HKB-Zeitung 2/2020

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HKB-Zeitung

N°2/2020 Hochschule der Künste Bern HKB

Juni 2020 4 × jährlich

Extranummer: Corona, Kunst und die HKB 5

« Ich habe eine Wut im Bauch» Interview mit Myriam Gallo

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« Der Mensch fürchtet den Tod weniger als die Armut» Interview mit Lukas Bärfuss

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«Der Austausch mit dem Publikum ist so wichtig» Interview mit Soukey

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«Tragödie ist überall, ebenso die Komödie» Interview mit Nik Bärtsch

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« Das Fehlen einer gemeinsamen Agenda ist ein grosses Manko» Interview mit Carola Ertle Ketterer

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« Das analoge Theater fehlt mir sehr» Interview mit Stephan Eberhard

10 «  Je crois au ‹long-seller›, plus que jamais » Entretien avec Caroline Couteau

12 « Wissen von heute kann Irrtum von morgen sein» Interview mit Yasemin Tutav

11 « Betroffenheitskitsch soll nicht gefördert werden» Interview mit Luigi Archetti

14 Die Bedeutung von Kunst und Kultur steht auf dem Prüfstand Stellungnahme von Ruth Schweikert


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HKB -ZEITUNG

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Liebe Kolleg*innen

EDITORIAL

Im Begriff des «Kleinlauten» schwingt eine neue Demut mit, die uns gut ansteht, um die Gestaltung der Zukunft mit Bedacht, Um- und Rücksicht an die Hand zu nehmen. Das gilt auch für die HKB. Es gilt für den Umgang mit unseren Ressourcen, für die Wertschätzung gegenüber unseren Kolleginnen und Kollegen in- und ausserhalb der Hochschule, für unsere Solidarität mit all denjenigen, die in der aktuellen Krise Verwandte, Freunde oder ihre soziale Sicherheit verloren haben. – Ich bin froh, dass wir den Begriff der «gesellschaftlichen Verantwortung» in der neuen HKB Strategie ganz nach vorne gestellt haben. Es wird in Zukunft vor allen Dingen darum gehen, den Dialog zwischen Kunsthochschule und Gesellschaft zu intensivieren. Das sind wir der Generation unserer Studierenden schuldig, die eine Antwort erwarten auf viele Fragen, die in der Krisenzeit wie unter einem Brennglas an Dringlichkeit gewonnen haben, denn «es steht», wie Ruth Schweikert schreibt, nichts weniger als «die Bedeutung von Kunst und Kultur auf dem Prüfstand». Auf dem Prüfstand war in der Krisenzeit auch das Funktionieren unserer Hochschule. Zwar wurde der Präsenzunterricht eingestellt, doch ging der Unterricht in den meisten Fällen auf digitalem Wege weiter. Dabei entstanden sowohl innovative Formen des Unterrichts als auch viele originelle künstlerische Manifestationen: wer beispielsweise die Home Operas des Opernstudios, die OnlineAusgabe des diesjährigen à suivre Festivals des Bachelor Sound Arts oder – schon im April – die Semesterarbeiten des Master Theater als Online-Liveformat gesehen hat (um nur einige zu nennen), war schlichtweg begeistert von der Vielfalt kreativer Handschriften im digitalen Medium. Das macht Lust auf viele weitere Online-Produktionen, die im Rahmen der diesjährigen Abschlussarbeiten im Verlauf von Juni und Juli noch zu sehen sein werden. All das war und wird nur möglich sein dank des enormen Einsatzes vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HKB, die grosse Teile unserer Ausbildungen unter den gegebenen Bedingungen «neu erfinden» mussten: ich danke Euch allen von Herzen für den beeindruckenden Effort, der geleistet wurde! Das grosse Engagement unserer Mitarbeitenden zeigte sich übrigens auch in ihrer Solidarität mit denjenigen Studierenden, die wegen der Coronakrise in Bedrängnis geraten waren. Über 70 000 Franken wurden von internen und externen Personen für unseren Stipendienfonds gespendet, damit wir unbürokratisch helfen konnten. Vielen Dank auch dafür! Wenn wir zu Beginn des Herbstsemesters im September hoffentlich unsere Türen wieder öffnen und unsere Studierenden im Präsenzunterricht empfangen können, werden wir darüber nachzudenken haben, welche Lehren aus der Krisenzeit zu ziehen sind, und welche positiven Erfahrungen wir auch in Zukunft fest in unserer Institution verankern können. Ich freue mich auf diese Reflexionen: sie sind nötig, wenn die Coronakrise im Rückblick nicht nur als Periode der Einschränkungen «abgehakt» werden soll. Ich wünsche euch allen einen guten Semesterendspurt und eine erholsame Sommerzeit.

Prof. Dr. Thomas Beck, Direktor der HKB

Christian Pauli * Im letzten Februar haben wir uns in der HKBZeitung mit dem Thema Übersetzen befasst. Eine gleichnamige Veranstaltungsreihe wollte die kulturelle Strategie der Übersetzung zur Diskussion stellen. Indes mussten sämtliche Veranstaltungen des Laboratoriums Übersetzen im Zuge der Corona-Massnahmen abgesagt werden. Statt in den Dialog mit ihrem Umfeld zu treten, war auch die HKB erst mal auf sich selbst zurückgeworfen. Jetzt, da wir wieder da sind, sukzessive zurückbuchstabierend in eine ungewohnte Normalität, wollen wir mit dieser Extranummer der HKB-Zeitung kurz innehalten. Wie geht es euch? Was sind eure Erfahrungen in der Corona-Zeit? Was für Konsequenzen stellen sich? Wir haben neun Personen aus dem Umfeld der HKB nach ihrer Situation befragt. Die Redaktion liess individuell geprägte Formulierungen und Schreibweisen der Antworten stehen. Lesen Sie, was Kulturschaffende aus allen Richtungen und Milieus denken, wenn sie an Corona denken, und damit an ihr Leben und ihr Wirken Anfang/Mitte Mai. Autorin und HKB-Dozentin Ruth Schweikert reflektiert die hier gebündelten Erfahrungen, Gedanken und Forderungen am Schluss dieses Zeitungsbundes. Diese HKB-Zeitung geht erstmals auch an alle Studierenden und Mitarbeitenden der HKB: Wir heissen euch an dieser Stelle herzlich willkommen. Willkommen in einer neu-alten Welt, die wir nur gemeinsam und im Dialog verändern und entwickeln können. Lasst uns wissen, was ihr davon denkt: publikationen@hkb.bfh.ch. Wir freuen uns auf Kommentare und hoffen, Sie im September wieder mit einer regulären HKBZeitung und damit Hinweisen auf Veranstaltungen der HKB bedienen zu können. Die Veranstaltungen Laboratorium Übersetzen werden übrigens im Frühjahr 2021 nachgeholt. *

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Text

HKB -ZEITUNG

Mit den vom Bundesrat ausgerufenen Lockerungsmassnahmen Anfang Juni bewegt sich auch die HKB nach Monaten des Ausnahmezustands Schritt für Schritt Richtung Normalbetrieb. Wenn Ruth Schweikert in ihrem Kommentar in dieser Zeitung von einer «lautlosen (kleinlauten) Rückkehr zur Normalität» schreibt, so gefällt mir das «Kleinlaute» ganz besonders gut. Waren wir nicht alle in den vergangenen Monaten viel zu sehr auf uns selbst zurückgeworfen, mit Phasen der Einsamkeit, der Verunsicherung und des Zweifelns beschäftigt, um jetzt unbeschwert einfach wieder auf «normal» umstellen zu können? Hat die Krise etwas mit uns gemacht? Haben wir aus COVID-19 etwas gelernt?

Redaktionsleiter HKB-Zeitung

Die Präsentationen der Diplomveranstaltungen der HKB im Frühlingssemester 2020 mussten verschoben werden, respektive umziehen. Sie finden heuer online statt. Hier finden Sie eine Übersicht: hkb.bfh.ch/diplome-2020

Die Illustrationen in dieser Zeitung stammen vom HKB-Alumnus Dario Forlin.

