SpracherwerbsKompass

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Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich bezüglich Beratungs- und Abklärungsbedarf bei Sprachauffälligkeiten für Kinder im Alter von 2;6 bis 4;0 Jahren.

Nicole Brand, Wolfgang G. Braun, Prof., Barbara Bründler, Corinne Englert

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik


SpracherwerbsKompass Ziel Der SpracherwerbsKompass ist eine Entscheidungshilfe, die im Frühbereich tätigen Fachpersonen wie beispielsweise KleinkinderzieherInnen oder KinderärztInnen die Entscheidung erleichtern soll, ob eine logopädische Beratung oder Abklärung zu empfehlen oder einzuleiten ist. Dabei soll es im Sinne sekundärer Prävention Ziel sein, Kinder im Alter von 2;6 bis 4;0 Jahren mit einem Risiko für spezifische Spracherwerbsstörungen und Sprachauffälligkeiten zu erkennen, um allenfalls logopädische Interventionen einleiten zu können. Der SpracherwerbsKompass ist für Kinder mit Erstsprache Deutsch konzipiert, die keine sensorischen, schwerwiegend neurologischen, emotionalen oder kognitiven Schädigungen aufweisen. Er enthält Beobachtungskriterien zu Sprachproduktion, Kommunikation, Spiel- und Sozialverhalten. Es muss betont werden, dass es sich beim SpracherwerbsKompass nicht um ein evaluiertes diagnostisches Instrument, sondern um eine informelle Entscheidungshilfe handelt.

Der SpracherwerbsKompass entstand im Rahmen einer Bachelor-These des Studiengangs Logopädie an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich. Er wurde aufgrund von Interviewaussagen von Fachleuten aus dem Frühbereich sowie im Frühbereich tätigen LogopädInnen mittels qualitativem Forschungsverfahren erarbeitet und in Form einer Literaturrecherche abgesichert. Meilensteine des Spracherwerbs Innerhalb des gesunden Spracherwerbs besteht eine grosse Entwicklungsvariabilität. Dieser Umstand wurde durch eine gemässigte Formulierung der Beobachtungskriterien berücksichtigt. Die folgenden Angaben zu wichtigen Entwicklungsschritten des normalen Spracherwerbs (Meilensteine) sollen einen Überblick und eine Orientierungshilfe geben:

Entwicklung

Entwicklungsschritte Alter

Sprachproduktion

Sprachverständnis

1. Lebensjahr (bis 12 Monate)

–  Gurren und Lallen –  Erste Wörter

–  Erstes Wortverständnis

2. Lebensjahr (13 bis 24 Monate)

–  Produktion von mindestens 50 Wörtern – Zweiwortäusserungen –  Fragen mithilfe der Satzmelodie

–  Verstehen von ca. 200 Wörtern –  Wörter sind eng an Situationen gebunden –  Verstehen von Wortkategorien

3. Lebensjahr (25 bis 36 Monate)

–  Wortschatzspurt (ab 50 Wörtern) – Mehrwortäusserungen –  Einfache Sätze –  Entwicklung der Grammatik: Hauptsätze mit Verb an zweiter Stelle, Verneinung, Präpositionen –  Wo-, Was-, Wer-Fragen

–  Verstehen von Wo-, Was-, Wer-Fragen –  Verstehen von nichtsituativen Aufforderungen

4. Lebensjahr (37 bis 48 Monate)

–  Stetige Zunahme des Wortschatzes –  Haupt- und Nebensätze –  Äusserungen über Vergangenes und Zukünftiges –  Warum-, Wann-Fragen

–  Verstehen von Warum-Fragen –  Verstehen von absurden Aufforderungen –  Verstehen von kurzen Geschichten

Angelehnt an Grimm, H. (2003), Kany, W. & Schöler, H. (2007), Kottmann, U. (o. J.) und Wendlandt, W. (2000).


Aufbau des SpracherwerbsKompass Der SpracherwerbsKompass beinhaltet zwei Erfassungsbögen:

Bogen 1

für Kinder im Alter zwischen 2;6 und 3;0 Jahren

Bogen 2

für Kinder im Alter zwischen 3;0 und 4;0 Jahren

Die Bögen bauen nicht aufeinander auf und sind entsprechend dem Lebensalter des Kindes zu wählen. Sie sind je in drei Teile unterteilt:

Der erste Teil thematisiert Druck oder Sorgen seitens der Eltern, die für eine logopädische Beratung oder Abklärung ausschlaggebend sein können. Untersuchungen belegen, dass die Einschätzungen der Eltern bezüglich der Sprachentwicklung ihres Kindes oft sehr genau zutreffen.

