Szenen patriotischen Jubels bei jedem Sieg der Briten eine andere Sprache. Auch die Vorstellung einer vereinten Nation weckt Emotionen. Dies hat bei den Schotten vielleicht eine Wende eingeleitet.“

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT

USA UND AFRIKA

Die große Umarmung VON TOBIAS ZICK

G

leich zweimal machte Hillary Clinton Station in Kampala, der Hauptstadt von Uganda, obwohl dort gerade das gefährliche Ebola-Virus grassierte. Jetzt tanzte sie in Johannesburg vor laufenden Kameras zu heimischen Klängen. Es ist der US-Außenministerin sichtlich ernst mit ihrer Mission in Afrika. Sieben afrikanische Staaten bereist Clinton binnen elf Tagen – ein außergewöhnliches aber angemessenes Programm. Auf dem lange als verloren geschmähten Kontinent ist zu vieles im Umbruch. Washington kann das nicht ignorieren. Clintons erste Station, Senegal, war symbolkräftig gewählt; in einer Rede pries sie dort die „Stabilität der demokratischen Institutionen“. In der Tat ist die Hauptstadt Dakar ein Ort, der für politische Fortschritte in Afrika steht; im März dieses Jahres ging nach Wochen blutiger Proteste ein Machtwechsel schließlich friedlich über die Bühne. Senegal ist aber auch eines der Länder Westafrikas, das internationale Drogenkartelle immer mehr als Drehscheibe für den Kokainhandel nutzen. Und Senegal grenzt an Mali, in dessen Norden sich islamistische Terroristen breitmachen; viele sehen dort ein neues Afghanistan am Entstehen. Erst im Juni hat US-Präsident Obama seine neue „Strategie gegenüber Afrika

südlich der Sahara“ verkündet: Neben dem verstärkten Kampf gegen Terrorismus ist darin vor allem von wirtschaftlicher Zusammenarbeit die Rede. Viele Staaten der Region erleben derzeit ein stabiles Wirtschaftswachstum, das weltweit seinesgleichen sucht – und das nicht allein von den enormen Rohstoffreserven des Kontinents befeuert wird. Südlich der Sahara wird die dynamischste demografische Entwicklung in der Welt überhaupt verzeichnet: Fast die Hälfte der Menschen dort sind jünger als 15 Jahre, bis 2050 wird sich die Bevölkerung wohl auf

Hillary Clinton will das Gegenmodell zu China anbieten rund zwei Milliarden verdoppeln – eine Herausforderung, die auch große Chancen birgt. Sicher ist es voreilig, den asiatischen Tigerstaaten nun die afrikanischen Löwen folgen zu lassen. Aber niemand kann sich der Tatsache verschließen, dass Afrikas wirtschaftliche und politische Bedeutung in der Welt wächst. Dabei stemmen sich die USA offenkundig gegen ihren schwindenden Einfluss angesichts wachsender Konkurrenz. Aktuell weitet etwa Brasilien seine Entwicklungsprojekte und Kredite massiv aus, und Peking hat Washington als Handelspartner des Kontinents längst den Rang abgelau-

fen. Gleich zu Anfang ihrer Reise platzierte Clinton deshalb einen Seitenhieb auf Chinas Afrika-Offensive: Ihr Land setze, im Gegensatz zu anderen, auf eine Form der „Partnerschaft, die Mehrwert erzeugt, anstatt bloß Werte abzuschöpfen“. Jahrzehntelang haben die USA weitgehend unsentimental jene afrikanischen Regime gestützt, die ihnen strategisch wichtig waren. Jetzt wirbt die Außenministerin vollmundig mit einem Paradigmenwechsel – spart aber einen besonders heiklen Schauplatz aus: Mitglieder der Regierung von Ruanda, so sagen die UN, schüren im Nachbarland Kongo einen Rebellenkrieg, der inzwischen an die 300 000 Menschen in die Flucht getrieben hat. Außerdem protegieren sie einen international gesuchten Kriegsverbrecher. Die USA sehen sich mit Ruanda verbündet, kürzlich hat Washington der ruandischen Regierung zwar einen Teil der Militärhilfe gekürzt – ein Warnschuss, immerhin. Doch gerade am Beispiel Ruandas könnten die USA um einiges glaubwürdiger zeigen, wie sehr ihnen an Menschenrechten in Afrika gelegen ist. Noch immer fließt etwa ein beträchtlicher Teil an Hilfsgeldern als „Budgethilfe“ direkt in Staatshaushalte, statt an nachprüfbare Projekte gebunden zu sein. Um die demokratische Entwicklung des Kontinents voranzutreiben, sind noch längst nicht alle Mittel ausgeschöpft.

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DEFGH Nr. 183, Donnerstag, 9. August 2012

WIRTSCHAFT

HMG

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BÖRSE

Zocken in Millisekunden VON MARKUS ZYDRA

D

er Gedanke daran wirkt gespenstisch. Ein Auto fährt in die Kurve, doch es fehlt die Hand am Lenkrad. Der Fahrer sitzt zwar auf seinem Sitz, aber er liest Zeitung. Der Autopilot hat die Steuerung übernommen. So könnte die Zukunft des Straßenverkehrs aussehen. An den internationalen Börsen hat der Computer die Kontrolle bereits übernommen. Das ist keine Testphase mehr wie im Autogeschäft, vielmehr werden bereits bis zu 75 Prozent des Aktiengeschäfts automatisiert abgewickelt. Der Hochfrequenzhandel macht es möglich. Hier entscheiden Computerprogramme, wann und wie häufig ein Aktienpaket gekauft wird, und zwar innerhalb einer Millisekunde. Eine Sekunde gleich 1000 Millisekunden, ein Wimpernschlag. Natürlich kann bei dieser komplexen Handelstechnologie einiges schiefgehen. Zuletzt brachen der Börsenhandel in Madrid und Tokio wegen technischer Probleme zusammen. An der Wall Street machte dieser Tage die US-Handelsfirma Knight Capital 400 Millionen Dollar Verlust, weil die Handelssoftware falsch programmiert war und 45 Minuten lang völlig irrsinnige Kaufentscheidungen traf. Diesmal blieb der Schaden auf den Verursacher beschränkt. Vor zwei Jahren, im Mai 2010, spielte gleich der gesamte amerikanische Aktienmarkt verrückt, manche Aktien in New York verloren binnen Minuten 90 Prozent an Wert. Das Ereignis ging als Flash Crash in die Geschichte ein. Schuld war ein wildgewordener AlgoTrader. So nennt man diese Hochfrequenzhändler, weil ihre Programme Algorithmen, also Rechenregeln, folgen. Schon damals stand die erschreckende Frage im Raum: Können diese Systeme Amok laufen? Können sie das Finanzsystem zum Kollaps bringen? Es gibt die einfache Antwort, und die lautet: Fehler passieren immer, aber die Stabilität des Finanzsystems ist nicht gefährdet. Bei Knight Capital ist jemand am Steuer eingeschlafen – denn wenn Systeme verrückt spielen, gibt es den Notschalter, der binnen einer Sekunde den Spuk beenden könnte. Dieser Schalter wurde zu spät bedient. Auch die US-Börse, wo Knight Capital handelte, hätte merken müssen, dass etwas schiefläuft, aufgrund der wirren Preisangebote. Diese Pannen sind also erklärbar, aber das reicht nicht. Es geht bei diesem Thema um eine grundsätzliche Frage: Für wen sind Börsen heutzutage noch da?

In ihrer langen Geschichte hatten Börsen zwei Aufgaben: Aufstrebende Firmen langfristig mit dem Kapital der Sparer zu versorgen sowie Investoren einen Markt zu bieten, wo sie ihre Aktienpakete veräußern können. Es kam häufig vor, dass Eigentümer verkaufen wollten, doch zu diesem Zeitpunkt niemand Interesse hatte. Dann sprangen die Zwischenhändler auf dem Parkett ein und erwarben die Aktien, um sie kurz danach weiter zu verkaufen, möglichst mit Gewinn. Ab den 1990er Jahren wurden die Parketthändler aus Fleisch und Blut immer häufiger ersetzt durch automatisierte Handelsprogramme. Der Computer eroberte die Börsen. Das Handelstempo wuchs. Jetzt dominiert der Hochfrequenzhandel den globalen Finanzmarkt und bestimmt folglich auch die Aktienkurse.

Das ist wie ein Pokerspiel, bei dem einer dem anderen heimlich ins Blatt schaut Die Computerprogramme reagieren auf kurzfristige Preistrends. Wenn beispielsweise der Siemens-Kurs eine Stunde lang steigt, dann kauft der AlgoTrader. Das klingt trivial und ist doch Hightech. Man kann es mit einem Pokerspiel vergleichen, wo der eine dem anderen heimlich in die Karten schaut. Hochfrequenzhändler mit exzellenter Software sehen in den Orderbüchern vor allen anderen, welche Aktien gekauft werden – es ist nur eine Millisekunde Vorsprung, doch das reicht, um daraus Profit zu schlagen. Ein weiterer Kniff: Algo-Trader fluten die Börse mit unzähligen Kauforders, um eine Nachfrage zu simulieren. Kurz vor Ausführung stornieren sie und schlagen aus der Preisbewegung Kapital. Natürlich, auch die Parketthändler früher waren gewiefte Leute, die manchmal mit falschen Karten gespielt haben. Doch jetzt hat sich die Balance verschoben. Der Börsenhandel wird dominiert von Naturwissenschaftlern, die Handelssysteme entwerfen, denen es gar nicht darum geht, wie gut die betriebswirtschaftlichen Aussichten eines Konzerns sind oder was der Vorstandschef kann. Es geht darum, Preisbewegungen im Sekundentakt zu antizipieren. Es geht ums Zocken – nicht mehr um langfristiges Investieren. Der irische Poet Oscar Wilde schrieb, ein Zyniker kenne den Preis von allem, und den Wert von nichts. Es gibt diesen Zynismus an den internationalen Börsen, zum Schaden der Gesellschaft.

Beziehungskrise Banken-Streit: Das Verhältnis zwischen den USA und den Briten leidet New York – John Mann legt sich gern mit den ganz Großen an. Wann immer es darum geht, einen Spitzenbanker ins Kreuzverhör zu nehmen, ist der Labour-Abgeordnete mit bissigen Fragen und barschen Urteilen zur Stelle. Zuletzt vor ein paar Wochen, als er Ex-Barclays-Chef Bob Diamond bezichtigte, „unablässig“ Unwahrheiten zu verbreiten. Nun aber hat der scharfzüngige Mr. Mann einen Gegner gefunden, der noch mächtiger ist als die heimische Hochfinanz: die US-Regierung. Der Sozialdemokrat wähnt sich einer anti-britischen Verschwörung auf der Spur – und kämpft auf einmal Seit an Seit mit den Spitzenbankern, die er sonst so gern verdammt hat. So schnell kann das gehen. Keine Frage: Es läuft derzeit nicht gut für britische Finanzkonzerne in den USA. Erst mischten sich die Amerikaner in die Ermittlungen gegen die Zinstrickser von Barclays ein. Dann bezichtigten sie HSBC, Drogenbossen und Terroristen bei der Geldwäsche zu helfen. Und an diesem Montag erklärten sie Standard Chartered kurzerhand zur „Schurkenbank“. All das kann kein Zufall sein, meint Politiker Mann: „Ich denke, das ist eine konzertierte Aktion, die von der Regierung angeführt wird. Washington versucht, hier eine Schlacht zu gewinnen, bei der es darum geht, den Handel von London nach New York zu verlegen. Das ist ein politischer Angriff.“ Nichts Geringeres als das „Wohl des britischen Volkes“ steht auf dem Spiel.

red unvorbereitet. Vorstandschef Peter Sands brach seinen Urlaub ab. Die angeblichen Enthüllungen der Amerikaner seien in etlichen Punkten nicht korrekt und „sehr schädlich“ für sein Haus. Zumindest im zweiten Punkt widerspricht ihm niemand: Im schlimmsten Fall könnte die Bank ihre Geschäftslizenz verlieren und damit den Zugang zum US-Finanzmarkt. Um hier eine Verschwörung am Werk zu sehen, benötigt man allerdings viel Phantasie. Denn die DFS überrumpelte nicht nur die Briten, sondern auch die amerikani-

FOTO: MARK HENLEY/VISUM

Wut-Manager gegen Berlin Deutsche Firmen gehen seit einigen Jahren gegen Korruption vor. Doch ein Staatsabkommen im Kampf gegen Schmiergeldgeschäfte scheitert am Bundestag. Union und FDP wehren sich. Die Industrie verliert die Geduld VON BJÖRN FINKE, THOMAS FROMM UND SUSANNE HÖLL

Berlin/München – Sie werfen unsaubere Manager raus, verklagen frühere Vorstände, schaffen eigene Vorstandsressorts für das Thema und unterwerfen sich internationalen Abkommen: Deutsche Unternehmen investieren einiges an Zeit und Mühe, wenn es um den Kampf gegen Korruption geht. „Wir schmieren nicht! Wir tolerieren keine krummen Geschäfte“ – das ist die Botschaft. Eine wichtige Botschaft, denn die Schmiergeldskandale der Vergangenheit – von Siemens bis Daimler, von Ferrostaal bis MAN – haben gezeigt, dass es teuer und geschäftsschädigend ist, als korruptes Unternehmen zu gelten. Firmen können von Aufträgen ausgeschlossen werden, Behörden und Gerichte verhängen hohe Strafen. Umso ärgerlicher ist es für die deutsche Industrie, dass ihnen die hiesige Politik beim Kampf gegen Durchstechereien in den Rücken fällt: Vor neun Jahren schon hat Deutschland ein Abkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption unterzeichnet – doch bis heute hat es der Bundestag nicht ratifiziert. Es ist also noch nicht in Kraft getreten. Grund: der Widerstand von Union und FDP. Sie wollen das Gesetz zur Abgeordnetenbestechung nicht verschärfen. Das wäre aber nötig. Den Managern ist nun der Kragen geplatzt – sie haben den Chefs der Bundestagsfraktionen im Juni einen richtigen Wut-Brief geschrieben. Bislang ohne messbares Ergebnis.

