LautspracherwerbsKompass

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ICF-orientierte

Entscheidungshilfe für Kindergartenlehrpersonen bezüglich Beratungs- und Abklärungsbedarf bei lautsprachlichen Auffälligkeiten für Kinder im Alter von 4;0 bis 6;0 Jahren

Wolfgang G. Braun, Prof., Angela Caminada, Andreas Eggenberger, Stefanie Fehr

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik


LautspracherwerbsKompass Ziel Der LautspracherwerbsKompass ist eine Entscheidungshilfe für Kindergartenlehrpersonen, die bei der Entscheidung über die Notwendigkeit einer logopädischen Beratung oder Abklärung unterstützen soll. Kinder im Alter von 4;0 bis 6;0 Jahren mit lautsprachlichen Auffälligkeiten sollen frühzeitig erkannt werden. Der Kompass kann ein Hilfsmittel für eine Einleitung einer eventuellen logopädischen Intervention sein. Er stellt in der Zusammenarbeit Kindergarten – Logopädie eine Gesprächsgrundlage in der Förderplanung dar. Der LautspracherwerbsKompass, der für Kinder mit Erstsprache Deutsch konzipiert ist, ist eine informelle Entscheidungshilfe und kein evaluiertes diagnostisches Instrument. Die Lautlehre kann in zwei Bereiche unterteilt werden: Lautbildung (Phonetik): Die Phonetik beschreibt u.a. den Ort, die Art und die Realisation der sprachlichen Laute. Sie beschreibt wo und wie die Laute gebildet werden (artikulatorische Phonetik) sowie die physikalischen Lauteigenschaften (akustische Phonetik). Anhand von phonetischen Kriterien können übergeordnet zwei wesentliche Gruppen von Lauten unterschieden werden: die Konsonanten und die Vokale. Lautfehlbildungen (z. B. ist die Zunge beim Laut «s» immer zwischen den Zähnen) werden diesem Bereich zugeordnet.

Lautgebrauch (Phonologie / phonologische Prozesse): Die Phonologie befasst sich mit der Verwendung und der Funktion der erworbenen Laute. Das Kind beginnt mit ungefähr 18 Monaten, sich ein Wissen über diese Lautverwendung anzueignen. Es lernt, wann und an welcher Stelle im Wort es die einzelnen Laute einsetzen muss. Dieses sogenannte phonologische System des Kindes zeichnet sich im Vergleich zum System eines Erwachsenen durch Vereinfachungen aus. Das können in diesem Alter normale Ergänzungen, Auslassungen oder Ersetzungen von Lauten sein (z. B. «Schaft» statt «Schaf», «Mil» statt «Milch» oder «Lock» statt «Rock»). Es kann auch sein, dass mehrere Vereinfachungen in einem Wort realisiert werden (z. B. «Pil» statt «Bild»). Diese Vereinfachungen werden als phonologische Prozesse bezeichnet. Gewisse Vereinfachungen sind bis zu einem bestimmten Alter normal. Mit der Zeit lernt das Kind, sein eigenes System immer mehr demjenigen der Erwachsenen anzupassen. Es sind hauptsächlich Konsonanten von phonologischen Prozessen betroffen. Phonologische Prozesse können konsequent, d. h. es wird immer dieselbe, regelhafte Vereinfachung verwendet (z. B. immer «Kanne» statt «Tanne») oder inkonsequent, d. h., es wird nur manchmal eine Vereinfachung verwendet (z. B. einmal richtig: «Tanne», einmal falsch: «Kanne»), sein.

Nachfolgend eine Tabelle, welche die zeitliche Abfolge der korrekten motorischen Realisation sowie des korrekten Einsatzes eines Lautes im Wort darstellt: Alter

Sprachproduktion Einzelkonsonanten

Sprachproduktion Konsonantenverbindungen

1;11

m, d

-

2;0 – 2;5

b, p, n

-

2;6 – 2;11

v, f, l, t, ch2, k, h

-

3;0 – 3;5

j, ng, R, g

pf, fR, kl

3;6 – 3;11

-

bl, bR, fl, gl, gR

4;0 – 4;5

ch1

dR, tR, kR, kn, kv, schl, schm, schn, schR, schp, schw, scht

4;6 – 4;11

sch

schpR, schtR

5;0 – 6;0

s, z, r, sch

fr, br, gr, dr, tr, kr, schr

angelehnt an Weinrich und Zehner (2008) Zur besseren Lesbarkeit wurde auf die Verwendung des phonetischen Alphabets verzichtet.