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HKB -ZEITUNG

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Myriam Gallo

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«ICH HABE EINE WUT IM BAUCH» Virginie Halter *

Was läuft schief hinsichtlich Staat, Verwaltung und Behörden? Ohne Staat wäre unser neoliberales Wirtschaftssystem nach spätestens einer Woche völlig zusammengebrochen. Staaten, die das Gesundheits- und das Sozialwesen abgebaut haben, sind aktuell stärker von der Krise betroffen, weil diese Auffangnetze fehlen. Gesamtgesellschaftlich regt sich erstaunlich wenig Widerstand. Ich habe deswegen eine Wut im Bauch. Als Erstes wird den grossen Playern unter die Arme gegriffen, Banken, Aktionär*innen, Grosskonzernen und Immobilienbesitzer*innen. Von dem 60-Milliarden-Hilfspaket vom Bund wird mehr als die Hälfte der Bevölkerung nur einen Viertel des Geldes sehen – verbunden mit massiven Wartezeiten, Auflagen und Hindernissen. Da bin ich sehr enttäuscht. Die, die es jetzt am härtesten trifft, sind Randgruppen, Migrant*innen, Geflüchtete, Leute im Niederjobsektor. Darunter sind viele Frauen*, auch das macht mich wütend. Dass gerade die ganzen 1.-MaiDemonstrationen in den digitalen Raum verschoben werden, lässt die Energie einfach verpuffen. Einkaufen gehen darf man, aber seine Meinung im öffentlichen Raum äussern, das darf man nicht. Siehst du Möglichkeiten, die sich durch die Corona-Krise eröffnen? Gut, dass sich das Parlament wieder einschaltet und wir in einer Demokratie leben. Diese Diskussionen zu Mieterlass und Verbot von Dividendenauszahlung bei Kurzarbeit müssen geführt werden. Gerade in dieser Zeit ist sehr wichtig, dass Graswurzelbewegungen und die gegenseitige Hilfe in der Bevölkerung gepflegt und gestärkt werden. Diese entstehen nicht, weil sie von oben diktiert werden, sondern weil die Leute spüren, dass es wichtig ist. Es ist eine Chance, weiterzudenken – nicht nur bis zu den eigenen Grenzen, aber auch nicht nur an die Menschen, sondern auch an die Natur, an die Umwelt. Ich hoffe sehr fest auf einen gesellschaftlichen Transformationsprozess. Gibt es für dich auch Veränderungen im Bewusstsein der Gesellschaft bezüglich Lokalorientierung? Durch dieses ganze zu Hause bleiben wird es wieder zentraler, selber Sachen herzustellen und zu produzieren, das bemerke ich auch in meinem Umfeld. Es müssen jetzt nicht alle absolute Selbstversorger werden. Aber wenn sich dadurch das Bewusstsein dafür ändert, wird es zum politischen Statement. Abgewertete Hausarbeiten und die der weiblichen Domäne zugeschriebenen Tätigkeiten bekommen eine Aufwertung. Hat Gemeinschaft eine neue Bedeutung für dich erhalten? Die Situation gab mir den Anlass dazu, mich vermehrt damit auseinanderzusetzen, was mir wirklich wichtig ist. Abgeschnitten von meinen persönlichen liebsten Menschen wurde mir bewusst, dass das für mich etwas vom Zentralsten ist; Zeit und Austausch mit Leuten, die ich schätze, gerne mag und die mich lange kennen. Fördert die Corona-Krise ein kulturelles Überangebot zutage? Für mich gibt es im Moment kein kulturelles Überangebot oder wenigstens keines, welches mich interessieren würde. Das Überangebot sehe ich eher in den digitalen Formaten. Kannst du etwas genauer sagen, warum dich solche Angebote nicht interessieren? Oder anders gefragt, muss jetzt alles digital werden?

Braucht es ein Umdenken? Und wenn ja, in welche Richtung? In Krisenzeiten stellt sich heraus, dass sich vermeintlich Erreichtes doch nicht so stark etabliert hat. Gerade was Gleichberechtigung angeht, braucht es mehr denn je ein Umdenken. Das bisschen Applaus für das Pflegepersonal hat etwas Heuchlerisches. Diese Leute nehmen Gefahren auf sich, machen Überstunden und sind unter Umständen noch alleinerziehend. Man spricht jetzt vom Schutz und von der Solidarität gegenüber den Vulnerablen der Gesellschaft. Interessant, dass jetzt plötzlich «der alte, weisse Mann» vulnerabel ist. Bei Randgruppen sieht es ganz anders aus – unsere Solidarität kann doch nicht bei Landesgrenzen aufhören! Und noch zum Thema des hochgelobten Erwerbsersatzes für Selbständige und Künstler*innen.

HKB -ZEITUNG

Myriam Gallo, geboren 1989, ist Künstlerin und Kunstvermittlerin. Sie lebt und arbeitet in Bern und Sent. Gallo ist Mitinitiantin von CO-Labor, einer Initiative, die sich der Entwicklung experimenteller Formate verschrieben hat, die zur Netzwerkbildung der Offszene Berns beitragen. Als langjährige Co-Kuratorin des Projektraumes Sattelkammer sammelte sie kuratorische Erfahrungen. Myriam Gallo studierte Master Art Education an der HKB.

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Interview

Durch meine Arbeit erhalte ich sehr viele Newsletter von Kulturinstitutionen. Ehrlich gesagt, habe ich kein einziges dieser Angebote wahrgenommen. Ich fand die Ausstellung, die das «Grand Palais» mit Géraldine Honauer gemacht hat, ziemlich interessant, weil sie sich mit An- und Abwesenheit beschäftigt hat – sowas macht jetzt Sinn. Die ganze 2-D-Rezeption, die sich nur über Sehen und im besten Fall noch Hören offenbart, ist für mich interessant, wenn es Gespräche, Podcasts oder Musik sind, aber sonst einfach nicht attraktiv. Mit wem würdest du heute am liebsten einen Kaffee trinken? Mein heutiger Tag war gesegnet mit Begegnungen, die ich mir eh gewünscht hätte. Ich habe drei gute Freundinnen getroffen, die ich monatelang nicht gesehen hatte. Das ist das höchste der Gefühle. Mehr möchte ich gar nicht. Gibt es Auswirkungen der Corona-Krise auf dein Berufsfeld, die zu deinem beruflichen Albtraum führen würden? Für kulturelle Institutionen werden prekäre Situationen sehr viel schneller Realität werden, als man sich das vor Corona vorgestellt hätte. Wie geht es weiter? Grosse Häuser können weiterbestehen, oder allenfalls fusionieren oder zusammenarbeiten. Kleine und mittlere Institutionen, die es schwer trifft, müssen schliessen, die freie Szene kollabiert oder erfindet sich neu.

Es war immer die Rede von einem Tagessatz von maximal 196 Franken, aber dass es in der Corona-Krise keinen Mindesttagessatz gibt, wusste ich nicht. Im schlechtesten Fall bekommt man einen Tagessatz von Fr. 1.60 – das ist einfach eine verdammte Farce. Warum sagt da niemand etwas dazu und nur die WOZ berichtet darüber? Die NZZ spricht von «Seuchensozialismus» und bezieht selbst Kurzarbeit. Das ist Doppelmoral. Was wirst du nach Corona vermissen? Schwer zu sagen, wie sich das Ganze entwickelt, es wird nie mehr ganz so wie vorher sein. Ich hoffe, dass sich daraus neue Möglichkeiten, Diskussionen, Aktionismus und neue Formen von Widerstand etablieren und sich damit auch das Bewusstsein der Gesellschaft verändert. So weitermachen wie vorher, das möchte ich nicht. *

Virginie Halter ist Geschäftsführerin von HKB geht an Land

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Lukas Bärfuss

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«DER MENSCH FÜRCHTET DEN TOD WENIGER ALS DIE ARMUT»

HKB -ZEITUNG

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Interview

Christian Pauli *

Der Berner Autor Lukas Bärfuss gehört zu den renommiertesten und meist diskutierten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Jüngst hat er sich im Spiegel sehr kritisch zur Schweiz in der Corona-Krise geäussert. Lukas Bärfuss lebt in Zürich und ist Dozent am Y Institut der HKB. Wirst du dich in Zukunft vermehrt lokal orientieren? Gerade jetzt ist es für mich wichtig, über die Grenzen der eigenen Erfahrungen zu blicken und den Kontakt mit Menschen in der ganzen Welt zu pflegen. Man versteht die eigene Situation eigentlich nur in der Begegnung mit den anderen. So scheint es zum Beispiel in der Wahrnehmung dieser Krise einige Gemeinsamkeiten zwischen Ländern, Regierungssystemen und Gesellschaftsformen zu geben. Dazu gehört der Versuch, aus den einzelnen Menschen einen gesellschaftlichen Körper zu bilden. Das mag manchmal unter dem Signum der Nation geschehen, manchmal unter Berufung auf die wirtschaftliche Notwendigkeit, manchmal wird dafür Zwang angewendet und manchmal geschieht es mehr oder weniger freiwillig. In jedem Fall wird deutlich, nach welchen Regeln eine Gesellschaft tatsächlich funktioniert. Es gibt neben den geschriebenen auch die ungeschriebenen. In einigen Ländern wie der Schweiz haben wir in den letzten Wochen verstanden, dass die kapitalistische Wirtschaft an erster Stelle kommt und die Menschen die Krankheit, sogar den Tod, weniger fürchten als die Armut. Und eigentlich ist das auch kaum erstaunlich. Denn schliesslich gab es in den letzten Jahrzehnten kein anderes Heilsversprechen als die wirtschaftliche Prosperität. Das ist vor allem aber deshalb ein Problem,

weil wir bis zu dieser Krise als Gesellschaft dabei waren, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass endloses Wachstum unsere natürlichen Grundlagen zerstört. Und es ist vollkommen unklar, woher eine rein materialistische Gesellschaft die Kraft und den ideellen Überbau nehmen will, um diesen fundamentalen Wandel zu einer ressourcengerechten Gesellschaft zu bewerkstelligen. Hinsichtlich Staat, Verwaltung, Behörden: Was läuft schief? Gouverner, c’est prévoir. Es ist offensichtlich, dass die Behörden im Vorfeld der Pandemie versagt haben. Es gab schliesslich die Gefahrenberichte des Bundes, es gab eine Pandemiekommission, es gab dazu einen Bericht – und alle waren sich einig: Eine Pandemie in einer globalisierten Wirtschaft stellt zusammen mit einer Strommangellage das grösste Risiko dar. Die notwendigen Vorbereitungen lagen auf dem Tisch. Geschehen ist wenig bis nichts. Man müsste jetzt insistieren und fragen, welche Vorbereitungen für die Strommangellage getroffen wurden. Aber es gibt ein viel grundsätzlicheres Problem. Behörden machen Fehler, das ist nur natürlich. Einzelne Ämter, einzelne Personen tragen eine gewisse Verantwortung – aber es bleibt die Pflicht von uns allen, eines jeden Bürgers, sich um den Zustand des Staates zu kümmern. Jeder sollte sich die Frage stellen, in welcher Weise er zum Wohl der Allgemeinheit beitragen will.

Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch die Krise eröffnet? Wie liessen sich diese auch in der Zukunft nutzen? Wofür hast du gegenwärtig mehr Zeit, wofür weniger? Ich war seit vielen Jahren nicht mehr so lange am Stück zu Hause. Ich reise nicht. Ich vermisse es. Aber es geht mir nicht schlecht deswegen. Ich bin ziemlich resilient. Ich habe gelesen, gelesen, gelesen. Muss jetzt alles digital werden? Nein, aber wir haben viel darüber gelernt, was man auch digital erledigen kann und wozu man eine Präsenz braucht. Was wirst du nach Corona womöglich vermissen? Ich werde mich gewiss ein Leben lang an den makellos blauen Himmel erinnern. Braucht es ein grundsätzliches Umdenken? Denken heisst in jedem Fall umdenken. Wir sollten immer in der Lage sein, jenseits unserer Routinen und Selbstverständlichkeiten einen Gedanken zu formulieren, egal ob Krise ist oder nicht. Aber eigentlich ist ja immer Krise, nicht wahr? Schliesslich besteht das erste Prinzip des Daseins aus der unausgesetzten Verwandlung. Und das ist oft schmerzhaft, aber mindestens genauso oft ein Trost. *

Christian Pauli ist Redaktionsleiter der HKB-Zeitung

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Soukey

«DER AUSTAUSCH MIT DEM PUBLIKUM IST SO WICHTIG» Interview

Milena Krstic *

Soukey ist eine 17-jährige Rapperin aus Bern. Als Digital Native aufgewachsen, hat sie sich auf Instagram eine beachtliche Fangemeinde aufgebaut. Sie veröffentlicht in unregelmässigen Abständen eigene Lieder und spielt Konzerte. Soukeys Vater ist Musiker und hat ihr das Trommeln beigebracht. Sie hat sich später Gitarre, Klavier und Klarinette angeeignet und nach der Schule angefangen, eigene Texte zu schreiben und ihr musikalisches Repertoire mit Rap zu ergänzen.

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Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch die Krise eröffnet? Wir Menschen können darüber nachdenken, wie wir handeln: Was tue ich für die Welt, wie behandle ich sie? Ich meine, schon nur die Tatsache, wie sehr die CO2-Emissionen gesunken sind während dem Lockdown! Mir persönlich fällt auf, dass ich mir mehr Gedanken machen kann, wie ich mich als Künstlerin entwickeln will. Dabei ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass man zwar auf sich alleine gestellt ist, jedoch in Verbindung mit sich selbst sein kann. Was wäre aus deiner Sicht die positivste Entwicklung aus dieser Situation? Dass die Menschen beginnen, mehr zu geniessen. Hier in der Schweiz haben wir alles. Und trotzdem gibt es viele, die jammern. Ich für mich weiss, dass alles ein Geben und Nehmen ist, und sage, sooft es geht, «Merci». Wie würden wir diese Entwicklung auch in der Zukunft nutzen? Wenn sich alles beruhigt hat und wir wieder draussen sind, hoffe ich, dass das Zusammensein, ja überhaupt das Dasein, mehr geschätzt wird. Wenn ich so darüber nachdenke, fehlt es mir sehr, in den Ausgang zu gehen. Und dazu gehören für mich auch all die kulturellen Anlässe, an denen wir teilhaben können. Was genau mir daran fehlt? Der Vibe! Und jetzt, wo es warm wird, noch viel mehr.

Wofür hast du jetzt mehr Zeit, wofür weniger? Ich habe mehr Zeit für mich selbst, auch für mein künstlerisches Dasein. Ich kann mich mit mir auseinandersetzen und mir überlegen, was ich promotionstechnisch machen möchte. Ich tausche mich dafür auch mit den Menschen aus, mit denen ich arbeite; meinen Produzenten etwa. Nach den Gesprächen filtere ich heraus, was für mich wichtig ist. Wofür ich weniger Zeit habe? Für den Ausgang! Also eigentlich hätte ich ja schon Zeit, aber eben: Wir dürfen nicht. Was bereitet dir in der gegenwärtigen Situation Sorgen? Die Fallzahlen haben mich beschäftigt. Ich denke dann an meine Familie und mein Umfeld und sorge mich, dass sie sich infizieren könnten. Sowieso frage ich mich, was da auf der Welt gerade passiert und wie es einmal sein wird. Ob wir den Lockdown vergessen und einfach weiterleben wie bisher? Ich kann die Situation nicht einschätzen. Es kann schon sein, dass die Menschen bewusster leben werden. Aber vielleicht stürmen sie, wenn das alles vorbei ist, auch einfach wieder heraus. Warum muss jetzt alles digital werden? Und wie stehst du dazu? Ich finde es grundsätzlich cool, dass auch Kultur digital stattfindet. Ich bin es mir sowieso gewohnt, Videos zu posten und im Internet mit den Menschen zu kommunizieren. Aber der

Unterschied ist, dass jetzt alles digital ist, und das ist auch für mich etwas Neues. Seit ich selbst ein Streaming-Konzert gespielt habe, ist mir bewusst geworden, wie wichtig der Austausch mit dem Publikum ist. Normalerweise gibt man Energie raus und es kommt welche zurück. Stattdessen waren Kameras um mich herum. Das Ganze hat sich eher angefühlt wie eine Probe, so ohne Live-Feedback. Beim Soundcheck habe ich gemerkt, dass ich nicht, wie üblicherweise, im Stehen performen will. Dann habe ich mir einen Barhocker geholt, damit ich mich setzen kann. So war ich ruhiger und konnte mehr bei mir sein. Was lässt sich digital definitiv nicht ersetzen? Der Austausch von Energien. Wenn man hinausgeht, mit Menschen zusammen ist, dann sind da Energien, die man digital nicht hat. Digital findet zwar auch eine Verbindung statt, ist aber von der Qualität her eine andere. Was wirst du nach Corona vermissen? Das Zuhausebleiben, das Wissen darum, dass ich nicht raus muss. Mit wem würdest du heute am liebsten einen Kaffee trinken? Ich möchte mich einfach wieder mit meinen Kolleginnen und Kollegen treffen. Und ich freue mich darauf, dass mir eine Freundin, die Coiffeuse ist, die Haare schneidet! Was denkst du: Braucht es einen Umsturz, ein Umdenken? Ja! In der Gesellschaft sowieso. Man hat ja schon vor der Krise gesehen, dass alles auf Wirtschaft und Geld fixiert ist. Wir sollten uns lieber mehr um das Dasein der Menschen kümmern, um das Wohlbefinden. *

Milena Krstic schliesst im Sommer den BA in Sound Arts ab und ist Musikerin und Journalistin


