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Herbst / Winter 2014 –2015

BETTINA RHEIMS Warum sie von Berlin nach London floh

RETTET DIE MEERE

fordert David LaChapelle

SO FARBIG WAR Horst P. Horst

PARIS PHOTO SPEZIAL


Editorial & Inhalt

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Inhalt

Liebe Leser,

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WARUM WIR BEI UNSEREN AUTOS AUF LEICHTBAU SETZEN? WEIL ES IMMER WENIGER BRINGT. KONTINUIERLICH WENIGER EMISSIONEN DURCH INNOVATIVE MATERIALIEN. FÜR UNS DER NÄCHSTE SCHRITT.

„Modefotografie ist der neue Star der Kunstwelt“, titelte im September die New York Times, als der New Yorker Kunst­ händler Larry Gagosian in seiner Pariser Dependance eine Schau mit Werken des deutschen Fotografen Peter Lindbergh eröffnete. „Modefotografen sind die neuen Maler“, stimmte ihm Lindbergh selbstbewusst zu. Fest steht: Die Fotografie erlebt nicht nur steigende Preise auf dem Kunstmarkt, son­ dern verzeichnet auch ständig neue Besucherrekorde in Aus­ stellungen. Derzeit übertrifft eine große Retrospektive zum Werk des legendären Vogue-Fotografen Horst P. Horst (1906 – 1999) im Londoner Victoria & Albert Museum die kühnsten Erwartungen der Veranstalter. Auch im Alltag gab es noch nie soviel Fotografie wie heute. 2014 wurden nach Schätzungen mehr Fotos veröffentlicht als in der gesamten Geschichte der Menschheit zuvor. Man muss nur Selfies, Facebook, Insta­ gram und Pinterest erwähnen, dann weiß jeder, was gemeint ist. Diese Blütezeit der Fotografie feiern wir in diesem Spezial: in opulenten Bildern, Interviews und mit einem Editorial Design von Studio F (Berlin), das Ihnen hoffentlich so gut ge­ fällt wie uns.

04 Die Französin Bettina Rheims wollte junge Frauen erleben, die auch in diesen Zeiten unbeschwert und frivol sein können. In Berlin fahndete sie vergeblich nach dieser Leichtigkeit, in London wurde sie fündig. Im Interview schwärmt die Kultfotografin vom Lebensgefühl in der englischen Hauptstadt. 14 Mehrere Jahre fotografierte Sebastião Salgado für sein monumentales Genesis­ Projekt die Wunder der Erde. Doch die eigentliche Sensation seiner Serie sind seine Aufnahmen kleiner Völker, die vor dem Aussterben bedroht sind. 16 David LaChapelle warnt, dass wir zu viele Rohstoffe verbrauchen und damit erst die Meere und dann uns selbst zerstören. Er fotografierte Tankstellen und Erdöl­Raffinerien, die er aus Symbolen der Ressourcen­Ver­ schwendung täuschend echt nachbauen ließ. 25 Maria Burasovskaya erklärt, warum in Russland Sowjetfotografie eine Renaissance erlebt und warum ihre Moskauer Galerie dabei eine wichtige Rolle spielt. 28 Robert Morat beschreibt, wie detekti­ visch Fotografen heute realen Fällen nach­ gehen und dabei die Grenzen von Journalismus und Kunst aufheben. 30 Unsere Highlights auf der wichtigsten Fotomesse der Welt, Paris Photo. 36 In Los Angeles ist alles etwas glamouröser – auch die Fotomesse.

Ihr Holger Christmann

38 Der Modefotograf Horst P. Horst (1906–1999) war ein Meister der Schwarzweiß­ fotografie. Als die Farbfotografie erfunden wur­ de, verwandelte er diese Krise in seinen größten Triumph. Titelfoto Bettina Rheims: Dioni Tabbers als ,Miss Wilde’


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Titel

Lust auf Exzentrik: Die englische Akrobatin Maxine Anastasia zeigt Haltung.

Bettina Rheims

Warum sie von Berlin nach London floh Eigentlich sollte die neue Serie der Kultfotografin in der deutschen Hauptstadt spielen. Doch dann vermisste die Französin bei den Berliner Frauen einen Schuss „Frivolität und Leichtigkeit“. Sie verlegte das Projekt nach London – und schwärmt vom Lebensgefühl und den „wunderbar exzentrischen“ Mädchen an der Themse. Von Holger Christmann

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Frauen in intimen Situationen waren schon immer das Thema von Bettina Rheims. Weltbekannt wurde die Pariserin Anfang der 90er Jahre durch die Bild­ bände „Female Trouble“ und „Chambre Close“, für die sie prominente und ganz normale Französinnen in voyeuristischen Posen inszenierte. Vor zwei Jahren nahm sie sich erstmals Zeit, Berlin zu entdecken. Sie besuchte hippe Bars, angesagte Kult-Fotografin: Bettina Rheims. Restaurants und Underground­Clubs und beschloss, ihr neues Projekt dem viel gerühmten Lebensgefühl der deutschen Hauptstadt zu widmen. Nach einem Casting von Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen und Models war sie jedoch enttäuscht. Sie empfand die deutschen Frauen als „zu ernst“ und zu prüde. Kurzerhand verlegte sie das Projekt nach London – und erlebte Frauen, die erfrischend unkonventionell und mutig waren: darunter gefragte Models wie Dioni Tabbers und das rothaarige ID-Covergirl Codie Young, die Tochter des Duran­Duran­Sängers, Amber Le Bon, eine avantgardistische Drahtseilartistin, eine Schuhdesignerin, eine Schriftstellerin und ein Tattoomodel. Sie alle waren bereit, sich auf die gewagten Inszenierungen der Französin einzulassen. Und die Fotografin schwärmt davon, in London die „beste Zeit seit Langem“ verbracht zu haben.

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Die Engländerinnen sind erfrischend unkonventionell. Ihre neue Fotoserie heißt „Bonkers – A Fortnight in LonAber war das nicht schon immer so? Diese Freiheit, don (deutsch: Durchgeknallt – zwei Wochen in London) exzentrisch und anders zu sein, ist typisch für England. Warum haben Sie sich London ausgesucht? Eigentlich sollten die Fotos in Berlin spielen. Vor zwei Jahren, als ich eine Ausstellung dort hatte, nahm ich Auf Ihrem Foto hüllt sich Charteris in durchsichtige mir zum ersten Mal die Zeit, die Stadt zu erkunden. Spitze und steht mit einer Schaufel in der Hand in einem Ich besuchte phantastische Clubs, und ich hatte diese Raum, von dem der Putz abblättert. Drunter steht: Mary Vorstellung vom Berlin der wilden 20er Jahre im Kopf. Charteris klopft an die Pforte des Himmels. Ein anderes Ich dachte, diesen Spirit würde ich in den Menschen bekanntes Model, Dioni Tabbers, schmückt sich ironisch von heute wiederfinden. Ich organisierte ein Casting. mit der Banderole einer Miss Wilde. Ich verlange viel von meinen Modellen. Umso wunder­ Es erschienen hübsche und sehr talentierte Mädchen, barer war es, wie großzügig die Mädchen in London Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen und Models. damit umgingen, wie viel Ironie, Humor und Lust auf Doch irgendwas fehlte. Alle waren zu ernst und zu Verspieltheit sie mitbrachten. Ich habe schon lange streng. Mein Projekt handelte aber nicht vom Ernst des Lebens. Wir leben in einer Zeit der Unsicherheit und nicht mehr soviel Vergnügen beim Fotografieren erlebt. der Krisen; dem wollte ich etwas Leichtes, Frivoles ent­ gegensetzen. Diese Leichtigkeit habe ich in Berlin nicht Wie haben Sie die Modelle entdeckt? gefunden. Ich sprach mit einem Freund Sascha Lilic, Manche kannten wir, andere fanden wir auf Facebook. meinem wunderbaren Stylisten, der in London lebt, Es kam vor, dass Mädchen Freundinnen mitbrachten. und wir verlegten das Projekt dorthin. Die Entschei­ Irgendwann ließen wir den Dingen ihren Lauf. Ein Mäd­ dung erwies sich als goldrichtig. chen, das wir wollten, war gerade in Los Angeles bei einem Shooting, dann kam eben ein anderes, und das Was war denn anders in London als in Berlin? war gut so. Wichtig war, zu erleben, was in einer begrenz­ Ich glaube, die Mädchen in London fühlen sich freier ten Zeit in London möglich ist. Es ging ja um ein Lebens­ als in Berlin. Die Engländer waren schon immer freier gefühl, um Spontaneität, Leichtigkeit und Wildheit. und verrückter. Man muss nur an die Beatles und die Rolling Stones denken. Diese befreienden Phänomene Zu den Models in Ihrer Serie gehört Amber Le Bon, die kamen alle von der Insel. Die Mädchen dort sind nicht Tochter von Duran-Duran-Sänger Simon Le Bon. Sie sitzt so ängstlich. Sie sind mutig. Es ist für sie kein Problem, verloren auf einem Auto, da sie „ihre Autoschlüssel vermal nicht so perfekt, süß und hübsch auszusehen. Dazu loren hat“. Sie wirkt schutzlos und verletzlich. beeindruckte mich ihre große Kultiviertheit und gute Eine der wunderbaren Erfahrungen dieser zwei Wo­ Erziehung. Auch diese Mädchen wissen nicht genau, chen war, dass die Mädchen bereit waren, sich ihrer was die Zukunft bringt. Nicht alle haben Geld. Einige Verletzlichkeit zu stellen. Vielleicht war in Berlin das schlagen sich von Monat zu Monat durch: aufstrebende Problem, dass die Frauen nicht aus sich herausgingen. junge Frauen, die ihren Weg suchen in einem Dschun­ Es schien mir, als würden sie sich mit einer Mauer vor gel aus Millionen anderer junger Frauen; jede mit einem ihrer Verwundbarkeit schützen. Talent ausgestattet. Und was mir gefiel: Die Mädchen, die ich traf, waren zutiefst exzentrisch. Wie schaffen Sie es, dass sich die Frauen bei Ihnen mehr öffnen als bei anderen Fotografen? Können Sie das an einem Beispiel erläutern? Das kann ich nicht erklären. In London baten wir sie, Ich möchte keine Namen nennen. Requisiten mitzubringen, die ihnen gefallen, und alle kamen mit einer kleinen Tasche voller Kleider, Peit­ Dann nenne ich einen: Die Stylistin Mary Charteris. Der schen, verrückter Unterwäsche und extravaganter Tatler schrieb: Diese Frau ist Rock ’n’ Roll. Sie ist adlig, Schuhe. Es ist immer derselbe Ablauf. Wer mit mir ar­ trägt gerne verrückte Outfits, hat den Sänger der eigenbeitet, vertraut mir. Das Posing ist immer ein Diskussi­ willigen Elektrorock-Band The Big Pink geheiratet und onsprozess. Ich zwinge den Mädchen nichts auf. Wir dis­ ihren Hund mit an den Traualtar geführt. kutieren Outfit, Haare, Make­up, und dann arbeiten wir


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oben Schräg schön: Die Schuhdesignerin Georgie Bee mit ihren eigenen Kreationen. links Amber Le Bon, Tochter des Duran-Duran-Sängers Simon Le Bon, zeigt sich verletzlich.

