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Nachhaltigkeit ist ein Marathonlauf

Wie legt ein Investor nachhaltig an? Birgit Hattenkofer und Sasha Cisar diskutieren über die Label-Frage, die Erneuerungsquote, die letzte Ölheizung und Upcycling im Bau.

Interview: Andres Herzog

Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Was hat sich im Immobilienbereich diesbezüglich in den letzten zehn Jahren verändert?

Birgit Hattenkofer: Der Begriff der Nachhaltigkeit wird so inflationär verwendet, dass er fast zum Unwort wurde. Bei der Pensimo ergibt sich das Thema aus der Aufgabe heraus: Weil wir Pensionskassengelder in Immobilien anlegen, denken wir langfristig. Nicht wenige Immobilienhändler und Entwickler interessieren sich nur für die kurzfristige Rendite. Bei den Nachhaltigkeits-Labels gab es einen Peak. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese Labels für typische Wohnungsmieter – im Unterschied zu Stockwerkeigentümerinnen – keine grosse Rolle spielen. Deshalb glaube ich nicht, dass sich die Situation im Gesamtmarkt verbessert hat. Sasha Cisar: Das würde ich so nicht unterschreiben. In den letzten zehn Jahren wurden die Energiegesetze, Labels und Anforderungen verschärft, siehe etwa die Totalrevision des CO²-Gesetzes. Der ‹Standard nachhaltiges Bauen Schweiz› (SNBS) hat definiert, was nachhaltiges Bauen überhaupt ist. Und die ESG-Kriterien aus der Finanzwirtschaft (Environmental, Social and Governance) werden mittlerweile auch bei Immobilien angewandt.

Inwiefern ist die soziale Nachhaltigkeit ein Thema für Investorinnen?

Sasha Cisar: Wir bemühen uns, die verschiedenen Anspruchsgruppen miteinzubeziehen. Letztlich geht es darum, dass die Mieterschaft langfristig bleibt und damit die Investition sichert. Birgit Hattenkofer: Wir versuchen immer wieder deutlich zu machen, dass guter Städtebau und gute Architektur nachhaltig sind. Es ist nicht egal, wie etwas aussieht.

Alle schreiben sich Nachhaltigkeit auf die Fahne. Wie kontrolliere und garantiere ich sie als Investor?

Sasha Cisar: Die beste Methode gibt es nicht. Im Unterschied zum Aktienbereich fehlen bei den Immobilien gute Datenquellen. Aber die Branche bewegt sich und erarbeitet gemeinschaftlich entsprechende Tools. Es gibt viele Initiativen, vom Umweltprogramm der Uno bis zur Arbeitsgruppe für nachhaltige Immobilien, die letztes Jahr in der Schweiz gegründet wurde. Zudem entwickeln sich die Gebäudelabels weiter, die schon viele Anforderungen an nachhaltige Immobilien definieren und abdecken. Oder man erstellt – wie wir – eigene Bewertungstools.

Sollen sich Investorinnen auf Labels verlassen?

Birgit Hattenkofer: Wir zertifizieren unsere Bauten in der Regel nicht. Das wäre für unser Zielpublikum quasi eine unnötige Marketingmassnahme. Das Geld für die Zertifizierung geben wir lieber für etwas aus, das den Mietern direkt zugutekommt. Zertifikate können einer unerfahrenen Bauherrschaft helfen, damit sie keine Fehler macht. Wir aber haben genügend Kompetenz als Besteller. Zudem können Zertifikate einschränken. Wir setzen wenn möglich auf Lowtech und verbauen keine kontrollierten Lüftungen, die viele Labels vorschreiben. Sasha Cisar: Diese Vorbehalte höre ich immer wieder. Doch die Kosten für eine Zertifizierung sind im Vergleich zu den Investitionskosten marginal. Labels wie der SNBS oder das deutsche Äquivalent DGNB sind sehr mächtig und decken viele Nachhaltigkeitsthemen ab. Umfassende Labels sind auch ein Instrument, um die Anforderungen und die Planung zu steuern. Die Zertifizierung ist das Tüpfelchen auf dem i. Vermehrt erwarten Investoren, dass man die Nachhaltigkeit belegen kann – und zwar unabhängig zertifiziert.