Nik Bärtsch

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«TRAGÖDIE IST ÜBERALL, EBENSO DIE KOMÖDIE» Nik Bärtsch ist Pianist, Komponist und Musikproduzent in Zürich. Bärtschs Zen-Funk-Quartett Ronin wurde 2001 gegründet, 2009 wurde der weltweit bekannte Musiker Mitbesitzer des Musikklubs Exil in Zürich. Der Groove des Tages? Es ist nicht viel anders für mich, aber die Kinder sind oft zu Hause, ich verliere viel weniger Energie mit Reisen und ich schlafe regelmässig früher ein, weil ich keine Konzerte gebe. Die Kraft des Virus. Was ist dein Aikido-Move? Konntest du es in etwas Positives verwandeln? Um Kunst, Musik oder eine eigene Biografie zu machen, braucht es immer viel Kraft. Es braucht Enthusiasmus, Konzentration. Man muss lernen, Dinge wegzulassen. Es gibt immer Probleme. Sei es bezüglich der Familie, der eigenen Gesundheit, der Gesellschaft, des Geldes. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Ausreden zu finden und sich selbst eine Sackgasse zu schaffen. Ich versuche, unabhängig von dem, was passiert, eine konstant kreative Leistung zu erbringen. Es ist immer etwas los, irgendwie muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Sicherlich hilft eine Struktur, und jetzt scheint die Sozialstruktur durcheinanderzugeraten. Als Selbstständiger muss man sich sowieso seine eigene Struktur schaffen. Das bedeutet Freiheit, manchmal aber auch eine grosse Herausforderung und ein Hindernis. Man muss sich Strategien ausdenken, laufen gehen, Tee trinken. Man kann seine Zeit ewig verplempern, und das hat Folgen: Es gibt keinen Output mehr. Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Vermisst du den Austausch mit anderen Künstler*innen? Ich vermisse das Musizieren mit anderen Menschen, das ist ein sehr wichtiger Aspekt der Musikproduktion. Die Corona-Krise ist temporär. Dennoch steht die Zeit im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Das hat Konsequenzen für die Künste. Ich werde meine grundlegende künstlerische Richtung, meinen Musikstil oder meine Interessen nicht wegen des Virus ändern. Klar, aus dieser Situation ergeben sich einige soziale Fragen, die ich mir aber schon vorher selbst gestellt habe. Die Künstler*innen müssen verdauen, nachdenken, schreiben, Dinge ordnen, und das braucht Zeit. Hast du in diesem Sinne mehr Zeit? Diese Zeit hätte ich mir schon vor langer Zeit nehmen sollen, aber ich wusste nicht, wie. Mein Konzept ist Kontinuität und stetige Verwandlung. Von manchen Dingen war ich überfordert, weil es nie eine Pause gab. Kontinuität und stetige Verwandlung. Viele Menschen scheinen das Gleichgewicht verloren zu haben. Das Gleichgewicht, das man «Normalität» nennt, ist zum Stillstand gekommen, aber war es wirklich da? Diese Vorstellung von Normalität ist irreführend. Ja! Für mich ist Notstand die Normalität. Ich habe noch nie einen fixen Lohn am Monatsende gehabt. Jetzt spricht man von Solidarität gegenüber Menschen, die strukturrelevante Jobs machen, Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten und unterbezahlt sind. Warum erst jetzt? Sie haben auch schon früher Leben gerettet. Diejenigen, die früher viel verdient haben, werden jetzt noch mehr vom Staat geschützt. Das habe ich vorher nicht verstanden und verstehe es immer noch nicht. Es ist sinnlos, in die Hände zu klatschen, sie brauchen einfach 1000 Franken pro Monat mehr.

Und für Künstler*innen? Es gilt dasselbe. Jetzt ist man endlich eher bereit, für das Streaming zu bezahlen. Ich fand es immer dumm, umsonst Musik zu spielen. Jetzt wird hoffentlich manchen endlich bewusst, wie viele Menschen bei Musikveranstaltungen engagiert sind und davon leben. Was bedeutet eine Krise in einem grösseren Zusammenhang? Künstler*innen mussten immer mit extremen Bedingungen leben. Ich denke an Kriege und Plagen des 19. Jahrhunderts. Ich denke an Syphilis. Ich denke an Schubert, der durch Quecksilber vergiftet seine Werke schrieb. Ich denke an Wagner, der ein politischer Flüchtling in der Schweiz war. Menschen mussten immer Lösungen finden, um ihre Werke zu schaffen. Wie kann man in Zeiten des Friedens kreativ sein, wenn die Bedingungen relativ günstig sind? Ich weiss, was du meinst. Das ist eine sehr wichtige Frage. Viele Künstler*innen sind aus Opposition, Wut und Verteidigung kreativ. Aggression erzeugt eine Menge Energie, die genutzt werden kann. Für mich war es immer wichtig, aus meiner Mitte heraus zu schaffen, ohne gegen etwas zu sein, sondern einfach, weil es für mich wichtig und schön ist, weil ich es teilen möchte. Irgendwie ist es schwieriger. Es ist kompletter Unsinn, dass in Wohlstandsländern keine gute Kunst entstehen kann. Manche Kunst entsteht aus Tragödie, aber Tragödie ist überall, ebenso wie die Komödie. Man braucht nicht aus Konkurrenz und Gegnerschaft, aus Angst und Wut zu schaffen. Viel besser ist es, aus Interesse, Liebe und Zuneigung zu kreieren. Partnerschaft statt Gegnerschaft. Trotzdem: Gibt es Feinde? Meine Musik lädt ein statt anzugreifen, aber das heisst nicht, dass unangenehme und dringliche gesellschaftliche Themen nicht berücksichtigt werden. Es ist immer leichter, einen klaren Gegner zu haben und gegen etwas zu sein, für alle, die moralisch Guten und die Bösen. Ich versuche Musik aus einer meditativen, positiven Energie heraus zu schaffen und Probleme auf einer subtileren Ebene anzusprechen. Der Teufel liegt im Detail. Um Verbindung, Öffnung und Anregung zu erzeugen, muss man ins Detail gehen. Man kann nicht einfach nur populär, also schön und gut sein. Warum ist es so schwierig? Ich glaube, das Schwierigste ist es, ein inneres Gleichgewicht, einen starken Boden zu haben. Es ist schwer, es ist schön, aber man muss Risiken eingehen, ins Unbekannte gehen, und schöne Dinge öffnen sich. Viel einfacher ist es, vor dem Fernseher zu bleiben die Schuld auf andere zu weisen, Recht zu haben. Aber manchmal muss man im Leben Recht haben, sonst wäre alles offen und man könnte nichts tun. Weisst du, eine Art innerer Kompass, der dir eine Richtung gibt, dich aber für Möglichkeiten offenhält. Die Welt ist nicht nur so, wie man sie sieht. Sie ist komplex, voller Fallen. Selbst wenn es mir schwerfällt, finde ich das den interessanten Aspekt des Lebens. In der Praxis? Nehmen wir zum Beispiel die Konzertreihe Montags in meinem Klub Exil in Zürich. Serien sind ein gutes Mass für die Entwicklung von Kunst und Leben. Wenn man Wahrnehmung und Schaffen ritualisiert, in einer Mischung aus Konstanz und Überraschung, wird man sich eines ständigen Wandels bewusst. Bei Serien sieht man die Details, man merkt die persönlichen Fortschritte, Schwächen, Unsicherheiten. Konstanz ist ein Arbeitsinstrument. Man kann nicht immer über Dinge nachdenken, manchmal muss man Dinge tun. Durch das Tun entsteht vieles. Es ist wichtig, über Dinge nachzudenken, aber es gibt Fallen. Für Menschen, die gerne viel nachdenken, besteht die Rettung darin, ins Tun zu kommen. Als kreative Menschen haben wir die Chance, immer etwas zu tun. Es gibt viele kreative Menschen, aber wenige setzen ihre Ideen tatsächlich um. Jedoch lässt sich die Resonanz eines Werkes nicht kontrollieren. *

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Elia Fonti *

HKB -ZEITUNG

Interview

Elia Fonti lebt in Bern und schreibt als Freelancer. Er studiert zurzeit im MA Contemporary Arts Practice am Y Institut der HKB

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Carola Ertle Ketterer

«DAS FEHLEN EINER GEMEINSAMEN AGENDA IST EIN GROSSES MANKO»

HKB -ZEITUNG

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Interview

Christian Pauli *

Carola Ertle Ketterer ist Präsidentin des Beirates der HKB und lebt seit 1985 im Stadtteil VI in Bümpliz. Zusammen mit ihrem Partner Günter Ketterer ist Ertle als Kunstsammlerin und -aktivistin eine Schlüsselfigur in der Berner Kulturszene. Als Initiantin der Berner Kulturkonferenz setzt sie sich für die freie Szene in der Kulturpolitik ein. Hinsichtlich Staat, Verwaltung, Behörden: Was läuft schief? Wirst du dich in Zukunft vermehrt lokal orientieren? Wir engagieren uns und sammeln schon seit Langem vorwiegend im Kanton Bern bzw. in der Schweiz. Unser tägliches Leben und unsere Beziehungen sind und bleiben lokal. In der Kunst- und Kulturwelt war ich sehr viel unterwegs – das ist drastisch eingeschränkt worden. Meiner Meinung nach haben unsere Behörden sehr gut reagiert; eine Pandemie einzuschätzen, ist schon sehr schwierig. Da das Infektionsrisiko so hoch war und ist, mussten schwerwiegende Massnahmen ergriffen werden. Ich finde die Selbstdisziplin und die Tatsache, dass frau in der Schweiz einiges noch selber entscheiden darf, prima. Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch die Krise eröffnet? Wofür hast du gegenwärtig mehr Zeit, wofür weniger? Mehr Zeit? Zum Relaxen, unsere Videokunst mal wieder stundenlang konzentriert ansehen, Bücher lesen. Es war schon eine Herausforderung für uns als Paar, täglich zusammenzuarbeiten bzw. sich zusammenzuraufen. Was bereitet dir in der gegenwärtigen Situation Sorgen? Was freut dich besonders? Mich hat es masslos geärgert, dass der Staat die Alkoholreserven liberalisiert hat und die Wirtschaft hier die Verantwortung für die Allgemeinheit nicht übernommen hat. Werden daraus die Konsequenzen gezogen? Wie geht es weiter mit der Wirtschaft? Wie wird sich der Virus entwickeln? Wird uns hier die Technik der Corona-App helfen, rascher in einen «Alltag» zurückzukehren? Daniel Koch, der im- mer sehr umsichtig und klar in- formiert hat, erlaubte das Umarmen von Kleinkindern – diese emotionale Aussage hat mich sehr berührt, medi- zinische Begründung hin oder her. Auch Grossveranstaltungen mit dem Bad in der Menge und dem Gefühl des gemeinsamen Erle- bens möchte ich nicht missen.