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oben Joséphine de la Baume, Schauspielerin und Model, nimmt Kontakt zu übersinnlichen Kräften auf. rechts Lady Mary Charteris klopft an die Himmelspforte.


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zusammen. Es ist ein Moment der Intimität, wenn ein Mädchen freaky aussieht. Alles beginnt mit einem Wesen, das perfekt aussieht. Ich bekomme es vor meine Ka­ mera, und die Dinge fangen an sich zu bewegen. Perfek­ tion wird unperfekt, und das Unperferkte wird grandios.

Persönlichkeit entspricht. Ich bin immer wieder ver­ blüfft, wie unbefangen junge Leute dort ihr Privatleben öffentlich ausstellen, aber dabei trotzdem nicht die ganze Wahrheit über sich erzählen. Das ist wahrschein­ lich auch so ein Schutzschild, um die eigene Verletzlich­ keit zur kaschieren.

Wenn Sie Frauen so burlesk fotografieren, kommen Sie Befriedigen Sie mit Ihren Fotografien nicht die Lust auf dann ihrer Persönlichkeit näher? Ich denke schon. Andernfalls würden sie mich das gar Voyeurismus? Die Leute schreiben auch, dass meine Arbeit von Sexu­ nicht tun lassen. Ich bin kein blöder Bimbo­Fotograf, bei alität handelt. Sie bleiben beim ersten Eindruck stehen. dem die Frauen den Mund aufhaben und dumm ausse­ In „Bonkers“ geht es nicht um Sexualität, auch wenn ei­ hen. Die Frauen, die ich fotografiere, haben Tiefen, sie nige Girls wirklich sexy sind. Es geht mehr darum, was empfinden Lust und Vergnügen, aber sie akzeptieren die Leute in sich tragen, als darum, was sie zeigen. Es auch ihre Verletzlichkeit. Sie akzeptieren es, dass das geht mehr um ihre Persönlichkeit als um ihren Körper. Foto ein bisschen schmerzhaft wird. Das ist es, was eine Deshalb mögen gerade Frauen meine Arbeit sehr. Ich Frau ausmacht: diese dünne Linie zwischen Stärke und öffne kleine Türen mit meinen Geschichten. Die Leute Zerbrechlichkeit. Die moderne Frau ist definitiv stark, treten ein und finden dort ihre eigenen Antworten. aber sie akzeptiert auch ihre Schwächen. Das versuche ich, auf meinen Bildern zu zeigen. Wann machen Sie mal eine Fotoserie über Männer? Wenn mich das interessieren würde, hätte ich es schon Haben Sie das Ergebnis vorher im Kopf? gemacht. Ich bin beeindruckt von Künstlern und Fotografen, die vorher schon genau wissen, was bei ihrem Bild heraus­ kommt. Ich stürze mich da eher hinein wie in ein Aben­ Werden Sie Deutschland noch eine Chance geben? teuer. Das Mädchen kommt zur Tür herein, ich schaue Ich habe deutsche Agenten, deutsche Verleger wie Ger­ mich um und denke, wow, es würde sich toll auf dem hard Steidl und Benedikt Taschen, ich habe deutsche Sofa dort machen. So fängt es an. Dann überlege ich, Galerien, aber ich kenne die deutschen Frauen nicht. was die Szene noch benötigt. Eine Requisite kann die Mein nächstes Projekt wird wieder in Frankreich spie­ Fantasie des Betrachters beflügeln und im Kopf einen len. Ich habe schon damit angefangen. Film in Bewegung setzen. Auf meinen Bildern geht es immer um Geschichten. Ich gebe den Mädchen etwas Verraten Sie mehr? zum Spielen, und sie werden zu Schauspielerinnen und Lieber nicht. Das ist wie beim Angeln. Man kann den stellen eine Szene dar, die irgendwo zwischen Fiktion Fisch nicht verkaufen, bevor man ihn gefangen hat. und Realität angesiedelt ist. Gab es bei einem Shooting ein überraschendes Erlebnis? Ich werde immer überrascht. Aber in London fiel die Überraschung sehr positiv aus, denn alle gaben mir mehr als ich erhofft hatte. Es war wunderbar vergnüg­ lich und intelligent. Ich habe schon lange nicht mehr soviel Spaß gehabt. Ich habe mich in meine Jugend zu­ rückversetzt gefühlt. Heute ist es üblich, in sozialen Medien viel von sich preiszugeben. Ist das eine Illusion? Die Menschen erfinden in den sozialen Medien eine Fiktion von sich, ein Bild, das nicht ihrer wahren

Bettina Rheims’ Serie „Bonkers – A Fortnight in London“ wird bis zum 29. November 2014 bei Camerawork in Berlin erstmals weltweit ausgestellt. Parallel dazu präsentiert Camerawork einen Teil der Serie auf der Messe Paris Photo. Das Buch mit gleichnamigem Titel ist im Steidl­Verlag erschienen (38 Euro).

links Morwenna Lytton Cobbold als präraffaelitische Dungeon Queen.


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Salgado

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Vergessene Völker

Die eigentliche Sensation in Sebastião Salgados Genesis­Serie sind seine Aufnahmen bedrohter Ethnien. Von Holger Christmann

oben Ureinwohner Sibiriens auf ihrem stürmischen Weg nach Norden. unten Die Zo’é in Brasilien tragen Lippenpflöcke und färben ihre Körper mit den Samen des Annattostrauchs.

Acht Jahre bereiste der Brasilianer Sebastião Salgado für sein Mammutprojekt Genesis die Erde, um die Schönheit des Pla­ neten einzufangen. Dabei gelangen ihm nicht nur grandiose Naturaufnahmen, sondern auch berührende Bilder kleiner Völker, deren Lebensformen und Sprachen bedroht sind. Auf der Jamal­Halbinsel im Norden Sibiriens leben die Nenzen, ein Samojeden­Volk mit 42 000 Angehörigen. Einst bedroh­ te sie das Kollektivierungsprogramm der Sowjetunion, das sie zur Sesshaftigkeit zwingen wollte und ihre Sprache ge­ fährdete. Und auch heute wird es ihnen nicht immer erlaubt, ihre Rechte einzufordern. Als kürzlich eine Abordnung der kleinen Völker Russlands an einer UN-Konferenz in New York teilnehmen wollte, wurde ihr die Ausreise verweigert. Hauptgegner der Nenzen ist jedoch heute der Klimawan­ del: Der Jahreslauf der Nomaden wird bestimmt von den Nahrungsgewohnheiten des sibirischen Tundra­Rens. Den Winter verbringen die Nenzen in der südlichen Tundra, im Sommer führen sie ihre Herden in das Nordpolargebiet, wo die Tiere den arktischen Tundraboden nach Gras absuchen. Doch diese Reise auf Schlitten, die von Rentieren gezogen werden, wird schwieriger, denn der arktische Boden taut immer früher auf. Die Öl­ und Gasförderung auf der Jamal­ Halbinsel tut ihr Übriges. Immer wieder kommt es zu Ölha­ varien, die den Weidegrund belasten. Die Ausbeutung von Naturschätzen steht im Kontrast zum schamanistischen und animistischen Glaubenssystem der sibirischen Noma­ den, das von ihnen einen respektvollen Umgang mit der Natur verlangt. Im März und April 2011 fotografierte Salgado eine Gruppe von Nenzen auf ihrem Weg nach Norden (Foto). „Schneidende Winde halten selbst am Tag die Temperaturen niedrig“, sagt Salgado. Ist das Wetter besonders rauh, ver­ bringen die Rentierhirten mit ihren Herden mehrere Tage an einem Ort und reparieren die Schlitten und Rentierhäute. Im Regenwald des Amazonas verbrachte der Fotograf mehrere Wochen bei den Zo’é im Norden des brasilianischen Bundesstaats Pará. Diese „freundlichen Jäger und Sammler“ (Salgado) hatten bis vor 20 Jahren keinen Kontakt mit der

Außenwelt. Als Missionare sie entdeckten, starb innerhalb von zwei Jahren ein Viertel der Bevölkerung, da die Zo’é keine Abwehrkräfte gegen eingeführte Krankheiten besaßen. Inzwischen wird der Indianerstamm, der nur noch rund 250 Mitglieder zählt, vom brasilianischen Staat geschützt, und Salgado benötigte eine Genehmigung, um das Volk in seinem Reservat zu besuchen. Wenn die Zo’é heranwachsen, befesti­ gen sie an ihrer Unterlippe einen Pflock aus Holz. Er dient als Erkennungsmerkmal des Stammes und als Körperschmuck. Im Frühjahr 2009 gelang Salgado ein Foto (links), das an die paradiesischen Südseebilder Paul Gauguins erinnert: Es zeigt Zo’é­Frauen in einem Haus aus Palmwedeln, die ihre Haut mit den roten Samen des Annattostrauchs (Urucum)färben. Dass uns Salgado in diese mal gefährdete, mal unberührte Welt mitnimmt und uns auf einem Planeten, auf dem schein­ bar alles entdeckt ist, noch Neues zeigt, wie es nur den frühen Ethnologen vergönnt war, ist sein größtes Verdienst. Seine Ar­ beit macht uns bewusst, wie wichtig es ist, die kleinen Völker, ihre Sprache und Traditionen zu beschützen. Salgado bekennt sich dazu, dass er dem romantischen Traum gefolgt sei, eine unberührte Welt zu finden. Er stellte jedoch fest, dass nur noch die Zo’é­ und die Korowai in West­ Papua fast ohne Kontakt zur Außenwelt leben. Viele an­ dere bewahrten zwar ihre Traditionen, doch „Besuche von Missionaren und Ökotouristen lassen die Vorposten der Zivilisation immer näher an sie heranrücken.“

Ausstellung: Sebastião Salgado: Genesis. International Center of Photography, New York. Bis 11. Januar 2015. Der 520 Seiten starke gleichnamige Bildband ist bei Taschen erschienen (49,99 Euro). Wim Wenders‘ Filmdokumentation „Das Salz der Erde“ über Sebastião Salgado lief am 30. Oktober in den Kinos an (www.dassalzdererde­derfilm.de).


