Sebastian Brändli
BILDUNG FÜR ALLE
100 Jahre Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik
Inhalt Heinrich Hanselmann und das «entwicklungsgehemmte Kind»
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KAPITEL 1 Zürcher Anfänge der Heilpädagogik und die Gründung des HPS
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Ein Zirkel interessierter Männer
14
Gründung des Verbandes und erste Versuche
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Finanzierung und das Verhältnis zu Staat und Hochschule
20
Eröffnung des Seminars
25
Die Generation der Gründer und ihre weltanschauliche Motivation
28
KAPITEL 2 Das HPS im Betrieb: ein Kurs, ein Seminarleiter – und ein Assistent
37
Eröffnung des Kurses und Studienplan
38
Ringen um die Kursdauer – und um die richtigen Studierenden
40
Sprechstunde und Beratung
43
Schulleitung und Sekretariat
45
Weltanschauung und Rolle der Politik
46
Landerziehungsheim Albisbrunn
50
Zusammenarbeit mit der Hochschule
52
Ein ewiges Thema: die Finanzen
55
Ehemalige
58
Assistenz und Vorbereitung der Leitungsnachfolge
61
Going international
66
Nachfolge als Systemfrage
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Kontinuierlicher Ausbau unter Seminarleiter Moor
68
Politische Herausforderungen in nationalsozialistischer Zeit
70
Übergangszeit
74
KAPITEL 3 Wachstum, Diversität und Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik
77
Das Wirken Fritz Schneebergers als Assistent
78
Neue Akzente und Aufbruch
82
Verhältnis zur Lehrerbildung
85
Verhältnis zur Universität
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Eine asymmetrische Beziehung bricht auf
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Strategiefindung des HPS – ohne Universität
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Ausbildungskonzeption 1972
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1968 und die Folgen
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Neues Verhältnis zur Universität
107
Wachstum, Finanzen und Trägerschaft
110
Nachwuchsfrage
112
KAPITEL 4 Der Hochschule entgegen
115
Trägerschaftsfragen und Führung
116
Kantonalisierung
119
Neue Trägerschaft – Seminarkommission
124
Suche nach einem neuen Rektor
129
Entwicklungsstau und Entwicklungsbedarf
132
Das HPS und die Fachhochschulinitiative
139
Einbiegen auf die Zielgerade
144
Neues Konkordat der Kantone und neue Räumlichkeiten
147
Eröffnung der Hochschule für Heilpädagogik
149
Unverhoffter Rektorwechsel
152
KAPITEL 5 Aufbau und Ausdifferenzierung des Hochschulbetriebs
155
Neuer Rektor, neue Themen
156
Arbeiten in der neuen Hochschulgovernance
156
Lehre und Studierende
161
Erweiterter Leistungsauftrag
162
Der neue Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen
165
Positionierung als Hochschule – Strategiefragen und Akkreditierung
166
Generationenwechsel
170
KAPITEL 6 Die Hochschule seit 2016
179
BARBARA FÄH:
Ein Neubeginn mit thematischer Ausrichtung
180
Ausbildungsgänge
182
Trägerschaft und ihre Herausforderungen
183
CLAUDIA ZIEHBRUNNER:
Optimales Lernen auch unter erschwerten Bedingungen ermöglichen und sichern
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DENNIS CHRISTIAN HÖVEL:
Für breite und nachhaltige Etablierung sozial-emotionalen Lernens
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CARLO WOLFISBERG:
Partizipation als roter Faden
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ANDREA LANFRANCHI, CHRISTOPH SUTER:
Professionelle und systemisch-institutionelle Fragen
191
ANKE SODOGE UND KAROLINE SAMMANN:
Kommunikative Partizipation unter erschwerten Bedingungen ermöglichen
193
ECKEHART MESSER:
Von der Verwaltung zu Finanzen & Services
195
ANHANG Liste der Behörden (Auswahl)
203
Quellen und Literatur
207
Bildnachweise
211
Abkürzungen
215
Namensregister
217
KÄSTEN UND SCHWERPUNKTE Johannes und Marie Hepp
16
Blinden- und Taubstummenfragen
17
Heinrich Hanselmann
20
Die Zürcher Erziehungsdirektion
22
Das Verhältnis der Heilpädagogik zur Medizin: Rivalität und Zusammenarbeit
48
Schnittstelle zur Praxis: Albisbrunn
51
