Leseprobe Inklusive Pädagogik und Didaktik

Page 1

André Kunz, Reto Luder, Cornelia Müller Bösch ( Hrsg.)

Inklusive Pädagogik und Didaktik Die inklusive Schule – die Schule für alle – nicht nur zu fordern, sondern Realität werden zu lassen, ist eine zentrale Herausforderung sowohl für Lehrkräfte als auch für Fachkräfte aus der Heilpädagogik. Wie gelingt die Umsetzung im Schulalltag? Wie kann moderner Unterricht für alle praktisch umgesetzt werden, und welches sonderpädagogische Fachwissen wird in einer inklusiven Schule gebraucht?

Kunz, Luder, Müller Bösch ( Hrsg.)

Das Studienbuch gibt Antworten auf diese Fragen und bietet übersichtlich aufbereitetes Handlungswissen für Studierende sowie Praktikerinnen und Praktiker, das den komplexen Anforderungen realer Schulsituationen gerecht wird. Konkrete Unterrichtssituationen mit besonderen pädagogischen Herausforderungen bilden deshalb die Ausgangspunkte der einzelnen Kapitel. Sie sind nach schulisch relevanten Bereichen wie Aktivität und Partizipation strukturiert. Fachliche, klare Orientierung bietet die Gliederung nach der internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO.

Inklusive Pädagogik und Didaktik

Vollständig überarbeitete Neuauflage

UG_Inklusive_Paedagogik_und_Didaktik_2A_21.indd 1,3

15.07.21 16:04


5

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Unterricht und ­Hetero­genität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch Das Phänomen «schulische Behinderung» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Kai Felkendorff und Reto Luder ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Judith Hollenweger Multiprofessionelle Zusammenarbeit für gemeinsame Förderplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 André Kunz und Reto Luder

Didaktische Möglichkeiten im Unterricht für alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Empirische Unterrichtsforschung im Kontext von Heterogenität und Inklusion . . . . . . . . . . . . 79 Silvia Pool Maag Inklusiver Unterricht: Lernen in einem universellen Design am gemeinsamen Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Cornelia Müller Bösch und Anita Schaffner Menn Kognitive Beeinträchtigung im inklusiven Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Cornelia Müller Bösch Autismussensibler Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Andreas Eckert Inklusiver Unterricht unter dem Aspekt der Förderung von hochbegabten Schülerinnen und Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Anita Schaffner Menn und Inge Rychener Beziehungsgestaltung und Anerkennung im inklusiven Unterricht – eine kommunikative Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Dieter Rüttimann Im Gespräch mit einer inklusiven Schule: Möglichkeiten in der Gestaltung von Lernen in einem universellen Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Dieter Rüttimann im Gespräch mit Cornelia Müller Bösch

Situationen im Unterricht und Handlungsmöglichkeiten für die Praxis . . . . . . . . 175 Handlungsmöglichkeiten im Bereich Lernen und Wissensanwendung . . . . . . . . . 177 Aussichtsreicher inklusiver Schriftsprachunterricht für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im Lesen- und Schreibenlernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Erich Hartmann


6

Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in Mathematik: Was bedeutet dies für die Unterrichtsgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Esther Brunner

Handlungsmöglichkeiten in den beiden Bereichen Lernen und Wissens­anwendung sowie Aufgaben und Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Generalisierte Lernstörung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . 219 Christoph Schmid

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Spracherwerb und Begriffsbildung . . . . . . 262 Begriffsbildung im Kindergarten und in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Inge Rychener

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Unterstützte Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Karen Ling Entwicklungsbedingungen und Förderung von Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung . . . . 290 Daniela Nussbaumer

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Unterrichtssituationen mit Kindern mit einer Beeinträchtigung der motorischen Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Angela Nacke und Peter Diezi-Duplain Unterrichtssituationen mit Kindern und Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Helen Zimmermann

Handlungsmöglichkeiten im Bereich interpersonelle Interaktionen und Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Christoph Michael Müller und Carmen Zurbriggen

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Selbstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 «Selbstversorgung – für sein Selbst sorgen»: Ein Lernfeld für eine inklusive Schule . . . . . . . 364 Roman Manser und Ariane Bühler

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392


7

Vorwort «Ich kann es aus meiner Sicht sagen, als jemand einer Minderheit, die sonst separiert würde, dass es für mich eine extreme Bereicherung ist, mit dem Rest der Gesellschaft durchmischt zu werden.» Moritz Wyder 1