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David LaChapelle

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Kreative Energie David LaChapelle fotografierte Ölraffinerien und Tankstellen aus Plastik­ und Alumüll. Er warnt vor unserem ungebremsten Rohstoffverbrauch. Von Holger Christmann

Mitten im Nordpazifik schwimmt auf einer Fläche von der Größe der Türkei oder des amerikanischen Bundesstaates Texas das Schand­ mal unserer Zivilisation. 20 Millionen Kilo Plastikmüll dre­ hen sich langsam im Kreis und reisen Meerestiere in den Tod, die ihm in die Fänge kommen: Meeresschildkröten und Wale verheddern sich in Plastikschlingen, Fische und Vögel verwechseln die bunten Reste von Schraubverschlüssen und Tubendeckeln mit Nahrung und verenden qualvoll. Fünf sol­ cher Müllstrudel wurden inzwischen auf den Weltmeeren ge­ sichtet, zwei im Pazifik, zwei im Atlantik, einer im Indischen Ozean.

Als der amerikanische Fotograf David LaChapelle vor drei Jahren auf die Idee kam, Modelle aus Plastikmüll, Alumini­ umdosen und anderen Abfallprodukten unserer Zivilisation zu bauen und sie zu fotografieren, dachte er zwar nicht kon­ kret an den Plastikmüll im Meer. Er wollte der industriellen Produktion ein Denkmal setzen, ein zweideutiges zwar, aber keines, das vorschnell wertet. Jeden Tag verwenden wir, ohne darüber nachzudenken, industriell hergestellte Kunst­ stoffprodukte. Wir denken weder darüber nach, wo diese Behälter enden noch darüber, dass für deren Produktion Öl benötigt wird. „Öl ist der Treibstoff unserer Industriegesell­ schaft“, sagt der Künstler. LaChapelle beschloss, Tankstellen als Miniaturmodelle nachzubauen und zu fotografieren. Ein Spaziergang in den tropischen Wäldern von Maui/Hawaii, wo er seit Jahren lebt, inspirierte ihn zu einer Bildidee. Mit­ ten im Dschungel stand er plötzlich vor einem Tempel, und diesen Anblick fand er so eindrucksvoll, dass er beschloss, die Tankstellen in der Wildnis des Dschungels in Szene zu setzen. Für ihn sind Tankstellen tempelartige Monumente des Industriezeitalters. „Sie geben uns unser täglich Brot“, sagt er in Anlehnung an ein christliches Gebet. Gemeinsam mit Freunden sammelte er Getränkedosen, Haarföns und Lockenwickler, alte Mobilfunkgeräte und ihre Ladegeräte, Kopfhörer und Verpackungen aus Pappe – „all diese Dinge, die zwar vom Material her unverwüstlich sind, aber dennoch nur für den kurzen Gebrauch bestimmt“, so LaChapelle. Aus diesen Gegenständen bastelte er Tankstellenmodelle. Um seine Hommage an das Ölzeitalter zu vervollständigen, baute er ein Jahr später auch Raffinerien nach. Die riesigen Ölfabriken, die bei Nacht verführerisch leuchten, faszi­ nierten ihn schon als Kind. Sie sahen aus wie futuristische Schlösser aus „Magic Kingdom“, doch die Eltern belehrten ihn, dass darin kein gütiger König herrsche. Der Nachbau der Ölfabriken war jedoch aufwendiger, und David LaChapelle

Holt sich die Natur zurück, was ihr gehört? Im Dschungel von Hawaii fotografierte David LaChapelle Tankstellen (Gas AM PM, 2012 Chromomeric Print).

nennt sich „sehr detailverliebt“. Er bat Freunde in Hollywood, Gesellschaft“, die ihm schon immer zu eng waren. Die 25 ihm zu helfen. Auf seinen Fotografien leuchten diese kalten Jahre in der Welt des Glamours nennt er seine „Lehrzeit“. Märchenschlösser der Gegenwart nun in der Nacht so verlo­ „Ich lernte, wie man mit Bildern kommuniziert.“ ckend wie damals. Man muss zweimal hinschauen, um zu er­ Dann hinterfragte er das alles: Er zog nach Hawaii, be­ kennen, dass sie unecht sind. „Das war mein Ziel“, verrät er. gann dort, nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben und „Wir sehen heute so viele Dinge. Wir schauen meist nur noch dachte über den Sinn des Lebens nach. Er lebe „off the grid“, flüchtig hin, schon abgelenkt vom nächsten visuellen Reiz. sagt er – unabhängig von öffentlicher Energieversorgung. Ich brauchte diese optische Illusion, um sie zu erwischen. Den „Peak Oil“ – den vermuteten Gipfel der globalen Förde­ Man denkt, man sieht eine Sache, aber es ist eine andere. So rung, der das Ende des Ölzeitalters einläutet, dessen Datum bekomme ich Zugang zu ihrer Zeit.“ jedoch niemand kennt – sieht er als Synonym für unsere Zeit. Es gab eine Zeit, da war der Warhol­Schüler der grellste „Wir haben in allem den Peak erreicht: beim Öl, beim Bevöl­ Mode­ und Celebrityfotograf der westlichen Hemisphäre. kerungswachstum, sogar in der Pornographie.“ Er fordert ein Seine Lollipop­farbigen Glamourbilder der Naomis, Mariahs, Umdenken. „Jeder Reiche sollte heute eines seiner Häuser Britneys und Whitneys wurden zu Ikonen. LaChapelle drehte mit Solarenergie betreiben.“ Einen Weggefährten fand er un­ Musikvideos für Jennifer Lopez, Christina Aguilera und Elton längst in dem Umweltaktivisten Paul Watson. Der kanadi­ John. Er wurde selbst zum Star. Doch die Mode­, die Film­ sche Kapitän erlebte als junger Mann den stetigen Rückgang welt und heute die Kunstszene, das sind für ihn „Nischen der der Meerestiere und gründete in den 1970er Jahren die


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Kreislauf des Raubbaus: Täuschend echt ließ der Fotograf Ölraffinerien aus Kunststoffprodukten nachbauen, die wiederum aus Erdöl gewonnen werden (LandScape: King’s Dominion, 2013, Chromomeric Print).


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T채glich benutzen wir Kunststoff, ohne uns zu fragen, woher er kommt und wo er endet: oft genug im Meer (LandScape: Pacific Sunset, 2013, Chromomeric Print).


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Umweltorganisation Sea Shepherd Conservation Society. Seither stellte er sich mit seinem Schiff Walfängern und Haiflossenjägern in den Weg. „Er besuchte mich in meinem Studio, und wir führten ein stundenlanges faszinierendes Ge­ spräch, auch über die Zukunft der Meere.“ Für den Katalog zu „LandScape“– so nennt LaChapelle seine Raffinerien­Serie – verfasste der Ökokrie­ ger das Vorwort. LaChapelle unterstützt gemein­ sam mit anderen Prominenten wie dem Popsän­ ger Pharell Williams, David de Rothschild, dem Künstler Tom Sachs und dem Galeristen Julian Schnabel Watsons Ökoinitiative Parley. Die Orga­ nisation hat sich der Rettung der Meere verschrie­ ben. Sie schlägt Alarm, dass in zehn Jahren die Korallenriffe der Erde zerstört seien und in 30 Jah­ ren sogar die kommerzielle Fischerei an ihr Ende komme. LaChapelle wünscht sich angesichts solcher Prognosen vor allem eins: Dass seine Bilder von möglichst vielen Menschen gesehen werden und nicht nur den privaten Sammler zum Nachdenken anregen. „Ich war schon immer überzeugt, dass Kunst die Welt verändern kann. Daran glaube ich bis heute.“

David LaChapelle LandScape Galerie Daniel Templon, 30 Rue Beaubourg, Paris bis 23. Dezember 2014 www.danieltemplon.com

Informationen über die Umweltinitiative Parley: www.parley.tv

Bei Nacht wirken Raffinerien wie Wunderwelten aus Licht und Stahl (LandScape: Luna Park, 2013, Chromomeric Print).


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Sowjet-Nostalgie und feine Ironie

Den Menschen in Russland hilft Fotografie dabei, sich zu erinnern und ihr Land besser kennenzulernen. Die Moskauer Galeristin Maria Burasovskaya ist ihre erste Adresse. Von Holger Christmann

Als Maria Burasovskaya 2003 in die neue Fotogalerie Glaz einstieg, hatte sie keine Konkurrenz. „Es gab keine einzige ernsthafte Galerie für Fotografie in der ganzen Stadt“, erin­ nert sie sich. Nach Sammlungen und Arbeiten junger Foto­ grafen, die sie anbieten konnte, musste sie nicht lange suchen. „Sie fanden uns, da es ja keine Alternative gab.“ Maria Burasovskaya hatte Journalismus studiert, schlug aber gleich den Weg in den Handel mit Fotografie ein. Nicht ganz unschuldig daran war ihr Vater, der namhafte Kurator und Fotosammler Sergej Burasovski. Heute ist die Glaz­Galerie, die Burasovskaya gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Dmitry Butuzov leitet, die erste Adresse für Fotografie in der russischen Hauptstadt. Ein Spezialgebiet der gerade mal 29 Jahre alten Händlerin ist die Fotografie der Sowjetunion. Die meisten Werke aus dieser Zeit befinden sich in Privat­ besitz, oft haben die Nachkommen sie aufbewahrt. Exklusiv betreut und vermarktet Burasovskaya zusammen mit dessen Tochter etwa den Nachlass von Dmitri Baltermants. Der gebürtige Pole, dessen Familie im Ersten Weltkrieg nach Osten floh, schlug sich in den 1930er Jahren in Moskau erst als Architekturzeichner, Kinotechniker und Lehrling in der Druckerei des kommunistischen Parteiblatts Iswestija durch und studierte Mathematik, bevor ihn die Zeitung als Fotoreporter in den Zweiten Weltkrieg entsandte. Er doku­ mentierte die Schlacht von Stalingrad für Iswestija und für die Zeitung der Roten Armee, Na Razgrom Vraga, fotografierte – und kämpfte – Seite an Seite mit – der vorrückenden Roten Armee in der Ukraine und in Polen und erreichte mit den Soldaten 1945 Berlin. Baltermants kehrte als geachteter Fotograf in die Heimat zurück – auch wenn manche seiner

Die Moskauer Galeristin Maria Burasovskaya.

