PolterKompass

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Ersterfassungs­ instrument für sprachtherapeutische Fachpersonen zur Erkennung und ersten Einschätzung von Poltern bei Kindern ab 5 Jahren

Wolfgang G. Braun, Prof. Joëlle Schuler, BA

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik


PolterKompass Der PolterKompass dient zur Ersterfassung von Poltern bei Kindern ab fünf Jahren. Das Tool richtet sich an sprachthera­ peutische Fachpersonen, welche im Kinderbereich tätig sind. Mit Hilfe des PolterKompasses soll die Frage geklärt werden, ob Poltern vorliegen könnte und weitere diagnostische Mass­ nahmen notwendig sind.

Der PolterKompass versteht sich als ein orientierendes Hilfs­ instrument zur Erkennung und ersten Einschätzung von Poltern und nicht als ein evaluiertes Diagnostikmaterial.

Poltern als mehrdimensionale Kommunikationsstörung Bei Poltern handelt es sich um eine Kommunikationsstörung mit Leit-, Kern- und Begleitsymptomen. Der Sprachfluss erweist sich als sehr unregelmässig. Dabei fällt primär ein erhöhtes und / oder irreguläres Sprechtempo auf (Leitsymptom). Nor­ male Unflüssigkeiten in hoher Quantität, phonetisch-phonologi­ sche Auffälligkeiten sowie eine eingeschränkte Selbstwahr­ nehmung sind Kernsymptome. Beim Poltern können sie einzeln

oder in Kombination auftreten. Begleitsymptom wie z. B. ein­ geschränkte Verständlichkeit bei unpräziser Artikulation, eine Beeinträchtigung pragmatisch- kommunikationsorganisa­ torischer Fähigkeiten sowie weiterer Auffälligkeiten bezogen auf Schriftsprache und exekutiver Funktionen ergänzen das Erscheinungsbild von Poltern.

Wichtige Aspekte Vorübergehende Sprechkontrolle Polterer sind in der Lage, ihr Sprechen kurzzeitig kontrollieren und somit die Poltersymptomatik unterdrücken zu können. Dieses Merkmal ist bei der Erfassung von Poltern zwingend

zu beachten. Es ist also möglich, dass sich die Poltersympto­ matik erst nach einigen Sprachproben in unterschiedlichen Settings zeigt.

Besonderheiten der Zielgruppe Im Rahmen des Störungsbildes Poltern sind Auffälligkeiten im Sprachsystem feststellbar. Diese müssen zwingend von einer Spracherwerbsstörung abgegrenzt werden. Zum anderen müs­ sen Auffälligkeiten der Schriftsprache, welche ein Begleitmerk­ mal der Poltersymptomatik darstellen können, sorgsam gewer­ tet werden. Je nach Alter befinden sich die Kinder erst im

Erwerb dieser Fertigkeiten, was altersbedingte Auffälligkeiten zur Folge haben kann. Der Aspekt, dass sich die jüngeren Kinder noch im Spracherwerb befinden, muss zudem bei den Auffällig­ keiten des Redeflusses wie auch bei den kommunikativen sowie nichtsprachlichen Merkmalen berücksichtigt werden.

Abgrenzung von Poltern Neben dem Poltern gibt es weitere sprachliche Phänomene, welche die für Poltern entscheidenden Merkmale aufweisen. Die Abgrenzung ist wichtig. Störungsbild

Beschreibung

Stottern

Beim Störungsbild Stottern sind wie beim Poltern Sprechunflüssigkeiten beobachtbar. Die Un­flüssigkeiten beim Stottern sind jedoch durch hochfrequente Laut- und Teilwortwieder­ holungen, Dehnungen, Blockaden sowie einer insgesamt spannungsreichen Symptomatik geprägt. Während Stotterer oftmals ein starkes Störungsbewusstsein zeigen, ist bei Polterer eine eingeschränkte Symptomwahrnehmung erkennbar. Stottern und Poltern können auch in Kombination auftreten.

Schnellsprechen

Unter dem Begriff Schnellsprechen wird eine reine Tachylalie verstanden. Dabei werden die Sequenzen des schnellen Sprechens als flüssig, verständlich und kommunikativ kompetent wahrgenommen.

Spracherwerbsstörung

Während sich Kinder noch in ihrer Sprachentwicklung befinden, ist deren Sprache teils durch Auffälligkeiten gekennzeichnet. Diese Abweichungen können sich auf allen sprachstrukturel­ len Ebenen zeigen. Diese Auffälligkeiten sind bei einer Spracherwerbsstörung allerdings nicht an eine Auffälligkeit des Sprechtempos gekoppelt.


Durchführung Voraussetzung für die Durchführung des PolterKompasses sind mehrere Sprachproben des Kindes in verschiedenen Settings, welche Aussagen über die Spontansprache des Kindes erlauben.

Je nach Alter oder Schulstufe des Kindes sollen zudem die schriftsprachlichen Fertigkeiten überprüft werden. Dies soll mit­ tels einer Lese- sowie Schreibprobe erfolgen.