Die inklusive Schule – die Schule für alle – nicht nur zu fordern, sondern Realität werden zu lassen und im Alltag zu gestalten, ist eine zentrale aktuelle Herausforderung unserer Gesellschaft: Wie gelingt die Umsetzung im Schulalltag? Wie kann moderner Unterricht für alle praktisch umgesetzt werden, und welches sonderpädagogische Fachwissen wird in einer inklusiven Schule gebraucht? Was müssen Lehrpersonen in Regelklassen über Sonderpädagogik wissen? Welche sonderpädagogischen Aufgaben haben sie, und welche Art der Zusammenarbeit mit schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und therapeutischen Fachpersonen müssen sie leisten? Das Studienbuch «Inklusive Pädagogik und Didaktik» gibt Antworten auf diese Fragen und bietet aktuelles, übersichtlich aufbereitetes Handlungswissen. Das vorliegende Buch in der komplett überarbeiteten Fassung von 2021 besteht aus drei Teilen. Der erste Teil thematisiert das zugrunde liegende Verständnis inklusiver Sonderpädagogik, verweist auf die diesbezüglich wichtigen Definitionen und führt die Begrifflichkeiten und das bio-psycho-soziale Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung auf der Basis der internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO ein. Zudem widmet sich Teil 1 der multiprofessionellen Zusammenarbeit von Regelschullehrpersonen und Fachpersonen aus dem Bereich der Sonderpädagogik. Der zweite Teil fokussiert auf den Unterricht: Was macht guten inklusiven Unterricht in einem universellen Design aus? Wie können der Unterricht und die Lernbegleitung angepasst werden, damit Menschen mit Beeinträchtigungen partizipieren können? Zwei Texte zeigen zuerst grundlegende Begriffe und Herausforderungen von inklusivem Unterricht sowie den empirischen Forschungsstand dazu auf. Die Gestaltung eines universellen Designs im Unterricht wird an konkreten Beispielen dargestellt. Anschließend werden wichtige Aspekte der Kommunikation beschrieben. Anhand von kognitiver Beeinträchtigung in Lernsituationen, von einem

1

Moritz Wyder ist Gastreferent im Grundmodul «Inklusive Bildung» an der PH Zürich und sehbehindert. Die zitierte Aussage stammt aus der DVD «Integrative und individualisierende Lernförderung». Sie wurde im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich im Jahr 2007 durch die FRAMIX GmbH realisiert.


8

Vorwort

autismussensiblen Unterricht und Begabungen im Lernen wird im Weiteren exemplarisch aufgezeigt, wie ein Unterricht angepasst werden kann, damit alle Schüler und Schülerinnen partizipieren können. Der dritte Teil beschreibt sonderpädagogische Handlungsmöglichkeiten zu ausgewählten Lebens- und Erfahrungsbereichen entlang der ICF-Komponente «Aktivität und Partizipation». Der Blick wird dabei auf spezifische differenzielle Maßnahmen und Interventionen gerichtet. Im Zentrum stehen Möglichkeiten und Beeinträchtigungen von Lernenden, und damit verbundene, ausgewählte Handlungsansätze und Konzepte zur Prävention und Intervention, die sich für eine Umsetzung in der Regelklasse eignen.

Glossarbegriffe in schwarzer Schrift Hinweise in blauer Schrift

Das Buch enthält folgende Hinweise zur Leserinnen- und Leserführung: — Ein Glossar nimmt einige wichtige Begriffe zur Thematik «Inklusive Schule» auf. Verweise in schwarzer Schrift in der seitlichen Spalte zeigen dies an. — Hinweise zu relevanten Begriffen im Text sowie Verweise auf die ICF erscheinen ebenfalls in der seitlichen Spalte, jedoch in blauer Schrift. — Verweise auf andere Beiträge in diesem Buch sind mit einem Pfeil ( ➞) im Text ersichtlich und machen die Leserin und den Leser auf inhaltliche Verbindungen zwischen den Beiträgen aufmerksam. Die Idee zum Buch entstand ursprünglich im Fachteam Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Dieses zeigt sich inhaltlich verantwortlich für sonderpädagogische Themen in Ausbildung, Weiterbildung, Beratung und Forschung. Umgesetzt wurde die Idee von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Hochschulen in der Schweiz und Luxemburg mit Expertise in den Themen der jeweiligen Beiträge. Die aktuell vorliegende komplette Überarbeitung entstand in enger Kooperation mit allen Autorinnen und Autoren. Dieses Buch richtet sich vor allem an angehende und praktizierende Lehrpersonen, schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, therapeutische Fachpersonen sowie Schulleitungen. Das dargestellte Handlungswissen ist weder vollständig noch abschließend, sondern soll Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Thema und für die Diskussion darüber sein. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die sich als Autorinnen und Autoren der Aufgabe angenommen haben, einen Beitrag für dieses Studienbuch zu leisten. Sie haben die Texte verfasst und sie aufgrund von Rückmeldungen aus dem langjährigen Einsatz des Studienbuchs in der Lehre sowie aus Feedbacks von Kolleginnen und Kollegen im Team der Autorinnen und Autoren überarbeitet, was wir sehr schätzen. In einem


Vorwort

Beitrag konnten wir mit Hilfe von Barbara Frey wichtige Fotos zur Illustration realisieren, und im Beitrag «Kognitive Beeinträchtigung im inklusiven Unterricht» hat Lucien Le als Gastautor einen Text zum Thema «Möglichkeiten und Grenzen im gemeinsamen Unterricht» als Erfahrungsbericht in Form eines Exkurses verfasst – vielen Dank an beide! Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern inspirierende Ideen für den Alltag und die tägliche Herausforderung, eine inklusive Schule zu gestalten und damit zu erhalten.