Kriegsfotos erst nach dem Krieg publik wurden – und blieb von weiteren Kampfeinsätzen verschont. Stattdessen wurde er Fotochef der Illustrierten Ogonyok und machte in den nächsten Jahrzehnten bequemere Dienstreisen. So beglei­ tete er die Präsidenten Nikita Chruschtschow, Leonid Bre­ schnew und Michail Gorbatschow auf ihren Reisen im Land und auf Staatsbesuchen. Bei diesen Gelegenheiten bekam er auch ausländische Staatschefs wie Mao und Fidel Castro vor seine Linse. Ein Foto von Baltermants ging um die Welt: Es heißt „Trauer“ und zeigt ein Schlachtfeld, auf dem sich Frauen ver­ zweifelt über die Leichen von Soldaten beugen. Vielleicht sind es ihre Söhne und Ehemänner, die sie da wiederfin­ den? Das Foto soll Baltermants Anfang 1942 in der Nähe von Kertsch auf der Krim geschossen haben, nachdem die Rote Armee den strategisch wichtigen Ort an der gleichna­ migen Meerenge an Silvester 1941 von den Deutschen zurück­ erobert hatte. Es ist umstritten, ob das Foto die Folgen eines Massakers der berüchtigten deutschen Einsatzgruppe D


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Dmitry Baltermants dokumentierte den Alltag der Sowjetunion (Kolya lebt in Moskau, 1960er Jahre, Vintage Print).

an den Juden der Krim dokumentiert oder ob die Frauen tote Soldaten betrauern, die in der Schlacht gestorben sind. „Trauer“ gehört jedenfalls zu den erschütterndsten Kriegsfo­ tografien des 20. Jahrhunderts. Ein Element der Aufnahme hatte Baltermants zur Stei­ gerung der Dramatik hinzugefügt. Die düsteren Wolken am Himmel lieh er sich aus einem seiner anderen Fotos aus. Für dieses Spiel mit „Negativen“ war er bekannt. Maria Burasovskaya begutachtete jedoch den gesamten Film und ist überzeugt, dass Baltermants von der Szene so erschüt­ tert und übermannt war, dass er pausenlos auf den Auslö­ ser drückte. Das war sonst nicht seine Art. Gewöhnlich war Baltermants kein Freund von Zufallstreffern. Ob er Rotarmisten vor der Schlacht oder Ölarbeiter in Sibirien porträtierte – er drückte erst ab, wenn die Komposi­

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tion stimmte und die Inszenierung perfekt war. Diesen „künstlerischen Anspruch“ bewundert Burasovskaya an ihm. Werke Baltermants stellt die Moskauerin im No­ vember auf der Paris Photo vor. Allerdings zeigt sie dort eher seine hochinteressan­ ten Alltagsszenen aus der Sowjetunion, die uns einen Einblick in die verschlosse­ ne Welt des einstigen Imperiums geben. Kinder, die im Schnee spielen, Studentin­ nen, die in modischen Röcken zur Uni ge­ hen, vermitteln heute den Eindruck, dass auch in der Sowjetunion nicht das ganze Leben ein Jammertal war. Ein Anliegen ist Burasovskaya das Werk des Stilllebenfotografen Alexander Sliussarev. „Er war ein stiller und schüch­ terner Mensch und hockte vor allem in den 1970er Jahren am liebsten in seiner Wohnung.“ Die Londoner Tate Gallery habe dieses Jahr Arbeiten Sliussarevs für ihre Sammlung angekauft, freut sich Burasovskaya. Gefragtester Lichtbildner der Sowjet­ zeit bleibt der Revolutionskünstler und Avantgardist Alexander Rodtschenko (1891 – 1956). Werke Rodtschenkos gelten als Raritäten, und die Famile verkauft Arbeiten aus dem Nachlass in der Regel nur an Museen. Burasovskaya ist froh, aktuell wenigstens ein Vintage­Foto von ihm im Angebot zu haben, die Aufnahme eines Blasorchesters aus dem Jahr 1928. Als die Galeristin damals anfing, besaß sie keinen blassen Schimmer, wie sie Sowjetfotografie preislich ansetzen soll­ te, „denn es gab keine Referenz“. Inzwischen erzielen Werke Rodtschenkos auf Auktionen Preise von 30 000 und sogar über 100 000 Euro, während Arbeiten von Baltermants mit Preisen von 5000 bis 15 000 Euro noch wahre Schnäppchen sind. Die Galeristin freut sich, dass sich im Ausland, aber auch in Russland Sammler für die Fotografie der Sowjetzeit inter­ essieren. „Vintage­Fotografie ist ein gute Investition, da sie schwer zu finden ist. Und bei aller Kritik an der Sowjetunion: Viele Russen blicken auf die Zeit mit nostalgischen Gefühlen zurück. Sie verbinden damit Kindheits­ und Jugenderinne­ rungen.“ Und die Sowjetfotografie ermöglicht es ihnen, noch einmal wehmütig in dieser Erinnerung zu schwelgen .

Zu den zeitgenössischen Fotografen der Glaz­Galerie gehören Sofia Tata­ rinova und Ivan Mikhailov. Tatarinova bereiste mit ihrer Kamera Udmurtien, eine autonome Republik am Ural, in der die Selbstmordrate besonders unter Männern hoch ist. Sie besuchte dort Witwen, die im Winter Skulpturen aus Schnee bauen und erzählen, dass ihre Ehemänner sich aus Eifersucht das Le­ ben nahmen. Die Fotografin fand her­ aus, dass es durchaus noch andere Gründe dafür gab, dass Männer in Ud­ murtien Selbstmord begingen. Ivan Mikhailov machte mit seinen Doppel­ porträts russischer Mütter und ihrer Töchter auf sich aufmerksam. Jetzt nimmt er ironisch die Verschönerung russischer Städte durch Werbebanner und andere urbane Kosmetik aufs Korn. Seine Werke kosten zwischen 500 und 2000 Euro. Mikhailov studierte in Düs­ seldorf und versucht, den Stil der Be­ cher­Schule auf Russland anzuwenden. Eine Institution, die so bedeutend wäre wie die Düsseldorfer Kunstakademie, gibt es in Russland laut Burasovskaya noch nicht. Die Moskauer Rodtschen­ ko­Kunstschule, die auch Sofia Tatari­ novas Udmurtien­Reise ermöglichte, sei jedoch auf einem guten Weg. Maria Burasovskaya sorgt dafür, dass deren beste Absolventen einen Markt finden. Bis heute macht ihr auf diesem Gebiet in Moskau keiner was vor. Glaz Gallery Malaya Ordinka 23 119017 Moskau www.glazgallery.com

oben Ivan Mikhailov entdeckt Kontraste im Stadtbild (Verschönerung, 2013, C-Print in 10er-Auflage). links Sofia Tatarinova bereiste eine entlegene Region Russlands (Udmurtien, 2011, C-Print in 10er-Auflage).

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Kunstmarkt

Das Fotobuch wird wichtiger

Christian Patterson begab sich auf die Spuren eines lange zurückliegenden Massakers (Haus bei Nacht) und erkundete seinen Heimatort (Der Grund des Sees).

Der Hamburger Galerist Robert Morat über Trends in der jungen Fotografie Von Fotografie war Robert Morat schon mit elf Jahren fasziniert. Seine Eltern waren mit Elfie Semotan, der inter­ national gefragten österreichischen Modefotografin befreundet, die später die Kampagnen für Helmut Lang fotografierte. Einmal nahm ihn Semo­ tan in ihre Dunkelkammer mit. „Wie da in dem Bad Gesichter auf dem Bild erschienen, das war ein magischer Moment“, erinnert er sich. Seitdem ließ ihn die Fotografie nicht mehr los. Seine Eltern betreiben ein angesehe­ nes kunstwissenschaftliches Institut in Freiburg, das Morat Institut für Kunstgeschichte und Kunstwissen­ schaft. „Ich hatte also von Hause aus wenig Berührungsängste mit Bil dender Kunst“, sagt er. Er studierte Kunstgeschichte und betreibt seit zehn Jahren in Hamburg eine Galerie für Fotografie sowie einen Schauraum in Berlin-Mitte. Morat gilt als einer der besten Fachleute für Dokumentarfo­ tografie und „junge Positionen“. Dazu gehören auch ungewöhn­ liche Arbeiten etablierter Profis wie Christopher Anderson. Das MagnumMitglied arbeitete für Magazine unter anderem in Afghanistan, Irak, Libanon, Israel und Venezuela. Für die Aufnah­ men von seiner Reise auf einem Flücht­ lingsboot aus Haiti, das sank, wurde er mit der Robert-Capa-Goldmedaille

© THEKLA EHLING

Von Holger Christmann

Mit Fotografie wuchs er auf: Robert Morat

geehrt. Als sein Sohn geboren ist und kurz darauf sein Vater an Krebs erkrankte, erkannte Anderson, dass er weit gereist war, „um die emotionalen Erfahrungen Anderer“ festzuhalten. Er beschloss, sich dem eigenen Leben zuzuwenden und seine Rolle als Vater und als Sohn in Bildern aufzuzeichnen. „Dass sich ein Kriegsfotograf einer so poetischen freien Arbeit widmet, fand ich berührend. Es geht darin um grundsätzliche Fragen“, sagt Morat. Der Galerist ist stolz darauf, das Buch zur Serie im Kehrer­Verlag initiiert zu haben. Zu Morats Favoriten gehört

ein anderer Amerikaner, Christian Pat­ terson. Patterson sorgte 2011 mit sei­ ner Arbeit „Redheaded Peckerwood“ über eine lange zurückliegende Mord­ serie für Aufsehen. Zwei Teenager, die 1958 verhaftet wurden, hatten zuvor elf Menschen ermordet. Terence Mallick inspirierte die Kriminalge­ schichte zu seinem Film „Badlands“, Oliver Stone zu „Natural Born Killers“. Patterson fuhr die Fluchtroute der Halbwüchsigen durch Wyoming und Nebraska nach und recherchierte in Polizeiarchiven. Sein Werk gleicht einer Akte und besteht aus Dokumen­ ten, Gegenständen und eigenen Foto­ grafien. Das Buch zur Serie erschien 2011 im Londoner Verlag Mack. Seine neue Serie „Bottom of the Lake“ wid­ mete Patterson seinem Geburtsort. Morat wird der erste Galerist sein, der sie zeigt. „Christian Patterson ist jemand, der über die Möglichkeiten von Erzählung in der Fotografie nach­ denkt. Er war einer der ersten, die mit großer Konzentration auf das Buch als Kommunikationsobjekt setzten“, sagt Morat. Letztes Jahr gewann der Foto­ graf den Buchpreis beim Fotofestival in der südfranzösischen Stadt Arles. Morat vertritt auch andere Temperamente wie den Becher­Schüler Bernhard Fuchs („Ich finde seine Kon­ zentration und Kontemplation gut.