Welche Bedeutung hat die Klimakrise in der Immobilienwelt?

Birgit Hattenkofer: Die Pensimo hat einen CO²-Absenkpfad definiert bis 2050, mit einem Zwischenziel 2035. Die Umsetzung ist im Bestand allerdings nicht so einfach. Wir wissen noch nicht bei jedem Gebäude, wie viel Energie es aktuell verbraucht. Die Nebenkostenabrechnung hinkt ein bis zwei Jahre hinterher. Wir haben deshalb eine prädiktive Heizsteuerung eingeführt, die an den Wetterbericht gekoppelt ist und in Echtzeit Verbrauchsdaten liefert. Zudem identifizieren wir die grössten Umweltsünder, um dort anzusetzen. Sasha Cisar: Beim J.Safra Sarasin Asset Management haben wir das Klimaziel Netto-Null bis 2035 gesetzt. Das gilt für alle Anlagen inklusive Immobilien. Investorinnen sollten die Klimaziele voranstellen. Netto-Null bis spätestens 2050 muss das Ziel sein. Man sollte nicht auf vergangene Verbrauchswerte zurückblicken, sondern nach vorne schauen und sagen, wohin die Nachhaltigkeitsreise geht. Wichtig dabei ist, dass man die Treibhausgasemissionen auch jenseits der Betriebsphase der Gebäude über den ganzen Lebenszyklus betrachtet.

Wie wichtig ist die Politik, um dem Markt Beine zu machen?

Sasha Cisar: Es gibt freiwillige Initiativen, zum Beispiel die Net-Zero Asset Owner Alliance, die die Uno organisiert. Und es gibt viele regulatorische Entwicklungen in Richtung Klimaschutz. Die Schweiz hinkt hinterher, während die EU

Sasha Cisar (40) ist Nachhaltigkeitsanalyst bei der Bank J.Safra Sarasin und Mitglied des Ausschusses von deren Anlagestiftung ‹SAST Nachhaltig Immobilien Schweiz›. Der Architekt doktoriert an der ETH Zürich im Bereich nachhaltiges Bauen mit dem Fokus auf Klimaziele. Birgit Hattenkofer (51) leitet die Projektentwicklung der Pensimo Management, die Pensionskassengelder in Immobilien anlegt. Sie studierte Architektur an der TU München, Business Administration an der Hochschule St. Gallen und Vorderasiatische Archäologie.

Vollgas gibt. Das hat grosse Auswirkungen auf die Akteure in der Finanzwirtschaft und damit auch auf die Immobilien. Birgit Hattenkofer: Die Politik braucht Zeit, gerade in der Schweiz. Zudem ist die Planungs- und Baubranche eine der konservativsten überhaupt. Wir müssen aufpassen, dass wir die Branche nicht überfordern. Alles wird komplizierter, es braucht immer mehr Spezialisten. Gleichzeitig soll schneller gebaut werden, und es darf nicht teurer werden. Das geht nicht alles auf einmal. Sasha Cisar: Es ist wichtig, dass alle an Bord sind auf dieser Reise. Klar ist aber auch: Die Komplexität wird sich noch erhöhen. Die EU plant, jedes Jahr weitere Themen wie Klimaadaption oder Biodiversität auf die Agenda zu setzen. Da kommt noch einiges auf uns zu. Ich bin aber optimistisch. Man wird anders bauen. So kann man viele Ziele gleichzeitig erreichen, statt sie einzeln abzuarbeiten.

Die Schweiz ist gebaut. Wie macht eine Investorin ihr Portfolio klimafit?