— Zürich, im Sommer 2021 — André Kunz, Reto Luder und Cornelia Müller Bösch

9


Unterricht und ­ Hetero­genität Kai Felkendorff Judith Hollenweger André Kunz Reto Luder Cornelia Müller Bösch


13

Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch

Inklusion. Eine Schule für alle. Integration. Umgang mit Vielfalt. Diese Schlagworte prägen aktuell die Bildungslandschaft. Was ist eine inklusive Schule in der Praxis? Was bedeutet Inklusion konkret im Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler, für den Unterricht und für die Lehrperson? Diesen Fragen will das vorliegende Buch nachgehen und Antworten dazu liefern – Antworten primär für Lehrerinnen und Lehrer und Studierende, die Lehrerin oder Lehrer werden wollen. Aber auch für pädagogisch-therapeutische Fachpersonen, Eltern und weitere Interessierte. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie inklusive Förderung und Unterstützung oder, mit einem anderen Wort, Inklusion praktisch umgesetzt werden kann. Im ersten Kapitel geht es darum, was eine inklusive Schule ausmacht und ob es in einer inklusiven Schule überhaupt noch Sonderpädagogik braucht – und falls ja, in welcher Form, was deren Aufgabe ist und was das für die Praxis bedeutet. Auf dieser Grundlage folgt eine Übersicht über die Inhalte des Buches und die Struktur, nach der diese Inhalte aufbereitet sind.

Die Entwicklung der Schule in Richtung Inklusion ist in vollem Gang und im deutschsprachigen Raum mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem weniger die grundsätzlichen ethischen Debatten um den Sinn von Inklusion im Allgemeinen im Zentrum stehen, sondern das Interesse vermehrt auf Fragen der konkreten Umsetzung in der Praxis liegt.

Inklusion und inklusive Schule In der Fachdiskussion der letzten Jahre wird der Begriff der Inklusion sehr oft und sehr unterschiedlich gebraucht (vgl. Leidner, 2012; Luder, 2016). In der Literatur sind die Begriffe «Integration» und «Inklusion» nicht einheitlich mit Inhalten gefüllt. Uneinigkeit besteht darüber, welche Praxis dem einen oder anderen Begriff zuzuordnen ist. So ist der Sachverhalt, dass als «behindert» diagnostizierte Kinder zum Beispiel in einem Kindergarten geschult werden, in einigen Beschreibungen schon ein Merkmal für Inklu-

Inklusion/­ Integration


14

Unterricht und ­Hetero­genität

Gelungene Inklusion nach UNESCO

Behindertenrechtskonvention

­Heterogenität

sion, in anderen erst der Beginn der Integration. Im internationalen Kontext wird nur der Begriff inclusion beziehungsweise inclusive education verwendet als ein zielgerichtetes, förderorientiertes Miteinander in Situationen im Unterricht ohne Ausschluss. Um eine gelungene Inklusion zu realisieren, genügt es nicht, einen Schüler oder eine Schülerin mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen einfach in die Regelklasse zu schicken. Vier Bedingungen müssen zumindest erfüllt sein, damit von gelungener Inklusion gesprochen werden kann (UNESCO, 2005): — Presence: Alle Kinder sollen die Möglichkeit haben, den Unterricht gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in einer Regelklasse zu besuchen. — Acceptance: Alle Kinder sollen mit ihren unterschiedlichen, jeweils individuellen Eigenschaften in der Gemeinschaft in gleicher Weise akzeptiert und angenommen werden. — Participation: Alle Kinder sollen an gemeinsamen Aktivitäten und am gemeinsamen Unterricht mitmachen und teilhaben können. — Achievement: Alle Kinder sollen im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten anspruchsvolle Lernziele erreichen, Leistungen erbringen und Fortschritte machen können. Mit dem Begriff «Inklusion» verbindet man sehr verschiedene Anliegen an eine inklusive Schule. Die Ansprüche reichen von einem Recht auf gemeinsame Schulung und Betreuung (z. B. Behindertenrechtskonvention, 2008, SR 0.109) bis hin zu allgemeinen Forderungen nach umfassender Dekategorisierung (Behinderung gibt es nicht) und Abschaffung jeglicher Segregation in allen Bereichen der Gesellschaft (z. B. Hinz, 2009). Für die Schule als Praxis ist der Ansatz umfassender Dekategorisierung problematisch, weil er den spezifischen Blick auf das Individuum verhindert. Schule hat einen pädagogischen Auftrag; sie kann sich nicht damit begnügen, alle einfach so zu akzeptieren, wie sie im Moment sind, und sich über diese farbige Vielfalt zu freuen. Vielfalt (in der Literatur meist Heterogenität oder Diversity) muss «mehr sein als affirmative Bestätigung, dass ja ‹alles so schön bunt ist›» (Plösser, 2013, S. 61). Der pädagogische Auftrag in der Schule besteht ja gerade darin, gewisse Formen von Unterschiedlichkeit (genauer: Diversitätsdimensionen) nicht zu akzeptieren, sondern sie anzugleichen. Sie soll zum Beispiel nicht einfach akzeptieren, dass einige lesen können und andere nicht, sondern dafür sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler möglichst gut lesen lernen. Dafür müssen zunächst unterschiedliche Dimensionen der Diversität festgelegt werden. Für die schulische Praxis muss geklärt werden, welche Diversitätsdimensionen in welchen Situationen relevant sind, welche Bedeutung ih-