Fördert die Corona-Krise ein kulturelles Überangebot zutage? Wenn ja, was würde das bedeuten? Was ist das für eine Frage? Nein, aber gar nicht. Ich habe das kulturelle Angebot vermisst und es brauchte doch einige Zeit, bis die Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden aktiv wurden. Ein Galerist hat täglich ein öffentliches Telefon zum Mithören geführt vom Kundengespräch bis zum Lageristen. Einige Kunstschaffende, zum Beispiel Yves Netzhammer, haben täglich Corona-Zeichnungen gepostet; die anderen haben Mails verschickt, was sie gerade tun. Am 4. April haben wir via Streaming an der Manifesto-Präsentation von dreizehn Student*innen des Fachbereichs HKB Theater teilgenommen und fanden die Beiträge sehr vielfältig – einige blieben uns

nachhaltig im Gedächtnis. Ich bin sehr kulturell interessiert. Was ich als grosses Manko in der Stadt Bern empfinde: das Fehlen einer gemeinsamen Agenda. Wie eine Detektivin muss ich schon zu normalen Zeiten in diesen vielen unterschiedlichen Newslettern, Zeitungen und Websites vorgehen, um ja nichts zu verpassen. Muss jetzt alles digital werden? Das wäre sowieso gekommen, wir waren ja schon auf dem Weg. Über Video-WhatsApp kommuniziere ich schon länger. Vielleicht haben wir dann für unsere Hobbys wieder mehr Zeit, wenn wir über Videokonferenzen Besprechungen durchführen und nicht weit reisen müssen. Ich war überrascht und es gefiel mir, dass die wenig perfekten und verwackelten Bilder sehr authentisch wirkten und der Blick hinter die Kulissen der Homeworker viel über sie selber aussagte. Hat Gemeinschaft eine neue Form oder eine neue Bedeutung für dich erhalten? Was lässt sich digital definitiv nicht ersetzen? Das physische Zusammensein, das gemeinsame Erleben im Raum, die Kunst mit den Augen zu erkunden und zu spüren, die Mimik meines Gegenübers lesen zu können, Menschen, die ich mag, umarmen zu können. Was wirst du nach Corona womöglich vermissen? Die Ruhe! Ich weiss nicht, ob ich mich wieder in den 150prozentigen Arbeits- und Freizeitprozess hochfahren kann und will, aber der Mensch gewöhnt sich schnell wieder an neue Situationen. Mit wem würdest du heute am liebsten einen Kaffee trinken? Im Moment habe ich das Buch Federn von Manon, die ich in der HKB kennengelernt habe, gelesen und ich hätte so viele Fragen an sie. Was ist, bezogen auf die Corona-Krise, dein beruflicher Albtraum? Keine Projektarbeit, keine Ateliersbesuche, keine Kunstausstellungen, keine Galerien mehr besuchen zu können, videokunst.ch schliessen zu müssen. Ich habe gemerkt, dass mir der persönliche Austausch und die Projektarbeit mit den Kunstschaffenden sehr fehlen. Kunst und Kultur sind ein Bedürfnis unserer Gesellschaft und ich hoffe, dass in dieser Situation auch die Kunstschaffenden ihre finanzielle Unterstützung angefordert und erhalten haben. Braucht es ein grundsätzliches Umdenken? Wir sind eine Gesellschaft, die mit körperlicher Nähe wie Umarmungen lebt, und wir erleben nun eine Verhaltenskrise, um unsere Gesundheit zu schützen. Das wird langfristig erhalten bleiben. Für grundlegende Verhaltensänderungen im Konsum wird die Krise nicht ausreichen.

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Christian Pauli ist Redaktionsleiter der HKB-Zeitung


Stephan Eberhard *

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«DAS ANALOGE THEATER FEHLT MIR SEHR» Interview

Puppe Winnie

Zusammen entwickeln wir gerade ziemlich nice kleinere Formate, die die Power und die Magie des Puppentheaters zu den Leuten nach Hause bringen. Total! Das Interessante an diesem Format ist vor allem … Also, was ich vor der Kamera mache, ist vom Spiel her tatsächlich kaum anders als das, was ich sonst mache. Ich vermisse eigentlich nichts. Ich habe auch keine Angst vor der Zukunft. Echt? Hm, wenn ich ehrlich bin, habe ich schon wirklich grosse Bedenken angesichts der Langzeitfolgen für die Kulturförderung. Wie rasant schnell vor allem die Theaterszene sich ausdünnt, sobald die finanzielle Förderung zurückgedreht wird, haben wir die letzten Jahre in Luzern gesehen. Gerade die freie Szene in der Schweiz ist etwas, was es in Deutschland oder Österreich nicht ansatzweise in dieser Art gibt. Wenn ich zum Beispiel … Ich hoffe, dass nachher nicht alles anders ist in der Theaterlandschaft. In den ersten Wochen habe ich so viel über das Grundeinkommen gelesen. Das wäre doch die ideale Zeit gewesen, um das hier endlich mal auszutesten. Dann ist es schnell wieder still geworden und ein Tenor «wir müssen unseren eigenen Arsch retten» herrschte wieder vor. Da haben wir vielleicht eine grandiose Chance verpasst. Aber diese auferlegte Nichtmobilität hat durchaus positive Seiten. Und darüber könnte man jetzt mal grundlegend nachdenken. Wenn wir uns nicht gerade irgendwohin streamen, dann sind wir ja gerade mehr hier. Wirklich hier. Ich erlebe die Kulturszene in der Schweiz ja generell als sehr wertschätzend. Das meine ich finanziell, aber vor allem auch im Sinne der Wahrnehmung. Gerade Bern hat in Anbetracht der Grösse der Stadt eine wirklich grosse Kulturszene. Und die Berner*innen wissen um ihre Kulturvielfalt und nutzen sie auch. Und wer uns noch nicht live gesehen hat, der sollte sich dringend mal ein digitales Format auswählen. Wann immer ihr wollt: Wir sind für euch da. Sind ja sowieso immer bis in die Puppen wach. Die Witze überlässt du lieber mir. *

HKB -ZEITUNG

Wie geht es dir denn in dieser Krise? Wir sind aktuell weniger mobil und können weniger eng mit anderen Menschen zusammen sein. Dieser Entzug von körperlich-seelischer Freiheit ist natürlich krisenhaft. Aber der Begriff Krise sollte uns nicht lähmen; Wir sollten kreativ werden. Ich selbst … Kultur und wahre Kunst machen ja eigentlich nie was anderes: Mit den Umständen kreativ umgehen. Eins ist klar: Hürden und Herausforderungen gilt es eh ständig zu überwinden. Selbst hier in der wunderbaren Kulturszene Berns. Eigentlich ist es für mich als Puppe vom künstlerischen Schaffen her aktuell nicht fundamental anders. Meine Performance ist nach wie vor on the top. Nur dass eben niemand mehr was davon mitkriegt. Wenn ein Baum im Wald umfällt und es niemand gesehen hat, ist er dann wirklich umgefallen? Und, naja, dass du mit der Technik nicht richtig umgehen kannst, ist schon eher ein Downer. Also, was ich sagen wollte: Ich selbst konzentriere mich aktuell endlich wieder mehr auf Puppenbau. Dafür hatte ich in den letzten Monaten absolut gar keine Zeit, da ich ständig irgendwo geprobt und gespielt habe – und ja, dies meistens nicht in Bern. Mein Pendelalltag ist quasi von hundert auf null gefallen. Auch wenn ich Zugfahrten als eine Art Schleuse oder Zwischenwelt extrem schätze und jede Fahrt geniesse, bin ich nun nachdenklich geworden: Ist dieses ständige Mobilsein überhaupt sinnvoll oder erstrebenswert? Wie wäre es zum Beispiel mit … Das könnte doch eine nice Entwicklung sein! Durch die – auferlegte – aktuelle Rückbesinnung auf das Hier und Jetzt zukünftig auch eine vermehrte Ausrichtung auf das Naheliegende zu schaffen. Sowohl mental als auch physisch-geografisch. Lokalkünstlerisches Schaffen. Local, baby! Unterbrich mich nicht immer, Winnie! Du nervst! Aber nicht nur du. Auch das Theater aktuell so ein bisschen ... Dieser Überfluss an Streaming gerade. Da hat man wirklich nicht aus der Not eine Tugend gemacht … Das analoge Theater fehlt mir extrem. Es gibt natürlich in den Streams auch filmische Ansätze, die die Qualitäten des Live-Theaters mit den Ästhetiken und Mitteln des Films verbinden, sodass etwas Drittes entsteht; aber in der Regel handelt es sich hier um Mitschnitte von Inszenierungen – diese meist eher schlecht als recht. In dieser vereinsamten Zweidimensionalität gehen alle Qualitäten des geteilten Live-Erfahrungsraums verloren. Das darf auf keinen Fall die Zukunft werden. Da sind wir ja ausnahmsweise mal derselben Meinung. Auf keinen Fall darf jetzt alles digital werden! Da ich – oder ja, «wir» – aktuell nicht vor Leuten auftreten dürfen, entwickle ich – okay, ja, oder «wir» – natürlich auch gerade Online-Formate. Aber wie gesagt: Das darf dann kein Ersatz für das Live-Theater werden;es muss ein inhaltlicher und künstlerischer Mehrwert entstehen. Zum Glück hat sich KULT, die Agentur der Hochschule der Künste, dieser Herausforderung angenommen.