Birgit Hattenkofer: Die Pensimo hat ein grosses und gemischtes Portfolio mit rund 450 Immobilien. Ein Teil steht also immer am Ende des Lebenszyklus. Man muss jedes Gebäude individuell betrachten. Wenn ich Grundwasser nutzen kann, ergibt es keinen Sinn, zwanzig Zentimeter Schaumstoff an die Fassade zu kleben. Sasha Cisar: Unser Klimaziel beinhaltet bei den Immobilienanlagen einen Dekarbonisierungspfad, der auf ein 1,5-Grad-Ziel und ein kohlenstoffneutrales Ergebnis bis 2035 ausgerichtet ist. Mit Massnahmen auf Gebäudeebene wie energetischen Sanierungen und erneuerbaren Energien ist das mit heutigen Technologien machbar.

«Zertifikate können unerfahrenen Bauherren helfen» Birgit Hattenkofer

Die Erneuerungsquote ist mit rund einem Prozent zu tief. Müsste man nicht mehr aufs Tempo drücken?

Birgit Hattenkofer: Wir haben vor einigen Jahren die letzte Ölheizung installiert. Deren Lebenserwartung beträgt zwanzig Jahre. Es wird also noch bis nach 2035 dauern, bis wir in keiner Liegenschaft mehr mit Öl heizen. Bei den Dreckschleudern versuchen wir, schon früher einzuwirken. Aber wir können nicht den ganzen Bestand von heute auf morgen sanieren. Nachhaltigkeit ist ein Marathonlauf. Sasha Cisar: Wenn es nicht anders geht, kann man zumindest ökologischen Strom einkaufen oder auf Biogas umstellen. Letztlich müssen wir alle fossilen Heizungen ersetzen.

Viele Investoren zögern, weil Nachhaltigkeit kostet. Erhält, wer umsichtig baut, weniger Rendite?

Birgit Hattenkofer: Nein, auf den gesamten Lebenszyklus betrachtet nicht. Die Erstellungskosten machen nur rund dreissig Prozent der Gesamtkosten aus. Zu wenig Beachtung finden zudem Gedanken der Suffizienz und des Upcyclings. Wir prüfen derzeit zusammen mit dem Baubüro in situ, inwiefern wir Bauteile wiederverwerten können.

«Es ist wichtig, dass alle an Bord sind auf dieser Reise» Sasha Cisar

Allerdings gibt es auf dem untersuchten Transformationsareal nicht genügend geeignete Fenster, Türen oder Wände. Zudem ist die Wiederverwendung nicht günstiger als ein Neubau. Und: Unsere Mieter müssen das wollen, denn der architektonische Ausdruck ist ein anderer. Sasha Cisar: Ich schätze die Experimente sehr, die ihr bei Pensimo macht. Auch die Stiftung Abendrot geht mit gutem Beispiel voran, etwa indem sie auf dem Sulzer-Areal die Ressourceneffizienz als Thema aufgenommen hat.

Die besten Energiezahlen nützen wenig, wenn die Menschen auf immer mehr Quadratmetern wohnen. Wie kann eine Investorin soziale Dichte anstreben?

Birgit Hattenkofer: Wir können den gesellschaftlichen Trend nicht beeinflussen oder Belegungsvorschriften machen, wie die Genossenschaften es tun. Aber wir können mit der Fläche sparsamer umgehen. Seit ein paar Jahren sinken die Wohnungsgrössen wieder. Aber sie sind immer noch immens. Man kann es sich eben leisten. Sasha Cisar: Das ist ein schwieriger Aspekt. Es gibt unterschiedliche Wohnformen und gewisse Nischen auf dem Markt, in denen Experimente möglich sind, wie sie etwa Genossenschaften in Zürich mit Hallen- oder Clusterwohnungen gemacht haben. Birgit Hattenkofer: Microliving geht in diese Richtung. Aber wo funktioniert das hierzulande? Die Schweiz ist nicht New York oder Tokio. Wir haben ein anderes Verständnis von Wohnen. ●

Orte schaffen – und den Spagat

Gestern Rebellin, heute Milliardenverwalterin – und morgen? Im steten Wachstum sinnvoll Geld anzulegen, ist auch für die Anlagepolitik der Stiftung Abendrot aktueller denn je.