Alfred Reinhart, Unternehmer und Philanthrop
53
Heilpädagogik und Pädagogik
56
Heilpädagogik und Eugenik
63
Martha Sidler
71
Paul Moor
73
«Anstaltserziehung»
75
Fritz Schneeberger
81
Diplome und Abschlüsse
93
Logopädie
94
Psychomotoriktherapie
97
«Ursula oder das unwerte Leben»
101
Antiautoritäre Erziehung
103
Von der Separation zu Integration und Inklusion
104
Früherziehung
109
Präsenzen und Absenzen
118
Finanzierung – vom privaten HPS zum Konkordat 1999
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Thomas Hagmann
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Von der individuellen zur systemischen Sicht
134
Die Fachhochschulentwicklung – der Weg zur HfH
140
Urs Strasser
157
Heilpädagogik und Bologna
159
Gleichstellung und Behindertenrechte
160
Gebärdensprachdolmetschen GSD
163
Professionalität und Professionalisierung
167
Neuer Finanzausgleich NFA
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Steckbriefe Ehemaliger
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Heinrich Hanselmann und das «entwicklungsgehemmte Kind» Das Heilpädagogische Seminar wurde in Zürich für Lehrkräfte errichtet, welche «entwicklungsgehemmte Kinder» unterrichteten sollten. Dieser Leitbegriff, den der Zürcher Pionier Heinrich Hanselmann zu Beginn seiner akademischen Karriere Mitte der 1920er-Jahre prägte, setzte sich mit der Zeit durch. Mit der Suche nach dem richtigen Begriff war die Frage nach dem Inhalt dessen verbunden, was als Heilpädagogik, später als Sonderpädagogik bezeichnet wurde: Welche Behinderungsformen bei Kindern sollten zum Gegenstand der entstehenden wissenschaftlichen Disziplin gezählt werden, welche nicht? Damit war auch die Frage gestellt, welche Massnahmen geeignet sind, die diagnostizierten Behinderungen – oder eben «Hemmungen» – zu heilen, ihre Folgen zu mildern, die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu betreuen, und welche Rolle bei diesen Bemühungen die Öffentlichkeit, vor allem der Staat im Rahmen der Schule, zu spielen hat.1 Die Sicht auf solchermassen «beeinträchtigtes Leben» war in der frühen Neuzeit mit Schwierigkeiten behaftet. Die christlichen Konfessionen halfen wenig bei der Erklärung, wie die Natur dazu kommen konnte, gewissen Menschen eine offensichtliche Benachteiligung vorzugeben. Gerade am Abnormen fand kritisch-wissenschaftliches Denken schon früh einen Gegenstand, der über den konfessionellen Glauben hinauswies. Der englische Philosoph und Naturforscher Francis Bacon sprach in seinem «Novum organum» (1620) von «Naturverirrungen oder fremdartigen und monströsen Objekten», er mass ihnen aber eine wichtige Funktion im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der Welt im Rahmen der Naturgeschichte bei.2 Ein wichtiger Schritt zur heilpädagogischen Auffassung, dass Beeinträchtigungen nicht einfach hingenommen werden sollten und dass betroffenen Kindern und Eltern bei der Bewältigung der entstehenden Herausforderungen geholfen werden kann, war die gemeinnützige Bewegung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden in der Schweiz einige gemeinnützige Gesellschaften (Zürcherische Hilfsgesellschaft 1801, Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 1810). Wie weit die Bereitschaft bürgerlicher Kreise ging, bei der Bekämpfung von Armut und Behinderung mitzuwirken, sei an einem Beispiel aus dem Raum Zürich illustriert. In der Bürgerlichen Gesellschaft Wollishofen meinte am 15. November 1809 Waisenrichter Heinrich Honegger, ein erfolgreicher Seidenfabrikant, «dass es vor die Gesellschaft schön wäre, wenn sie auch ein Beÿtrag an die Armen Blinden Anstalt machen würde. Einmüthig angenohmen, 24 Franken an das Institut zu übersenden (nemlich 16 Franken aus dem Fond und 8 Franken auf jedes Mitglied zu gleich vertheilt).»3
1 Vgl. etwa Hanselmann 1931. 2 Vgl. Bredekamp 2000, S. 65. 3 Zentralbibliothek Zürich. Ms Z III 240 (Protokoll Nro 2 der Lesegesellschaft in Wollishofen vom 22. Jener 1809 bis 30. Dec. 1826), S. 3. «Waisenrat Honegger»: Hans Heinrich Honegger (1773–1845), Industrieller und Philanthrop.