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Stephan Eberhard, geboren in Trier (D), ist Schauspieler und studiert an der HKB im Master Expanded Theater. Eberhard spielt mit Puppen – und sie mit ihm.

Stephan Eberhard studiert im MA Expanded Theater an der HKB

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Caroline Couteau

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« JE CROIS AU ‹LONG-SELLER›, PLUS QUE JAMAIS »

HKB -ZEITUNG

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Entretien

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Bettina Wohlfender *

Après un master en littérature française, Caroline Couteau est assistante de sémiologie à l’Université de Genève, critique de danse contemporaine, commissaire à la Villa Bernasconi. La lecture et les séjours à l’étranger la forment autant que ses études littéraires. Elle découvre l’édition à son retour de Jérusalem en 2003. Elle apprend le métier aux éditions Labor et Fides, travaille ensuite aux éditions Noir sur Blanc ; en 2008, elle entre aux éditions Zoé qu’elle dirige depuis 2011 ; elle préside Livresuisse depuis 2019. Quelles sont vos préoccupations dans la situation actuelle ? Une préoccupation d’abord très concrète : alors que les librairies en Suisse sont anémiées après deux mois de fermeture, comment payer sept salaires et toutes les factures… d’imprimeurs, de graphistes, du correcteur, des metteurs en page, de l’attachée de presse et de l’attachée de librairie, et puis leurs droits aux auteur·e·s, leurs traductions aux

traducteurs et traductrices, le stockeur, le loyer, etc. Ensuite comment détricoter le programme de nouveautés et le retricoter : il faut envoyer moins de titres que prévu aux libraires afin de ne pas les noyer sous les livres à la réouverture des librairies. Enfin, c’est l’occasion de se poser les grandes questions : à quoi sert-on ? Pourquoi se battre ? Qu’est-ce que la littérature ? Des interrogations aux réponses parfois creuses, mais électrisantes. Depuis le confinement, pour quelles activités avez-vous plus de temps qu’avant et pour lesquelles en avez-vous moins ? Je passe beaucoup de temps à discuter avec les éditeurs et les libraires suisses-romands qui ont les mêmes questions urgentes que moi. Il s’agit de comprendre pourquoi l’Office fédéral de la culture nous a exclus des mesures de soutien et surtout de les convaincre qu’il est juste que nous bénéficiions d’aides. La rentabilité d’une maison d’édition littéraire comme Zoé est nulle. Je publie un livre parce qu’il me semble nécessaire d’un point de vue littéraire. Pas parce qu’il sera rentable. Chaque livre est un risque artistique et financier comme peut l’être un film d’auteur, une pièce de théâtre contemporaine. À moi de trouver un équilibre entre mon programme éditorial et mes charges. Et de convaincre les libraires de lire et de parler de nos livres à leurs clients. Nous recevons des subventions, mais elles ne couvrent de loin pas l’ensemble de nos charges, et c’est très bien ainsi, car cela crée une tension saine : il faut vendre nos livres pour qu’ils soient lus, c’est une nécessité. À part ce lobbying, je travaille tout autant que d’habitude sur les textes, voire plus : les auteur·e·s ont plus de temps, je reçois plus de textes et les deuxièmes ou troisièmes versions d’un manuscrit arrivent à un rythme plus rapide. Et puis nous communiquons beaucoup, notamment sur les réseaux sociaux. Le surplus de travail dû à la crise est compensé par les rencontres et mani-

festations littéraires annulées, je n’ai plus rien le soir et plus aucun déplacement professionnel … Et ça, du moins pour le moment, je le savoure. Quel est votre cauchemar professionnel ? Moins de littérature. Ne plus pouvoir payer les auteur·e·s et toutes les personnes impliquées dans le travail d’édition. La faillite. Que lisez-vous pendant cette période de confinement ? Curieusement et sans l’avoir décidé, des livres qui ont à voir avec l’isolement, une sorte d’absence au monde, un pas de côté ; ce mois dernier : Le Rivage des Syrtes de Julien Gracq et Mon année dans la baie de Personne de Peter Handke.

Qu’est-ce que le numérique ne peut pas remplacer dans votre profession ? Le contact, le langage du corps, celui du visage, avec Skype ou Zoom on n’est qu’un tronc un peu flou. Le papier du livre, ses pages : c’est du même ordre, quelque chose de tactile qui participe au sens, rend concret les images mentales du texte, les émotions et les idées.

Avec qui aimeriez-vous prendre un café aujourd’hui ? Peter Handke. J’avais lu très jeune son Malheur indifférent, une vraie gifle qui m’a forgée comme lectrice. Après Mon année dans la baie de Personne, j’ai suivi avec La courte lettre pour un long adieu. Sa clarté, sa précision, sa liberté me subjuguent. La communauté a-t-elle pris une nouvelle forme ou une nouvelle signification selon vous ? Les contacts, les rencontres, les voyages en France me manquent beaucoup. J’apprécie pourtant beaucoup de mieux connaître les éditeurs d’ici. Qu’est-ce qui vous manquera après cette période de confinement ? La maison et une forme de régularité. J’habite peu et mal mon appartement, alors que je m’y sens si bien. La régularité du rythme de cette période, je n’y suis pas habituée. Cette crise sanitaire révèle-t-elle une offre culturelle beaucoup trop grande ? Gallimard annonce qu’il sortira à la rentrée d’août 9 titres au lieu de 15. J’ai lu qu’un autre grand éditeur allait baisser de 60% sa production, c’est très bien. Je crois au « long-seller », plus que jamais. *

Bettina Wohlfender est écrivaine ; elle est assistante de la filière d’études de BA à l’Institut littéraire suisse


Luigi Archetti

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«BETROFFENHEITSKITSCH SOLL NICHT GEFÖRDERT WERDEN» Interview

Peter Kraut *

Fördert die Corona-Krise ein kulturelles Überangebot zutage? Wenn ja, was würde das bedeuten? Kulturelles Überangebot? Es ist doch so, dass Musiker*innen nicht auftreten können, Künstler*innen nicht ihre Ausstellungen realisieren und somit zeigen können usw. Es findet ja so eine Art Zensur statt. Kulturelles Überangebot im Sinne eines Negativums kann es werden, wenn zum Beispiel die Balkonkonzerte, die isolierte Produktion von Kunstwerken überbewertet werden. Das sind aktuell sympathische Aktionen, aber sie appellieren nur an eine gut gemeinte Loyalität und nicht an das Universelle. Viele dieser Aktionen besitzen keinerlei Provokation, Irritation oder auch Verzauberung. In den besten Fällen evozieren sie ein Schmunzeln. Aber sie bleiben in ihrer Wirkung kleine Aktiönchen und bieten nichts Substanzielles und Herausragendes. Bedenklich finde ich auch,

dass im jetzigen Zeitpunkt Wettbewerbe lanciert werden, um etwas Künstlerisches mit dem Thema Corona-Krise zu machen. Das kommt daher wie eine hilf- und sinnlose Schulaufgabe. Es ist, als ob Künstler*innen keine eigenen thematischen Anliegen oder Projekte ankurbeln können; dabei sind ja die meisten seit Jahren an Projekten oder an der Erarbeitung ihrer künstlerischen Arbeit. Darin sehe ich eine Gefahr der Täuschung, Verkennung und Verschiebung der Wahrnehmung. Nicht Betroffenheitskitsch soll gefördert werden und zum Zuge kommen, sondern das Echte, Authentische, Ehrliche, Relevante und Intelligente. Warum muss jetzt alles digital werden? Hat Gemeinschaft eine neue Form oder eine neue Bedeutung für dich erhalten? Was lässt sich digital definitiv nicht ersetzen? Nichts gegen Zoom-Besprechungen, Videochats und Skype usw. aber die Kraft der Präsenz, der Nähe, des Kontaktes, der Aura ist immer noch stärker, komplexer, vielversprechender und vielsagender. Es darf und muss nicht alles digital werden. Künstlerische Produktion und Kunstwerke sind im starken Masse an Material gebunden. Dieses Material hat eine Physis, einen Geruch, ein Erscheinen, eine Präsenz. Diese Präsenz ist Körper und schafft Sinn. Klänge, die in einer bestimmten Umgebung, etwa in der Architektur oder Natur wahrgenommen werden, entfalten eine vielschichtige Qualität in der Wahrnehmung. Sie schaffen einen direkten Bezug zum Hörenden, zum Menschen. Akustische Ereignisse oder Musik, die nur aus dem Lautsprecher kommen, sind eindimensional, ausser es sei eine bewusst angelegte Lautsprecherkomposition. Was wirst du nach Corona vermissen? Wahrscheinlich die Ruhe, die erregte Gelassenheit, die kreative Langeweile und den inspirierenden Müssiggang.