Hintergrund ist, dass die Manager im Ausland inzwischen auf das Zögern der deutschen Politik angesprochen werden – unangenehm für die Herren mit den betont weißen Westen. „Überall auf der Welt heißt es: Warum unterzeichnet ihr das denn nicht?“, sagt der Manager aus einem Dax-Konzern. Der dreiseitige Brief, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, formuliert das in etwas gesetzteren Worten: „Das Ausbleiben der Ratifizierung der UNCAC schadet dem Ansehen der deutschen Wirtschaftsunternehmen in ihren Auslandsaktivitäten.“ UNCAC ist die Abkürzung für jenes Abkommen, das inzwischen etwa 160 Staaten ratifiziert haben. Im Kreise der G 20, der Gruppe der 20 größten Wirtschaftsnationen, haben neben Deutschland nur Japan und Saudi-Arabien diesen Schritt bislang versäumt. Damit reihen sie sich bei so sinistren Staaten wie Syrien und Sudan ein. Unterzeichner des Brandbriefs sind der Präsident und der Vize der Internationalen Handelskammer Deutschland ICC: die Manager Manfred Gentz (früher Vorstand bei Daimler) und Klaus-Peter Müller (Aufsichtsratschef der Commerzbank). Angeschlossen haben sich 35 weitere Topmanager, darunter Siemens-Chef Peter Löscher, René Obermann von der Telekom oder Dieter Zetsche von Daimler. Daimler und Siemens hatten in der Vergangenheit selbst großen Ärger mit Korruptionsaffären. Sie verordneten sich daraufhin strikte Anti-Korruptionsregeln. Nun wollen sie den Druck auf die deutsche

Politik erhöhen: „Für uns bei Daimler sind die Themen Compliance und Integrität von zentraler Bedeutung“, sagt eine Sprecherin des Autobauers in Stuttgart. „Und wir haben uns verpflichtet, diese Standards einzuhalten.“ Bei Siemens heißt es, das Unternehmen unterstütze die Initiative, weil dem Konzern Compliance außerordentlich wichtig sei.

In der Rangliste von Transparency steht Deutschland auf Platz 14 Doch die Politik sträubt sich: Denn nach Einschätzung von Experten, aber auch der Opposition, erfüllen die bisherigen deutschen Regelungen zur Korruption bei Abgeordneten nicht die Anforderungen des Abkommens. Bislang ist lediglich der Stimmenkauf und Stimmenverkauf bei Wahlen und Abstimmungen strafbar. Um internationalen Anforderungen zu entsprechen, muss jedoch insbesondere der Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung verschärft werden. Das aber lehnen Union und FDP ab, mit der Begründung, es sei das Wesen des Bundestagsmandats, Interessen zu vertreten. Korruption bei Volksvertretern sei mit dem Strafrecht also nicht beizukommen. Eine Verschärfung, wie sie der Vertrag nötig mache, hindere die Abgeordneten an der Ausübung des freien Mandats. SPD, Grüne und Linkspartei sehen das anders und haben bereits Gesetzesvorschläge vorgelegt, um mit dieser

Novelle den Weg für eine Ratifizierung des Abkommens frei zu machen. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte sich mehrfach unzufrieden mit der Haltung von Union und FDP gezeigt und eine Neuregelung angemahnt. Die Konzernchefs stimmen in dem Brief zu: „Integre Abgeordnete brauchen sich vor schärferen Regelungen nicht zu fürchten“, heißt es da. Die Manager sind auch deshalb pikiert über das Zögern, weil sie und ihre Mitarbeiter sehr strengen Gesetzen gehorchen müssen. „Unternehmen unterliegen in vielen Ländern Vorschriften gegen Korruption mit weitreichenden Folgen auch für Mitarbeiter“, schreiben die Verfasser. „Eine angemessene Regelung für deutsche Abgeordnete sollte daher nicht länger auf sich warten lassen.“ Zumal es den Unternehmen nicht nur um das Ansehen Deutschlands geht, sondern auch darum, generell Korruption stärker zu ächten, um keine Nachteile zu erleiden: „Der deutschen Industrie ist sehr an einem korruptionsfreien und fairen Wettbewerb in allen Partnerländern gelegen.“ Träte das UNCAC-Abkommen in Kraft, wäre Deutschland zur internationalen Zusammenarbeit in der Korruptionsbekämpfung verpflichtet – und dazu, hart gegen korrupte Amtsträger vorzugehen. Beim jüngsten weltweiten Korruptionsindex von Transparency International landete Deutschland auf Platz 14 und damit nur im europäischen Mittelfeld. Peter von Blomberg, der Vizechef der Organisation, begrüßt daher den Brief der Manager.

Ein spätes Kunststück Arbeitsministerin von der Leyen findet teuren Kompromiss: Mehr Geld für arme Rentner und 2013 sinkt der Beitrag auf 19 Prozent

Barclays, HSBC und Standard Chartered – es läuft mies für Londons Banken Manns Triade mag verwegen klingen. Doch sie macht deutlich: Die Vorwürfe gegen britische Banken drohen sich zu einer transatlantischen Beziehungskrise auszuwachsen. Zumal sich die Empörung in Großbritannien nicht auf die Oppositionsbänke im Unterhaus beschränkt. Auch Investoren, die ihr Geld in britische Banken gesteckt haben, vermuten politische Motive. Selbst Notenbankchef Mervyn King geht mit den Amerikanern ins Gericht, wenn auch diplomatisch. „Ich denke, alle Behörden im Vereinten Königreich würden sich dafür aussprechen, dass die Ermittler, die an einem konkreten Fall arbeiten, versuchen, zu kooperieren und davon Abstand nehmen, sich vor Abschluss der Untersuchungen öffentlich zu äußern“, sagte er. Er spielte damit auf Anschuldigungen der New Yorker Finanzaufsicht DFS gegen Standard Chartered an. Die britische Großbank soll fast zehn Jahre lang in verbotene Geschäfte mit Iran verstrickt gewesen sein. Die Rede ist von einem Volumen von über 250 Milliarden Dol-

Gute Geschäfte, saubere Hände – das neue Ziel der Industrie. Sauber wie die Hände dieser Puppe in einem Schaufenster am Zürcher Paradeplatz.

Angestellter von Standard Chartered: Die Bank ist in Bedrängnis, die Politik vermutet eine Verschwörung. FOTO: GETTY sche Notenbank Federal Reserve und das Finanzministerium in Washington. Die DFS habe die Gespräche zwischen dem Finanzministerium und Standard Chartered über Schadensersatzansprüche unnötig erschwert, hieß es aus Regierungskreisen. Auch die Vermutung, die Vorwürfe gegen Standard Chartered stünden im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen HSBC und Barclays, ist wenig überzeugend. Im Falle HSBC ermittelte vor allem der Senat, im Falle Barclays das Justizministerium und die Kontrollbehörde Commodity Futures Trading Commission. Dennoch: Der Labour-Politiker Mann will sich von einer Verschwörungstheorie nicht abbringen lassen. Er fordert eine parlamentarische Untersuchung, um die Hintergrün-

Berlin – Diesmal ist Ursula von der Leyen zuversichtlich. Seit etlichen Monaten streitet die Sozialministerin mit ihren Kabinettskollegen und in der Koalition über das Thema Zuschussrente, und jetzt soll das Vorhaben in den nächsten drei Wochen gelingen. Schon Ende August soll das Regelwerk von der Regierung beschlossen werden. Erreichen will die Ministerin dieses Kunststück, indem sie ihren umstrittenen Plan für eine höhere Rente von Geringverdienern mit einer deutlichen Senkung der Beiträge für die Rentenversicherung verbindet. So will sie offenbar auch die Kritiker aus der FDP und bei den Arbeitgebern milde stimmen. Doch von vorne: Es geht um den Kampf gegen die Altersarmut. In den kommenden Jahren erwarten die Rentenexperten eine steigende Anzahl von alten Menschen, die zur Altersversorgung nur die Grundsicherung erhalten – die Sozialhilfe im Alter. Derzeit sind es nur etwa 400 000 Menschen, die in diese Gruppe fallen, das sind knapp 2,5 Prozent der Rentner über 65 Jahre. Wie stark diese Zahl in den nächst Jahren steigen wird, lässt sich nur schwer voraussagen. Klar ist, dass besonders die von Altersarmut betroffen sein werden, die lange Zeit ihres Lebens arbeitslos waren oder nur sehr niedrige Löhne erhalten haben. Um den Niedrigverdienern den Gang zum Sozialamt zu ersparen, will von der Leyen die sogenannte Zusatzrente einführen. Wer 30 Jahre lang Beiträge gezahlt

sen kann – also auch Ausbildungszeiten, Krankheit oder Arbeitslosigkeit –, soll eine höhere Rente bekommen. Vom Jahr 2018 an verschärfen sich die Anforderungen deutlich. Dann gibt es eine Zuschussrente erst nach 35 Beitragsjahren und 45 Versicherungsjahren. Zusätzlich ist der Nachweis einer langjährigen privaten Altersvorsorge notwendig. Zunächst werden nach Angaben des Ministeriums 25 000 Rentner von der Regelung profitieren, im Jahr 2030 werden es dann schon 1,4 Millionen sein. Entsprechend steigen die zusätzlichen Kosten für die Rentenversicherung. Anfangs kostet die Zusatzrente lediglich 50 Millionen Euro, später dann 3,24 Milliarden Euro im Jahr.

Auch Kindererziehung und Pflege werden nunmehr höher bewertet Neu im Gesetzesvorhaben – ebenfalls ein Entgegenkommen an die Kritiker – ist die sogenannte Kinderkomponente. Zeiten der Kindererziehung und der Pflege werden bei der Berechnung der Zuschussrente nun höher bewertet. Für Versicherte mit Kind kann damit maximal eine Rente von 850 Euro im Monat herauskommen. Die FDP und die Arbeitgeber hatten gegen das Vorhaben protestiert, weil ihnen die Kosten für das Vorhaben zu hoch erscheinen und sie die Systematik der Rentenbe-

Von der Leyen will die Kritik nun offenbar entschärfen, indem sie das Vorhaben an die Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung koppelt. Zu Beginn des kommenden Jahres sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nur noch 19 Prozent des Bruttolohns an die Rentenkasse zahlen. Das bedeutet eine Entlastung von etwa sechs Milliarden Euro. Endgültig feststehen wird die Höhe der Beitragssenkung jedoch erst im Herbst. Von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, mit ihren Vorschlägen die Differenzen über die Zuschussrente beilegen zu können. „Das vorgelegte Gesamtpaket hilft der Wirtschaft in der Krise, sorgt für einen gerechten Ausgleich zwischen Jung und Alt im demografischen Wandel und verhindert, dass Menschen in der Altersarmut landen, die sich um die Älteren und die Kinder kümmern“, erklärte sie. Die Senkung komme „ohne Wenn und Aber“. Wenn die maßgebliche Finanzschätzung der Rentenversicherung im Herbst einen Beitragssatz von 18,9 Prozent im Jahr 2013 für möglich hält, soll der Beitrag auf diesen Wert fallen. In diesem Jahr liegt der Beitragssatz bei 19,6 Prozent. In dem Paket sind auch Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und höhere Freibeträge für Zuverdienste von Rentnern (Kombi-Rente) enthalten. Zudem will von der Leyen alle Selbständigen zu einer Alterssicherung verpflichten. Die Betroffenen sollen selbst entscheiden, wo

setzlichen Rentenversicherung. Die geplante Neuregelung der Erwerbsminderungsrente soll Menschen helfen, die krankheitsbedingt vorzeitig in Rente gehen müssen. GUIDO BOHSEM

HEUTE Personalien Immer auf Speed: Mike Sinyard, der Pionier des Mountainbike

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WISSEN

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Wie im Flug Immerhin, das Dromedar könnte er gerade noch hinter sich lassen, der jamaikanische Sprinter und dreifache Olympiasieger Usain Bolt. Mit seinem fabelhaften 9,58-Sekunden-Rekord bewältigt er die 100-Meter-Strecke mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,6 Kilometern pro Stunde. Aber der Vorsprung ist knapp, sagt Craig Sharp, emeritierter Professor der Brunel University in London, „denn die Kamele bringen es auf eine Geschwindigkeit von 35,5 Stundenkilometern“. So gilt für das Rennen das Gleiche wie in den meisten anderen Disziplinen: Selbst die Goldmedaillen-Träger unter den Olympioniken hätten schlechte Karten, wenn die Konkurrenz aus der Tierwelt an den Wettkämpfen teilnehmen dürfte (Veterinary Record, Bd. 34, S.87, 2012). Besonders beim Sprint wird deutlich, dass sich anatomische und physiologische Spezialisierung auszahlt. So beim Geparden, der mit 104 Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit als schnellstes Landtier der Welt gilt. Dieses Tempo erreicht er mit einem Laufstil, der einer Mischung aus Laufen und Fliegen gleicht. Im Sprint-

Freitag, 3. August 2012, Nr. 178 DEFGH

Angaben in Sekunden

schritt befinden sich alle vier Beine der Raubkatze in der Luft, sodass sie bei einer Schrittlänge von sieben bis acht Metern über die 100-Meter-Distanz nur 13-mal den Boden berühren. Allerdings verbraucht dieser Bewegungsstil viel Energie, sodass das Tier nach einigen Hundert Metern schlappmacht. Noch schneller ist der torpedoförmige Fächerfisch unterwegs, allerdings im Wasser, wo es naturgemäß leichter ist, einen Menschen zu überholen. Immerhin: Beim Marathon läuft der Mensch in der Spitzengruppe mit. „Er hat sich phantastisch an Langstreckenläufe angepasst: Lange Beine, kurze Zehen, gewölbte Füße und große Energiespeicherkapazitäten helfen ihm dabei“, sagt Sharp. Mit seinen zwei Stunden und drei Minuten brauchte der Kenianer Patrick Makau Musyoki für diese Strecke nur 45 Minuten länger als das beste Ausdauerpferd. Die größten Chancen hätte der Mensch jedoch im Mehrkampf. Es gibt praktisch keine Tiere, die 20 Kilometer laufen, dabei über Hindernisse springen, zwei Kilometer schwimmen, eine Kugel stoßen und anschließend auf einen Baum klettern können.