Aufbau und Auswertung des PolterKompasses Der Beobachtungsbogen des PolterKompasses wird in vier Teile gegliedert. Die einzelnen Kategorien werden unterschiedlich

gewichtet. Somit fällt die Auswertung der einzelnen Items ver­ schieden aus, was in der folgenden Tabelle erläutert wird.

Erläuterung

Auswertung

Teil 1 Leitsymptomatik

Das Sprechtempo (zu schnell / irregulär) wird als verbindliches Symptom von Poltern angesehen

Auffälligkeiten im Bereich Sprechgeschwin­ digkeit sind für weiterführende abklärende Massnahmen bezüglich Poltern zwingend.

Teil 2 Kernsymptomatik

Besteht aus drei Items: – Phonetisch-phonologische Auf­f ällig­keiten – Sprech­­­un­flüssigkeiten – Eingeschränkte Selbst­wahrnehmung

Zusätzlich zum Leitsymptom muss mindes­ tens ein Kernsymptom beobachtbar sein. Ist dies nicht der Fall, besteht keine Indikation für weitere Abklärungsmassnahmen bezüg­ lich Poltern.

Sie sind als weitere entscheidende Beobach­ tungskriterien für Poltern zu werten.

Je mehr Kernsymptome beobachtet wer­ den können, als desto stärker erweist sich der Verdacht Poltern.

Teil 3 Begleitsymptomatik

Stellt eine Aufzählung von fakultativen Symp­ tomen dar, z. B. Schwierig­keiten im kommu­ nikativen Verhalten, Mühen im Lesen und Schreiben.

Diese möglichen Begleitsymptome verstär­ ken den Verdacht auf Poltern. Sie sind jedoch lediglich als bekräftigende Hinweise zu wer­ ten und stellen für sich alleine keine Not­ wendigkeit weiterer Massnahmen in Bezug auf Poltern dar.

Teil 4 Abgrenzung von Poltern

Im letzten Teil «Abgrenzung von Poltern» werden drei sprachliche Phänomene auf­ geführt. Dieser Teil ermöglicht eine Abgren­ zung zu Stottern, Schnellsprechen und Spra­ cherwerbsstörung.

Wenn das Beobachtungskriterium gar nicht beobachtet werden kann, ist keine Beurtei­ lung des Items möglich. Sollte eines oder mehrere der Beobach­ tungskriterien nicht zutreffen (Nein-Ant­ wort), sind weitere diagnostische Massnah­ men in Bezug auf das jeweilige sprachliche Phänomen angezeigt. Wichtig: Die beiden Störungsbilder Poltern und Stottern können häufig auch in Kombi­ nation auftreten.

Schlussfolgerung Ziel des PolterKompasses ist es, für das Störungsbild Poltern zu sensibilisieren und Fachpersonen ein ökonomisches Instru­ ment für die Erkennung und Ersterfassung von Poltern an die Hand zu geben. Das Tool lässt keine Klassifizierung «Poltern – ja oder nein» zu, sondern soll den Verdacht Poltern abschwächen

oder erhärten sowie eine erste Beschreibung der Symptomatik ermöglichen. Diese Ersterfassung kann dann auch Grundlage für die Beratung der Bezugspersonen sein.


Vertrieb Download www.hfh.ch/kompasse

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kompasse@hfh.ch


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PolterKompass

Ersterfassungsinstrument für sprachtherapeutische Fachpersonen zur Erkennung und ersten Einschätzung von Poltern bei Kindern ab 5 Jahren Wolfgang G. Braun, Prof. und Joëlle Schuler, BA

Name, Vorname:

Geburtsdatum:

Datum Ersterfassung:

1. Leitsymptomatik Beobachtungskriterium

Erläuterung

Erhöhtes Sprechtempo

Das Kind spricht teilweise sehr schnell.

Irreguläres Sprechtempo

Die Sprechgeschwindigkeit des Kindes erweist sich teilweise als unregelmässig.

Ja

Nein

Ja

Nein

2. Kernsymptomatik Beobachtungskriterium

Erläuterung

Phonetisch-phonologische Auffälligkeiten

Beim Sprechen treten zum Teil Auslassungen, Verschmelzungen und artikulatorische Abweichungen von Lauten, Silben, Wörtern und Phrasen auf. Beispiele: «sozsagn» statt «sozusagen», «Das gudee» statt «Das ist eine gute Idee».

Sprechunflüssigkeiten

Das Kind zeigt normale Unflüssigkeiten, welche häu­ figer als bei Normalsprechenden beobachtbar sind. Das Sprechen ist manchmal durch Satzteil-, Wort- und Teilwort-Wiederholungen, Unterbrech­ un­ gen, Satz­ abbrüche und  /  oder Interjektionen gekennzeichnet. Die Unflüssigkeiten werden auf einem niedrigen Spannungslevel produziert. Beispiele: «Ich spiele, ich spiele mit dem dem Ball» «also», «ehm».