Mit wem würdest du heute am liebsten einen Kaffee trinken? Mit jedem, der einen guten Espresso oder Cappuccino schätzt und ein angeregtes, inspirierendes Gespräch führen kann. Was ist dein beruflicher Albtraum? Keine Ideen mehr zu haben. *

HKB -ZEITUNG

Hinsichtlich Staat, Verwaltung, Behörden: Was läuft schief? Wirst du dich nun vermehrt lokal orientieren, auch später? Meiner Meinung nach haben die Behörden, der Bundesrat Massnahmen getroffen, die vernünftig und einsichtig erscheinen. Ich gehöre zur sogenannten Risikogruppe, so mache ich das Einkaufen nur noch online. Ich habe einen Anbieter gefunden, der vor allem Gemüse und Backwaren saisonal, aus der Region und sehr biomässig liefert. Sogar die Einkaufstüten sind kompostierbar. Somit wird mir hier eine lokale Orientierung angeboten, respektive offenbart, die ich sehr schätze und gerne annehme. Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch die Krise eröffnet? Was wäre aus deiner Sicht die positivste Entwicklung aus dieser Situation? Wie nutzen wir diese Möglichkeiten auch in der Zukunft? Wofür hast du jetzt mehr Zeit, wofür weniger? Ich bewege mich im Moment nur zwischen Wohnung und Atelier. Ich laufe jeden Tag rund 2.5 Stunden, ohne das Angebot des öffentlichen Verkehrs anzunehmen. Der tägliche Spaziergang verläuft durch den schönsten Friedhof in Zürich, mit einem schönen Baumbestand. Ich erlebe und betrachte die täglichen Veränderungen der Bäume, der einzelnen Blätter, der Farben, der Stimmen der Vögel. Diesen alltägliche und immerwährende Rhythmus verschafft mir eine unglaubliche Ruhe und Konzentration. Mehr Zeit habe ich eigentlich nicht, aber ich erlebe die Zeit intensiver, innerlicher, sinnlicher und auch in einer wohltuenden Langeweile. Was bereitet dir in der gegenwärtigen Situation Sorgen? Was freut dich besonders? Grösste Sorge: das Erkennen, dass unser Dasein verletzlich und brüchig ist. Grösste Freude: das Erkennen, dass durch diese Verletzlichkeit und Brüchigkeit unser Dasein etwas Einmaliges und Wundervolles ist.

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Der visuelle Künstler und Musiker Luigi Archetti stammt aus Italien und lebt seit 1965 in Zürich.

Peter Kraut ist stellvertretender Fachbereichsleiter Musik an der HKB

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Yasemin Tutav

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«WISSEN VON HEUTE KANN IRRTUM VON MORGEN SEIN»

HKB -ZEITUNG

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Interview

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Nathalie Pernet *

Yasemin Tutav hat einen Magister in Anglistik, Ethnologie und Soziologie und einen CAS in Kulturmanagement. Sie arbeitet als Projektleiterin bei Science et Cité. Seit 2013 ist sie für die Wissenschaftskommunikation zuständig und hat seither zahlreiche Projekte mit Partner*innen aus Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik durchgeführt. Hinsichtlich Staat, Verwaltung, Behörden: Was läuft in dieser Krise schief? Der klassische Kulturbetrieb, aber auch weitere Branchen und Personengruppen, bei denen die Schutzmassnahmen zu existenziellen Konsequenzen führen, sollten von Politik und Gemeinschaft Solidarität und rasche Hilfe erfahren, keine Frage. Aus Sicht der Wissenschaftskommunikation, die einen anderen Fokus verfolgt, kann man in dieser Pandemie eigentlich Positives vermelden: Offenbar funktioniert die Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft ziemlich gut. Die Gesellschaft hört im Grossen und Ganzen interessiert den Expert*innen zu, die wiederum versuchen, sich verständlich auszudrücken. Nur ist es so, dass die Situation in unserem bisher privilegierten Europa für alle neu ist, nicht nur für die Behörden und die Bürger*innen. Forschung ist ein Prozess mit einem gewissen Bedarf an Zeit und trotzdem mit ungewissem Ausgang. Try again, fail again, fail better, sagt Beckett. Auch ist vielen unklar, dass das Wissen von heute der Irrtum von morgen sein kann; das Wesen bzw. die Logik von Forschung ist, sich selbst zu korrigieren oder gar zu widersprechen. Das ist keineswegs ein Makel. Wenn alle an einem Strang ziehen, finden wir hoffentlich bald Lösungen, die die Situation für alle erträglicher machen und früher oder später vielleicht zu einer besseren Welt als vor der Krise führen. Welche neuen Möglichkeiten haben sich dir durch die Krise eröffnet? Was wäre aus deiner Sicht die positivste Entwicklung aus dieser Situation? Wie nutzen wir diese Möglichkeiten auch in der Zukunft? Wofür hast du jetzt mehr Zeit, wofür weniger? Natürlich mussten auch wir unsere analogen Veranstaltungen absagen und erst mal im Homeoffice die neue Realität akzeptieren. Relativ schnell haben wir dann überlegt, welche Projekte wir digital durchführen können, und unsere Energien dahingehend gebündelt, Neues auszuprobieren, auch mit der Gefahr, zu scheitern. So haben wir die klassische Reihe der Wissenschaftscafés in den virtuellen Raum verlegt, unter anderem mit dem Epidemiologen Christian Althaus zum brandaktuellen Thema, was die Wissenschaft zur Krisenbewältigung beitragen kann und wo ihre Grenzen liegen. In einem weiteren Format trifft man sich in der Mittagspause zu einem BrainSnack, für den wir via Zoom spannende Expert*innen wie Marcel Tanner an den Tisch holen, die den Leuten 45 Minuten lang Rede und Antwort stehen. Inwiefern unsere digitalen Angebote auch nach dem Deconfinement als fester Bestandteil unser Repertoire an Angeboten ergänzen, wird sich zeigen.

Was bereitet dir in der gegenwärtigen Situation Sorgen? Was freut dich besonders? Wie anfangs erwähnt gibt es natürlich gesellschaftliche Probleme, die sich zuspitzen und nicht mehr die Aufmerksamkeit erfahren, die sie sollten, und verdrängt werden. Trotzdem ist es erfreulich, dass sich Forschende vermehrt bemühen, direkt über soziale Medien den Kontakt zur Gesellschaft zu suchen und über ihre Themen aufzuklären. So erfreuen sich YouTubeVideos wie z. B. die von maiLab aus Deutschland einer extremen Popularität. Andererseits liegt es auch an uns allen, die Welt mitzugestalten, damit keine Dystopie droht wie schon vielfach in der Science-Fiction beschrieben. Wir haben nun auch die Chance, Visionäres umzusetzen, weil wir merken, welches Primat die Politik immer noch hat – und die oft zitierten Sachzwänge auch nur menschgemacht sind.

Fördert die Corona-Krise ein kulturelles Überangebot zutage? Wenn ja, was würde das bedeuten? In der Schweiz sind wir generell auf einem hohen Niveau, vielleicht nicht in jeder Sparte. Trotzdem, die Befürchtung habe ich eigentlich nicht. Das kulturelle Bedürfnis nach der langen Zeit der Abstinenz wird sicherlich da sein. Ich persönlich würde ja wahnsinnig gerne wieder mal an ein Livekonzert gehen … Warum muss jetzt alles digital werden? Es muss meiner Meinung nach nicht alles digital werden und vieles funktioniert auch nicht, weil es sich einfach besser anfühlt, live dabei zu sein. Allerdings muss man sich schon fragen, welchen Luxus wir oft unreflektiert geniessen, wenn wir durch die Welt jetten, um an eine Konferenz zu reisen oder eine Ausstellung zu besuchen, und ob es Alternativen gibt, auch der Umwelt zuliebe. Denn eigentlich ist schon Anfang Mai der Tag des Earth Overshoot Day, an dem wir in der Schweiz die natürlichen Rohstoffe der Erde aufgebraucht hätten, wenn wir keinen Raubbau betreiben würden. Hier könnten die Digitalisierung und die Erfahrung des Lockdowns zum Umdenken führen, auch im Wissenschaftsbetrieb. Hat Gemeinschaft eine neue Form oder eine neue Bedeutung für dich erhalten? Wir versuchen durch die digitalen Angebote, noch niederschwelliger zu werden, den Zugang zu wissenschaftlichen Themen zu erleichtern und Öffentlichkeit herzustellen. Alles, was man braucht, ist ein internetfähiges Gerät. Alle sind willkommen, direkt oder per Chat Fragen und Meinungen in unseren digitalen Events zu teilen. Gleichwohl braucht es Zeit, eine neue Gemeinschaft zu etablieren, da sich viele Digital immigrants erst an die neuen Technologien gewöhnen müssen. Dennoch ist der Mensch mit wenigen Ausnahmen immer noch ein soziales Wesen mit Bedürfnissen nach sinnlich analogen und haptischen Erfahrungen. Diese bleiben meiner Meinung nach bestehen und stehen wohl auch ausser Konkurrenz. Was wirst du nach Corona vermissen? Vielleicht das Gefühl, dass alle im gleichen Boot sitzen und sich in ihrem kleinen Radius zurechtfinden müssen? Zeit zu haben, buchstäblich dem Gras beim Wachsen zuzusehen (bzw. den Blumensamen, die wir Anfang Krise gesät haben), das Starenpaar zu beobachten, das im Nachbarhaus seine Brut aufzieht … Mit wem würdest du heute am liebsten einen Kaffee trinken? Mit meiner zur Risikogruppe gehörenden Tante, die im Ausland lebt und die ich nach fünf Jahren Ende Mai endlich mal wieder treffen wollte. Was ist dein beruflicher Albtraum? Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Braucht es einen Umsturz / ein Umdenken? Umdenken können bzw. innovativ sein ist überlebenswichtig. Ich denke, Corona hat das Interesse an wissenschaftlicher Expertise in der Gesellschaft entfacht und auch in der Politik verstärkt. Auch wenn man merkt, dass viele Verschwörungstheorien kursieren, geht es nun umso mehr darum, weiterhin transparent zu kommunizieren und das Vertrauen nicht zu verspielen.