Greyhound 100 Meter in

5,22

Rennpferd 100 Meter in

4,09

Fächerfisch 100 Meter in

3,27

Schwarzleguan 100 Meter in

10,29

Usain Bolt 100 Meter in Dromedar 100 Meter in

9,58

10,20

Strauß 100 Meter in

Gepard 100 Meter in

5,63

3,46

Hoch springen – und sicher landen

Olympia der Tiere 100 Meter in 9,58 Sekunden? Damit kann sich ein Sprinter wie Usain Bolt vielleicht vom Rest der Menschheit absetzen – aber nicht vom Rest der Welt. Tiere sind zu weitaus größeren Leistungen fähig. Allerdings ist der Mensch der beste Mehrkämpfer

Weite Hüpfer

Angaben in Meter Gämse

7,0

Puma

12,0

Riesenkänguru

12,8

Schneeleopard*

15,0

Goliathfrosch

5,00

Mike Powell

8,95

*Anekdotische Berichte

Hossein Rezazadeh Grizzlybär

450

Elefant

300

263

900

Hornmilbe**

0,00012

*Theoretische Schätzung

und müssen ständig mit einer Vielzahl von Fressfeinden rechnen. Hochsprünge sind dabei ein gutes Mittel, den Überblick zu behalten. Allerdings kommt es auf dem schwierigen Terrain nicht nur aufs Abspringen an, sondern auch auf eine sichere Landung. Dabei helfen dem Klippspringer seine außergewöhnlich geformten Hufe. Anders als bei anderen Huftieren nutzen sie sich so ungleich ab, dass sich an den Kanten regelrechte Spitzen bilden. Diese wirken wie Stollen an einem Bergschuh und verleihen auf kleiner Standfläche guten Halt.

Angaben in Meter

Klippspringer

8,00

Puma

5,50 Schlangenkopffisch

4,00

Muskelprotze

Angaben in Kilogramm

Gorilla*

Unter Zoologen kursieren Gerüchte, wonach im Himalaya Schneeleoparden beobachtet wurden, die 15 Meter weit springen. Doch das ist umstritten. Deshalb gilt der 13-Meter-Weitsprung des Roten Riesenkängurus als offizieller Rekord im Tierreich. Dieser ist besonders eindrucksvoll, weil dieses Känguru mit einer durchschnittlichen Größe von 1,80 Metern und einem Gewicht von 75 Kilogramm ähnliche Ausmaße wie der Mensch hat. Der große Vorteil des Kängurus liegt in seinen langen Hinterbeinen. Dank elastischer Muskeln und Sehnen kann es hüpfen, ohne viel Energie zu verbrauchen. So legt das Beuteltier große Entfernungen zurück, um beim spärlichen Nahrungsangebot des australischen Outbacks fündig zu werden. Da sein Körper auf Schnelligkeit ausgelegt ist, hat das Tier im Alltagstrott Probleme: Wenn es langsam kriecht, muss es seine kurzen Vorderbeine und den Schwanz zu Hilfe nehmen. Ausgestattet mit einer Körperlänge von gut 30 Zentimetern legt der in Westafrika beheimatete Goliathfrosch allerdings noch beeindruckendere Sprünge hin als das australische Känguru.

Hochsprungmeister im Tierreich ist der Klippspringer. Die nur knapp 60 Zentimeter große Antilopenart bringt es auf unglaubliche acht Meter und trägt daher zu Recht ihren Namen, der aus dem Niederländischen übersetzt „Felsenspringer“ bedeutet. Die Tiere können das 13- bis 15-Fache ihrer Schulterhöhe überspringen. Um eine vergleichbare Leistung zu erzielen, müsste ein Mensch mit einem Satz auf dem Brandenburger Tor landen. Für den Klippspringer können seine hohen Hüpfer überlebenswichtig sein. Die Antilopen leben in sehr felsigem, unebenem Gelände Afrikas

**Bei einem Körpergewicht von 0,0000001 Kilogramm

Einigen Berichten zufolge können Gorillas Lasten von bis zu 900 Kilogramm wuchten – zuverlässige Nachweise hierzu fehlen aber. Im klassischen Gewichtheben nach olympischen Regeln allerdings würde der Gorilla schlecht abschneiden. „Er ist nicht dafür gebaut, schwere Gegenstände über seinen Kopf zu hieven“, sagt die Leipziger Primatologin Martha Robbins. „Zweifellos ist er aber stärker als ein Mensch.“ Das gilt auch für Elefanten, die rund 300 Kilo stemmen können. Der Rüssel, den sie zum Gewichtheben einsetzen, besteht aus etwa 40 000 Muskelbündeln. Manchmal nehmen Elefanten auch die Stoßzähne zu Hilfe. Doch auch damit erreicht ein Elefant nicht die Rekordwerte eines Grizzlybären. Er kann einigen Berichten zufolge Lasten von mehr als 450 Kilogramm wuchten. Sogar diese Leistung klingt banal verglichen mit der der Hornmilbe Archegozetes longisetosus. Gemessen an der Körpergröße, ist sie das stärkste Tier überhaupt. Die Milbe ist 0,8 Millimeter lang, ein zehntausendstel Gramm schwer – und sie kann mithilfe ihrer Grab-Klauen das 1180-Fache ihres Körpergewichtes halten.

Pferd

2,47 Javier Sotomayor

2,45

SZ-Grafiken: Ilona Burgarth

Spektakulär entspannend. DWS TRC Top Dividende - Fondsinnovation 2012 laut €uro.1 Diese Innovation sorgt für Entspannung: DWS TRC Top Dividende. Unser Aktienfondsklassiker mit einem starken Extra: dem DWS Trend- und Risikosystem (TRC). Damit können Sie an der Wertentwicklung unseres bewährten Top-Fonds partizipieren sowie Trends und Risiken im Blick behalten. Setzen auch Sie auf die Fondsinnovation des Jahres 20121 – den neuen DWS TRC Top Dividende.

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FEUILLETON

DEFGH Nr. 161, Samstag/Sonntag, 14./15. Juli 2012

Wenn Pfusch zum Prinzip wird

HEUTE Feuilleton

Die Schäden an Kulturneubauten sind Folgen des Sparzwangs

Ein Rundgang über die Documenta Kabul zeigt, was Kunst für den Wiederaufbau bedeutet

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Die Staatlichen Museen in München haben die Trauerbotschaft eben verkündet: Die Pinakothek der Moderne wird von Februar 2013 bis voraussichtlich September 2013 wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Ein gerade mal zehn Jahre alter Neubau muss also wegen schwerwiegender Schäden ertüchtigt werden – und wie in den vielen anderen prominenten Fällen, in denen öffentliche Kulturbauten schon nach wenigen Jahren empfindliche Schäden zeigten, sieht man auch in München jetzt wieder die bekannten Vorurteile aus dem Boden schießen. Erstens: Die Architekten sind schuld; sie beherrschen ihr Handwerk nicht mehr. Zweitens: Das Material ist schuld; Beton ist ein hässlicher, minderwertiger Baustoff. Mit solchen nassforschen Behauptungen schießt man an der banalen Wahrheit leider total vorbei. Wären die Architekten schuld an den vielen Mängeln, die in den letzten Jahren an kurz vorher fertiggestellten öffentlichen Bauten festgestellt worden sind, könnte es nicht die über Jahrzehnte hinweg stabilen Neubauten geben, die von den gleichen Architekten mit den gleichen Materialien in privatem Auftrag errichtet worden sind. Architekten versuchen den Funktionen eines geplanten Baus eine ästhetisch überzeugende Form zu geben. Die Stabilität und Sicherheit des vorgeschlagenen Baukörpers wird aber von unabhängigen Statikern kritisch geprüft. Wenn also, wie jüngst in der Pinakothek der Moderne, Risse im Mauerwerk auftreten, die nicht von einem Erdbeben verursacht worden sind, könnte man anstelle des Architekten allenfalls den Statiker belangen. Doch Statiker haben sich in Deutschland selten so fatal geirrt, dass ein von ihnen geprüftes Gebäude nach zehn Jahren aus Sicherheitsgründen geschlossen werden musste. Das heute unverzichtbare Material Stahlbeton aber ist, wenn es fachgerecht eingesetzt wird, zu wahren architektonischen Wundern fähig, zu Monumenten, die auf statischem Gebiet Maßstäbe setzen, aber auch höchsten ästhetischen Bedürfnissen gerecht werden.

Auch Hamburgs Elbphilharmonie ist falsch kalkuliert worden Die Misere des öffentlichen Bauens in Deutschland – zumal bei Kulturbauten, die von einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit für verzichtbar gehalten werden – erwächst in peinlich vielen Fällen aus dem Sparzwang, dem Neubauten der öffentlichen Hand immer entschiedener unterworfen sind; aber auch aus den bewusst nach unten gedrückten falschen Zahlen, mit denen bei Planungen von Kulturhäusern gerne operiert wird. Die höchst waghalsig auf ein altes Speichergebäude gepfropfte Elbphilharmonie in Hamburg mit ihren drei Konzertsälen, dem eingebauten Hotel, den gastronomischen Einrichtungen, der öffentlich zugänglichen Plaza in 37 Metern Höhe und der großen Parkgarage ist ehedem mit einem so lächerlich niedrigen Etat kalkuliert worden, dass die Strafen, die für dieses Vergehen bezahlt werden müssen, die ursprünglich genannten Baukosten um ein Mehrfaches übersteigen werden. Die für den Kultur-Freistaat Bayern beschämende Baugeschichte der Pinakothek der Moderne aber ist ein Musterbeispiel dafür, wie rigorose Sparauflagen ein Kulturbauwerk nachhaltig beschädigen können. Der Staat als Auftraggeber hat sich überhaupt erst zur Finanzierung des lang ersehnten Vierspartenmuseums bereit erklärt, als private Spender zehn Millionen Euro als Startkapital bereitgestellt hatten. Und als abzusehen war, dass der festgelegte Kostendeckel viel zu niedrig kalkuliert war, mussten, damit die Bauarbeiten abgeschlossen werden konnten, wieder private Spender die fehlenden Millionen aufbringen. Zu diesem Zeitpunkt waren aber die Fehler, die demnächst zur Schließung des Hauses zwingen, längst geschehen: Die von den Bauämtern ausgewählten Billigstanbieter hatten als Pfuscher ganze Arbeit geleistet. So hat es von Anfang an undichte Stellen im Gebäude gegeben; die in die Oberlichter eingebauten Verschattungsanlagen haben nie funktioniert; und der Sichtbeton der Fassaden war so miserabel angemischt, dass die bunt gesprenkelten Oberflächen einheitlich betongrau übertüncht werden mussten. GOTTFRIED KNAPP

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HF2

Kunstmarkt Warum die Berliner Galerie Nierendorf Ernst Barlach eine Ausstellung widmet

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Literatur Gefühlte Nähe – Barbara Bronnen und ihre problematische Familiengeschichte

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Wissen Den Opfern auf der Spur: Wie schwer es ist, die Zahl der Malaria-Toten zu ermitteln

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R www.sz.de/kultur

Sauberes Design Dieter Rams lässt, was sein Metier angeht, nur eine Marke gelten

Inspiriert von Gemälden Tizians – Szene aus „Metamorphosis: Titian 2012“ am Royal Ballet in London.