Eingeschränkte Selbstwahrnehmung

Das Kind zeigt ein mangelndes Störungsbewusstsein. Die sprachlichen Auffälligkeiten werden aufgrund des eingeschränkten Störungsbewusstseins oftmals gar nicht vom Kind selber bemerkt. Das hat wenige Selbstkorrekturen zur Folge. Beispiel: Da dem Kind das unverständliche Sprechen selbst nicht auffällt, wird die auffällige Sprechsequenz auch nicht korrigiert.

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3. Begleitsymptomatik

Das Sprechen ist teilweise schwer verständlich oder phasenweise gar unverständlich.

Die sprachlichen Auffälligkeiten können kurzzeitig kontrolliert und unterdrückt werden.

Es können teilweise prosodische Auffälligkeiten wahrgenommen werden. – Diese können sich durch regelwidrige Pausensetzung, falsche Betonung wie auch eine unpassende Sprechlautstärke zeigen.

Das Kind zeigt teils Auffälligkeiten im Sprachsystem. – Die sprachlichen Diskrepanzen können das Sprachverständnis, die Bereiche Phonetik / Phonologie, Semantik / Lexikon, Morphologie / Syntax sowie Pragmatik wie auch die sprachliche Strukturierung betreffen.

Zum Teil werden Schwierigkeiten im kommunikativen Verhalten beobachtet. – Die Defizite können unter anderem beim Einhalten von Kommunikationsregeln, beim Antwort- sowie Reparaturverhalten wie auch beim Interpretieren von nonverbaler Kommunikation beobachtet werden.

Es können teilweise Auffälligkeiten beim Lesen und / oder Schreiben festgestellt werden. – Diese gehen oftmals auch mit einem erhöhten Lese- / Schreibtempo einher. Zudem können beim Schreiben auch graphomotorische Auffälligkeiten auftreten.

Teilweise sind Auffälligkeiten der exekutiven Funktionen erkennbar. – Diese zeigen sich oftmals als Störungen der Aufmerksamkeit, der Konzentration oder als Inkongruenz zwischen Sprechen und Denken («schlecht organisiertes Denken»).

Es ist ein familiäres Auftreten von Poltern oder anderen Sprach- beziehungsweise Sprechstörungen bekannt.


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4.

Abgrenzung von Poltern

Anmerkungen: –

Sofern das Beobachtungskriterium nicht beobachtet werden kann, ist keine Beurteilung des jeweiligen Items möglich.

Eine Nein-Antwort spricht gegen Poltern und für das jeweilige sprachliche Phänomen. Abgrenzung zu

Beobachtungskriterium

Stottern *

Unflüssigkeiten?

Ja

Nein

Bei den Unflüssigkeiten handelt es sich um funktionelle, normale Unflüssigkeiten. Diese sind spannungsfrei und weder durch Blockaden, Dehnungen noch Laut-Repetitionen gekennzeichnet. Schnellsprechen

Auffällige Sprechgeschwindigkeit? Die schnellen Sprechanteile werden als unflüssig und unverständlich wahrgenommen. Das Sprechen ist durch phonetisch-phonologische Auffälligkeiten gekennzeichnet.

Spracherwerbsstörung

Sprachliche Auffälligkeiten? Die sprachlichen Auffälligkeiten gehen mit einem erhöhten Sprechtempo einher. Mit einer Verlang­sa­ mung des Sprechtempos können die sprachlichen Abweichungen reduziert werden.

* Stottern und Poltern können auch in Kombination auftreten.

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Quantitative Auswertung Teil 1

Anzahl Ja-Antworten

Leitsymptomatik

Teil 2

Anzahl Ja-Antworten

Kernsymptomatik

Teil 3

Anzahl Ja-Antworten

Begleitsymptomatik

Qualitative Auswertung Ersterfassung Poltersymptomatik

Teil 1 und Teil 2

Bei Poltern muss mindestens ein Item der Leit- und ein Item der Kernsymptomatik beo­ bachtbar sein (Ja-Antworten). Sofern dies nicht der Fall ist, sind keine weiteren diagnostischen Massnahmen in Bezug auf Poltern angezeigt.

Teil 3

Beobachtbare Items der Begleitsymptomatik bestärken den Verdacht auf Poltern.

Je mehr Ja-Antworten bei Teil 1 bis Teil 3 markiert werden, desto eher sind weiterführende Massnahmen bezogen auf das Störungsbild Poltern notwendig. Abgrenzung von Poltern

Teil 4

Wird eines der Beobachtungskriterien mit Nein beantwortet, werden weiterführende diagnostische Massnahmen in Bezug auf das jeweilige Phänomen empfohlen.

Empfehlung weiteres Vorgehen

Keine Massnahmen nötig

Weitere diagnostische Massnahmen Poltern

Weitere diagnostische Massnahmen: Stottern Schnellsprechen

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