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

nen zukommt (und zukommen soll, was nicht unbedingt dasselbe ist) und wie die Schule auf die Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler in diesen einzelnen Dimensionen reagieren kann. Aus dieser Sicht ist es nicht falsch, beispielsweise ein Kind als hörbehindert zu kategorisieren. Im Gegenteil, es ist notwendig, diese Hörbehinderung und ihre Auswirkungen in der Schule möglichst genau zu bestimmen und geeignete Maßnahmen zu treffen, damit dieses Kind im Unterricht lernen kann und damit seine Teilhabe an der Gemeinschaft der Schule ermöglicht und unterstützt wird. Genauso wichtig, um ein zweites Beispiel zu nennen, ist etwa die Bestimmung einer Lese-/Rechtschreibstörung durch eine möglichst differenzierte Erfassung des Schriftspracherwerbs und die Planung und Durchführung geeigneter Fördermaßnahmen. Diese Förderplanung verfolgt das Ziel, dass dieses Kind an gemeinsamen Lernprozessen der Klassengemeinschaft teilhaben und dadurch für das eigene Lernen profitieren kann. Aus der gleichen Kategorisierung «Lese-/Rechtschreibstörung» wird sich jedoch vielleicht in einer Unterrichtssituation, in der an der mathematischen Problemstellung «Gesetzmäßigkeiten an verschiedenen Zahlenmauern untersuchen» (vgl. Hengartner et al., 2006) gearbeitet wird, kein besonderer Förderbedarf ergeben: Die Schülerin oder der Schüler kann in dieser Situation gut ohne spezifische Maßnahmen am Unterricht teilhaben und lernen. Unterschiedliche Situationen erfordern auch beim gleichen Individuum unterschiedliche Interventionen. Eine inklusive Schule ist eine Schule, welche die unterschiedlichen individuellen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler möglichst genau wahrnimmt und in den konkreten Unterrichtssituationen der Praxis mit geeigneten, spezifischen Maßnahmen berücksichtigt. Gleichzeitig nimmt sie auch ihren Auftrag wahr, eine Gemeinschaft zu gestalten, in der allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihren individuellen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen, die gleiche Akzeptanz und Wertschätzung entgegengebracht wird.

15

Inklusive Schule

Besondere Situationen – besondere Bedürfnisse Sonderpädagogik beschäftigt sich mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen (Special Educational Needs oder SEN). Im Anschluss an den biopsycho-sozialen Behinderungsbegriff der Weltgesundheitsorganisation WHO ist dies die Unterstützung und Förderung von Kindern und Jugendlichen, deren Aktivitäten und Möglichkeiten zur Partizipation im Kontext des schulischen Lernens und Lebens eingeschränkt oder von Einschrän-

Special Educational Needs (SEN)


16

Unterricht und ­Hetero­genität

kungen bedroht sind. Eine solche Einschränkung ist niemals nur das Ergebnis einer Eigenschaft des betroffenen Kindes, sondern entsteht aus der Wechselwirkung von Eigenschaften des Kindes mit den Anforderungen und Rahmenbedingungen seiner Umwelt in und außerhalb der Schule. Damit wird postuliert, dass es übliche und eben besondere pädagogische Bedürfnisse (englisch: special needs) gibt. Die Frage, was Bedürfnisse besonders macht und sie von gewöhnlichen Bedürfnissen unterscheidet, ist eine normative Frage. Die Bedürfnisse, von denen hier die Rede ist, entstehen im Zusammenspiel von Eigenschaften des Individuums mit Anforderungen und Rahmenbedingungen seiner Umwelt und lassen sich deshalb nicht einseitig dem Individuum zuordnen. Ein Schüler oder eine Schülerin hat nicht besondere pädagogische Bedürfnisse, sondern diese besonderen pädagogischen Bedürfnisse entstehen erst in einer konkreten schulischen Situation, in der die individuellen Eigenschaften des Kindes im Kontext der Anforderungen und Rahmenbedingungen dieser Situation zu einem Problem führen. Dieses Problem betrifft in der Regel alle Beteiligten: das Kind und seine unmittelbare Umwelt (Lehrperson, Peers, Eltern usw.). Im Anschluss an das in der Einleitung dieses Abschnitts Gesagte bedeutet die Annahme besonderer pädagogischer Bedürfnisse die Konstruktion einer Diversitätsdimension mit einem dazugehörenden Schwellenwert. Unterhalb dieses Schwellenwerts wird ein Bedürfnis als üblich, oberhalb des Schwellenwerts als besonders eingeschätzt. Beispielsweise ist es in der Situation eines Lehrervortrags ein übliches Bedürfnis von Schülerinnen und Schülern, dass die Lehrperson angemessen laut und deutlich spricht, damit sie verstanden wird. Ein Kind mit einer Hörbehinderung hat in dieser Situation besondere Bedürfnisse und ist beispielsweise auf den Blickkontakt mit der Lehrperson oder auch auf die elektronische Verstärkung der Stimme der Lehrperson angewiesen. Ein Kind mit Lese-/Rechtschreibstörung benötigt in Situationen, in denen Lesen oder Schreiben eine Rolle spielt, besondere, üblicherweise nicht notwendige Unterstützung und Förderung, um seine Ziele erreichen zu können. Welche Diversitätsdimensionen in der Schule in welchen Situationen wichtig sind und wie bedeutsam sie sein sollen, ist nicht per se gegeben, sondern Gegenstand gesellschaftlicher und bildungspolitischer Wahrnehmungs- und Aushandlungsprozesse. ➞ Siehe auch Beitrag von Felkendorff und Luder. Das Gleiche trifft für den jeweiligen Schwellenwert zu, oberhalb dessen bestimmte Bedürfnisse als besonders wahrgenommen werden. Dieser Schwellenwert ist nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den jeweils verfügbaren Ressourcen für Unterstützung und Förderung zu sehen. Aus einer Betrachtungsweise, die sich nur auf Defizite von Schülerinnen und Schülern bezieht, lassen sich keine Handlungsmöglichkeiten für