FOTO: CHRIS NASH /ROYAL OPERA HOUSE LONDON

Technologie des Körpers Ein Treffen mit Wayne McGregor, dem gefragtesten Erfinder zeitgenössischer Bühnenchoreografien und Vordenker der aktuellen Tanzkunst, gleicht einer Audienz bei einem Ein-Mann-Imperium VON DORION WEICKMANN

E

r hat seine Tänzer gegen Computerprojektionen antreten lassen und ihnen Prismen auf die Augen gesetzt, um ihr Raumgefühl zu zerstören. Er hat eine Operation am offenen Herzen studiert und diese Erfahrung in eine verstörende Vivisektion auf der Tanzbühne verwandelt. Er choreografiert für alle, von Radiohead über „Harry Potter“ bis zu Traditionsburgen wie der Mailänder Scala oder der Pariser Oper. Und ohne eine einzige Stunde traditioneller Ballettausbildung hat er inzwischen eine Schlüsselstelle der klassischen Tanzwelt erobert: die Position des Hauschoreografen am Royal Ballett in London. Keine Frage: Wayne McGregor, 42 Jahre alt, geboren in Yorkshire, zum Tanzen inspiriert durch frühe Travolta-Filme, ist nicht nur der derzeit brillanteste Erfinder zeitgenössischer Bühnenbewegungen – er ist auch der primärer Vordenker der Frage, was Tanz in der modernen Ideengesellschaft überhaupt sein kann. So weit reichen seine Interessen – von Computeranimationsprogrammen über Neurowissenschaften bis hin zur Biotechnologie – dass man vor einer Begegnung mit ihm doch ein wenig Respekt hat. Wird man überhaupt mithalten können? Seine Quirligkeit sei ADHS-verdächtig, heißt es aus McGregors streng abgeschirmten Umfeld. Wer dann aber doch zu ihm vorgedrungen ist – vorbei an gigantischen Obsttellern und einem praktisch mit Todesstrafe bewehrten Rauchverbot – trifft auf die Freundlichkeit in Person. Blitzblaue Augen strahlen, feingliedrige Hände finden im Gespräch plötzlich zur Ruhe – und ein An-

liegen wird spürbar, das weder mit technischem Hokuspokus noch mit der Kunst des brillanten Selbstmarketing zu tun hat. „Ein Choreograf“, sagt McGregor, „ist ein Denker des Physischen – jemand, der die Technologie des Körpers auf Konzepte und Philosophien anwendet.“ In diesem bleichen Kahlkopf wohnt also ruheloses Erkenntnisinteresse – das ist auch die Triebfeder seiner aktuellen Mission: Am heutigen Samstag wird er London mit gleich zwei Uraufführungen beglü-

cken. Da ist einmal der „Big Dance“ am Trafalgar Square, ein tausendköpfiges Massenarrangement; spannender ist jedoch das zweite Projekt, ein Brückenschlag zwischen Renaissance und Risikogesellschaft: Mit „Titian 2012“ gibt die Direktorin des Royal Ballet, Monica Mason, ihren Ausstand. Ausgedacht hat sich den Abend ihr Hauschoreograf Wayne McGregor: „Wir haben sechs Kollegen nach Covent Garden geholt und setzten ihnen drei Tizian-Gemälde aus der National Gallery vor. Wir wollten sehen, was sie für den Tanz daraus machen würden.“ Der siebte Choreograf, der sich an diesem Abend mit Tizian auseinandersetzt, ist McGregor selbst. Passt das denn zu seinem radikal zeitgenössischen Profil? Da gibt er sich traditionsbewusst – „der Nukleus der Vergangenheit geht nie verloren“, sagt er. Andererseits drängen sich ihm auch Parallelen auf: „Ich bin sehr physisch im Umgang mit Körpern, außerdem faszinieren mich Ekstase, Schaudern, Dynamik – und klassische Proportion bei den Alten Meistern.“

Was fasziniert an Tizian? Ekstase, Schaudern, Dynamik

„In Wahrheit spirituell“ – der Choreograf Wayne McGregor. FOTO: ANNE DENIAU

Tatsächlich bestechen McGregors Bewegungsexperimente das Zuschauerauge mit wirbelnden Kurven, explosionsartig aufbrechenden Linien und Achsen jenseits jeder ersichtlichen Verankerung. Der Fluchtpunkt ist immer „die wahre Welt“, sind Glanz und Elend der Metropolen, in denen sozialer Autismus und Massenhysterie Hand in Hand gehen. Nicht, dass der Brite melancholisch veranlagt wäre, dafür hat er

viel zu viel um die Ohren – weil er neben der royalen noch eine eigene Company stemmt und außerdem Kooperationen mit der Wissenschaft und Education-Formate ausprobiert. Die Profanierung der Kunst insgesamt hält er indes für ein groteskes Missverständnis, vor allem in eigener Sache: „Ich lese immer wieder, ich sei ein Technologiefreak und wild auf alles, was blitzt und blinkt. In Wahrheit bin ich ein ziemlich spiritueller Mensch, und wenn ich mit Tänzern arbeite, ist es die Energie, die uns verbindet.“ Für einen, der seine Jugend an der Atari-Spielkonsole verbracht hat und auch mal einen Disco-Tanzkurs absolvierte, klingt dieses Bekenntnis etwas schräg. Wer Wayne McGregor aber beim Proben über die Schulter schaut, sieht eher den raunenden Geist einer Communio am Werk als abstrakte Ideenhuberei oder ein athletisches Ringen um immer neue Originalitätsrekorde. Als nächstes wird McGregor „Le Sacre du Printemps“ fürs Moskauer Bolshoi in Angriff nehmen und muss deshalb „schnellstens die Bilder von Pina Bauschs packender Version wieder loswerden“. Ablenken könnte ihn die Zäsur beim Royal Ballet, die Monica Masons Abdankung mit sich bringt – und die er als Herausforderung begreift: „Wir brauchen eine ästhetische Diskussion, wie das Gesicht des Tanzes im 21. Jahrhundert aussehen soll, wie wir junge Leute in die Opernhäuser holen und was überhaupt die Funktion der Hochkultur sein kann.“ Was nur seinen Punkt unterstreicht, dass große Choreografen auch große Denker sein sollten. Derzeit muss er keinen Rivalen fürchten.

Dieter Rams ist so etwas wie das gute Gewissen im Design. Seine zehn Thesen, was gutes Design ist, dürfte jeder Designstudent noch im Schlaf referieren können. Vermutlich wäre es gar nicht schlecht, wenn auch der Konsument sie aufsagen würde, während er durch den Produktdschungel manövriert. Die Auswahl fiele dann nämlich sehr leicht. Wer nur kauft, was innovativ, umweltfreundlich und langlebig ist, wird mit wenig zurückkehren. Getreu Dieter Rams’ Motto „weniger, aber besser“. Dass der 80-jährige Produktdesigner nun Ehrenprofessor der Technischen Universität München wird, kann man daher nur begrüßen. Die Studenten taten das in Scharen: Als diese Woche die Uni zu der Veranstaltung „Was sagt Dieter Rams dazu?“ einlud, platzte der Seminarraum fast aus allen Nähten. Überall saß die junge Zuhörerschaft, um ihr Vorbild zu befragen. Und was sagte der? „Es gibt zu viele Designer.“ Und: „Der Beruf ist in Verruf geraten.“ Dieter Rams’ negative Sicht auf die heutige Welt der Dinge speist sich aus der Vorherrschaft des „wachstumsorientierten Produktdesigns“. Dabei sei aktuell eine Gestaltung wichtig, „die über eine oberflächliche Konsumkosmetik hinausgeht und die Welt gegen die visuelle Umweltverschmutzung sicherer macht“. Das klingt so vernünftig, wie es Rams’ Produkte für die Firma Braun stets waren. Genauso wie die Feststellung, dass die Verantwortung der Designer stark gewachsen sei: „Heute ist es wichtiger, nicht nur Produkte zu gestalten, sondern neue Strukturen, die andere Ideen hervorbringen.“ Strategisches Design gilt auch bei Rams als die Zukunft der Branche. Aber gibt es aus der Produktwelt so gar keinen, der Gnade vor ihm findet? Doch, den gibt es, und es ist das Unternehmen, dessen Name auch überall dort fällt, wo es um Design geht: Apple. In den Worten von Rams stieg der Computergigant endgültig zum Heilsbringer einer ganzen Zunft auf. Apple habe es geschafft, Design so interessant zu machen, dass man dafür Schlange steht. Die Firma führe vor, was durch eine Gemeinschaft aus Industriedesigner und Unternehmerpersönlichkeit möglich ist. Gutes Design verbindet? Vermutlich. Aber die Glorifizierung von Apple als einzigem guten Schaf in einer ansonsten pechschwarzen Herde hätte etwas Selbstreflektion vertragen: Was Dieter Rams dazu sage, ANZEIGE

Welcher Reporter trägt heute noch einen Hut? Das waren so die Fragen, die sich die „Stones“ in London bei der Pressekonferenz zu ihrem 50. Thronjubiläum stellten. Aber es gab Minz-Martinis! Man muss es Keith Richards lassen: Er zieht das mit dem Lidstrich durch. Es fallen einem ja auf Anhieb auch wenige Männer im Pensionsalter ein, denen schwarzer Eyeliner so gut stünde wie diesem 68-Jährigen. Das Haar grau und wirr, das Gesicht eine einzige Falten-Apotheose, akzentuiert durch sportwagenteure Jacketkronen. Als hätte er das Make-up aus „Fluch der Karibik“ nie entfernt. „Hier rumzulaufen, das ist, wie wenn man ein altes Tagebuch findet“, sagt Richards, der aber gerade gar nicht herumläuft, sondern gemütlich herumsitzt, in einem Saal im Somerset House. Das Prachtgebäude am Londoner ThemseUfer zeigt Fotos aus der Geschichte der Rolling Stones, eine Auswahl aus dem dicken Bildband, den die Band zum 50. Jubiläum herausgebracht hat. Heute ist Eröffnung, und die verbleibenden Original-Stones Richards, Mick Jagger und Charlie Watts erzählen ein bisschen

selbst schreiben musste“, fährt Keith Richards fort. „Es war immer jemand da, der Fotos gemacht hat.“ Eine Auswahl zu treffen aus den Tausenden von Bildern, war das nicht schwierig? „Eigentlich nicht. Das meiste davon habe ich Charlie Watts erledigen lassen.“ Es ist schon großartig, wie diese alten Streitrösser den Rollen-Erwartun-

Charlie Watts musste die Bilder zum Jubiläum aussuchen, weil „außer mir keiner aufgetaucht ist“ gen entsprechen. Richards: entspannt, freundlich, irgendwie froh, überhaupt am Leben zu sein. Jagger: wibbelig, professionell-verbindlich, die Nebelhorn-Stimme nie auf Zimmerlautstärke dimmend. Watts: verhalten, ein bisschen reizbar, letztlich vollendeter Gentleman. Er sagt: „Ich musste die Bilder hier aussuchen, weil au-

Interessant sind ja nicht die Myriaden austauschbarer Fotos von diversen Auftritten, sondern die Schnappschüsse aus dem Alltag. Ein Teekränzchen auf der Isle of Man im August 1964; Bilder von einem kleinen Unfall, den Jagger zwei Jahre später mit seinem nagelneuen Aston Martin hatte: „Das sind wirklich amüsante Momente“, sagt er. „Ein wunderbarer Widerhall vergangener Zeiten. Sehen sie den Mann da hinten auf dem Foto aus New York? Das ist ein Reporter. Welcher Reporter trägt heute noch einen Hut?“ Tatsächlich kann man, besser noch als in den immer zerfurchter werdenden Gesichtern der Rolling Stones selbst, die beachtlichen gesellschaftlichen Veränderungen seit 1962 an den Menschen ablesen, die sie auf den Bildern umgeben: Manche Fotos, die Mitte der Sechziger aufgenommen wurden, sähen aus, als seien sie kurz nach dem Krieg entstanden, findet Jagger: „Die Leu-

fanden es einfach interessant, dass da jemand mit einer Kamera stand.“ Elizabeth II. feiert ihr Diamantenes, die Stones ihr Goldenes Jubiläum. Die Band ist ja so etwas sie „Rock Royalty“ oder? „Na ja, ich lebe nicht in Buckingham Palace“, sagt Keith Richards. Oder wenigstens ein britischer „National Treasure“, Lieblinge der Nation wie Judi Dench oder Stephen Fry? „Wenn mich jemand so nennen möchte, hab’ ich nichts dagegen“, meint Richards. Mick Jagger hat ziemlich viel dagegen: „Das klingt ja, als wären wir alte Teekannen!“ Charlie Watts hasst schon den Ausdruck. In Erfolgsgeschichten bleiben immer auch Menschen auf der Strecke. Später, als die Vernissage beginnt, mit Häppchen und Minz-Martinis und künstlichen Teelichtern auf Stehtischen, reiht sich ein kleiner Mann in einem etwas zu langen Nadelstreifen-Jackett brav in die Besucher-Schlange