Als Fotoreporter bei Magnum nahm Christopher Anderson Anteil am Schicksal von Menschen in Krisengebieten. Dann ließ er sich von der eigenen Familie berühren: ein Foto aus der Serie über seinen Sohn.

Seine Arbeit hat etwas von Entschleu­ nigung.“) und Jessica Backhaus, deren Aufnahmen die Vergänglichkeit im Alltag festhalten. Ein „großer Fan“ ist er von den extremen Langzeitdoku­ mentationen Bertien van Manens. Die Holländerin reiste seit den 90er Jahren durch die USA, die Russische Föderation, Moldau, Kasachstan und die Ukraine und verbrachte manchmal Wochen und Monate mit denselben Menschen, „bis die Leute sie nicht mehr als Fotografin wahrnahmen.“ Da­ bei gelangen ihr „beiläufige Aufnah­ men, aus denen ich viel über diese Länder gelernt habe.“ (Morat).

Zeitschriften sieht der Galerist schon länger nicht mehr als Forum für junge Fotografen. Es gebe nur wenige Maga­ zine, „die noch Platz und Budgets für Talente“ hätten. Gerade Blätter, die für visuelle Avantgarde bekannt waren, gäben heute ein „trauriges Bild“ ab. Umso wichtiger seien Stipendien ge­ worden. „Da haben es die Skandinavier besonders gut. Das Netzwerk von Stif­ tungen, Fördertöpfen und Fonds ist in Nordeuropa dicht.“ Welche Tendenzen er in der aktu­ ellen Fotografie sieht? „Es wird stark Wert gelegt auf das Buch. Das war früher nicht so. Ich sehe viel Archiv­

und Recherchearbeit wie bei Christian Patterson, der sich an tatsächlichen Fällen entlangarbeitet und gefundene Objekte und Notizen in sein Werk ein­ bezieht. Man findet in fotografischen Ausstellungen immer häufiger Vitrinen für gefundene Objekte. Fotografen wechseln die Medien, sie zeichnen und malen.“ Eigentlich, sagt er, müsste er heute eine Kunstgalerie betreiben. Er will jedoch Fotogalerist bleiben. „Was der Kunde bei einem Galeristen sucht, ist Urteil, Auswahl, Expertise.“ Und mit Fotografie kennt er sich eben seit jenem Tag in der Dunkelkammer Elfie Semotans „am besten aus“.


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Highlights der Paris Photo

Ein Rundgang über die Pariser Messe (13. bis 16. November) von Tina Sauerländer

Weites Amerika: Robert Adams, Spaziergang. Südlich von Grover, Colorado, 1973, Gelatinesilberabzug, Galerie Fraenkel, San Francisco

Nur selten finden Meisterwerke der Fotografie in Anzahl und Vielfalt so zusammen, wie auf der Paris Photo. Die wichtigs­ te Kunstmesse für Fotografie, die seit 1997 jährlich in der französischen Hauptstadt stattfindet, bietet einen Bilder­ reichtum, der von den Anfängen der Fotografie bis in die Gegenwart hinein reicht.

Schattenspiele: André Kertész, Pariser Stühle, Champs-Élysées, 1931, Gelatinesilberabzug, Galerie Stephen Daiter, Chicago.

K L A S S I K E R D E R S C H WA R Z W E I S S F O T O G RA F I E Während seiner Pariser Zeit entstand die Aufnahme „Chairs of Paris, Champs-Élysées“ (1931) des aus Ungarn stam­ menden Fotografen André Kertész (1894–1985). Sie zeigt eine ungewöhnliche Ansicht der Pariser Prachtstraße. Nicht das bunte Treiben wird eingefangen, sondern aneinander­ gereihte Gartenstühle, die einen Schatten auf den Gehweg werfen. Kertész interessierte sich für geometrische Formen, Kontraste und neue Blickwinkel auf die Welt (Stephen Daiter Gallery, Chicago). Der Vintage Print „Grand Palais 2“ (1955) von Otto Steinert (1915–1978) lässt eine Kombination von mehre­ ren Techniken erkennen, die der deutsche Fotograf gerne verwendete: Fotomontage, Solarisation und Negativdruck. Für den Begründer der Subjektiven Fotografie diente Licht­ bildnerei nicht der reinen Naturnachahmung, sondern der Schaffung von medien- und zeitspezifischen Ausdrucks­ formen mit Hilfe des subjektiven Fotografenauges (Galerie Kicken, Berlin). William Eggleston (*1939) gehört zu den Pionieren der künstlerischen Farbfotografie. Vor ein paar Jahren wurden in den Archiven des William Eggleston Artistic Trust in Mem­ phis Bilder aus den Jahren 1960 bis 1972 gefunden – in

Schwarzweiß. Sie lassen die für Eggleston typische, von Beiläufigkeit geprägte Bildsprache erkennen (Rose Gallery, Santa Monica). Nur wenige Fotografen haben die Weite Amerikas so ein­ gefangen wie Robert Adams (*1937). Adams’ Aufnahmen sind zwar meist menschenleer, offenbaren jedoch den Ein­ fluss des Menschen auf die Natur (Fraenkel Gallery, San Francisco). Die Serie „Men in the Cities“ (1976–1982) des ameri­ kanischen Künstlers Robert Longo (*1953) ist längst Kult geworden. Auf dem Dach seines New Yorker Wohnhauses bewarf Longo seine Freunde mit Gegenständen und foto­ grafierte ihre Ausweichmanöver. Die tänzerisch-zuckenden Bewegungen wurden auf der Bildfläche eingefroren und entfalten so ihre Wirkung. Aus den Fotografien fertigte Robert Longo später Großformate mit Kohle und Graphit, die im Film „American Psycho“ (2000) als Wohnungsaus­ stattung des vermeintlichen Psychokillers Patrick Bateman dienen (In Camera, Paris).

oben Historisch: Der Kriegsfotograf W. Eugene Smith (19181978) dokumentierte die Schlacht um die kleine Insel Iwo Jima im Pazifik (März 1945, Vintage, Silbergelatinedruck auf Barytpapier). unten Margaret Bourke-White (1904–1971) nahm 1936 die Wall Street aus ungewöhnlicher Perspektive auf. Beide Werke bringt der Münchner Händler Daniel Blau mit nach Paris.

K L A S S I K E R D E R FA R B F O T O G RA F I E Schon mit 14 zeigte Stephen Shore (*1947) dem Kurator des Museum of Modern Art in New York, Edward Steichen, seine Arbeiten. Mit 17 zog der Fotograf in Warhols Factory ein. Später bereiste er sein Heimatland und fotografierte in amerikanischen Städten Straßenkreuzungen, Parkplätze und Tankstellen – oder ein Kino wie das Bay Theater in Ashland, Wisconsin.


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und der Wirkung von Licht auf Fotopapier. Es entstanden eindrucksvolle Abstraktionen in ungewöhnlicher Farbigkeit (Feroz Galerie, Bonn). Mit ihren gestochen scharfen Fotografien von Innen­ räumen wurde die Becher-Schülerin Candida Höfer (*1944) weltbekannt. Neuere Aufnahmen zeigen die Räume des Kunstmuseums der Villa Borghese in Rom. Auf „Villa Bor­ ghese Roma XVIII 2012“ (2012) ist Gian Lorenzo Berninis zweieinhalb Meter hohes Meisterwerk „Pluto und Proserpina“ (1621–22) aus weißem Marmor zu sehen. Angesichts der monumentalen Architektur und ornamentalen Farbigkeit des Raumes spielt die Skulptur aber auf dem Bild nur eine Nebenrolle (Ben Brown Fine Arts, London).

oben Jahrmarkt der Eitelkeiten: Anthony Hernandez, Beverly Hills #3, aus der Serie Rodeo Drive, 1984, Ilfochrome-Druck, Galerie Thomas Zander, Köln. unten Stadtlandschaften: Stephen Shore: Bay Theater, Second Street, Ashland, Wisconsin, 9. Juli 1973, 1973, C-Print, Galerie Edwynn Houk, New York.