Anmerkungen: — Viele Kinder beherrschen das «sch» bereits früher als in der Tabelle aufgeführt. Die Angaben beziehen sich auf das Lebensalter, in dem 90% der Kinder den Laut korrekt bilden und verwenden können. Trotzdem ist das «sch» zweimal aufgeführt, da es bis zum Alter von 6;0 Jahren erworben werden kann. — R = hinteres «Rachen-R» Es reicht aus, wenn entweder das «R» r = vorderes «Zungenspitzen-R» oder das «r» gebildet werden kann. — ch1 wie z. B. in «weich»; Bildung vorne ch2 wie z. B. in «schwach»; Bildung hinten

ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) Die Denkweise der ICF erweitert den Fokus über die auffällige Sprechfunktion hinaus – eine Auffälligkeit wird im Zusammenspiel von Körper, Person und Umwelt verstanden. Aspekte der Aktivität und Partizipation fliessen beim LautspracherwerbsKompass mit ein – Deutlichkeit (in der

Kommunikation) sowie Verständlichkeit (in der Interaktion) sind wertvolle Früherkennungsdimensionen. Das Umfeld (Kontextfaktoren) trägt durch die wichtigen Kriterien «Sorgen der Eltern» und «Reaktionen der Umwelt» massgeblich zum Entscheid des weiteren Vorgehens bei.

Aufbau des LautspracherwerbsKompasses Der LautspracherwerbsKompass beinhaltet zwei Erfassungsbögen: Bogen 1

für Kinder im Alter zwischen 4;0 und 4;11 Jahren

Bogen 2

für Kinder im Alter zwischen 5;0 und 6;0 Jahren

Die Bögen bauen nicht aufeinander auf und sind entsprechend dem Lebensalter des Kindes zu wählen. Sie sind je in drei Teile unterteilt: Der erste Teil thematisiert Druck oder Sorgen seitens der Eltern, die für eine logopädische Beratung oder Abklärung ausschlaggebend sein können. Die Verständlichkeit des Kindes bestimmt massgeblich das weitere Vorgehen. Der zweite Teil besteht aus je 9 Beobachtungskriterien, die von der Kindergartenlehrperson in Bezug auf das zu beobachtende Kind als zutreffend oder nicht zutreffend zu beurteilen sind. Die Beobachtungskriterien sind positiv formuliert – Auffälligkeiten werden mit ‹Trifft nicht zu› markiert. Der dritte Teil benennt zusätzliche Faktoren, die eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen können.

Auswertung und Empfehlungen Wenn sich Eltern bezüglich des Lautspracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen (Teil 1), ist der Austausch mit einer logopädischen Fachperson in jedem Fall empfehlenswert. Die Verständlichkeit des Kindes ist ein wichtiger Gradmesser der Kommunikationskompetenz und fliesst massgeblich in die Entscheidung des weiteren Vorgehens ein. Je mehr positive Beobachtungskriterien (Teil 2) auf das Kind zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass keine

logopädische Beratung oder Abklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen, empfehlen wir auf jeden Fall eine logopädische Beratung bzw. Abklärung. Eine solche kann, muss aber nicht in eine Sprachtherapie münden. Zusätzliche Faktoren (Teil 3) können die Entscheidung für eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen. Das alleinige Zutreffen einzelner Faktoren reicht jedoch nicht aus, um eine logopädische Intervention zu empfehlen.


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LautspracherwerbsKompass Entscheidungshilfe für Kindergartenlehrpersonen Kinder im Alter von 4;0 bis 4;11 Jahren

III

Wenn sich Eltern bezüglich des Spracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen und / oder das Kind für Fremde unverständlich spricht, ist eine logopädische Abklärung sehr empfehlenswert.

V Trifft zu

Trifft nicht zu

II III

V IV

Das Kind spricht bezogen auf seine Aussprache ähnlich deutlich wie gleichaltrige Kinder.

III

IV

Das Hören des Kindes scheint nicht beeinträchtigt zu sein.

Das Kind beherrscht alle Laute isoliert, mit Ausnahme des «s», «z», «sch» und «r».

Das Kind benutzt die Laute in Wörtern, mit Ausnahme des «s», «z», «sch» und «r».

Das Kind fügt beim Aussprechen der Wörter keine überflüssigen Laute hinzu. Fehlerbeispiele: «Schaft» statt Schaf oder «grlün» statt grün (Addition).

Das Kind ersetzt beim Aussprechen der Wörter keine Laute durch andere, unpassende Laute. Fehlerbeispiele: «Tanne» statt Kanne, «Fiff» statt Schiff, «Hock» statt Rock, «Tich» statt Tisch oder «Gig» für Fisch (Substitution). Nicht beachtet werden können im Alter von 4;0 bis 4;11: «p» für b, «t» für d und «k» für g (altersentsprechende Beispiele: «Plume» statt Blume, «Taumen» statt Daumen oder «Keld» statt Geld).

Das Kind lässt beim Aussprechen der Wörter keine Laute aus. Fehlerbeispiele: «Sa» statt Sack, «Al» statt Schal, «Okodil» statt Krokodil (Elision). Nicht beachtet werden können im Alter von 4;0 bis 4;11: Vereinfachungen von mehreren zusammenhängenden Konsonanten auf den ersten, den zweiten oder den dritten Konsonanten dieser Verbindung (altersentsprechende Beispiele: «Liege» statt Fliege, «Bett» statt Brett oder «Ritze» statt Spritze), sowie Reduktionen von mehreren zusammenhängenden Konsonanten in der Wortmitte (altersentsprechendes Beispiel: «Zeba» statt Zebra) und am Wortende (altersentsprechendes Beispiel: «Arz» statt Arzt).