Der zweite Teil besteht aus je 14 Beobachtungskriterien, die von der Fachperson im Frühbereich in Bezug auf das beobachtete Kind als zutreffend oder nicht zu beurteilen sind. Die Beobachtungskriterien sind positiv formuliert, so dass die Beurteilung ressourcenorientiert ausfällt.

Der dritte Teil benennt zusätzliche Faktoren, die eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen können. Diese sind nicht direkt zu beobachten, sondern müssen bei nahen Bezugspersonen des Kindes erfragt werden.

Auswertung und Empfehlungen Wenn sich Eltern bezüglich des Spracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen (Teil 1), ist der Austausch mit einer logopädischen Fachperson in jedem Fall empfehlenswert. Je mehr der Beobachtungskriterien (Teil 2) auf das Kind zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass keine logopädische Beratung oder Abklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen, empfehlen wir auf jeden Fall den Austausch mit Eltern und / oder eine logopädische Beratung bzw. Abklärung. Eine Beratung bzw. Abklärung kann, muss aber nicht in eine Sprachtherapie münden. Zusätzliche Faktoren (Teil 3) können die Entscheidung für eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen. Das alleinige Zutreffen einzelner Faktoren reicht jedoch nicht aus, um eine logopädische Intervention zu empfehlen.

Forschungsprojekt PSI Das Forschungsprojekt «Prävention von Sprachentwicklungsstörungen in pädagogischen Institutionen PSI» der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH, unter der Leitung von Prof. Wolfgang G. Braun und Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner, ermöglichte die Entwicklung des vorliegenden SpracherwerbsKompasses. Der SpracherwerbsKompass sowie die Bachelor-These von Nicole Brand, Barbara Bründler und Corinne Englert sind als Download auf der Website www.logopaedieundpraevention.hfh.ch verfügbar. Rückmeldungen werden gerne entgegengenommen: kompasse@hfh.ch


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HfH 2020 © Brand, Braun, Bründler, Englert web nb

kompasse@hfh.ch


Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

SpracherwerbsKompass Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich Kinder im Alter von 2;6 bis 3;0 Jahren Name, Vorname:

Geburtsdatum:

Untersuchungsdatum:

Anzahl Ja-Antworten:

Wenn sich Eltern bezüglich des Spracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen, ist eine logopädische Beratung oder Abklärung sehr sinnvoll. Dadurch werden die Sorgen der Eltern ernst genommen und ein weiteres Vorgehen kann gemeinsam initiiert werden.

Ja Nein Sprachproduktion und Kommunikation

Das Kind spricht schon seit einiger Zeit in Worten (Fokus Sprechbeginn).

Das Kind kann sich verbal ausdrücken, d. h. es verwendet stellvertretend kaum Zeigegesten.

Das Kind kann sich verbal ausdrücken, d. h. es verwendet stellvertretend kaum Passepartoutwörter wie «so» und «da».

Das Kind spricht im Alter von 2;6 Jahren mindestens 50 Wörter. Dabei muss klar sein, was benannt wird, die Wörter müssen aber nicht korrekt ausgesprochen werden (z. B. «Bunnen» für «Brunnen», «Sif» für «Schiff»).

Das Kind produziert im Alter von 2;6 Jahren Zweiwortäusserungen (z. B. «Papa weg», «Mama schlafen»).

Das Kind stellt Fragen mithilfe der Satzmelodie (z. B. «Papa essen?»).

Das Kind äussert sich gegenüber fremden Kindern.

Die sprachlichen Äusserungen des Kindes werden von anderen Kindern verstanden.

Die sprachlichen Äusserungen des Kindes werden von Drittpersonen aus der Familie (z. B. Oma, Onkel) verstanden.

Das Kind macht positive Erfahrungen in der verbalen Kommunikation, d. h. es muss kommunikativen Anlässen nicht ausweichen.

Das Kind macht positive Erfahrungen in der verbalen Kommunikation, d. h. es zeigt keine Reaktionen wie Frustration oder Wut auf misslungene verbale Kommunikation.

Das Kind reagiert auf einfache Anweisungen wie erwartet, ohne dass die Aufforderungen mit Zeigegesten begleitet werden müssen (Fokus Sprachverständnis). Spiel- und Sozialverhalten

Das Kind nimmt aktiv am Spiel mit anderen Kindern teil, d. h. es wird nicht aufgrund misslungener verbaler Kommunikation von den anderen Kindern ausgeschlossen.