Text: Palle Petersen

«Zwei Zimmer für höchstens 580 Franken mitten in der Stadt», sagt Hans-Ulrich Stauffer stolz. Der Gründervater der Stiftung Abendrot steht im Hinterhof der Basler Inselstrasse. Rund vierzig Bewohnerinnen teilen sich hier sechs Häuser und einen grossen Garten. Eine Arbeitsgruppe kümmert sich um den Gemüsegarten und den Pizzaofen, der an diesem sonnigen Herbsttag schon nachmittags brennt. Kathi vom ‹Inselverein› zeigt auf die von Pflanzen überwucherten Laubenbalkone und berichtet: «In den 29 2-Zimmer-Wohnungen leben vor allem Einzelpersonen und Paare. Eine Familie hat zwei Wohnungen durch eine Brandwand hindurch verbunden. Die meisten Mieter sind unter vierzig. Jedes Haus bestimmt selbst, wer einzieht, wenn eine Wohnung frei wird. Wie der Mietzins stammt auch der Komfort aus vergangenen Zeiten – Holzheizungen, Gemeinschaftstoiletten im Treppenhaus, Trittschalldämmung gleich null.»

Vor dem roten Eckhaus an der Strasse erzählt HansUlrich Stauffer die Räubergeschichte der Vereinssiedlung: «In den frühen 1990er-Jahren war die ganze Häuserzeile besetzt und zum Abriss freigegeben. Doch die Baufirma war in Schwierigkeiten, und die Bank, die ihre Hypothek gestellt hatte, ging selbst pleite. Unter Zeitdruck und mit der eigenwilligen Bewohnerschaft konnten wir die Häuser für 3,7 Millionen Franken kaufen – ein Bruchteil der hypothekarischen Belastung. So war das mit Ruedi Bachmann, der hörte das Gras wachsen.»

Selbst ist die Pensionskasse

Ruedi Bachmann ist eine linke Basler Koryphäe. In den 1970er-Jahren gründete er die Architektenkooperative Archico und mehrere Genossenschaften und initiierte in der Bärenfelserstrasse eine häuserübergreifende Gemeinschaft mit Wohnungen, Gewerbeateliers und Läden, aber ohne Parkplätze – die erste Wohnstrasse der Schweiz. Als das Pensionskassengesetz vor der Tür stand, mit dem die zweite Säule der Altersvorsorge obligatorisch wurde, versammelten sich einige kritische Baslerinnen in Bachmanns Beizli. Sie wussten: Investitionen haben Nebenwirkungen. Wer also Kapital auf die Suche nach Rendite schickt, sollte ihm auf die Finger schauen.

Anfangs dachte die lose Interessengemeinschaft noch nicht an eine eigene Pensionskasse. Doch keine etablierte Institution wollte belegen, wohin das ihr anvertraute Geld genau fliesst. Ausserdem bot keine neben der Witwen- auch eine Witwerrente an, geschweige denn eine finanzielle Absicherung für Alleinerziehende oder unverheiratete Paare. Wollten die kritischen Baslerinnen also eine transparente und gesellschaftlich progressive Pensionskasse, mussten sie diese erst selbst erfinden.

Gesagt, getan, getauft: Ende Oktober 1984 gründeten sie die Stiftung Abendrot. In der Gründungsurkunde verankerten sie «Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit» als Leitplanken ihrer Anlagepolitik. Die Geschäftsführung besorgte die 1981 gegründete Anwaltsgemeinschaft, die mit Einheitslohn, acht Ferienwochen und einem Maximalpensum von achtzig Stellenprozent ein Gegenmodell zu Karriere und Konsumismus war – Social Entrepreneurship avant la lettre. Eva Zumbrunn, die neben Gründervater Hans-Ulrich Stauffer die Mutterrolle bei Abendrot einnimmt und ebenfalls zur Anwaltsgemeinschaft gehörte, lächelt und sagt: «Wir haben natürlich viel mehr gearbeitet und wenig verdient. Die ersten zehn Jahre war die Stiftung Abendrot ein Zuschussbetrieb – aber ein spannender.»