Stück herausgewachsen, näher an der Wurzel ist es grau. „Und wer sind Sie?“, fragt die nette Empfangsdame. „Bill Wyman“, sagt der Mann. Geduldig lässt er sich das silberne Papierbändchen ums Handgelenk legen, das den Sicherheitsleuten signalisiert: darf rein. Drinnen entpuppt sich ein korpulenter Herr in blauen Wildlederschuhen als der ehemalige Stones-Gitarrist Mick Taylor. Er wirkt, als wäre er gerade überall auf der Welt lieber als hier. Zwischen denen, die nach all der Zeit noch dabei sind, ist scheinbar alles beim Alten geblieben: „Wir haben jetzt wieder ein paar mal zusammen geprobt, erzählt Keith Richards: „Das Grundgefühl ist noch immer genau dasselbe wie vor 50 Jahren.“ Und das ist das Geheimnis der Langlebigkeit dieser Band? „Wahrscheinlich“, sagt Richards. Grinsend lässt er die Jacketkronen aufblitzen: „Alles andere, was ich gemacht habe, hat mich jedenfalls fast um-

dass das iPhone 4 aufgrund seines schönen Designs kratzanfälliger sei und leichter kaputtgehe, wenn es runterfällt? „Nobody and nothing is perfect.“ Und warum fordert er nicht mehr ökologisches Bewusstsein von der Firma ein? Gerade hat sich der Konzern von dem amerikanischen Ökosiegel EPEAT verabschiedet. Dessen strenge Recyclingvorschriften erfüllen die überarbeiteten Modelle Macbook Pro und Macbook Air wohl nicht mehr. Schließlich könnte der Konsument bei den ständig neu auf den Markt kommenden Apple-Produkten auch die von Dieter Rams geforderte Frage stellen: „Brauchen wir permanent Neues?“ So zukunftweisend viele Produkte von Apple unbestritten sind, einiges ist doch nicht so innovativ, dass es ein neues Produkt rechtfertigen würde. Die Kriterien Langlebigkeit und Umweltschutz erfüllen sie damit nicht. Wer mit Rams’ Thesen einkaufen geht, müsste manchmal einen Bogen um den Apple-Store machen, statt sich


POLI

DEFGH Nr. 190, Samstag/Sonntag, 18./19. August 2012

Aus Bolivien über Benin nach Berlin: Der Stoff, der Sta Am Anfang ist ein grünes Blättchen, das den Völkern der Anden heilig ist. Doch in der Kokapflanze steckt ein Stoff verborgen, der in Berliner Lofts und Londoner Börsentoiletten reißenden Absatz findet. Die Produktion von Kokain ist aufwendig, doch sie ist einträglich. Die Zahl der Konsumenten der Modedroge in Europa steigt. Wer Kokain schnupft, fühlt sich groß und mächtig. Doch er gefährdet dabei Körper und Geist – und trägt dazu bei, dass in Lateinamerika und Afrika ganze Staaten wanken, weil sie von der Mafia unterwandert werden. Ähnlich ist es beim Heroin: In Asien destabilisiert der Handel eine Weltregion. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die sagen: Der Krieg gegen die Drogen ist verloren, gebt sie frei.

Wege der Drogen

RUSSLAND

Nordamerika (USA, Kanada)

West-, Zentral-, Osteuropa

Südosteuropa

Kaukasus TÜRKEI

A IRAN

MEXIKO

1,3

Arabische Halbinsel Karibik

Hauptschmuggelrouten Kokain* (Menge in Tonnen)

Afrika Westafrika

VENEZUELA

6

KOLUMBIEN

15 60

BRASILIEN

140 * Etwa die Hälfte der produzierten Menge Kokains wird jährlich in Südamerika beschlagnahmt

Hauptschmuggelrouten Heroin* (Menge in Tonnen)

Produktionsländer

1-5 6-10

Andenraum PERU

BOLIVIEN

Heroin Kokain

11-37

SÜDAFRIKA

Heroin und Kokain

38-149 150 * Etwa fünf Tonnen der produzierten Menge Heroins werden jährlich in Afghanistan beschlagnahmt

Erlöse aus Kokainhandel Preis in US-$

Kokabauern schwören auf die gesundheitsfördernde Wirkung der Pflanze. Außerdemkönnen die Blätter bis zu viermal im Jahr geerntet werden – das bringt mehr ein als Zitrusfrüchte. Das Rauschgift Kokain wird erst durch chemische Extraktion gewonnen. FOTO: GETTY

Erlöse aus Her

1015 $

600 kg

Kokablätter (= 1 kg Kokapaste) Kolumbien Kokabauer

Preis in U

Kokain

2438 $

45 000 $

53 496 $

1 kg

1 kg

1 kg

Kokain

Kolumbien Zwischenhändler

Spanien Zwischenhändler

Deutschland Zwischenhändler

86 900 $ 1 kg

(Reinheitsgrad* 39,2 %) Deutschland Dealer

Deutschland Konsument

Afghanistan Opiumbauer

* Bis der Stoff beim Endkonsumenten ankommt, wird er mehrmals mit billigeren Substanzen gestreckt. Der Reinheitsgrad nimmt ab, der Gewinn pro Gramm steigt.

Kraut der Götter, Gift der Gringos „Schlimm ist nur, was andere daraus machen“: In den bolivianischen Yungas pflanzen die Bauern Koka-Blätter an wie andere Weintrauben oder Tomaten. Sie empfehlen sie als Mittel gegen Magenschmerzen und Erschöpfung. Auch der Präsident kaut Koka. Erst in den illegalen Giftküchen wird aus der heiligen Pflanze das teuerste Rauschgift der Welt VON PETER BURGHARDT

Coroico – Es könnte alles so einfach sein. So friedlich. So natürlich. Eine Frau zwischen zarten Pflanzen in lieblicher Landschaft, kitschig fast. Albertina Torres, 34 Jahre alt, steht auf ihrem Feld, das sich in Boliviens Norden wie ein Weinberg den Hügel hinab zieht. Sie trägt einen hellen Umhang und schwarzen Hut, die Sonne brennt auf 1700 Metern Höhe. Gegenüber leuchten schneebedeckte Gipfel der Anden über dichtem Grün, der Himmel ist blau. Schmetterlinge und Vögel fliegen. Die Landwirtin Torres vom Volk der Aymara zupft feine Blätter von kniehohen Sträuchern und lässt sie in die Tasche ihrer Schürze fallen. Sie arbeitet auf diesem schiefen Acker, seit sie denken kann. Wie ihre Eltern, wie ihre Ahnen. „Koka ist für uns Leben“, sagt sie. „Davon essen wir, damit leben wir, damit schicken wir die Kinder in die Schule.“

Koka-Tee schätzen auch Touristen als Mittel gegen Höhenkrankheit Von La Paz aus führen tausend Kurven über einen 4700 Meter hohen Pass in diese Region, die Yungas. Manche Chauffeure kauen Koka, das hält wach. Lastwagen haben säckeweise Koka an Bord, Koka ist hier erlaubt. An einem Kontrollposten suchen Polizisten nachlässig nach verbotenen Substanzen. Ein verrostetes Schild warnt: „Bewahrt die Yungas vor dem Drogenhandel.“ Das sind die einzigen Hinweise darauf, dass dieses Naturprodukt auch Basis für das teuerste Rauschmittel der Menschheit ist. In Coroico wachsen Bananen, Mandarinen, Kaffee, Orchideen, Mangos. Und Koka, immer mehr Koka. „Koka ist gut“, sagt Albertina Torres. „Schlecht ist, was manche daraus machen.“ Darum geht es. Um ein grünes Gewächs und die Familien, die es anbauen wie andere Trauben oder Tomaten. Am Ende der Geschichte mag in einigen Fällen weißes Pul-

ver stehen. Schmuggel, Korruption, Sucht, Mord, Milliarden. Ein blutiges Geschäft. Nachtschwärmer und Manager zwischen Moskau und Manhattan ziehen sich den Stoff in die Nase. Sie bezahlen dafür Summen, von denen diese Menschen am Anfang der Geschichte nur träumen können. Für sie ist Koka eine harmlose, gesegnete, gesunde und preiswerte Frucht. Meistens. Albertina Torres und ihr Mann Valerio Illanes sind zwei von Zehntausenden legalen Cocaleros, Kokabauern. Sie besitzen 3000 Quadratmeter. Eine ordentliche Ernte füllt ihnen drei Säcke à 50 Pfund, in den besten Jahren wird viermal geerntet, getrocknet, verkauft. „Nur zum Kauen“, versichert Illanes. Zurzeit kriegen sie für das Pfund Koka auf dem Markt 25 bis 35 Bolivianos, macht umgerechnet allenfalls 2500 Euro im Jahr. Mit Kokain wäre ein Vielfaches zu verdienen, Aber das Wort cocaina sprechen sie nicht mal aus. Den Begriff Coca kannten die Bewohner der Yungas schon vor den Inkas. Es ist das heilige Produkt von Pachamama, der Mutter Erde. Ein Zentrum der andinen Kultur und Religion. Seit Jahrtausenden wird auf diesen Terrassenplantagen erythroxylum coca gesät. Vermengt mit Speichel und Kalk oder Kalium setzen die Blätter im Mund ein Alkaloid frei, das Hunger betäubt, Erschöpfung lähmt, leicht berauscht. „Koka gibt uns Kraft bei der Arbeit“, berichtet Albertina Torres. Es helfe gegen Magenschmerzen, Entzündungen, Höhenkrankheit. Koka-Tee schätzen auch Touristen aus dem Flachland, wenn ihnen am Titicaca-See die Luft zu dünn wird. Die Wirkung nützten bereits die spanischen Eroberer. Sie ließen ihre Arbeiter in den Silberminen von Potosí Koka kauen, um sie gefügig und zäh zu halten – das Doping der Kolonialzeit. Die Spanier holten Sklaven aus Afrika auf die Koka-Äcker der Yungas, bis heute leben dunkelhäutige Afrobolivianer in den Dörfern. Erst hellhäutige Hexenköche aus der Wohlstandswelt verwandelten das Kraut der Götter in das Gift der Zivilisation. Sie filterten das Kokain mit chemischen Prozes-

sen aus dem Kokablatt, der Gehalt beträgt weniger als ein Prozent. Um den Blättern dieses Alkaloid zu entziehen, wird mit unappetitlichen Substanzen wie Diesel und Ammoniak gearbeitet. Die Kokablätter werden in Giftküchen im tropischen Chiapare oder im Armenviertel von La Paz zu einer Paste gestampft, aus der das weiße Pulver gewonnen wird, nach dem die Konsumenten in Europa oder den USA gieren. Die Mörderarmeen, die die Drogenkartelle mit der Abwicklung des Transports zu den Gringos beschäftigen, sind zu einer Existenzbedrohung für Transitstaaten wie Mexiko geworden – weit weg von den Yungas. Am Ende stehen die Partydroge Koks und billiges Crack. Die USA verboten den privaten Gebrauch von Kokain – und Koka gleich dazu, obwohl ihr Nationalgetränk Coca-Cola heißt. In den Anfängen war die

Brause mit Spuren von Kokain versetzt, später nur noch mit den ätherischen Ölen der Pflanze, Einzelheiten sind geheim. Die Amerikaner hätten Koka geächtet, sagt Bauer Valerio Illanes. Er meint Washingtons zwielichtige Antidrogen-Einheit DEA. Bolivien ist nach Kolumbien und Peru der drittgrößte Koka-Produzent. Hier ist Koka in Reinform gestattet und wird sogar gefördert. In Bolivien darf Koka gekaut werden, was die UN-Konvention von 1961 eigentlich verbietet. Zunächst waren 12 000 Hektar zu traditionellen Zwecken zugelassen, Präsident Evo Morales will 20 000 Hektar freigeben. Das beste Ergebnis liefern Böden der Yungas, süßlich und klein. Morales flog mit Kostproben aus Coroico zur UN-Drogenkonferenz nach Wien, hob die Blättchen in die Höhe und zeigte, was man daraus machen kann. Tee, Bon-

bons, Likör, Arznei, Marmelade, Shampoo. In Koka stecken Vitamine, Kalzium, Proteine, Eisen. „Das Verbot ist ein historischer Fehler“, sagt der erste indianische Staatschef der indigen geprägten Republik. „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dieses Blatt der Gesundheit schadet.“ Morales vom Anden-Volk der Aymara war früher selbst Cocalero und leitet immer noch die Koka-Gewerkschaft der tropischen Provinz Chapare. Koka ja, Kokain nein, lautet das Motto seiner Regierung. Jeder in Bolivien weiß aber, dass Tonnen Koka aus Chapare und so manche Ladung der Yungas auch den Kreislauf der Dealer speist. Täglich machen Nachrichten ausgehobener Labore oder korrupter Polizisten die Runde. 2010 zeigten Satellitenbilder 31 000 Hektar Koka in Bolivien, 19 000 zu viel, offiziell wurden 11 000 Hektar vernich-

Eine Bauernfamilie mit ihrer Kokaernte im Heimatdorf von Boliviens Präsident Evo Morales.

