WALLAS WALLFAHRT
Walla war eine Naturgewalt. Ein Tsunami der Verzweiflung. Eine Massenkarambolage am Kamener Kreuz: Mark litt mit ihm. Doch er konnte einfach nicht wegsehen. Walla war nicht zum Trinken gekommen. Er war nicht zum Reden gekommen. Er riss sich gleich das Herz aus der Brust und legte es puckernd auf den Tresen, direkt vor Katze, die seinem bewegenden Schauspiel nicht eine sichtbare Gefühlsregung spendierte. Walla sprach zu Mark oder Kowalski, ließ Katze dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Er begann seinen flehenden Vortrag mit einem Exkurs in die wilden 80er. „Eine Zeit, in der das Blue Shell die rechte und linke Herzkammer des Kwartier Latäng war. Schwarzweiß-karierte Fliesen, Froschfotzenbleche, dazu der kühle Mix von Cowboystiefeln und Rangerboots, Karottenjeans und Bomberjacken, wasserstoffblonden Flats, Elvistollen und polierten Glatzen. Die Wahl zwischen Speed und schlechtem Speed. Und auf der Bühne die Shades, die Local Heros Kölns.
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Ein schwuler Bassist und drei Riotgirls. Und am Mikro eine kampferprobte Amazone, deren Puls auch im krassesten Pogo-Pit nie über 60 ging. Eine Frau wie zwei Kerle. Eine Göttin. Katze.“ Walla war so in seinem Element, dass sich kleine Spuckeflöckchen von seinen Lippen lösten und im Kamikazeeinsatz Richtung Bar flogen. Er lebte gerade die 80er nach, war auf dem Zenit seines Lebens – und liebte. Voller Inbrunst. Kompromisslos. Eine Unerreichbare. Aus Millionen Legionen hatte sie ihn auserkoren. Wallas Blick schien sich in der Zeit wieder zurückzuschrauben. „Nur für eine Nacht.“ Mark zeigte nach außen natürlich nicht mehr als das diskrete Nicken, das die Barmänner weltweit eint, wenn jemand an ihrem Tresen sein Herz ausschüttet. Innerlich war er jedoch zum Zerreißen gespannt. Katze redete nicht gern über ihre wilden Zeiten. Und so, wie sie gerade aussah, hasste sie es auch, dass Walla darüber sprach. Der holte gerade zum großen Finale aus. „Sie war heiß wie ein Harleyauspuff, verstehst du? Zerstörerisch. Aber keine schwarze Witwe. Sie ließ mir das Leben. Leider.“ Wallas letzte Worte versandeten in Selbstmitleid. Er trank sein Bier in einem Stoß aus.
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„Deine Chefin ist Heroin, mein Junge. Damals wie heute. Und ab und zu brauch ich einen Schuss.“ Plötzlich, ohne ein Wort, verschwand Katze im Büro. Walla, völlig in sich zusammengesunken, räumte seinen Hocker und wankte in Richtung Tür wie ein entseelter Golem. Kaum fiel die Tür zu, stand Katze wieder hinter Mark. „Genau das mein ich, Mark. Diese Alkoholaufrisse sind gefährlich. Dabei fängst du dir leicht einen Stalker ein.“ „Hat er oder hat er nicht?“, grinste Mark. „Was?!“ „Na vom Heroin gekostet. Hat er die Göttin ins Bett gekriegt?“ Katze sah fast verlegen aus. „Ehrlich? Keine Ahnung. Er behauptet es. Und ich hab‘n Filmriss.“ Für einen Moment sah Katze so alt aus, wie sie wirklich war. „War ´ne abgefahrene Zeit damals.“ Sie flippte sich eine Kippe zwischen die Lippen, zündete sie an und ließ sie aufglühen. Zwei dicke Kondensstreifen schossen aus ihren Nasenlöchern. Marks Augenbraue erinnerte an den staatlich verordneten Gesundheitszwang. Katze nahm einen Extrazug und zerdrückte die Zigarette in dem Aschenbecher, den er ihr hinhielt. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“
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„Manchmal vergess ich sogar das Gesetz, das mir den Umsatz ruiniert. Pass auf, Mark. Wenn Wallas Besuch überhaupt irgendeinen Sinn hatte, dann den: Fang dir keinen Stalker ein. Mir ist egal, was du in deiner Freizeit machst. Wo du nach Dienstschluss deinen Absacker trinkst. Wen du da triffst. Warum du ihn knatterst.“ „Sie!“ „Oder sie, mir völlig egal. Aber das Glamrock ist kein Kontakthof, verstanden? Ein Walla alle paar Monate reicht. Ich hab keinen Bock auf noch mehr Stress.“ Dieser Walla schien ihr wirklich zuzusetzen. Und das seit Jahren. Jahrzehnten. Ausgerechnet ein Barstalker bescherte Katze immer wieder Höllenmomente. Und nun wollte sie Mark davor bewahren, denselben Fehler zu machen. Sich eine weibliche Version von Walla ins Leben zu holen. Und in die Bar. Mark nickte. Er hatte die Botschaft verstanden. Doch dann meldete sich das Schicksal mit zwei in ihrer Parallelität eher unschönen Ereignissen zurück: Marks Handy empfing eine weitere SMS von Kussi-Eva. Und die Tür des Glamrock schwang auf und ließ einen neuen Gast herein: Carmen.