Wachstum und Fokussierung

Als das Pensionskassenobligatorium zum Jahresbeginn 1985 in Kraft trat, waren kaum hundert Versicherte an Bord. Zu den angeschlossenen Betrieben gehörten das Frauenhaus Basel, die Wogeno Zürich, das Ökozentrum Langenbruck, der Unionsverlag Zürich oder Terre des hommes Schweiz. Anfangs investierte Abendrot das wenige Geld der wenigen Versicherten vor allem in Obligationen. Als die Zahl der Versicherten und das Anlagevermögen wuchsen, kaufte die Stiftung die ersten Immobilien. «Das gefiel uns», erzählt Eva Zumbrunn. «Bei Häusern weiss man, was man hat. Ausserdem konnten wir der Spekulation Lebensraum entziehen.» So kaufte Abendrot gemächlich Mehrfamilienhäuser, sanierte sie sanft und vermietete sie zu anständigen Zinsen – eine einfache und krisenfeste Anlagestrategie.

Heute zählt die Stiftung Abendrot mehr als 12000 Versicherte von mehr als tausend Firmen. In stetem Wachstum wurde aus der quasi nebenberuflichen Überzeugungstat ein Unternehmen mit drei Dutzend Mitarbeitenden, das mehr als zwei Milliarden Franken verwaltet, dreissig Prozent davon in Immobilien. Ob Abendrot die Inselstrasse heute noch kaufen würde und quasi unangetastet →

→ liesse? «Chancenlos», winkt Christian Geser ab. Der Architekt leitet seit 2017 die Immobilienabteilung der Stiftung und erzählt von einer Gründerzeitsiedlung mit Holzöfen, die ihm angeboten wurde: «Würden wir solche Objekte zu heutigen Preisen kaufen, müssten wir zu viel investieren, damit die Rendite stimmt. Allerdings konnten wir bei einer guten Lösung helfen: Wir unterstützten das Kaufangebot einer befreundeten Genossenschaft und gaben ihr eine Hypothek für den Kauf.»

Längst ist die Stiftung Abendrot zur mittelgrossen Arealentwicklerin geworden. Mit 120 Millionen Franken in laufenden Bauprojekten und 150 Millionen in gesicherten Investitionen für die nächsten Jahre steckt sie in einem starken Wachstum. Das zwingt zur Fokussierung. Kleine Bestandesliegenschaften kauft die Pensionskasse kaum mehr. «Nicht, weil die Werthaltigkeit nicht stimmt», stellt Christian Geser klar, «sondern weil der Aufwand für Unterhalts- und Sanierungsarbeiten unverhältnismässig gross ist. Mit grösseren Eigenentwicklungen können wir unsere Nachhaltigkeitsziele wirkungsvoller umsetzen.»

Nestlé und Nachhaltigkeit

Heute wie damals hält Abendrot keine Beteiligungen an börsenkotierten Immobilienfirmen, sondern investiert ausschliesslich direkt und kümmert sich via eine Tochterfirma auch um die Verwaltung. Bei Aktien sei das ähnlich, erklärt Enza Bögli, die seit 2017 zum geschäftsleitenden Trio gehört: «Wir investieren nur in speziellen Bereichen in Fonds, in der Regel lieber direkt in Aktien konkreter Firmen. Wir wollen wissen, was wir haben. Darum halten wir auch doppelt so viele Aktien von Schweizer Firmen wie von ausländischen. Da sind wir näher dran und trotzdem an ausländischen Umsätzen beteiligt.» Bei den meisten Schweizer Pensionskassen ist es genau andersherum. Und Abendrot fährt gut mit ihrer schweizlastigen Aktienstrategie: Mit durchschnittlich mehr als elf Prozent Rendite schlug sie in den letzten zehn Jahren den Gesamtmarkt siehe Infografik Seite 22.