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

den konkreten Unterricht oder Maßnahmen für eine Förderung ableiten, denn diese Maßnahmen sind stark situationsabhängig. Dazu braucht es die Analyse von konkreten Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler aufgrund verschiedener Faktoren in ihren Aktivitäten und an ihrer Partizipation eingeschränkt sind. ➞ Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Durch eine inklusive Didaktik und durch die Einbeziehung spezifischer individueller Maßnahmen kann die Partizipation in der Situation gestärkt werden. ➞ Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn. Die Lehrpersonen brauchen hierfür – neben differenziertem Wissen um mögliche Schwierigkeiten – Wissen um situationsbedingte Faktoren, welche die Partizipation stärken können. Spezifische pädagogische Interventionen richten sich auf Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Situation. In einer Unterrichtssituation zum Beispiel, in der die Lehrperson an der Wandtafel eine neue Arbeitsweise einführt, werden andere Interventionen erforderlich als in einer Situation, in der in einer Gruppe kooperatives Lernen gefordert ist. Die Situationen und dadurch auch die besonderen pädagogischen Bedürfnisse sind im Unterricht in einem stetigen Wandel. Die Lehrperson ist gefordert, diesem Wandel durch adaptive Unterrichtskompetenz nachzugehen und ihre Unterstützung und Lernbegleitung den Situationen anzupassen. Im Unterricht für alle gibt es unterschiedliche Situationen, die differenzielle Maßnahmen erfordern können. Ziel dieser Maßnahmen ist die Partizipation und Teilhabe aller Lernenden an der aktiven Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten im sozialen Netz der Klasse. Alle Lernenden sollen dabei ihren Voraussetzungen entsprechend gefördert werden. Dieses oben beschriebene Verständnis lässt sich wissenschaftlich als bio-psycho-soziales Modell bezeichnen. ➞ Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Gesundheit (oder auch Behinderung) ist in diesem Modell ein funktional definiertes Phänomen, das sich nur im Zusammenspiel biologischer, psychologischer oder gesellschaftlicher Faktoren verstehen lässt. Behinderung ist eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit auf biologischer, psychologischer oder sozialer Ebene, in einem oder mehreren Lebensbereichen, so wie sie von einem Individuum mit einem Gesundheitsproblem in Interaktion mit seiner Umwelt erlebt wird (vgl. Leonardi et al., 2006). Für die Analyse schulischer Situationen folgen aus diesem Verständnis drei wichtige Prämissen: 1. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind konzeptuell zu trennen von Krankheiten und Störungen.

Definition Behinderung

17


18

Unterricht und ­Hetero­genität

2. Ein mehrdimensionales Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung ist einer eindimensionalen (= kategorialen) Umschreibung von Behinderungen vorzuziehen. 3. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind nur im Kontext spezifischer Lebensumstände definierbar. Nach einem solchen Verständnis haben Lehrpersonen und die Schule als Institution einen zentralen Anteil an der Lernsituation aller Schülerinnen und Schüler und damit auch bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Lehrpersonen agieren (a) als Partizipationspartner der Kinder und Jugendlichen, (b) als Umweltfaktor und Umweltgestalter der Lernprozesse im Unterricht und der Schule und natürlich auch (c) als Individuum mit eigener Funktionsfähigkeit. Bei der Planung von Förderung in der Schule sind diese Anteile am Lernprozess der Schülerinnen und Schüler wichtig.

Praktisches Handeln als gemeinsame Aktivität Förderung aller Kinder, eben auch von Kindern mit SEN, kann im Begriffsverständnis der Aktivitätstheorie (vgl. AT der dritten Generation: z. B. Engeström, 1987, 1999) als Tätigkeit aufgefasst werden. Das Motiv für die besondere Förderung eines Kindes ist ein pädagogisches, indem nämlich die Reduktion von Differenz in den an Schulen relevanten Diversitätsdimensionen angestrebt wird wie zum Beispiel die Möglichkeit, Texte zu lesen, zu verstehen und selbst auch produzieren zu können. Die umfassende Tätigkeit «Förderung» unterteilt sich in einzelne Handlungen (z. B. die Planung von unterschiedlichen Fördermaßnahmen während eines Schuljahrs), die durch gemeinsam verantwortete Ziele im Förderteam gesteuert werden. Diese Handlungen wiederum unterteilen sich in einzelne Operationen (zum Beispiel konkrete Leseförderungstrainings durchführen, Rechtschreibprogramme anleiten, die Arbeit der Kinder damit begleiten), die sich aus instrumentellen Bedingungen ergeben. Dabei stellt die Tätigkeit «Förderung» eine kollektive Tätigkeit dar (zum Beispiel durch mehrere Personen, die ihre je individuell ausgeführten Handlungen jeweils auf die Ziele ausrichten). Eine inklusive Schule ist angewiesen auf spezifische, professionelle sonderpädagogische Förder- und Unterstützungsangebote. Die Abschaffung einer disziplinären Sonderpädagogik zugunsten einer Pädagogik der Vielfalt würde bedeuten, dass es den Lehrpersonen allein obliegt, über die-