FOTO: MARC BECKMANN / AGENTUR FOCUS

tet. Man erzählt sich, mancherorts werde vor lauter Koka das Obst knapp. So viel Koka, wie da teilweise wachse, passe gar nicht in die Münder aller Bolivianer, sagt einer in Coroico. Aber die großen Gewinne machten andere. Die Dealer, nicht die Bauern. Im Viertel La Fatima von La Paz steht der Mercado de la Coca, ein grünlicher Zweckbau, es ist einer der weltgrößten Kokamärkte. Dorthin liefert auch Albertina Torres ihre Ware. „Koka ist Leben“, ist das Motto der Bauern-Vereinigung Adepco-

Ein Arzt sagt, Alkoholismus sei die schlimmere Seuche ca. Jede Lage der Yungas hat wie ein Weingut ihre Halle, in denen Säcke gefüllt, gewogen und markiert werden für die Versendung. Es riecht nach frischem Gras, viele Händler sind Ureinwohner. Der Koka-Gewerkschafter Hernán Quenallata redet erst wenig, Fremde erregen hier Misstrauen. Dann kommt er in Fahrt. „Koka wird verteufelt, aber wir verteidigen es. Koka ist Medizin und Tradition. Wir kontrollieren uns selbst. Wir haben nichts anderes. Zitrusfrüchte blühen einmal im Jahr, Kokapflanzen drei- bis viermal.“ Gekaut wird eine Menge in Bolivien, der Konsum steigt in allen Schichten. Zu Recht, findet der Psychiater Jorge Hurtado, er empfängt Besucher im Dienstzimmer einer Klinik von La Paz. Kokablätter wirkten „wie starker Kaffee“. Man solle sich mal vorstellen, Kaffee zu verbieten, da breche die Weltwirtschaft zusammen. Doktor Hurtado regt sogar an, Kokainsüchtige mit Kokablättern zu behandeln. Einen Kokainrausch nennt er „chemischen Orgasmus“, die richtige Dosis unbehandelter Kokablätter wirke wie eine Art Entziehungskur. Der Koka-Forscher erinnert an die medizinische Bedeutung von Kokain als Narkosemittel. Alkoholismus sei die schlimmere Seuche. Seit 30 Jahren wirbt er für Koka, in der Altstadt von La Paz hat Hurtado ein Koka-Museum eingerichtet. Dort rät ein Schild: „Iss Koka. Jedes verspeiste Blatt ist eines weniger für den Drogenhandel.“


ITIK

HF2

Süchtig sind die anderen

aaten wanken lässt

Wo der Stoff ankommt: ein Besuch bei Koksern in Berlin VON THERESA BREUER

Opiumproduktion in Afghanistan, 1998 – 2011 Angaben in Tonnen

8200

7700 6900

6100 4565

Zentralasien

3276

2693

3400

3600

2002

2003

4200

4100

2004

2005

5800 3600

185

AFGHANISTAN

CHINA

1998

2000

2001

Der Anbau von Schlafmohn gehört zu den wichtigsten Ertragszweigen Afghanistans. Die Opiumproduktion ist dabei kein neues Phänomen am Hindukusch: Bereits im 18. Jahrhundert wurde die Mohnpflanze mit den dicken Kapseln angebaut, aus deren getrocknetem Saft sich relativ einfach Heroin herstellen lässt. Als in den 1980er Jahren die türkischen, pakistanischen und iranischen Betäubungsmittelgesetze verschärft werden, erreicht die afghanische Opiumproduktion einen ersten Höhepunkt. Vor allem in den letzten Jahren der Sowjetregierung und während der Periode der Warlords entwickelt sich Opium zur Alternativwährung für den Waffenkauf. Auch unter den Taliban floriert das Geschäft und finanziert ihre Pläne: Im Jahr 1999 wird die bis dato höchste Produktionsmenge gemessen. Bis 2001 kommt die Produktion fast zum Erliegen, offiziell weil die die Taliban im Juli 2000 aus religiösen Gründen ein Mohnanbauverbot erlassen haben. Tatsächlich war

PAKISTAN INDIEN

1999

MYANMAR

Südostasien

2006

2007

2008

2009

2010

2011

aber auch der Weltmarktpreis durch die Überproduktion stark gefallen und die Taliban könnten markregulierend eingegriffen haben. Mit dem Einsatz der Amerikaner gegen die Taliban nach den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001 erlischt der Opium-Bann. Der Handel floriert stärker denn je. Gleichzeitig verschiebt sich der internationale Fokus von Drogen- auf Terrorismusbekämpfung. Die Anbauzahlen klettern in den folgenden Jahren auf einen Höchststand – unter den Augen der afghanischen Regierung von Hamid Karsai. Zwar stehen Opiumanbau und Handel unter Strafe, doch zu harte Maßnahmen würden das fragile Gleichgewicht im Land gefährden, heißt es bei Regierung und Amerikanern. Nur weil eine Pflanzenkrankheit fast die ganze Ernte vernichtet, rutschen die Produktionszahlen im Jahr 2010 auf die Hälfte des Vorjahres. Inzwischen beliefert Afghanistan 90 Prozent des Weltmarktes mit Opium. EHR

Kokainproduktion im Andenraum 1998 – 2010 Angaben in Tonnen

Ozeanien

825

1998

roinhandel

US-$

925

1999

1048 879

827

800

2000

2001

2002

1020

1034

1024

859

865

2003

2004

2005

2006

2007

842

788

2008 2009

2010

Heroin

1421 $

1 kg Heroin

Afghanistan Zwischenhändler

2427 $

3656 $

8134 $

32 519 $

1 kg

1 kg

1 kg

1 kg

Pakistan Zwischenhändler

Türkei Zwischenhändler

Deutschland Zwischenhändler

48 000 $ 1 kg

(Reinheitsgrad* 11%) Deutschland Dealer

Deutschland Konsument SZ-Grafik: Julia Kraus, Recherche: Sarah Ehrmann, Quelle: UNODC

Ein verlorener Krieg Immer mehr Länder fordern die Freigabe von Drogen Wenn der Vorstoß gelingt, dann macht Uruguay bald Revolution. Bislang gediehen in der kleinen Republik in Südamerika hauptsächlich Kühe und Weizen, künftig will die linke Regierung in Montevideo Marihuana produzieren und verkaufen. Der Staat soll das Monopol übernehmen. Kürzlich brachte Präsident José Mujica den Gesetzentwurf ein, das Parlament muss entscheiden. Das Projekt ist selbst für den Betreiber ungewöhnlich, obwohl der kauzige Politiker in 78 Lebensjahren viel erlebt hat. Mujica war Guerillero, landete im Kerker der Diktatur. Jetzt versucht er, den Schwarzmarkt und die Macht der Dealer zu brechen. „Einer muss anfangen“, sagt Mujica, „weil wir den Kampf gegen die Drogen und das Verbrechen verlieren.“ Vor allem Lateinamerikaner spüren das täglich. Vor 40 Jahren eröffnete der damalige US-Präsident Richard Nixon die Schlacht gegen den Rauschgifthandel, weil die amerikanischen Soldaten in Vietnam drogensüchtig geworden waren. Seitdem ist alles nur schlimmer geworden. Die Toten werden immer mehr, die Kartelle sind mächtiger denn je. Sie könnten ganze Länder praktisch kaufen, sagte Costa Ricas Präsidentin Laura Chinchilla. Ihre Gewinne überstiegen das Bruttosozialprodukt kleiner Länder. Sie verdienen Milliarden mit Kokain, mit Heroin, Marihuana, Pillen. Sie erweitern ihre Gewinne mit Menschenhandel, Prostitution, Piraterie. Sie waschen ihr Vermögen in Banken, Firmen, Immobilien. Sie morden und bestechen. Plata o plomo, Geld oder Kugel, heißt die Lebensregel in Mexiko und Mittelamerika. Der Konsum ging nie zurück. Auch in Produzentenländern wie Kolumbien, Peru oder Mexiko wächst die Zahl der Konsumenten. Allein in Mexiko starben 60 000 Menschen, seit Präsident Felipe Calderón 2006 die Armee ins Gefecht schickte. Sogar das kleine Uruguay spürt, wie die Gewalt steigt. Das Verbot schaffe mehr Pro-

bleme als die Droge, hat die uruguayische Führung erkannt und will gegensteuern. Wer über 18 Jahre alt und registriert ist, der darf nach den Plänen monatlich 40 Dosen Cannabis kaufen, insgesamt 30 Gramm. Den Erlös will das Kabinett Mujica in Aufklärung und Gesundheitsversorgung stecken. Der Umsatz der uruguayischen Mafia wird auf jährlich 75 Millionen Dollar geschätzt. Kritiker lehnen den Vorstoß als unrealistisch ab, die Initiatoren finden jedoch viel Beifall. Der Konsum von Marihuana, kleiner Mengen Kokain und anderer Drogen wird in mehreren Ländern längst geduldet. Laut einer Studie gingen Sucht und Todesfälle zurück, seit in Portugal die Strafen für Drogenbesitz abgeschafft und durch Therapien ersetzt wurden. Vor allem in Lateinamerikas Mordzonen werden Initiativen wie diese wohlwollend betrachtet. Die Führung in Guatemala setzt sich für eine Legalisierung ein. Ehemalige Staatschefs aus Brasilien, Kolumbien und Mexiko halten eine teilweise Freigabe ebenfalls für das kleinere Übel. Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa warnt, wenn es so weitergehe mit dem Drogenkrieg, dann sei die Demokratie in Gefahr. Der Regisseur Oliver Stone fordert: „Die Entkriminalisierung ist der einzige Weg.“ Seine Heimat allerdings, der wichtigste Spieler im großen Spiel, lehnt die Wende ab. Legalize it? Niemals! „Die Legalisierung von Drogen ist nicht die Antwort“, sagte US-Präsident Barack Obama beim Amerika-Gipfel im kolumbianischen Cartagena, als ihn seine südamerikanischen Kollegen zur Debatte über das Thema zwangen. Weder die schlechte Erfahrung mit der Alkohol-Prohibition der Zwanzigerjahre ändert die Sturheit noch die Tatsache, dass US-Gefängnisse mit Kleindealern gefüllt sind. Man darf in den USA Maschinengewehre kaufen, mit ihnen morden die Kartelle südlich des Rio Grande. Aber man darf keinen Joint rauchen. PETER BURGHARDT

6/7

Berlin – Wenn Jakob R. neuen Stoff braucht, dann fährt er nicht etwa zu einem Plattenbau in der Vorstadt, sondern ins bürgerliche Berlin-Mitte zu Dora W., Dreizimmerwohnung, Altbau. Sie begrüßt ihn mit der immer gleichen Frage: „Was darf’s denn sein, Premium oder Klassik?“ „Premium bitte“, antwortet er. Dora W. öffnet eine Blechdose, in der laut Etikett einmal Mozart-Kugeln waren, und holt einen weißen Klumpen heraus. Mit Hammer und Meißel zerkleinert sie ihn und legt das Pulver auf eine Waage. „Guck mal“, sagt sie, während sie ihrem Kunden die blaue Digitalanzeige präsentiert, „genau ein Gramm“. Der Mann legt lächelnd 80 Euro auf den Tisch. Dora W.* ist 71 Jahre alt. In ihrer Wohnung stehen Bücherregale und alte Holzmöbel, eine antike Truhe. Dazwischen versteckt sie zurzeit 15 Gramm Kokain, 110 Gramm Gras und 400 Gramm Haschisch. Meist bleibt Jakob eine Weile, die Transaktion strahl nichts Anrüchiges aus, eher etwas von einem Treffen zum Nachmittagstee. Sie reden dann über Reisen und Literatur. „Was liest du denn da gerade?“ fragt Jakob R. und deutet auf ein Buch, das auf dem Tisch liegt. „Die Sagen des klassischen Altertums“, entgegnet sie. „Moderne Literatur interessiert mich nicht.“