Das Kind spricht ein Wort immer gleich fehlerhaft aus z. B. immer: «Felefon» für Telefon und nicht einmal: «Felefon», einmal «Tefelon», einmal «Fetelon» für Telefon (Fehlerkonsequenz).

Andere Kinder reagieren unauffällig auf die Sprechweise des Kindes (d. h. das Kind wird wegen seiner Aussprache nicht gehänselt).

I II

V

III

IV - Hören: diagnostizierte Hörstörung, wiederholte Mittelohrentzündungen

Weitere Faktoren, die eine Beratung oder Abklärung durch eine logopädische Fachperson bekräftigen:

- Wahrnehmung: Auffälligkeiten in der auditiven sowie in der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung und Verarbeitung - Gewohnheiten (Habits): Daumenlutschen, langer Schnullergebrauch - Zahn- / Kieferfehlstellungen (hiermit ist nicht der Zahnwechsel gemeint): offener Biss - Reaktionen auf die eigene Sprechweise: Das Kind leidet unter der eigenen Sprechweise und vermeidet es zu sprechen. - Aussprache- oder Sprachauffälligkeiten in der Familie: Mindestens ein weiteres Familienmitglied zeigt Auffälligkeiten in der Aussprache bzw. in der Sprachentwicklung.

Gesamt- «Trifft nicht zu»-Antworten

Empfehlung weiteres Vorgehen:

Keine Massnahme nötig (0) Entwicklungsbeobachtung (1) Weiterweisung (ab 2)

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LautspracherwerbsKompass Entscheidungshilfe für Kindergartenlehrpersonen Kinder im Alter von 5;0 bis 6;0 Jahren

Wenn sich Eltern bezüglich des Spracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen und / oder das Kind für Fremde unverständlich spricht, ist eine logopädische Abklärung sehr empfehlenswert.

I III

Trifft nicht zu

II III

V IV

Das Kind spricht bezogen auf seine Aussprache ähnlich deutlich wie gleichaltrige Kinder.

III

IV

Das Hören des Kindes scheint nicht beeinträchtigt zu sein.

Das Kind beherrscht die Laute «s» und / oder «sch» isoliert und benutzt sie auch in Wörtern.

Das Kind beherrscht den Laut «r» isoliert und benutzt ihn auch in Wörtern.

Das Kind fügt beim Aussprechen der Wörter keine überflüssigen Laute hinzu. Fehlerbeispiele: «Schaft» statt Schaf oder «grlün» statt grün (Addition).

Das Kind ersetzt beim Aussprechen der Wörter keine Laute durch andere, unpassende Laute. Fehler­ beispiele: «Tanne» statt Kanne, «Fiff» statt Schiff, «Hock» statt Rock, «Tich» statt Tisch oder «Gig» für Fisch (Substitution).

Das Kind lässt beim Aussprechen der Wörter keine Laute im Anlaut, Inlaut oder Auslaut aus. Fehler­ beispiele: «Sa» statt Sack, «Al» statt Schal, «Okodil» statt Krokodil, «Bett» statt Brett, «Liege» statt Fliege, «Ritze» statt Spritze, «Zeba» statt Zebra oder «Arz» statt Arzt (Elision).

Das Kind spricht ein Wort immer gleich fehlerhaft aus z. B. immer: «Felefon» für Telefon und nicht einmal: «Felefon», einmal «Tefelon», einmal «Fetelon» für Telefon (Fehlerkonsequenz).

Andere Kinder reagieren unauffällig auf die Sprechweise des Kindes (d. h. das Kind wird wegen seiner Aussprache nicht gehänselt).

I

II

V

II IV III III

V Weitere Faktoren, die eine Beratung oder Abklärung durch eine logopädische Fachperson bekräftigen:

IV - Hören: diagnostizierte Hörstörung; wiederholte Mittelohrentzündungen

- Wahrnehmung: Auffälligkeiten in der auditiven sowie in der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung und Verarbeitung. - Gewohnheiten (Habits): Daumenlutschen, langer Schnullergebrauch - Zahn- / Kieferfehlstellungen (hiermit ist nicht der Zahnwechsel gemeint): offener Biss - Reaktionen auf die eigene Sprechweise: Das Kind leidet unter der eigenen Sprechweise und vermeidet es zu sprechen. - Aussprache- oder Sprachauffälligkeiten in der Familie: Mindestens ein weiteres Familienmitglied zeigt Auffälligkeiten in der Aussprache bzw. in der Sprachentwicklung.

Gesamt- «Trifft nicht zu»-Antworten

Empfehlung weiteres Vorgehen:

Keine Massnahme nötig (0) Entwicklungsbeobachtung (1) Weiterweisung (ab 2)

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I

V Trifft zu


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