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

se Wissensbestände und dieses praktische Können zu verfügen und Wissen und Können weiterzuentwickeln. Es dürfte sehr schwierig sein, angehende Lehrpersonen im Rahmen ihrer allgemeinen Ausbildung zusätzlich auch noch auf diese Aufgabe vorzubereiten, das heißt neben ihrer anspruchsvollen Unterrichtspraxis von ihnen auch noch die spezifische sonderpädagogische Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen zu fordern. Wenn das aber nicht gelingt, ist das Ergebnis ein substanzieller Verlust von Wissen und Praxiskönnen und damit ein massiver Verlust an gezielter Förderung für die betroffenen Kinder. Inklusive Förderung und Unterstützung gelingt nur in Anbindung an eine entsprechende Praxis und im damit verbundenen Austausch von Praxiswissen mit weiteren Personen. Dazu braucht es spezialisierte Netzwerke, Ausbildungsgänge und Weiterbildungsangebote von und für Spezialistinnen und Spezialisten. Notwendig ist deshalb eine Klärung der Aufgaben, Kompetenzen und gegenseitigen Pflichten zwischen spezifisch ausgebildeten Fachpersonen mit spezifischem Wissen und entsprechender Praxis einerseits und Klassenlehrpersonen andererseits. — Pädagogisch-therapeutische Fachpersonen (PTF) im Bereich Sonderpädagogik, Therapie usw. verfügen über das fachliche Wissen und Können in Bezug auf die diagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltensvoraussetzungen und die Entwicklung individuell angepasster, pädagogisch-therapeutischer Förderziele, Fördermaßnahmen und Unterrichtsmaterialien. Sie arbeiten aktiv mit den Regelschullehrpersonen im gemeinsamen Unterricht zusammen. Sie unterstützen und fördern Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele. — Eine Lehrperson (Klassenlehrperson oder Fachlehrperson) gestaltet einen differenzierten, inklusiven Unterricht, plant lehrplanbezogen die Lernziele aller Schülerinnen und Schüler und überprüft, ob sie sie erreichen können. Sie schafft ein positives und auf gegenseitiger Hilfe und Rücksichtnahme basierendes Klassenklima. Sie ist in der Lage, Lernschwierigkeiten und besondere Lern- und Verhaltensvoraussetzungen wahrzunehmen. Die Lehrperson arbeitet für eine solche Förderung mit der PTF zusammen. Sie gestaltet die Zusammenarbeit mit den Eltern und im Schulteam und übernimmt die Verantwortung für die schulische Gesamtsituation all ihrer Schülerinnen und Schüler. Wie kommt in einer inklusiven Schule dieses spezifische Know-how für die Förderung in einem inklusiven Schulsystem den Kindern zugute, die es benötigen? Eine einzelne Lehrperson allein kann diesem Anspruch nicht ge-

Pädagogisch-­ therapeutische Fachperson (PTF)

Lehrperson

19


20

Unterricht und ­Hetero­genität

Professionelle Zusammenarbeit

nügen. Eine inklusive Schule erfordert die Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Schulteams. Inter- und intradisziplinäre Zusammenarbeit von Lehrpersonen an der Regelschule und den pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen erweist sich dabei als Arbeitsform, welche die Kompetenzen der Lehrpersonen verbessert (vgl. Baumert & Kunter, 2006) und zur Professionalisierung in den Bereichen inklusive Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderplanung beiträgt (vgl. Luder et al., 2011). Dabei ist es wesentlich, die gemeinsame Praxis an gemeinsam formulierten Förderzielen auszurichten: «Die Freiheitsgrade der disziplinären Praxis sollen […] nicht verringert werden, die interdisziplinäre Ausrichtung der pädagogisch-therapeutischen Handlungen hingegen soll verstärkt werden» (Kunz, Gschwend & Luder, 2011, S. 21). Die professionelle Zusammenarbeit zwischen Klassenlehrperson (KLP) und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (PTF) kann unterschiedlichste Formen annehmen (vgl. Kunz et al., 2012). Wenn ein Tandem oder Team, bestehend aus mindestens einer KLP und einer PTF, sich optimal ergänzt und aufeinander abgestimmt ist, dann kann von getrennten jeweiligen Zuständigkeiten und einer Überlappung von gemeinsam verantworteten Aufgaben gesprochen werden. Die Personen bleiben einerseits in ihren Funktionen mit klaren Aufgabenbereichen unabhängig und bringen andererseits ihre unterschiedlichen Kompetenzen im Unterricht ein. Beide Personen teilen sich die Verantwortung für das Gelingen schulischer Förderung. Geht man von multiprofessionellen Lehrerteams aus, die in flexiblen Formen schulischer Arbeitsorganisation zusammenarbeiten, dann gibt es auch eine Reihe möglicher Kombinationen, nicht zwingend im Sinn von getrennten Zuständigkeiten. So kann das gesamte Team für eine bestimmte Fragestellung zuständig sein, die Aufgaben und Funktionen sind jeweils unterschiedlich und untereinander koordiniert. Aber auch hier bedingt dies eine klare Rollenaufteilung entlang der Kompetenzen einzelner Personen. Auf der Basis des Modells «getrennte Zuständigkeiten mit einer Schnittmenge» lassen sich diesbezüglich solche Absprachen spezifischer und gemeinsamer Aufgaben von Klassenlehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen bestimmen. In Tabelle 1 werden exemplarisch für die Bereiche Unterricht, individuelle Förderung und Förderplanung, Evaluation und Beurteilung sowie Zusammenarbeit und Koordination solche Aufgaben beschrieben, die auf Praxiserfahrungen und entsprechenden Empfehlungen beruhen (vgl. u. a. Ramírez Moreno, 2010; Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2011). Sie werden nicht als abschließende Zusammenstellung, sondern als mögliche Beispiele und Diskussionsgrundlage verstanden.