ENTDECKUNGEN Der Magnum-Fotograf Jérôme Sessini (*1968) verfolgte mit der Kamera die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Seine dramatischen Aufnahmen chaotischer Straßenschlachten zeigen, dass die Reportagefotografie noch lange nicht aus­ gedient hat (Magnum Gallery, Paris). Halb authentisch, halb fiktiv ist die Serie „Domestic Vacations“ der amerikanischen Fotokünstlerin Julie Black­ mon (*1966) zu verstehen. In den USA finden sich ihre Arbeiten bereits in wichtigen Sammlungen wie dem George Eastman House in Rochester und dem Museum of Fine Arts in Houston, in Europa steht ihre Entdeckung durch Institu­ tionen noch aus (Robert Mann Gallery, New York). Seit 2009 entwirft Lorna Simpson (*1960) aus New York vielteilige Wandinstallationen. In „Uses of Enchant­

In der Serie „Rodeo Drive“ (1983–1985) von Anthony Her­ nandez (*1947) tummeln sich reiche und schöne Shop­ per auf der Einkaufsmeile in L.A. Der Fotograf fing ihre Verhaltensweisen ein und erwischte sie in unbemerkten Augenblicken (Galerie Thomas Zander, Köln). Einen Gegenpol zum schicken „Rodeo Drive“ bilden die Aufnahmen von Bruce Davidson (*1933) aus der New Yor­ ker U-Bahn. „Subway“ aus den frühen 1980er Jahren war die erste Farbserie des Magnum-Fotografen und zeigt die Dichte und die sozialen Kontraste New Yorks: Anzugträger vor Graffitis, ausgemergelte Musikanten, Obdachlose und schmusende Paare bevölkern die schmuddelige, dunkle Enge der New Yorker U-Bahn (Rose Gallery, Santa Monica). Der Kölner Fotograf Chargesheimer (1924–1971) zeigte das Ruhrgebiet in der Blütezeit des Kohleabbaus ungeschönt und machte sich damit nicht nur Freunde. Seit Raumerlebnis: Candida Höfer: Villa Borghese Roma XVIII 2012, 1950 experimentierte Chargesheimer mit Fotomontagen 2012 C-print, 6er Edition, Galerie Ben Brown, London.

ment“ (2014) kombiniert Simpson 33 Porträts, die sie in Fotoautomaten fand, mit 20 abstrakten Zeitschriftenaus­ schnitten und 17 monochromen Elementen aus Bronze. Das Münchner Haus der Kunst stellte ihr Werk jüngst erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor (Galerie Nathalie Obadia, Paris/Brüssel). Die iranische Fotografin Newsha Tavakolian (*1981) arbeitete im Alter von 16 Jahren für Zan, eine iranische Tageszeitung für Frauen. Mit 18 berichtete sie über die Studentenproteste in ihrem Heimatland, und 2002 war sie bereits als Kriegsreporterin tätig. Ihre Aufnahmen aus dem Libanon, Syrien und Pakistan erscheinen in internationalen Zeitungen und Magazinen. Für ihre Serie „Look“ fotografier­ te Tavakolian einsame Menschen in gräulichen Hochhaus­ Zeuge der Revolte: Jérôme Sessini, Kiew, Ukraine, 2014 zimmern. Aus dem Fenster blickt man auf unzählige weitere Pigmentdruck, Galerie Magnum, Paris. Fenster in einem anonymen Hochhausdschungel (Silk Road, Teheran). Die Amerikanerin Penelope Umbrico (*1957) verarbeitet die Inflation der Fotografie im Internet. Auf Ebay fand sie Bilder kaputter Fernsehbildschirme, die Kunden dort zum Verkauf anboten. Daraus schuf sie die Serie „Broken Sets“ (Robert Koch Gallery, San Francisco).

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AUS S T E L L U N G E N Rund um die Paris Photo zeigen auch diesmal Museen und Sponsoren wie Giorgio Armani, BMW und J.P. Morgan Foto­ grafie. Ein Überblick über das Rahmenprogramm. Das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) sam­ melt vor allem Nachkriegsfotografie und präsentiert auf der Paris Photo spannende Neuerwerbungen wie Lyle Ashton, Sarah Charlesworth, Susan Meiselas, Oscar Munoz, Liliana Porter und Regina Silveira (Grand Palais, Salon d’Honneur). Ebrahim Alkazi, Jahrgang 1925, war einer der bekann­ testen Theatermacher Indiens, und er ist einer der größten Kunstsammler des Subkontinents. Paris Photo zeigt einen Ausschnitt seiner 90 000 Werke umfassenden Fotosamm­ lung: vor allem kolorierte Porträtfotografie, wie sie typisch für den Süden des Landes war (Grand Palais, Salon d’Honneur). Zum fünften Mal zeigt Giorgio Armani Fotografien zum Thema Wasser, darunter Arbeiten von Debra Bloomfield, Trent Parke und Alison Rossiter. Mit der Initiative „Acqua for Life“ setzt sich Armani für weltweiten Zugang zu sauberem Trinkwasser ein (Grand Palais, Salon d’Honneur). Das Künstlerduo Mazaccio & Drowilal lotet die Grenzen zwischen Kitsch und Kult aus. 2013 gewann das Paar den „BMW Residency Award“, den der Münchner Autohersteller gemeinsam mit dem Pariser Nicéphore-Nièpce-Museum auslobt. Ihre Serie „Wild Style“ zeigt, wie das Künstlerduo mit visuellen Klischees die Grenzen des guten Geschmacks hinterfragt (Musée Nicéphore Nièpce).

oben Koloriert: Dame auf dem Sofa mit Telefon; ohne Zuschreibung; Gelatinesilberdruck und Ölmalerei, ca. 1920–40. Ein Werk aus der indischen Alkazi-Sammlung. unten BMW-Preisträger: Mazaccio & Drowilal, Der beste Freund des Hundes – Sie ist raus aus meinem Leben; aus der Serie „Wild Style 2013“.

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AUS S E R D E M I M G RA N D PA L A I S : Eine Ausstellung von über 70 Fotobüchern von 1960 bis heu­ te; eine Schau mit den Gewinnern des achten „SFR Jeunes Talents“-Wettbewerbs; Neues von Hiroshi Sugimoto, der Fundstücke am Strand fotografierte; eine J.P.-MorganSchau über Fotografen als Selbstdarsteller („Camera as Release“). Eine Hommage an das Kino präsentiert der Kamerahersteller Leica mit der Ausstellung „Francois Fontaine, Silenzio!“.

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Kunstmarkt

Fraenkel goes to Hollywood

Hervorragendes noch großartiger werden kann.“ BMW stellte auf der dreitägigen Messe das Art Car des britischen Malers David Hockney aus, der viele Jahre in Kalifornien lebte. Galerien meldeten gute Verkäufe. Die Etherton Gallery (Tuscon, Arizona) soll Prints des politisch engagierten ame­ rikanischen Fotografen Danny Lyon für mehr als 200 000 Dollar losgeworden sein. Die Galerie 303 (New York) sprach vom Verkauf von acht Werken Stephen Shores „am ersten Tag“, Nikolaus Ruzicska (Salzburg) machte dem Vernehmen nach gute Geschäfte mit Fotografien des Österreichers Josef Hoflehner (Preise zwischen 7000 und 40 000 Dollar). Guido Costa Projects (Turin) fand einen Käufer für einen digitalen Foto-Gobelin Paul Thorels (50 000 Dollar). Die Künstler­Kooperative Black Ship verkaufte 37 Arbeiten der Dokumentarfotografin Cristina de Middel. In Los Angeles sind die internationalen Fotokünstler zu sehen, die auch in Paris ausgestellt sind. Darüber hinaus schöpft der Ableger aus dem Fundus Hollywoods und der Stadt. So widmete die Messe Dennis Hopper eine Retrospektive. Glamourfotografie spielt generell im Herzen Hol­ lywoods eine etwas größere Rolle als in Paris. Die Galerie Fraenkel aus San Francisco stellte in L.A. aus dem Werk des Fotografen Lee Friedländer weniger dessen Bilder des ame­ rikanischen Alltags in den Vordergrund als seine Porträts von Musikern wie Ray Charles und Miles Davis. Eine Entde­ ckung der Messe war 2014 eine Schau mit Aufnahmen aus dem Archiv des LAPD (Los Angeles Police Department).

Viele Stars und eine tolle Location. Galeristen setzen große Erwartungen in den zweiten Standort der Paris Photo: Los Angeles. Von Holger Christmann

Als die zweite Ausgabe der Paris Photo ende April in Los Angeles zu Ende ging, schielten andere Kunstmessen nei­ disch auf diese Namen: Unter den Stars, die in drei Tagen auf der Messe gesichtet wurden, waren in alpha-tier-beti­ scher Reihenfolge Judd Apatow, Maria Bello, Orlando Bloom, Laetitia Casta, Jo Champa (Ex-Helmut-Newton-Model und Sofia-Coppola-Schauspielerin), Jamie Lee Curtis, Julie Delpy, Bryan Ferry, Jane Fonda, Selena Gomez, der Musiker Moby, Demi Moore, Mandy Moore, Edward Nor­ ton, Frank Ocean, Gary Oldman, Gwyneth Paltrow, Brad Pitt und Mena Suvari (American Beauty, American Pie). Prominente Kunst­ sammler wie Elie Broad und Muse­ umsleute von Ost­ und Westküste der USA gaben sich die Ehre. 81 Galerien und Verlage stellten aus, 16 000 Besucher wurden gezählt Referenz an Hollywood: In L.A. bot der Münchner (im Vergleich zu 160 Ausstellern Galerist Daniel Blau und mehr als 50 000 Besuchern David Baileys Porträt der Muttermesse in Paris). von Johnny Depp Auch Teilnehmern gefällt das aus dem Jahr 1995 Event unter Sonne und Palmen. zum Kauf an.

Tiefenentspannt: Kalifornier am Stand der Galerie Fraenkel (San Francisco).

Übereinstimmend preisen alle die Location: die Paramount Studios an der Melrose Avenue. „Erfreulich sind auch die kulturellen Unterschiede. Die Menschen in Kalifornien sind freundlich. Sie sind für jeden guten Spruch zu haben. Es macht einfach Spaß, dort zu sein“, schwärmt der Galerist Robert Morat aus Hamburg. Auch ihn beeindruckte das hohe Staraufkommen. „Eine VIP-Eröffnung in L.A. verdient wirklich ihren Namen. Wir bekamen am Stand Besuch von Brad Pitt, Orlando Bloom, Jodie Foster und Demi Moore.“ Der Kölner Kollege Thomas Zander pflichtet ihm bei: „Die Messe ist wunderschön, die Fotografie hat Qualität, die Paramount Studios sind eine super Location, und das Essen ist vom Feinsten.“ Thomas Girst, Kulturkommunikations-Chef des Messepartners BMW, ließ sich mit dem Satz vernehmen: „Der Erfolg, die Kühnheit und die schiere Schönheit der Paris Photo Los Angeles, die in ihrem zweiten Jahr auftrumpfte, dürfte niemanden überraschen, der weiß, dass etwas

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Wo VIPs noch wirklich welche sind: Brad Pitt und Orlando Bloom beim Messebesuch in den Paramount-Studios.