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DATE MIT JOAQUIN
Rudi griff in die riesige Tüte, die zwischen ihren Knien klemmte, und warf sich eine Handvoll salziges Popcorn in den Mund. Weiter links von ihr knutschte ein älteres Paar, und zwei Reihen vor ihr versuchte eine Horde balzender Teenie-Jungs, eine Gruppe Mädels zu beeindrucken. So, wie es aussah, mit Erfolg. Rudi kuschelte sich tiefer in den lädierten Kinosessel und grinste innerlich. Ihr stand ein Film mit Joaquin Phoenix bevor und danach ein Wiedersehen mit ihrem großen Bruder, den sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Abgesehen von den paar Skype-Dates, aber die zählten nicht. Dabei hatte sie Hannes zwar sehen können, aber gefühlsmäßig waren sie Galaxien voneinander entfernt geblieben. Der Saal wurde dunkel, und der rote, mottenzerfressene Vorhang öffnete sich quietschend. Hier gab es keine Werbung, der Film würde sofort beginnen – dem 1-Euro-Kino sei Dank! „Hier ist doch bestimmt noch frei, oder??“ Rechts neben Rudi stand ein Typ und deutete auf den Platz neben ihr. Auf den sie extra ihre Jacke gelegt hatte.
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Der Typ war allein, da stand keine Gruppe von Menschen hinter ihm, für die Rudi hätte einen Platz weiter rücken können. Der wollte doch nicht wirklich direkt neben ihr sitzen? Bei schätzungsweise zwanzig freien Plätzen im Raum? „Kommt noch jemand. Sorry“, log Rudi. „Oh, okay. Nehm ich halt den daneben. Dann können wir deine Begleitung von zwei Seiten wärmen.“ Der Typ ließ den Platz neben Rudi frei und setzte sich. Er trug Stetson-Hut und Hornbrille und einen Gesichtsausdruck irgendwo zwischen FDP und CDU. Rudi fischte nach der Flasche Kölsch, die sie unter ihrem Sitz geparkt hatte. Na toll. Für ihren Geschmack hätte er sich ruhig ein paar Reihen weiter weg setzen können. „Salute“, prostete er und hielt ihr sein Tuborg entgegen. „Mal sehen, ob Signs uns heute überzeugen kann!“ Rudi rang sich ein nicht zu freundliches Lächeln ab und prostete zurück. Dänisches Bier. Wer trank denn sowas? Sie tippte auf Filmstudent. Einer von der Sorte, die jeden Film hassten, der nicht von einem Regisseur stammte, der entweder mit Minderjährigen schlief oder seine Frau für seine Adoptivtochter verließ. Plötzlich blinkte auf ihrer Jacke das lautlos gestellte Handy. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“
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Eine SMS von Hannes: „Hey Sis, 10 klappt auch nicht. Wird eher 12. Freu mich auf später. Pommes & Döner? Oder Bier & Chips?“ Rudi starrte auf das Display. Das war jetzt schon die dritte SMS in Folge, in der Hannes die Uhrzeit nach hinten schob. Was machte er bloß? Der Bundeswehr-Dreh musste doch längst beendet sein. „Freu mich auch. Ruf an, falls es früher klappt. Bin noch in der Stadt. Kölsch & Salzbretzeln!“, tippte sie und drückte auf Senden. So langsam kamen ihr Zweifel, ob sie Hannes tatsächlich zu Gesicht kriegen würde. Sie warf sich eine neue Ladung Popcorn in den Mund und spülte mit Kölsch nach. Endlich begann der Film. „Du kennst den Streifen auch schon, oder?“, fragte der peinliche Stetson von der Seite und stippte dabei seinen Hut aus der Stirn. Als hätte er seinen Abschluss am Clint-Eastwood-Kolleg gemacht. „Hmmm“, murmelte Rudi. Bloß nicht zu freundlich sein, sonst fühlte er sich noch aufgefordert, weiter zu texten. „Kein Hollywood-Highlight, oder?“, dozierte er. „Ziemlich vorhersehbare Story. Und der Twist im dritten Akt – gute Güte! Viel zu platt.“ Er lachte plötzlich. „Sorry, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der Bernd.“
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Rudi hob wortlos die Flasche. „Der-Bernd“ war ja wohl völlig schmerzfrei. Warum setzte ein Mann einen männlichen Artikel vor seinen Namen? Aus Angst, dass man ihn sonst für ein Mädchen hielt? „Und hast du auch einen Namen? Oder soll ich einfach Prinzessin sagen?“ „Sorry, der-Bernd“, flüsterte Rudi, drückte sich dabei tief in ihren Sessel und nickte auch für Hörgeschädigte verständlich Richtung Leinwand, „ich hab ein Date mit Joaquin Phoenix.“ Das schien gesessen zu haben. Er lehnte sich wortlos zurück und zog seinen Hut tief über die Augen. Es sah nicht wirklich so aus, als ob er überhaupt noch etwas von der Leinwand sehen konnte, aber darüber konnte und wollte Rudi sich keine Gedanken machen. Jetzt war JoaquinPhoenix-Zeit, und dieses Date ließ sie sich von niemandem versauen.
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