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

21

TABELLE 1: Aufgabenklärung für die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten) (in Anlehnung an Kunz & Gschwend, 2011) Bereich

Zuständigkeit primär bei der Lehrperson

Schnittmenge: gemeinsame Zuständigkeit

Zuständigkeit primär bei der pädagogisch-therapeutischen Fachperson

Unterricht

Gestaltung eines integrationsfähigen Unterrichts (innere Differenzierung und Individualisierung)

Individuelle Unterstützung und Förderung im gemeinsamen Unterricht (z. B. Teamteaching)

Entwicklung individuell angepasster Förder- und Unterrichtsmaterialien

Gemeinsame Unterrichts­ reflexion und Unterrichts­ entwicklung Individuelle Förderung und Förderplanung

Erkennen von Lernschwierigkeiten und Entwicklungsauffälligkeiten

Zielsetzung und Vereinbarung von Maßnahmen

Gezielte Förderung und Unterstützung in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele Diagnostische Erfassung von Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen Case Management / Verfassen individueller Förderpläne

Evaluation und Beurteilung

Beurteilung aller Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Lehrplanziele

Prognostische Beurteilung und Laufbahnberatung

Diagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltensvoraussetzungen (im Sinne pädagogischer Diagnostik / Verlaufsdiagnostik) Führungsrolle beim Verfassen individueller Lernberichte

Zusammen­ arbeit und Koordination

Hauptansprechperson für die Eltern und Gesamtverantwortung für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse

Zusammenarbeit mit Eltern und im Schulteam

Einbringen von fachlichem sonderpädagogischem Wissen, Beratungsangebote Koordination der Zusammenarbeit mit externen Stellen

Inklusive Sonderpädagogik – mit einem Widerspruch umgehen Sonderpädagogik (englisch: special needs education) geht von besonderen Lern- und Lehrsituationen aus. Dies heißt, dass es daneben auch übliche, nicht besondere Lern- und Lehrsituationen gibt. Dieses Verständnis wird von Vertreterinnen und Vertretern einer Inklusionspädagogik (z. B. Wolfgang Jantzen, Ines Boban, Andreas Hinz) infrage gestellt. Sie argumentieren, dass die Schaffung einer Kategorie «besonderer» pädagogischer Bedürfnisse eine künstliche Abgrenzung ist. Dieser Argumentation folgend ist jedes Kind besonders und hat auch besondere pädagogische Bedürfnisse im Vergleich zu anderen Kindern. Eine besondere Pädagogik für eine bestimmte Gruppe von Kindern ist demzufolge nicht nur unnötig, sondern vor allem mit negativen Konsequenzen wie Stigmatisierung, syste-

Sonderpädagogik


22

Unterricht und ­Hetero­genität

matischer Unterforderung und Diskriminierung verbunden. Einfacher formuliert: Wenn die allgemeine Pädagogik gut genug für alle Schülerinnen und Schüler ist, braucht es keine Sonderpädagogik. Von sonderpädagogischer Seite her kann dagegen argumentiert werden, dass es pädagogische Bedürfnisse einzelner Kinder gibt, die das in der Praxis bestehende Schulsystem überfordern. Eine adäquate Förderung dieser Kinder erfordert spezielles Know-how, besondere Rahmenbedingungen oder spezifische Ressourcen, die üblicherweise in der Schule nicht zur Verfügung stehen und die für den größten Teil der Schülerinnen und Schüler auch nicht notwendig und nicht angemessen sind. Mit der Gegenüberstellung dieser beiden Argumentationen ergeben sich zwei wesentliche Fragen für die Praxis: 1. Wie können «besondere» pädagogische Bedürfnisse definiert werden, und wie unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler mit von solchen ohne besondere pädagogische Bedürfnisse? — Eine mögliche Antwort auf diese erste Frage ergibt sich über einen bio-psycho-sozial definierten Behinderungsbegriff, wie zum Beispiel eine Begriffsdefinition auf der Basis der ICF. ➞ Siehe auch Beitrag von Hollenweger. 2. Wie können Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gefördert werden, ohne sie Nachteilen wie Stigmatisierung, Unterforderung oder Diskriminierung auszusetzen? In welchen Situationen brauchen einzelne Lernende bzw. einzelne Gruppen von Lernenden spezifische Anpassungen des Unterrichts? Wie können solche Situationen aussehen? Welche Handlungsmöglichkeiten haben Lehrpersonen, um in solchen Situationen ohne die genannten Nachteile intervenieren zu können? — Eine mögliche Antwort auf die zweite Frage ist die inklusive Umsetzung sonderpädagogischer Förderung und das Lernen in Kooperation am gemeinsamen Gegenstand im inklusiven Unterricht der Regelschule. ➞ Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn.