Manche Händler berichten von großem Besucherandrang und „eindrucksvollem Publikum“, bedauern jedoch bislang allenfalls zufriedenstellende Umsätze. Einer bekennt, dass die Entspanntheit der Kalifornier für den Galeristen eine „Herausforderung“ darstelle. „Sie schlendern gerne von Stand zu Stand und lassen sich schwer zum schnellen Ge­ schäftsabschluss bewegen.“ Er zitiert die Redewendung: „There is no sense of urgency in California.“ Inzwischen hat dieser Galerist nach eigener Aussage eine neue Verhand­ lungsstrategie entwickelt, um die Besucher länger am Stand zu halten und seine Verkäufe anzukurbeln. Morat setzt jedenfalls Erwartungen in den Standort: „Ga­ leristen brauchen sieben bis acht Jahre, um sich zu etablie­ ren. Warum sollte das bei Messen anders sein? Nach dem dritten Jahr Paris Photo haben viele gesagt, dass es in Paris keinen Markt für zeitgenössische Fotografie gibt. Jetzt gibt es keine wichtigere Messe als diese.“ Der Hamburger wird 2015 zum dritten Mal teilnehmen und glaubt an das „Potenzial von Los Angeles“. Das tut auch der Messeveranstalter Reed. Ende März 2015 holt er erst­ mals die Kunstmesse Fiac in die „Stadt der Engel“. Ein Münchner Fotogalerist hofft, dass L.A. zwei neue Messen auf einmal verträgt. Denn jetzt müssen nach den Stars mit ihren hohen Absätzen auf dem Roten Teppich erstmal auch die anderen Absätze stimmen.

Aus dem Polizeiarchiv von L.A.: Leichenschauhaus, Mann mit Blumentattoo (1945). Paris Photo Los Angeles. Paramount Pictures Studios. Los Angeles 1.– 3. Mai 2015


Horst P. Horst

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Magier des Lichts Horst P. Horst (1906 –1999) war der Meister des Schwarzweiß­ Porträts, als die Farbfotografie erfunden wurde. Doch die größte Krise seines Metiers verwandelte er in Von Holger Christmann seinen größten Triumph. links Auch in Farbe entwickelte Horst P. Horst einzigartige Ideen: Das Model, das auf seinen Zehenspitzen einen knallroten Strandball balancierte, war im Mai 1941 das Titelbild der amerikanischen Vogue.

die aktuelle Vogue­Chefin Anna Wintour. Das bekannteste Werk von Horst P. Horst „Mainbocher Corset“ ist eine ihrer Lieb­ zeigt die Rückenansicht eines Modells in einem Korsett. Horst fotografierte es 1939 lings­Fotografien aus dem Condé­Nast­ in Paris für die amerikanische Vogue. Die Archiv. Der Aufbau der Lichtregie auf die­ Geschichten, die sich um dieses eine Bild sem Foto war so komplex, dass Horst ein­ herum erzählen ließen, würden ein Buch mal bekannte, es wäre ihm unmöglich, füllen. Da ist die Geschichte des Mode­ den Effekt zu rekonstruieren. Horst war auch sonst ein Virtuose des Lichts. So lös­ designers Main Boucher, der als erster te er etwa das Problem, schwarze Stoffe zu Amerikaner ein Haute­Couture­Haus in fotografieren, ohne dabei das Gesicht des Paris eröffnete und nach diesem Wespen­ Horst-Ikone: Models auszubleichen. Das gelang ihm, taillenwunder der Herbst­/Winterkollek­ Mainbocher-Korsett (1939) indem er das gesamte Licht auf den Stoff tion noch rechtzeitig vor Kriegsausbruch Europa verließ. Da ist das unbekannte Schicksal des Modells, lenkte und das Gesicht geheimnisvoll im Schatten beließ. von dem nur der Name, Madame Bernon, überliefert ist. Da Handelte es sich um einen hellen Stoff, beleuchtete er den ist das Bild selbst mit seiner plastischen Wirkung und seiner Hintergrund stärker als das Kleid. „Ich nahm Spitzlicht, um Mischung aus Sinnlichkeit und Melancholie. Der damalige wichtige Stellen eines Kleides zu betonen. Gesichter stellten Art Director der Vogue, Mehemed Agha, sagte über den ein eigenes Problem dar. Griechische Skulpturen waren dafür Schöpfer des Bildes: „Horst besitzt das Gespür eines Bild­ geschaffen, im grellen Sonnenlicht gesehen zu werden. Sie hauers für Form und Volumen... Man hat den Eindruck, dass, vertrugen auch Licht von oben. Auf menschlichen Gesich­ wenn man um seine Modelle herumlaufen könnte, sie von tern lässt starkes Licht von oben Falten hervortreten, verdun­ allen Seiten gleich gut aussähen.“ Typisch für den Fotogra­ kelt die Augen und wirft Schatten unter Lippen und Nase.“ fen war der dramatische Licht­ und Schattenkontrast. Horst Gesichter nahm Horst daher lieber von unten oder von der P. Horst war bekannt dafür, zwei Tage mit bis zu 20 Schein­ Seite auf, und nur Augen oder Lippen waren angestrahlt. werfern und Reflektoren zu experimentieren, bevor das Licht Nicht anders als heute, arbeiteten Modefotografen schon in so fiel, wie er es wünschte. „Irgendwas machte er mit der den 1930er Jahren mit Requisiten („Props“). Horst P. Horst Beleuchtung, stellte etwas um und plötzlich hatte man dieses bediente sich bei barocken Schnecken, Gipsabgüssen anti­ ‚Horst‘­Bild mit dem typischen Chiaroscuro“, erinnert sich ker Statuen und Großaufnahmen von Altmeister­Gemälden.


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oben Perfektionist: Horst P. Horst, hier 1949 mit dem schwedischen Model Lisa Fonssagrives, überließ bei seinen Shootings nichts dem Zufall. rechts Horst machte die ersten Models berühmt: hier die Amerikanerin Muriel Maxwell. Ein Foto aus dem Shooting, auf dem Maxwell den Mund weiter geöffnet hat, war im Juli 1939 Titelbild der amerikanischen Vogue.

Was nicht im New Yorker Atelier des Vogue-Verlags Condé Nast produziert werden konnte, lieh sich der Fotograf bei In­ neneinrichtern und renommierten Designern wie Jean­Mi­ chel Frank, Emilio Terry und Marcel Vertès aus. Der Raum auf dem Foto „Mainbocher Corset“ wirkt spartanisch. Doch auch hier leisteten die Kulissenbauer ganze Arbeit. Der Marmor etwa ist aufgemalt. In der Retusche bekam das Model eine schmalere Taille. Dem Fotografen gelang mit diesem Werk eine Jahrhundert­Ikone. Aber auch sein eigenes Leben erfuhr an diesem Tag eine Wendung: „Es war das letzte Foto, das ich vor dem Krieg in Paris aufnahm. Ich verließ das Atelier um 4 Uhr morgens, ging zurück in die Wohnung, holte meine Koffer ab und nahm den 7­Uhr­Zug nach Le Havre.“ Dort reiste er am Mittwoch, 23. August, um zwei Uhr nachmittags mit dem Art­Deco­Luxusliner SS Normandie nach New York. „Wir fühlten, der Krieg würde kommen.“ Man muss sich das vorstellen: Am selben Tag, vielleicht im selben Augenblick, als der Fotograf in der Stille eines Pariser Ateliers auf den Auslöser drückte, bereitete Hitler auf dem Obersalzberg sei­ ne Generäle in martialischem Ton auf den Krieg vor. Eine Woche nach Horsts Abreise überfiel die Wehrmacht Polen. Paris war der große Traum des jungen Horst Bohrmann, der 1906 in Weißenfels an der Saale geboren wurde. Der Sohn eines Kaufmanns studierte an der Hamburger Kunstgewerbe­

schule in Hamburg Architektur, bewunderte das Bauhaus und bekam 1930 ein Angebot des Stararchitekten Le Corbusier, in seinem Büro in Paris anzufangen. Dort sollte er als erstes ein Badezimmer für die neue Duplex­Wohnung des mexikani­ schen Silberminen­Erben und Gesellschaftslöwen Carlos de Bestegui auf den Champs­Élysées entwerfen. Damit war der junge Horst bereits in der Gesellschaftsschicht angekommen, die ihm später Porträt sitzen sollte. Womöglich wäre er Archi­ tekt geblieben, wäre er nicht dem Vogue-Fotografen George Hoyningen­Huene begegnet. Horst kam dabei die Gnade der Natur zugute: Er war ein schöner Mann. „Er sah phantastisch aus – eine klassische teutonische Schönheit“, schwärmte der spätere Vogue-Art­Director Alexander Libermann. Frauen und Männer verliebten sich in den charmanten wie attrakti­ ven – und schwulen – Architekten aus Deutschland. Hoynin­ gen­Huene war einer von ihnen. Er engagierte den jugendli­ chen Adonis als Model, etwa für Bade­ und Skimode. Der russische Baron mit baltischen und deutschen Wurzeln führ­ te Horst in die High Society ein. Im Winter 1931/32 besuch­ ten die beiden die Vicomtesse de Noailles in ihrer modernis­ tischen Villa an der Riviera. Man Ray hatte dort zwei Jahre zuvor seinen Film „Les Mystères du Château de Dé“ gedreht. Noch entscheidender für den Deutschen war, dass Hoynin­ gen­Huene ihn an die Fotografie heranführte. Er nahm ihn mit ins Atelier, zeigte ihm, wie man Fotos machte und stellte ihn den Redakteuren der Vogue vor. „Von ihm lernte ich alles, was er mir damals über Fotografie beibringen konnte“, sagte Horst. Als Hoyningen­Huene 1934 zu Harper’s Bazaar nach New York wechselte, hatte sein Freund und Lehrling schon so erfolgreich seine Fotos in der Vogue publiziert, dass er Cheffotograf der französischen Ausgabe wurde. Die Bezie­ hungen zwischen Deutschland und Frankreich begannen sich derweil zu verschlechtern, und Horsts Status als Deut­ scher in Paris wurde zum Problem. 1932 wollte Condé Nast dem Protegé des großen Hoyningen­Huene schon einmal jenseits des Atlantiks eine Chance geben, doch Horst fühlte sich im New York der Großen Depression einsam, und Condé Nast fand den Neuling, der sich weigerte, den Stil des großen Edward Steichen nachzuahmen, arrogant und ver­ messen. Jetzt, 1935, gab ihm der Verlag eine zweite Chance – und wurde belohnt. Horst entfaltete soviel Talent und Pro­ duktivität, dass er 1937 zu den bestbezahlten Vogue-Fotogra­ fen gehörte. Er nahm sich eine Wohnung an der noblen Up­ per East Side. Hoyningen­Huene zog bei ihm ein. Horst wurde für Condé Nast umso wichtiger, als Edward Steichen den Verlag verlassen hatte. Wie sein amerikanischer Vorgänger bereiste nun auch der Deutsche Hollywood und lichtete die Stars des Tonfilms ab wie Katharine Hepburn,