Die Konsumenten unterschätzen die enorme psychische Abhängigkeit Dora W. dealt seit mehr als 20 Jahren. Zu ihren Kunden zählen Professoren, Ärzte, Filmpreisträger: „Ich verkaufe nur an anständige Leute, nie an Süchtige“, sagt sie. Jakob R. geht im Schnitt zweimal im Monat zu Dora W., um Kokain zu kaufen. Damit ist er einer von mehr als 400 000: So viele Deutsche haben im Jahr 2010 Koks konsumiert. Das zumindest besagt der aktuelle Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die Zahlen basieren auf Umfragen. Genaue Erhebungen über Alter, Geschlecht und Einkommen von Kokainnutzern gibt es nicht. Experten gehen jedoch davon aus, dass sich der Kokskonsum inzwischen durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Dabei wird Kokain in der Regel von seinen Konsumenten verharmlost. Irena Wunsch, 48, arbeitet seit 20 Jahren mit Süchtigen, derzeit leitet sie die Drogenberatung der Landeshauptstadt München. Sie warnt vor dem Stoff, den sie zweifellos zu den harten Drogen zählt: „Kokain hat eine große psychische Suchtwirkung.“ Die Droge gebe ihren Nutzern das Gefühl, schön und stark zu sein. Nach Wunschs Erfahrung werden viele Konsumenten dann süchtig, wenn sie – im Job, in der Familie – Probleme bekommen, die sie mit ihrem Konsum kompensieren wollen. „Ich habe viele Menschen erlebt, die durch ihren Kokainkonsum alles verloren haben.“ Auch die körperlichen Folgen sind einschneidend: Kokain löst Euphorie, allgemeine Unruhe und Erregung aus, die Atmung rast, der Kokser beginnt zu hyperventilieren. Der Konsum schädigt das Gehirn und das Herz. Depressionen und Psychosen sind eine fast schon normale Konse-

quenz. Doch Jakob R. hat keine Angst, wie er betont. „Ich nehme seit 30 Jahren Drogen“, sagt er. „Meine Arbeit oder meine Beziehungen hat das nie beeinflusst“, behauptet er. Als freiberuflicher Projektmanager arbeitet er fast die Hälfte des Jahres im Ausland. Gerade ist er von einer längeren Reise zurück und freut sich darauf, wieder in einem Land zu sein, in dem man für Drogenbesitz nicht gehenkt wird. Jakob R. zerkleinert das Kokain und legt mithilfe einer goldenen Kreditkarte auf einem Spiegel zwei lines zurecht. Eine für sich, eine für Dora. Anschließend zieht Jakob einen 50-Euro-Schein aus seiner Tasche und rollt ihn zusammen, um durch ihn das Kokain zu ziehen. „Ach bitte, nimm nicht so einen dreckigen Geldschein“, tadelt ihn Dora und holt ein Metallrohr mit abgerundeten Enden aus einem Beutel. Den Rest des Gramms, in etwa so viel wie zwei zerkleinerte Aspirintabletten, packt Jakob R. in ein Plastiktütchen und nimmt es mit. Der nächste Kunde bei Dora W. ist Karl, er ist Anfang 40, Unternehmensberater mit Freundin und Kind. Unter der Woche berät er einen Konzern, der mehrere Milliarden Umsatz im Jahr macht. Dafür muss er vier Nächte pro Woche in gesichtslosen Hotels wohnen, Anzug tragen, Seriosität ausstrahlen. Am Wochenende tanzt er durch die Berliner Klubs. Einmal die Stunde sucht er sich dann eine Ablagefläche im Klo und zieht eine neue Line Koks. Die Wirkung lässt schnell nach. Jakob R. ist mit dem restlichen Kokain zu seinem Freund Hans gefahren. Auch Hans ist nicht oft in Berlin, er macht Immobiliengeschäfte in Osteuropa. Jakob und Hans sind seit vielen Jahren befreundet. In Hansens Wohnung braten sich die beiden Steaks, trinken Rotwein und diskutieren über den Präsidentschaftswahlkampf in den USA. Innerhalb der nächsten Stunden wird das weiße Häufchen auf dem Teller neben ihnen immer kleiner. Ihr Verhalten ändert sich kaum: zwei Männer, die angeregt miteinander reden. Dass sie Drogen genommen haben, merkt man nur daran, dass sie ständig die Nase hochziehen. Vielleicht bestellen sie sich nachts noch ein Gramm, wenn das erste ausgeht. Dann fahren sie nicht zu Dora W., sondern rufen ein „Taxi“, ein Auto, in dem ein Drogenkurier sitzt, Prinzip Pizzaservice: Man ruft eine Nummer an, und eine halbe Stunde später bringt der Kurier das Kokain vorbei. Warum ziehen sich Menschen Kokain durch die Nase? Jakob erinnert sich an seine Schulzeit, als Lehrer Drogennutzer immer als abhängige Verlierergestalten auf dem Bahnhofsklo darstellten, die Drogen nahmen, weil sie Probleme hatten. Zu denen glaubt er nicht zu gehören. „Als ich die ersten Nutzer kennenlernte, waren die lustig und sozial, und mir schien es nicht, als hätten die irgendwelche Probleme, die sie mit Drogen kompensieren wollen.“ Er begann selbst, Drogen zu nehmen. Natürlich kennen Jakob, Hans und Karl auch die anderen Fälle. Die Leute, die es nicht gepackt haben. Sie wurden erwischt, verloren ihre Jobs. Manche mussten in den Entzug, andere zogen aufs Land, zum Selbstschutz. Jakob R. glaubt, mit diesen Leuten nichts gemein zu haben. Er ist der Meinung, er selbst habe alles im Griff: „Wer’s nicht packt, soll’s halt lassen.“ *Alle Namen geändert

Der Mafia untertan Weil in Europa der Konsum steigt, wird Westafrika zum Umschlagplatz für lateinamerikanische Kartelle Nairobi – Es sieht ganz danach aus, als habe sich die Kokainmafia in Westafrika ihren eigenen Staat eingerichtet. Im April dieses Jahres putschte das Militär in GuineaBissau und verhinderte so den Wahlsieg des früheren Premierministers Carlos Gomes. Der hatte sich beim Volk dadurch beliebt gemacht, dass er ankündigte, verstärkt gegen den Drogenhandel zu kämpfen. Sechs Wochen nach dem Putsch gegen Gomes übergaben die Generäle auf internationalen Druck die Regierungsgeschäfte formal an einen zivilen Übergangspräsidenten und verkündeten, sich in die Kasernen zurückzuziehen. Von dort aus allerdings tun sie weiterhin das, was sie seit Langem tun: Erst kürzlich kritisierte der UNSicherheitsrat die „fortlaufende Einmischung des Militärs in die Politik“. Der Drogenhandel nehme stetig zu. Seit Langem ist das Militär von GuineaBissau dafür bekannt, dass es mit lateinamerikanischen Drogenkartellen kooperiert, die ihr Land als Umschlagplatz für Kokain zum Weitertransport nach Europa nutzen. Im Frühjahr 2010 titulierte die USRegierung die Chefs von Luftwaffe und Marine offiziell als „Hauptpersonen im internationalen Drogenhandel“ und fror ihre Konten in den USA ein. Guinea-Bissau ist das Beispiel für die Macht der Drogenmafia in Westafrika. Das Land gehört zu den kleinsten und ärmsten der Erde; auf dem Weltmarkt hat es wenig zu bieten außer Cashewnüssen. Durch einen derart teuren Stoff wie Kokain ist eine schwache Volkswirtschaft besonders verwundbar: Was ein Beamter an Schmiergeld für eine Schmuggelaktion kassieren kann, übersteigt ein ganzes Jahresgehalt. Guinea-Bissau, Guinea, Benin, Senegal: Eine ganze Reihe westafrikanischer Länder sind in den vergangenen Jahren zu Umschlagplätzen geworden. Nicht nur, dass die Region geografisch unmittelbar auf dem Weg liegt – auch die Bedingungen vor Ort könnten günstiger kaum sein: lange, kaum überwachte Küstenstreifen mit etlichen unbewohnten Inselchen, durchlässige Grenzen, schwache Staaten, Armut. Schätzungsweise 20 bis 40 Tonnen Kokain gelangen jährlich über Westafrika nach Europa. Das entspricht einem Markt-

wert von 800 Millionen bis 1,6 Milliarden Euro – mehr als das Bruttoinlandsprodukt mancher Staaten der Region. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon erklärte deshalb: „Drogenhandel wird immer mehr zur Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Afrika.“ Sein Vorgänger Kofi Annan warnte Anfang dieses Jahres, Westafrika habe im vergangenen Jahrzehnt zwar bemerkenswerte Fortschritte gemacht – wirtschaftlich, politisch und in der Eindämmung bewaffneter Konflikte. „Doch dieser Fortschritt wird immer mehr bedroht durch internationalen Drogenhandel und die kriminellen Netzwerke dahinter.“ Was den Handel über Westafrika befeuert, ist ein grundlegender Wandel in der weltweiten Nachfrage: In Nordamerika ist der Kokskonsum im vergangenen Jahrzehnt deutlich zurückgegangen, in Europa dagegen gestiegen. Im Jahr 1998 war laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) die Nachfrage nach Kokain in den USA viermal so hoch wie in Europa, inzwischen haben sich die Werte für die beiden Regionen angenähert. „Es ist ganz klar, dass jene kriminellen Organisationen, die Kokain in Lateinamerika produzieren, Europa zu ihrer neuen Priorität

Zunehmend kontrollieren Islamisten den Transport durch die Sahara gemacht haben“, erklärt Christophe Champin, Autor des französischsprachigen Buches „Schwarzes Afrika, weißes Pulver“. Mal kommt der Stoff per Flugzeug, mal per Schiff an der Küste an – oder er wird bereits auf dem Meer auf Fischerboote umgeladen. Dann wird er in kleineren Einheiten in Richtung Europa geschickt: in Schiffscontainern nach Spanien, Portugal oder in die Niederlande, im Handgepäck oder Verdauungstrakt von Kurieren auf Passagierflügen, über Land durch die Sahara oder von der Küste Nordafrikas mit Schnellbooten. Zum ersten Mal wurde 2004 offenkundig, dass die lateinamerikanischen Kartelle Westafrika als Drehscheibe entdeckt hat-

Der letzte Schritt vor dem Verkauf: Ein Dealer portioniert das Pulver. FOTO: REUTERS ten: Mehrere große Kokainladungen wurden beschlagnahmt. Auf Betreiben von Vereinten Nationen und Europäischer Union beschlossen die Regierungen der Region auf einer Konferenz im Oktober 2008 ein konsequenteres Vorgehen gegen das Problem. Seither ist die Menge des jährlich beschlagnahmten Kokains rückläufig. Doch das heißt nicht zwangsläufig, dass tatsächlich weniger Stoff gehandelt wird. Es dürfte vor allem bedeuten: Die Banden werden professioneller, verfeinern ihre Methoden, wählen verschlungenere Wege. Und die Behörden kommen nur langsam hinterher – sofern sie überhaupt ernsthaft an der Eindämmung des Schmuggels arbeiten und nicht selbst daran beteiligt sind. Zudem gibt es immer mehr Indizien dafür, dass jene islamistischen Gruppen, die derzeit den Norden Malis unter ihrer Kontrolle halten, von den Drogengeschäften profitieren. Wie viel Kokain durch Sahelzone und Sahara geschmuggelt wird, ist schwer zu ermitteln, doch es gibt Hinweise darauf, dass die Mengen nicht unerheblich sein dürften: Im November 2009 wurde in der Wüste von Mali das ausgebrannte

Wrack einer Boeing 727 aus Venezuela gefunden, die offenbar Kokain ins Land transportiert hatte. Die US-Regierung hat diesen Sommer begonnen, in Ghana Spezialeinheiten der Polizei für den Kampf gegen Drogenkartelle auszubilden; ähnliche Programme in anderen Ländern sollen folgen. Der Plan fügt sich in die neue „Strategie gegenüber Afrika südlich der Sahara“, die Präsident Barack Obama im Juni verkündet hatte. „Wir sehen Afrika als die neue Grenze hinsichtlich Terrorismus- und Drogenbekämpfung“, erklärt Jeffrey P. Breeden, Chef der Anti-Drogen-Behörde DEA für Europa, Asien und Afrika, der New York Times: „Wir sind dort schon in mancher Hinsicht hintendran und müssen aufholen.“ Auf die Verkündung der Strategie folgte eine Welle der Kritik: „Indem sie den Druck erhöhen, werden sie die Handelsrouten verschieben, aber den Fluss nicht stoppen“, sagte der Politologe Bruce Bagley, der seit Jahren die Antidrogen-Strategie der USA in Lateinamerika analysiert und dort genau das gleiche Muster sieht: Wenn der Handel in einer Region schwieriger wird, weicht er halt auf eine andere aus. Eine verheerende Nebenwirkung des Drogenschmuggels in Westafrika bestreitet allerdings keiner der Experten: Er führt dazu, dass immer mehr Menschen in den schwachen Staaten selbst süchtig werden. Die UNODC schätzt, dass mehr als ein Drittel des südamerikanischen Kokains, das in Westafrika ankommt, gar nicht erst in Richtung Europa weitertransportiert, sondern vor Ort konsumiert wird. Eine direkte Folge der Strategie der Kartelle: Die lokalen Zwischenhändler werden eher in Naturalien als in Devisen bezahlt – so bildet sich nach und nach ein neuer Absatzmarkt. Neben dem Kokain wird die Region für eine andere Klasse von Drogen zu einem immer wichtigeren Umschlagplatz: Synthetische Stoffe wie Metamphetamin und Ecstasy werden zunehmend von Westafrika nach Japan und Korea geschmuggelt – und ein immer größerer Teil davon stammt aus afrikanischer Produktion. Den Kartellen erwächst auf dem Weltmarkt offenbar eine selbstbewusste afrikanische Konkurrenz. TOBIAS ZICK


Nr. 167, Samstag/Sonntag, 21./22. Juli 2012

WOCHENENDE

Einmal im Leben Pinakothek, Flughafen, BND, Elbphilharmonie . . . Man könnte glauben, dass es in Deutschland nur noch Pfusch am Bau und Skandalprojekte gibt. Oder nur zu viel Empörungsbereitschaft VON GERHARD MATZIG