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Mit der Berufung von Thomas Scherr zum Leiter der Blinden- und Taubstummenanstalt 1825 bekannte sich auch das offizielle Zürich zum Einsatz zugunsten dieser Beeinträchtigten, es deutete sich damit auch eine Professionalisierung ihrer Betreuung an. Idealtypisch ist schliesslich das philanthropische Engagement des Winterthurer Kaufmanns Alfred Reinhart,4 der eine der treibenden Kräfte bei der Entstehung des Heilpädagogischen Seminars Zürich (HPS) und dessen bedeutendster Mäzen war. Besondere «heilpädagogische Klassen» für verhaltensauffällige und benachteiligte Kinder gab es in Zürich ungefähr seit 1900. Seither stellte sich die Frage nach der Ausbildung der Lehrkräfte, die diese Klassen unterrichteten. Das HPS war die Antwort auf diese Frage. Die Institution war im schweizerischen Rahmen ein Novum. Im Hinblick auf Verfassung und Trägerschaft bildete sie zudem ein Unikum, eines, das für das Schulwesen der Deutschschweizer Kantone unentbehrlich werden sollte. Hier gab es erstmals eine Institution, die sich mit der ganzen Breite von Behinderungen befasste und sich auf die Vermittlung der Qualifikationen für die Auseinandersetzung mit ihnen – meist als Weiterbildung für Lehrkräfte der Volksschule – spezialisierte. Das HPS war in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand von sonderpädagogischen und sozialgeschichtlichen Forschungen. Im Vordergrund stehen dabei die Dissertationen von Susanne Schriber und Carlo Wolfisberg, beide langjährige Mitarbeiter des HPS beziehungsweise der Hochschule für Heilpädagogik.5 Während sich die Arbeit von Schriber der Institution selbst zuwendet, behandelt Wolfisberg wissenschaftsgeschichtliche beziehungsweise wissenschaftspolitische Aspekte des Aufkommens der Heilpädagogik in der Schweiz, in deren Mitte das HPS steht. Forschungen zur Zürcher Heilpädagogik der letzten 50 Jahre sind rar und beziehen sich auf Teilaspekte, etwa Logopädie oder Psychomotoriktherapie in ihrer wissenschaftlichen und institutionellen Genese.6
4 Alfred Reinhart, 1873–1935, Winterthurer Unternehmer und Mäzen. Die jährliche Subvention Reinharts ans HPS war jeweils 5000 Franken. – In den Protokollen wird er auch Reinhard genannt. 5 Schriber 1974; Wolfisberg 2002. 6 Etwa: Tula Roy, Christoph Wirsing, Ursula Bänninger. Pioniere und historische Orte der Logopädie in Zürich. DVD. Zürich 2011; Suzanne Naville. Wege zur Psychomotoriktherapie. DVD. Zürich 2011.
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«BILDUNG FÜR ALLE» – der Titel der Schrift ist einer Sensibilisierungkampagne
der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik entlehnt. Es ist ein Titel, der wohl als Übersetzung des amerikanischen Slogans «No Child left behind» gelten kann. Die amerikanische Version ist allerdings noch stärker als die deutsche auf die spezifische Situation der Heilpädagogik bezogen. Die vorliegende Arbeit über 100 Jahre heilpädagogische Ausbildungen in Zürich porträtiert die Institution in ihrer wissenschaftlichen Fundierung, in ihrer Organisation und in ihrer gesellschaftlichen Wirkung, ohne den Anspruch zu erheben, eine Geschichte der Heilpädagogik oder der heilpädagogischen Berufe zu bieten.Eine Orientierung habe ich indessen vorgenommen: Aus den vielen möglichen Themen wählte ich vor allem solche, die bis heute für die Institution von Bedeutung sind. Nicht um einer teleologischen Geschichtsauffassung zu huldigen, sondern um die Geschichte für die an heutigen Problemen der Heilpädagogik interessierte Leserschaft anschlussfähig zu machen. Geschichte ist immer gegenwartsbezogen, sie soll ein Weg sein, das Heute zu erkennen und besser zu verstehen. Diese Wirkung wünsche ich meinen Leserinnen und Lesern. Es sei allen gedankt, die die Entstehung des Buches unterstützt haben. Zürich, im Herbst 2023
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