Aufbau des Studienbuchs ICF: Umwelt­ faktoren

Es geht in diesem Buch um besondere Situationen in der Schule, im Unterricht. Das Studienbuch unterstützt einen Unterricht für alle, ohne Ausschluss von Lernenden, und hat damit vor allem Maßnahmen in konkreten Unterrichtssituationen und damit auf der Mikroebene des Bildungssystems (vgl. Fend, 2006) im Fokus. Daneben werden Handlungsmöglichkeiten auf


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

der Mesoebene (Schuleinheit und professionelle Zusammenarbeit im Team) sowie Aspekte auf der personalen Ebene (Einstellungen, Grundhaltungen) aller Beteiligten immer wieder aufgegriffen und ausgeführt. Das Buch hat zum Ziel, sonderpädagogische Grundlagen in kompakter Form zu vermitteln und Handlungsmöglichkeiten im Unterricht aufzuzeigen. Es orientiert sich in allen seinen Bereichen nicht an den Defiziten des Kindes, sondern an Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen in konkreten Unterrichtssituationen. Fokussiert werden Handlungsmöglichkeiten in verschiedenen Situationen im Unterricht, in denen unterschiedliche besondere Bedürfnisse bei einzelnen oder mehreren Lernenden auftreten: Den besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen müssen Lehrpersonen in der Praxis kompetent begegnen können. Lehrpersonen haben den Auftrag, im Unterricht der Vielfalt an Lernvoraussetzungen gerecht zu werden und alle Lernenden zielbezogen zu fördern. Das Studienbuch orientiert sich hier an einer Vielfalt von Situationen, die kategorisiert werden, und an den Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen im inklusiven Unterricht. Nach dem einführenden ersten Teil, in dem grundlegende Modelle und Konzepte einer inklusiven Schule besprochen werden, widmet sich der zweite Teil der Praxis inklusiven Unterrichts: Wie kann Unterricht didaktisch so gestaltet werden, dass gemeinsamer Unterricht aller Schülerinnen und Schüler möglich wird? Als Struktur für den dritten, differenziellen Teil nutzt das Buch die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO (z. B. in Deutsch erhältlich beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI, 2005). ➞ Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Entlang der Kapitel der Domäne «Aktivität und Partizipation» werden Handlungsmöglichkeiten im Unterricht aufgezeigt: — Handlungsmöglichkeiten im Bereich des Lernens und der Wissensanwendung — Handlungsmöglichkeiten im Bereich Aufgaben und Anforderungen — Handlungsmöglichkeiten im Bereich Spracherwerb und Begriffsbildung — Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Kommunikation — Handlungsmöglichkeiten im Bereich Mobilität — Handlungsmöglichkeiten im Bereich interpersonelle Interaktionen und Beziehungen — Handlungsmöglichkeiten im Bereich Selbstversorgung — Handlungsmöglichkeiten im Bereich Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben

ICF

23


24

Unterricht und ­Hetero­genität

Literatur Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Professionelle Kompetenz von Lehrpersonen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(4), 469–520. Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2011). Förderplanung. Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI (2010). Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10). www.dimdi.de/dynamic/de/ klassi/downloadcenter/icd-10-who/version2011/systematik/. Engeström, Y. (1987). Learning by expanding: An activity-theoretical approach to developmental research (with the Introduction to the German Edition). Orientakonsultit. http://lchc.ucsd.edu/MCA/Paper/Engestrom/expanding/toc.htm. Engeström, Y. (1999). Activity theory and individual and social transformation. In Engestrom, Y., Miettinen, R. & Punamäki, R.-L. (Hrsg.), Perspectives on Activity Theory (S. 19–38). Cambridge University Press. Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Lehrbuch. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hengartner, E., Hirt, U., Wälti, B. & Primarschulteam Lupsigen (2006). Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte. Klett. Hinz, A. (2009). Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende? Zeitschrift für Heilpädagogik, 60(5), 171–179. Kunz, A. & Gschwend, R. (2011). Kooperation im Rahmen der Förderplanung. In Luder, R., Gschwend, R., Kunz, A. & Diezi-Duplain, P. (Hrsg.), Sonderpädagogische Förderung gemeinsam planen. Grundlagen, Modelle und Instrumente für die Praxis (S. 105–128). Verlag Pestalozzianum. Kunz, A., Gschwend, R. & Luder, R. (2011). Webbasierte interdisziplinäre Förderplanung bei auffälligem Verhalten. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, (8), 19–26. Kunz, A., Luder, R., Gschwend, R. & Diezi-Duplain, P. (2012). Schulische Integration, Rollenverständnis, -konflikte. Rollenklärung für eine gemeinsame, interdisziplinäre Förderplanung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 18(9), 5–12. Leidner, M. (2012). Verschiedenheit, besondere Bedürfnisse und Inklusion. Grundlagen der Heilpädagogik. Schneider Verlag Hohengehren. Leonardi, M., Bickenbach, J., Ustun, T. B., Kostanjsek, N. & Chatterji, S. (2006). The definition of disability: what is in a name? The Lancet, 368, 1219–1220. Luder, R. (2016). Integration oder Inklusion? Inklusion konkret, 1(1), 9–14. Luder, R., Gschwend, R., Kunz, A. & Diezi-Duplain, P. (Hrsg.) (2011). Sonderpädagogische Förderung gemeinsam planen. Grundlagen, Modelle und Instrumente für die Praxis. Verlag Pestalozzianum. Plösser, M. (2013). Diversity. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 82(1), 60–63. Ramírez Moreno, M. (2010). Leporello Zusammenarbeit in der Sekundarstufe. Schulamt der Stadt Zürich. UNESCO (2005). Guidelines for inclusion: Ensuring access to education for all. UNESCO.


Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

Links ICF (WHO): www.who.int/classifications/icf/en/ [04.06.2021]. ICF über DIMDI: www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/ [04.06.2021].

25


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.