*

Nathalie Pernet ist Leiterin der Fachstelle Forschung + Entwicklung an der HKB

Die Stiftung Science et Cité ist spezialisiert auf niederschwellige und innovative Kommunikationsformen, oftmals mit unmittelbarem Kontakt zwischen Wissenschaftler*innen und Bürger*innen: science-et-cite.ch/projekte


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HKB -Z E I T U N G

D E Z EMBE R 2019

HKB -ZEITUNG

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STELLUNGNAHME

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HKB -ZEITUNG

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Text

«DIE BEDEUTUNG VON KUNST UND KULTUR STEHT AUF DEM PRÜFSTAND»

Wie und woran werden wir uns in zehn Jahren erinnern, wenn wir an diese Krise zurückdenken? Welche Gedanken, Gefühle, Erfahrungen, welche Bilder werden das Coronazän im Rückblick prägen, welche Geschichten werden wir (und unsere Kinder) einander erzählen? Und (wie) könnte sich in diesem Zeitfenster der Geschichte gar ein utopischer Denk- und Handlungsraum eröffnen? Waren Pandemie und Lockdown der Auftakt zu einem «Generationenkonflikt, wie wir ihn noch nie gesehen haben» (wie der Spiegel raunt)? Die Grenzschliessungen bloss harmlose Vorboten einer weltweiten und dauerhaften Renationalisierung? Erwiesen sich verstärkte Polizeipräsenz, Besuchsverbote, Social Distancing, die Schliessung von Opernhäusern, Theatern, Kleiderläden, Restaurants, die deutlichen Einschränkungen der Grundrechte als Präjudiz für antidemokratische Entwicklungen, für Herdenmentalität, Obrigkeitsgläubigkeit und Überwachungsstaat? Oder beförderte – im Gegenteil – die individuelle wie kollektive Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und vielfältiger Abhängigkeiten in fast allen Lebens- und Arbeitsbereichen (von Lieferketten, Publikum, Sozialversicherungen, Pflegenden, umsichtig in die Armbeuge hustenden Nachbar*innen etc.) gar mittel- und längerfristig die Wiederbelebung der kriselnden Demokratie – und den ökologischen Wandel? Haben wir in den vergangenen zwei Monaten nicht eben diese Erfahrung gemacht: dass es auf jede und jeden ankommt, ganz unabhängig von Status, Kaufkraft oder Staatsbürgerschaft, und im besten Fall haben wir verstanden, was eine handlungsfähige Demokratie einfordert, dass nicht nur wir auf sie angewiesen sind, sondern die Demokratie auf uns, auf jede Einzelne, jeden Einzelnen, wenn sie eine Zukunft haben soll.

Impressum HKB-Zeitung Aktuelles aus der Hochschule der Künste Bern HKB N°2/2020

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Ruth Schweikert *

Herausgeberin: Berner Fachhochschule BFH Hochschule der Künste Bern HKB

Redaktion: Christian Pauli (Leitung) Peter Kraut Marco Matti Nathalie Pernet Andi Schoon Bettina Wohlfender

Die Pandemie als Zäsur – das scheint mir Ende Mai 2020 ebenso möglich wie eine fast lautlose (kleinlaute) Rückkehr zur sogenannten Normalität. Alles nur ein Spuk? Denn wie es aussieht, hat die Schweiz die (medizinische, aber auch soziale und wirtschaftliche) Katastrophe vorerst glücklich umschifft, die anderswo kein WorstCase-Szenario ist, sondern brutale und tödliche Realität, denken wir nur an Spanien, Grossbritannien, Italien, Frankreich, die USA, Brasilien und andere Länder mehr. Und ein Ende ist (noch) nicht abzusehen. Die Spannbreite ist so enorm, dass sie gedanklich und emotional kaum zu fassen ist; so hat sich Covid-19 in diversen Regionen als verheerende Krankheit erwiesen (die längst nicht nur jene Alten trifft, die eben noch als BestAger meist gratis die Enkelkinder hüteten und weltreisend die Wirtschaft am Laufen hielten), während anderswo die Auswirkungen des Lockdowns verheerender sein dürften als die Krankheit selbst. Kommt hinzu, dass es durchaus schwierig ist, auszumachen, welche Parameter jeweils den Ausschlag gaben und geben für die so fundamental unterschiedlichen Verläufe und Folgen dieser Pandemie. Weltweit also erleben und erlebten Milliarden von Menschen seit Anfang dieses Jahres Wochen und Monate der Ungewissheit. Für die Mehrheit bedeuten Covid-19 und die verhängten Massnahmen wohl einfach eine Zunahme an Ungewissheit und Abhängigkeit; für andere, besonders in Europa, ist das eine ungewohnte, ja befremdliche Erfahrung. Pandemie und Lockdown erzeugten eine Schockstarre, war häufiger zu lesen und zu hören – und bald darauf folgten Protest, Schuldzuweisungen, Entschädigungsforderungen. Doch was für den Einzelnen gilt, gilt auch für Politik und Wissenschaft: Sie agieren (allen Studien und wachsenden Erkenntnissen zum Trotz) mit und aus denselben Ungewissheiten, Trial and Error, Versuch und Irrtum, und alle sind wir Teil davon und daran beteiligt.

Gestaltungskonzept und Layout: Atelier HKB Marco Matti (Leitung) Jacques Borel Lara Kothe Sebastian Wyss Druck: DZB Druckzentrum Bern Auflage: 8700 Exemplare Erscheinungsweise: 4 × jährlich

Was aber bedeutet das? Was könnte es für Künstler*innen bedeuten? Wenn Anfang Mai Künstler*innen und Wissenschaftler*innen – wie Juliette Binoche, Aurélien Barrau und viele mehr – dazu aufgerufen haben, «nicht so weiterzumachen wie bisher» – dann schlagen sie keine Lösungen vor, weder Revolution noch Disruption, sondern eine Verlängerung des Innehaltens, Raum und Zeit für den Zweifel, ein Plädoyer für das Aushalten, die Wertschätzung jener Ungewissheit, die Teil ist des Lebens und der Lebendigkeit selbst. Künstler*innen kennen den Umgang mit Ungewissheit in verschiedenen Dimensionen, finanziell, in Bezug auf die Arbeit, ob sie glückt oder missglückt (oder wie meistens: etwas dazwischen); und ist nicht jeder künstlerische Prozess eine Recherche vers l’inconnu? Und ja, in Zeiten von Pandemie und Lockdown steht die Bedeutung von Kunst und Kultur auf dem Prüfstand. Eine Chance und Aufgabe für Schriftsteller*innen und Musiker*innen, für Theaterensembles und Zeichner*innen, sich die Frage zu stellen nach der Relevanz des eigenen Tuns, und damit meine ich kein Schielen auf Masse oder Markt, sondern zunächst für einen selbst (und eben damit potenziell auch für andere), verbunden mit der Frage nach dem Gestus der künstlerischen Arbeit, was kann, was möchte ich mit den Leser*innen, dem Publikum teilen? «So weitermachen wie vorher, das möchte ich nicht» – sagt eine Person im Interview, ohne auszuführen, was sie damit meint. Dieser Frage nachzugehen, könnte sich lohnen. * Ruth Schweikert ist Autorin und HKB-Dozentin

© Hochschule der Künste Bern HKB. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitung darf ohne schriftliche Genehmigung der HKB reproduziert werden. Berner Fachhochschule BFH Hochschule der Künste Bern HKB Fellerstrasse 11 CH-3027 Bern hkb.bfh.ch

Die Einnahmen aus den Inseraten kommen vollumfänglich dem Stipendienfonds zugute, der HKBStudierende in prekären finanziellen Verhältnissen gezielt unterstützt. hkb.bfh.ch/stipfonds


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