Das Kind kann beim Spielen ‹so tun als ob›, d. h. seine Spielhandlungen sind nicht mehr direkt an die vorhandenen Gegenstände geknüpft (z. B. kann das Kind eine Puppe mit Knetmasse füttern).

Auswertungsrichtlinien: Je mehr der oben genannten Beobachtungskriterien auf das Kind zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass keine logopädische Beratung oder Erstabklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen, empfehlen wir auf jeden Fall den Austausch mit den Eltern und / oder eine logopädische Beratung bzw. Abklärung.

Weitere Faktoren, die eine Beratung oder Abklärung durch eine logopädische Fachperson bekräftigen: - Verunsicherung der Eltern - Sozioökonomischer Hintergrund - Männliches Geschlecht (Sprachauffälligkeiten sind bei Knaben häufiger) - Komplikationen bei der Geburt - Sprachauffälligkeiten in der Familie

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Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

SpracherwerbsKompass Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich Kinder im Alter von 3;0 bis 4;0 Jahren Name, Vorname:

Geburtsdatum:

Untersuchungsdatum:

Anzahl Ja-Antworten:

Wenn sich Eltern bezüglich des Spracherwerbs ihres Kindes Sorgen machen, ist eine logopädische Beratung oder Abklärung sehr sinnvoll. Dadurch werden die Sorgen der Eltern ernst genommen und ein weiteres Vorgehen kann gemeinsam initiiert werden.

Ja Nein Sprachproduktion und Kommunikation

Das Kind kann sich verbal ausdrücken, d. h. es verwendet stellvertretend kaum Passepartoutwörter wie «so» und «da».

Das Kind spricht im Alter von 3;0 Jahren mindestens 100 Wörter. Dabei muss klar sein, was benannt wird, die Wörter müssen aber nicht korrekt ausgesprochen werden (z. B. «Bunnen» für «Brunnen», «Sif» für «Schiff»).

Das Kind macht im Alter von 3;0 Jahren kurze, einfache Sätze (z. B. «Ich habe Hunger!»).

Das Kind verfügt im Alter von 4;0 Jahren über Haupt- und Nebensätze (z. B. «Wir gehen in den Zirkus, wenn Papa kommt.»).

Das Kind stellt Fragen (z. B. «Hast du geschlafen?»).

Das Kind kann sich über Vergangenes und Zukünftiges verbal äussern.

Die sprachlichen Äusserungen des Kindes werden von anderen Kindern verstanden.

Die sprachlichen Äusserungen des Kindes werden von Drittpersonen (nahe Bezugspersonen wie z. B. Oma, Onkel, Spielgruppenleiterin) verstanden.

Das Kind macht positive Erfahrungen in der verbalen Kommunikation, d. h. es muss kommunikative Anlässe nicht meiden.

Das Kind macht positive Erfahrungen in der verbalen Kommunikation, d. h. es zeigt keine Reaktionen wie Frustration oder Wut auf misslungene verbale Kommunikation.

Das Kind reagiert auf einfache mehrteilige Anweisungen wie erwartet, ohne dass die Aufforderungen mit Zeigegesten begleitet werden müssen (Fokus Sprachverständnis). Spiel- und Sozialverhalten

Das Kind nimmt aktiv am Spiel mit anderen Kindern teil, d. h. es wird nicht aufgrund misslungener verbaler Kommunikation von den anderen Kindern ausgeschlossen.

Das Kind kann beim Spielen einzelne alltägliche Handlungen aneinanderreihen (z. B. kann das Kind einer Puppe die Haare waschen, anschliessend kämmen und frisieren).

Das Kind zeigt Interesse an Bilderbüchern.

Auswertungsrichtlinien: Je mehr der oben genannten Beobachtungskriterien auf das Kind zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass keine logopädische Beratung oder Abklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen, empfehlen wir auf jeden Fall den Austausch mit den Eltern und / oder eine logopädische Beratung bzw. Abklärung.

Weitere Faktoren, die eine Beratung oder Abklärung durch eine logopädische Fachperson bekräftigen: - Verunsicherung der Eltern - Sozioökonomischer Hintergrund - Männliches Geschlecht (Sprachauffälligkeiten sind bei Knaben häufiger) - Komplikationen bei der Geburt - Sprachauffälligkeiten in der Familie

HfH 2020 © Brand, Braun, Bründler, Englert web nb


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