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Rita Hayworth und Olivia de Havilland. Dabei überraschte er den geneigten Vogue-Leser durch originelle Einfälle: so er­ zeugte er durch Rahmen (de Havilland) Bild­im­Bild­Effekte, und Joan Crawford platzierte er vor einem Fantasiebild des alten Roms. Auf dem Bild von Gary Cooper und seiner Frau Rocky blickt das Paar originell in entgegengesetzte Richtun­ gen. 1942 saß ihm Marlene Dietrich Porträt, die deutsche Diva, die nach Amerika ausgewandert war und im Zweiten Weltkrieg für die US-Truppen sang. Die Dietrich hatte ihn gebeten, das Licht auf ihr Gesicht so fallen zu lassen wie es der Filmregisseur Josef von Sternberg tat, um sie vorteilhaft in Szene zu setzen: ein frontales Licht hoch über der Kamera, eines von der Seite. Diese Lichtregie sollte ihre Wangenkno­ chen betonen und warf nebenbei einen kleinen Schatten in Form eines Schmetterlings unter ihre Nase – weshalb Fach­ leute von Schmetterlings­Licht sprachen. Horst ignorierte ihren Wunsch. Er stellte einen Spiegel neben die Kamera,

schob das Licht knapp unter ihr Gesicht und ließ es dadurch weicher wirken. Beeindruckt war der Fotograf nicht von sei­ ner Landsmännin. Ihren Hut fand er „schrecklich“, und er lästerte: „Ohne Make­up hat ihr Gesicht die typisch flachen deutschen Züge. Sie projeziert Sex, ist aber nicht sexy.“ Er fotografierte sie so wie er sie sah, eher unsexy: ihre Bluse ist hochgeschlossen, vor ihre legendären, angeblich bei Lloyds versicherten Beine schob er einen Sessel. Erkenntnisse wie diese verdanken wir der Ausstellung, die das Victoria and Albert Museum in London dem „Photographer of Style“ aktuell widmet. Es ist die umfassendste und eindrucksvollste über den Fotografen, die es jemals gab. Wir erfahren in der Mammutschau auch, dass Horst seine Kunst des Schwarzweißporträts kaum perfektioniert hatte, als eine tech­ nische Revolution die Spielregeln komplett auf den Kopf stellte: Condé Nast war schon lange Vorreiter bei der Farb­ wiedergabe in Zeitschriften. Der Werbefotograf Anton Bruehl und der Fototechniker Fernand Bourges hatten für den Verlag das Bruehl­ Bourges­Verfahren entwickelt. Wenn das Licht auf Folien mit farbsensibler Emulsion fiel, nahm das Foto Farbe an. 1938 brachte Kodak jedoch den ersten Kodachrome­ Farbfilm für Profis auf den Markt. Horst entdeckte schnell seine Freude an der neu­ en Technik und schoss in den nächsten Jah­ ren die brillantesten farbigen Coverfotos der Zeit: Für die Juli­Ausgabe 1939 fotogra­ fierte er das amerikanische Model Muriel Maxwell, für die Juni­Ausgabe lichtete er die Schwedin Lisa Fonssagrives in Posen ab, die den Formen der Vogue-Buchstaben gli­ chen. Berühmt wurde auch das Cover vom 15. Mai 1941: Ein Model liegt auf dem Rü­ cken und balanciert einen Ball auf seinen Füßen. Zwischen 1939 und 1942 stammten 34 Vogue-Cover von Horst. „Vorher interes­ sierten mich dunkle Sujets mit scharfen, leuchtenden Akzenten – Sujets, bei denen Schatten und dunkle Farben sich in dunklen Hintergründen mischten. In jüngerer Zeit, in meinen Farbfotografien, versuchte ich,

Horsts Fotos erzählen Modegeschichte: Das Kleid stammt von Hattie Carnegie. Die gebürtige Henrietta Kanengeiser aus Wien wurde in New York zur gefragten Modedesignerin und entwarf die Uniformen der US-Armee für den Korea-Krieg.

PHOTO international BASEL June 16 – 20 2015

Switzerland´s first art fair solely dedicated to photography. Taking place during Art Basel week. www.photointernational-basel.com


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oben Wenn schon Covergirl, dann richtig: Aus Anlass des Filmmusicals „Cover Girl“ mit Rita Hayworth fotografierte Horst sein Model Susann Shaw 1943 gleich sieben mal vor einem Hintergrund aus Seide. rechts 1952 schuf Horst eine Serie männlicher Aktaufnahmen. In ihren dramatischen Licht- und Schattenkontrasten wurden sie zum Vorbild für Robert Mapplethorpe.


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Bilder zu machen, in denen jede Farbe deutlich hervortritt, wobei das Bild so leicht und klar und transparent wie möglich sein sollte“, schrieb er in einem Buch, das 1951 die ersten Meisterwerke der Farbfotografie aus Condé­Nast­Zeitschrif­ ten versammelte. Inzwischen war der Krieg längst vorbei, die Modebranche boomte, und der Verlag hatte seinen Kreis von Stammfotografen um Cecil Beaton, André Kertész, Erwin Blumenfeld, Norman Parkinson und Irving Penn erweitert. Condé Nast hatte seinen Fotografen schon im Krieg, als Fil­ me knapp wurden, den Einsatz kleinerer Kameras wie der Rolleiflex erlaubt, und Neulinge wie William Klein stürzten sich nun mit den handlichen Apparaten in das Getümmel der Stadt. Horst erkundete anderes Neuland. Jahrelang hatte er an einem enzyklopädischen Projekt gearbeitet, den „Patterns of Nature“ (1946). Dafür fotografierte er in Mexiko, in den Wäl­ dern Neu­Englands, am Pazifik und im Botanischen Garten New Yorks Muster in der Pflanzenwelt. Anders als Karl Bloss­ feldt wollte er mit der Bildersammlung nicht die biologische Forschung unterstützen, sondern sich und die Modewelt ästhetisch inspirieren. Einige Muster empfahl er ausdrücklich für die Verwendung auf Textilien, Tapeten, Vasen und Schmuck. Noch mutiger wirkt heute sein Ausflug in die Akt­ fotografie. Die Heldenskulpturen der griechischen Antike hatte er genau wie Hoyningen­Huene schon in den 1920er Jahren verehrt – und sinnlich fotografiert. Anfang der 1950er Jahre schuf er nun eine dramatische Serie muskulöser männ­ licher Akte in athletischen Posen und typischem Horst­Licht – und das mitten in der strengen McCarthy­Ära. Horst wurde damit zum Wegbereiter von Fotografen wie Mapplethorpe, Herb Ritts und Bruce Weber. Kaum bekannt sind auch seine Reisefotografien. Im Som­ mer 1949 wurde sein neuer Lebenspartner, der britische Diplomat Valentine Lawford, an die Botschaft in Teheran versetzt. Horst nahm sich mehrere Monate frei, um ihn zu begleiten und erhielt dort von der Schwester des Schahs die Erlaubnis, die geschichtsträchtigen Städte Isfahan und Persepolis zu fotografieren.

Bei Condé Nast setzte Diana Vreeland auf einen neuen Coverlook und neue Fotografen. Horst entsandte sie jetzt in die Villen und Paläste der Schönen und Reichen. Seine foto­ grafischen Hausbesuche bei Consuelo Vanderbilt, den Roth­ schilds, den Emilio Puccis und Truman Capotes dieser Welt geben faszinierende Einblicke in den Lebensstil des Jetsets. Und sie erfreuten die Gastgeber. Emilio Pucci bedankte sich bei ihm für die „phantastischen Aufnahmen in Vogue. Jeden Tag erhalte ich enthusiastische Kommentare von überall auf der Welt, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie beeindruckt ich bin von Ihrer Kunst und Ihrem großartigen Sinn für Pro­ portion und Bewegung.“ Beliebt war Horst seit jeher bei den Fotomodellen, die seine Freundlichkeit schätzten. 1978 holte ihn die Chefredakteurin der französischen Vogue noch einmal für ein Modeshooting in sein geliebtes Pa­ ris – und wunderte sich über sein bescheidenes Auftreten. Bis in die 1990er Jahre fotografierte Horst berühmte Leute. Eine Ausgabe des Life-Magazins mit Horst­Porträts wichtiger Zeitgenossen war 1980 die bestverkaufte des Jahres. 1999 erwarb der Münchner Sammler und Fotografie­Experte Gert Elfering den Nachlass des Fotografen. Zeitweilig bewohnte er auch das Haus des Meisters auf Long Island. Nach der Aus­ stellung in London verspricht er in Kürze „weitere Entde­ ckungen“ aus dem Archiv des Künstlers. Auch Fotografenkollegen zollen Horst bis heute für die einzigartige Aura seiner Werke Anerkennung. Ein wertvolles Kompliment machte ihm Irving Penn: „Horst P. Horst hatte eine Art, das Model zu sehen und mit ihm zu kommunizie­ ren, die es irgendwie erhöhte und eine ...  nicht zu greifende extra Unze Magie aus der Situation herauszog.“

The Power of Creation

Horst. Photographer of Style Victoria and Albert Museum, London Bis 4. Januar 2015 Horst in Colour Bernheimer Fine Art Photography, München 5. Dezember 2014 bis 31. Januar 2015

IMPRESSUM Chefredaktion Holger Christmann Editorial Design Anja Steinig (verantw.), Miriam Busch, Studio F, Berlin Lithografie max­color, Wrangelstr. 64, 10997 Berlin Druck Druckhaus Berlin­Mitte GmbH, Wilhelm­Kabus­Straße 21–35, 10829 Berlin Verlag Hess Verlag, Trappentreustraße 31, 80339 München, www.photo­international.de

A LIMITED EDITION BY IRIS VAN HERPEN

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HORST IN COLOUR

December 5, 2014 – January 31, 2015 presented by Horst Estate and Bernheimer Fine Art Photography

Brienner Str. 7, München, www.bernheimer.com /photography


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