E

s war vor einer Woche, am Freitag, dem 13. – und man kann sagen: Die Münchner Zeitungen wurden diesem Datum gerecht. „Risse! Pinakothek der Moderne sechs Monate dicht“, so die Bild-Zeitung. Gleich daneben beschrieb Bild auch die tz einen Bauskandal, aber nicht den von der Pinakothek, sondern jenen vom Deutschen Theater in München: „Besuch im Millionengrab. Deutsches Theater wird immer teurer.“ Auch der Münchner Merkur entschied sich für den „Problemfall Deutsches Theater“ und titelte: „Umbau noch teurer“. Es stand also 2:1 für das Theater und gegen die Pinakothek, da glich die Abendzeitung wieder aus: „Die Millionen-Ruine“ – das galt der Pinakothek der Sanierung, Pardon, der Moderne. 2:2 also. Die SZ musste schließlich die Entscheidung herbeititeln und tat dies auch, naturgemäß auf bedächtige Weise: „Pinakothek muss schließen“. 3:2, Abpfiff, die Pinakothek schlägt das Theater im Kampf um den Münchner Pfusch-am-Bau-Titel. Aber das ist ja nur das aktuelle Derby: München gegen München. Interessanter ist die Frage, ob der seit Monaten und Jahren währende Bauskandal rund um den Berliner Großflughafen (FAZ: „Planungschaos und ausufernde Kosten“) den seit Monaten und Jahren währenden Bauskandal rund um die Hamburger Elbphilharmonie (Die Zeit: „Wie viel das Prestige-Projekt den Steuerzahler am Ende kosten wird . . . “) toppen kann. Oder wird sich der Stuttgarter Bahnhof durchsetzen? Dazu war jetzt im Stern zu lesen: „Der Krampf geht weiter – Der Bau kommt nicht voran, das Geld wird knapp . . . “. Für Berlin spricht allerdings, dass jetzt auch noch der Umbau des „Bikini-Hauses“, wie die B.Z. weiß, an der „Verspäteritis“ leidet. Die Baustelle wird es ein Jahr länger geben. Berlin, Hamburg, München, Stuttgart: Wer in Deutschland hat die übelste Baustelle, die korruptesten Bauunternehmer, die unfähigsten Architekten, die größenwahnsinnigsten Bauherrn, die ignorantesten Tragwerksplaner und die allerdümmste Bauaufsicht? Stuttgart dürfte am Ende vorn liegen. Für S 21 kann man noch viele, viele Jahre lang die typischen Satzteile der Bau-Empörung zusammenschrauben, also etwa: „ . . . geht es drunter und drüber“, „ . . . ansonsten tut sich auf der Baustelle wenig“, „ . . . noch völlig ungewiss ist“, „ . . . unangenehme Fragen stellen sich“. Diese Versatzstücke stammen aus dem Stern-Beitrag über S 21, sie können aber wie normierte Betonplatten und vorgefertigte Wandelemente auch für all die anderen Baustellen verwendet werden. Der Satzbau ist dem Hochbau manchmal gar nicht so unähnlich. Auch hier scheint man in den Redaktionsstuben der Effizienz in-

dustrieller Vorfertigung zu huldigen. Wie war das noch mal mit Kurt Tucholsky? „Nähme man den Zeitungen den Fettdruck – um wie viel stiller wäre es auf dieser Welt!“ Die Frage ist: Wären dann die Baustellen auch weniger verpfuscht? Weniger vermurkst? Weniger skandalös? Beziehungsweise: Hat Deutschland als Land der Technik und der Ingenieure tatsächlich das Bauen verlernt? Weltweit sind deutsche Planer tätig, um eine Fußballweltmeisterschaft in A gelingen zu lassen oder in B Städte für Hunderttausende aus dem Nichts zu realisieren. Deutsche Planungskultur ist ein Exportschlager. Ist das alles ein großer Irrtum? Werden wir in Wahrheit beherrscht von unfähigen Bauhandwerkern und liederlichen Planern? Ist das Bauen in Deutschland auf den Hund gekommen? Viele aktuelle Beispiele scheinen diese Annahme zu untermauern – doch ist auch diese Mauer bedroht vom Pfusch.

Man hat hierzulande gerade das Gefühl, in einem Film von Roland Emmerich zu leben Denn es ist eher das empörungsritualisierte, meist fachunkundige, skandalsüchtige Gerede über das hochkomplexe Bauen der Gegenwart, das so seltsam wacklig und ruinenhaft anmutet. Und je genauer man hinschaut, desto eher sieht man die Mängel der öffentlichen Wahrnehmung vom zeitgenössischen Bauen. Ein Kartenhaus ist ein unkaputtbarer Betonbunker gegen die Fragilität und schwebende Ahnungslosigkeit von so manchem empörungsbereiten Kommentar. Und das gilt nicht nur für die sogenannten Prestigebauten. Es gilt auch für die Bücherstapel. Es gilt auch im Alltag. Ziehen wir zwei aktuelle Bücher heraus – heraus aus dem Alltag und aus dem Stapel. Matthias Kalle hat kürzlich das Buch „Normal hält das“ geschrieben, worin es sehr lustig und sehr lakonisch um den ganz gewöhnlichen Hausbau („und andere Katastrophen“) geht. Und natürlich auch um einen Bauleiter, „der es als seine Aufgabe ansieht, Schaden zu vermeiden, und es gibt für Bauleiter keinen größeren Schaden als den Wunsch des Bauherrn . . .“ So sind sie, die Bauleiter. Oder Julia Karnick und ihr neues Buch „Ich glaube, der Fliesenleger ist tot“. Untertitel: „Ein lustiges Baubuch“. Es geht darin um die Frage: „Mit welchen Katastrophen

muss man rechnen, wenn man sein Leben freiwillig in eine Baustelle verwandelt?“ Baustelle und Katastrophe: Das sind inzwischen anerkannte Synonyme in Deutschland, weshalb sich dazu nicht nur geifernde Leitartikel, sondern auch lustige, bisweilen sogar lustige und gleichzeitig kluge Geschichten (wie die genannten) schreiben lassen. Der Alltag spiegelt sich in den Katastrophenbaustellen und Baustellenkatastrophen ebenso wie das Besondere, also das Reihenmittelhaus ebenso wie die Elbphilharmonie, ein realer Konzern wie die Hochtief AG ebenso wie der fiktive Sanitärinstallateur Herr Tiedemann im „lustigen Baubuch“. Alles andere als lustig gemeint ist hingegen die „Pfuscher-am-Bau“-Internetseite, wo beispielsweise zu lesen ist: „Ich möchte auf diesem Wege weitere Bauherren vor diesem unseriösen Vertreter seiner Zunft warnen . . . “ Man hat in Deutschland derzeit das Gefühl, sich in einem Roland-EmmerichWeltende-Film zu befinden. Gut, wenn dann wenigstens ein kleines Sportflugzeug zur Hand ist, um sich vor den ineinander verkeilenden Kontinentalplatten, den berstenden Hochhäusern und bröselnden Brücken in Sicherheit zu bringen. Herr Tiedemann, Hochtief und die Apokalypse: Die hängen alle irgendwie zusammen. Kein Zweifel: Ja, es gibt skandalös scheiternde Bauprojekte, es gibt, und zwar seit es Baustellen gibt, „astronomische“ Kostensteigerungen (wofür sich auch der Satzbaustein von den „explodierenden“ Kosten anböte); und ja, es gibt auch unfähige

Interview Friedensforscher Johan Galtung: „Verrückt war Breivik nicht, jedenfalls nicht verrückter als unsere Regierung.“ R Letzte Seite

Planer und unfähige Ausführende. Es gibt auch kriminelle Energie am Bau, wie überall, wo es um Geld geht. Aber nein, es grassiert nicht der Pfusch am Bau. Im Gegenteil ist es so, dass es in der Geschichte der Baukultur noch nie so viel Komplexität und relativ dazu so wenig Pfusch am Bau gegeben hat wie heute; wobei es heute häufig um neue Materialien, neue Konstruktionsweisen, neue Fügetechniken und neues Baurecht geht; wobei die Anzahl der am Bau Beteiligten immer größer wird; wobei die Logistik und die Organisation der Baustellen immer komplizierter wird; wobei sich das Auseinanderdriften der Spezialgebiete beschleunigt, während die Haftungsfragen offen bleiben; wobei das Bauen immer billiger sein – aber immer teurer aussehen muss. Tatsächlich ist das Bauen heute besser als früher – als die Tempel der Antike oder die Kathedralen der Gotik reihenweise in sich zusammengekracht sind in ihrer typischen Trial-and-Error-Bauweise. Und noch im 19. Jahrhundert konnte man so krank werden in neuen und feuchten Häusern, wie sich das die Besucher der Internetseite „Strahlung-im-Haus“ vielleicht kaum vorstellen können. Das Bauen ist besser als sein Ruf. Schlechter ist dagegen die Rezeption des Bauens: Sie ist skandalsüchtig. Natürlich gibt es Skandale. Viele. Immer wieder. Es ist richtig, dass sie aufgedeckt und verteufelt werden. Aber es gibt auch ein massenweises Ressentiment gegen das Bauen, was nun dazu geführt hat, dass man sich von einstürzenden Neubauten, hochexplosiven Baukosten und uneinlösbaren Fristen umstellt fühlt.

Wir sehen das Besondere, wo in Wirklichkeit das Normale ist. Skandal! Neu ist nichts daran. Als zu den Olympischen Spielen in München, also vor genau 40 Jahren, ein kleines, damals kaum bekanntes Architekturbüro, das von Günter Behnisch, den Zuschlag zum Bau des Olympiaparks und seiner zeltartigen Stadionbauten erhielt, wusste niemand (!) mit Sicherheit vorherzusagen, wie teuer das Projekt würde (es wurde viele hundert Prozent teurer), ob es überhaupt funktionieren würde (es funktioniert immer noch, was manchmal selbst die Planer erstaunt) – und ob man rechtzeitig fertig werden würde. Man wurde fertig. Alles hätte aber auch anders laufen können. Das Olympiastadion, heute eines der Weltwahrzeichen, war ein gewaltiges Wagnis. Wie auch die Tempel der Antike und die Kathedralen der Go-

tik ein Wagnis waren. Wie auch die Tieferlegung eines Bahnhofes und ein neuer Flughafen eben genau davon begleitet werden: vom Wagnis, vom Risiko, vom Mut, von der Überforderung, manchmal sogar von der Vision. Aber wer so was hat, soll ja zum Arzt gehen. Bauen ohne Risiko (was die Bauzeit, was die Baukosten, was das funktionale Ergebnis betrifft): Das gibt es nicht einmal im Bereich eines 130-Quadratmeter-Einfamilienhäuschens, weshalb zum Beispiel der Architekt nach geltendem Recht für die Baukosten nur angenähert haftbar zu machen ist – 30 Prozent hin oder her. Und kein seriöser Bauunternehmer wird einem garantieren, dass man am Tag x einziehen kann. Er wird immer sagen, dies strebe man an. Was aber, wenn das Wetter nicht mitspielt, wenn im Erdreich irgendetwas gefunden wird, was da nicht hingehört, wenn der

ILLUSTRATION: OLIVER WEISS

DEFGH

Baustahl in wenigen Monaten um 20 Prozent auf dem Weltmarkt teurer wird, weil die Chinesen mal eben die Hälfte davon zusammengekauft haben? Was, wenn der sympathisch kleine, besonders günstige Sanitärhändler Pleite macht – aus irgendwelchen Gründen? Seit der legendären TV-Serie der 1970erJahre über die bauende Familie Semmeling („Einmal im Leben“) weiß man, dass alles schlecht, vieles schlecht und nur manchmal alles gut laufen kann am Bau. Mit Pfusch und Murks und krimineller Energie kann das zu tun haben, es kann aber auch einfach im Bereich des völlig normalen Baurisikos liegen. Und genau das will die angstbesessene Absicherungsgesellschaft der Gegenwart nicht wahrhaben. Das ist ein Grund für die Misere der Wahrnehmung, die das Besondere („Skandal!“) dort sieht, wo in Wirklichkeit das Normale zu sehen ist: eine Baustelle mit ungewissem Ausgang. Ein weiterer Grund liegt in der Feigheit der Politik. Richtig wäre es beispielsweise zu sagen: „Das kostet mindestens vierhundert Millionen Euro. Wenn nicht mehr.“ Aber zu hören ist dann bestimmt: „Vierhundert. Und keinen Cent mehr. Das verspreche ich.“ Richtig wäre beispielsweise: „Vielleicht bis zum Sommer 2013 – könnte aber auch später werden.“ Zu hören ist: „Am 1. Juli 2013 (denn dann will ich frisch gefönt, ganz stolzer Bauherr, das nagelneue Bauwerk einweihen).“ Anders seien große Bauprojekte, wie es so oft heißt, „nicht mehr zu vermitteln“. Daher die Lügen. Und dann die Aufklärung. Ein idiotischer Reigen. Wenn Ambition nicht mehr zu vermitteln ist, sollte man gewisse Baustellen ganz meiden. Ein Leben in einem Land voller preisstabiler Fertigteilgaragen kann auch sehr schön sein. Nur die fetten Schlagzeilen würden uns fehlen.

INHALT Die große Alleinsamkeit Ein Plädoyer für die Zweisamkeit in sehr singlehaften Zeiten. Von Michael Winter.

3

Kein halber Tropfen Deutschlands originellster Wein ist vom Aussterben bedroht. Von Stephan Reinhardt.

4

Das Fußvolk Über das manchmal etwas demütigende Leben als Statist beim Film. Von Sarah Khan.

5

Drei Tage in Abbazia Wie der Autor mal mit Thomas Bernhard dessen neues Buch lektorierte. Von Jochen Jung.

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