Der Weg zum heutigen Aktienportfolio war freilich holprig und zögerlich. «Erst 1997, als Obligationen zunehmend unrentabel waren und die Immobilienkrise hereinbrach, investierten wir entschlossen», erinnert sich HansUlrich Stauffer. Nebst einer klassischen Finanzprüfung der Unternehmen etablierte die Stiftung damals Negativ- und Positivkriterien, die zwar laufend angepasst werden, aber im Grunde heute noch gelten. Tabu sind Firmen aus den Bereichen Rüstung, Atomenergie, Tabak oder Agrochemie. Pluspunkte gibt es für Weiterbildungs- und Mitsprachemöglichkeiten der Angestellten, Bemühungen um geschlossene Produktionskreisläufe oder Chancen- und Lohngleichheit der Geschlechter.

Als man 2004 mit der Frage rang, ob der Kauf von Nestlé-Aktien statthaft sei, endete man mit einem «Ja, aber» – sofern man die Aktionärsrechte aktiv wahrnehme und Probleme konstruktiv mit den entsprechenden Firmen diskutiere. Seither lässt sich Abendrot an den Generalversammlungen von der Stiftung Ethos vertreten. Abendrot half auch mit, die ‹Ethos Engagement Pools› zu gründen, die sich in In- und Ausland für die Förderung einer nachhaltigen Anlagetätigkeit einsetzen. Seit 2016 macht Abendrot zudem beim Verein ‹Fossil Free› mit und zieht systematisch Gelder ab, die dem Klima schaden. Die Konzernverantwortungsinitiative unterstützte sie schon während der Unterschriftensammlung. Und trotzdem: Löst Abendrot mit Aktien von Nestlé, Novartis und Apple ihren alten Grundsatz von «Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit» noch ein? Schafft sie den Spagat zwischen Renditeund Nachhaltigkeitszielen auch in Zukunft?

Offen für Menschen und Orte

Sicherlich haben Wachstum und Professionalisierung ihren Preis. Auch bei der Stiftung Abendrot wurden Entscheidungswege und Risikoabwägungen länger. Der Pragmatismus wuchs mit der Verantwortung – immerhin geht es um das Alterskapital von Tausenden Menschen. Letztlich ist Nachhaltigkeit relativ und für eine milliardenschwere Vorsorgeeinrichtung etwas anderes als für eine lokale Gemüsekooperative – zumal die Sammelstiftungen wachsen müssen, zumindest bis die Altersvorsorge reformiert ist. Patentrezepte und eine Definition, was eine nachhaltige Immobilienanlage ist, gibt es ohnehin nicht.

Angesprochen auf den Zielkonflikt von Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sagt Geschäftsleiterin Enza Bögli ohne zu zögern: «Die Rendite muss stimmen, das schulden wir unseren Rentnerinnen von heute und von morgen.» Und die zweite Priorität? Bögli und ihr Immobilienchef überlegen länger. «Mitten in der Klimakrise darf man das kaum sagen», meint Geser schliesslich zögerlich. «Aber ich glaube, die Menschen sind uns am Ende wichtiger als die Treibhausgase. Lebenswerte Räume für Kultur, zum Arbeiten und zum Wohnen, die eine Gesellschaft zusammenhalten – damit kann man mehr bewirken als mit einem anonymen Minergie-A-Haus voller Vielflieger.»

In der Tat sind die Areale von Abendrot keine Kraftwerke. Aber sie sind grau-energetisch vorbildlich und bunt durchmischt, voller Leben und Baugeschichte. Das ist kein Zufall: Mehr als die Hälfte der Projekte entstand über Architektinnen, die sich für Transformationsgebiete in ihrer Nähe engagierten und Investoren suchten, die nicht einfach alles abreissen und mit Wohnungen bebauen wollen. Die Stiftung Abendrot hat sich einen Namen damit gemacht, schwierige Orte gemeinsam mit den Menschen zu entwickeln, die dort sind. Solche gibt es noch genug, ob mit Besetzern und Holzöfen oder ohne. Abendrot ist bereit für die nächsten Räubergeschichten. Christian Geser: «Wer eine Partnerin für sinnvolle Projekte sucht: Unsere Türen sind offen.» ●

Seit 2017 leiten Nicole Valet, Enza Bögli und Stephan Bannwart die Geschicke der nachhaltigen Pensionskasse.

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