I M M Ä R Z 2 011 E R S C H E I N T D E R N E U E R O M A N » K A RT E U N D G E B I ET«
Prix Goncourt 20 10
»Ein großer Wurf, sein bisher bester Roman.« Süddeutsche Zeitung
»Höchst unterhaltsam!« Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Ein sehr komischer Roman.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
»Perfekt. Ein packendes, trauriges und humorvolles Buch.« Die Zeit
FRAN KFU RTER R U N DSCHAU
Martina Meister
Prophet der Mittelmäßigkeit Der Prix Goncourt für Michel Houellebecq ist mehr als verdient
Endlich hat er es geschafft: Michel Houellebecq hat sich selbst getötet. Aus und vorbei. Der Dichter ist tot. Nicht durch seinen übermäßigen Zigarettenkonsum ist ihm das gelungen, auch nicht durch Komasaufen. Keine Drogen waren im Spiel, nur Worte. In seinem jüngsten Roman La carte et le territoire (Karte und Gebiet), in dem er eine Nebenrolle einnimmt, hat sich Houellebecq auf bestialische Weise ermorden lassen: Der Körper des Schriftstellers ist mit einem Lasergerät in unendlich viele Fleischfetzen zerlegt worden, die so kunstvoll auf dem Teppich arrangiert worden sind, dass der Tatort an ein Gemälde von Jackson Pollock erinnert. Nur Houellebecqs Kopf ist intakt geblieben. Er thront auf einem Sessel, auf einem zweiten daneben steht der seines großen, schwarzen Hundes. Michel Houellebecq hat es wirklich geschafft. Er hat mit dieser rituell wirkenden Selbsttötung des Schriftstellers durch den Erzähler seine hass-
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erfüllten Kritiker ein für alle Mal mundtot gemacht und sich gewissermaßen den Weg freigeschossen zum Prix Goncourt. Zu diesem Preis, für den er seit zehn Jahren im Gespräch ist, der mindestens zweimal an ihm vorbeigegangen ist und der ihm fehlte, allem Erfolg zum Trotz. Es war wie ein Phantomschmerz, auch wenn er das nur widerwillig zugegeben hat. Nicht, dass er ihn finanziell gebraucht hätte. »Der französische Harry Potter für Erwachsene«, wie es der Kritiker Marc Fumaroli von der Académie Française einmal bitterböse formulierte, hat keinen Verkaufskick dieser Art nötig gehabt. Ein Prix Goncourt verkauft sich in Frankreich durchschnittlich 400 000 Mal. Houellebecq schafft das mitunter auch so. Als er den Verlag wechselte, wurden Summen über den Tisch geschoben wie für Fußballstars. Houellebecq wollte die Anerkennung des Literaturbetriebes, den er verachtet; er wollte den Ritterschlag der Kritik, die ihn hasst. Er wollte, als ob er in seinem tiefsten Inneren doch ein Romantiker ist, so etwas wie Versöhnung. Die Provokation ist in Wahrheit nur die Maske des Träumers. Mit Karte und Gebiet, seinem jüngsten und zweifellos besten Roman, in dem er den Ballast der Provokation endlich abwerfen konnte, hat sich Houellebecq an seinen Kritikern auf gewisse Weise gerächt. Er hat mit diesem Ritualmord ihre Hassgefühle bedient und ihnen doch dabei ganz elegant vorgeführt, dass die Literatur eben nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln ist: Houellebecq ist tot! Es lebe Houellebecq! Mit anderen Worten: Dieser Künstlerroman, dessen Hauptfigur ein Maler, kein Schriftsteller ist, beweist, dass es sie eben doch gibt, die sauberen Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Weshalb man einen typisch houellebecqschen Protagonisten, der frauenfeindlich, rassistisch, moslemfeindlich oder ein Befürworter des Klonens ist oder am besten gleich alles zusammen, eben nicht mit dem Autor verwechseln darf. Houellebecq hat diesen Prix Goncourt wie kein anderer verdient, weil sein gesamtes Werk von kleinen Ausnahmen abgesehen das stärkste und
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radikalste der französischen Gegenwartsliteratur ist. Niemand hält dieser Gesellschaft den Spiegel so schonungslos vor. Houellebecq schildert eine sich weiter und weiter entleerende Welt, in der sich Obszönes mit Visionärem vermengt, die Banalität mit der Melancholie. Sie ist bevölkert von Egomanen ohne Ego, von Erotomanen ohne Eros. Dabei beschreibt er unsere Lebenswelt am ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert mit einer klinischen Kühle und Sterilität, als operiere er den Patienten am offenen Herzen. Houellebecq hat wie kein anderer seiner Kollegen einen literarischen siebten Sinn. Vielen Lesern wirken seine Bücher zu flach, um sie ertragen zu können. Das Missverständnis besteht darin, dass sie die Beschreibung des Hohlen und Entleerten durch Houellebecq selbst für hohl und entleert halten. Aufgereizt und provoziert durch die scheinbare Teilnahmslosigkeit, mit der er dokumentiert, wird der Bote verantwortlich gemacht für die Botschaft, die er überbringt. In Wahrheit ist Houellebecq ein Prophet. Er hat wie kein anderer Schriftsteller der Gegenwart einen literarischen siebten Sinn. Er schrieb in Elementarteilchen (1998) über Eugenik, Stammzellen und Prä-Implantationsdiagnostik, als diese Begriffe noch nicht jeden Tag in der Zeitung standen. In Plattform lassen islamische Fundamentalisten in einem Nachtclub in Thailand eine Bombe hochgehen, um mit den getöteten Sextouristen stellvertretend die gesamte westliche Welt für ihren Lebenswandel zu bestrafen. Als der Roman am 3. September 2001 in die französischen Buchhandlungen kam, hatte Houellebecq gerade noch Zeit, ein paar Provokationen loszulassen und zu behaupten, der Islam sei wirklich die »allerdümmste« aller Religionen. Wenige Tage später stürzten in New York die Twin Towers zusammen und mit ihnen die Sicherheiten des vergangenen Jahrhunderts. Und auch wenn Die Möglichkeit einer Insel (2005) literarisch eine große Enttäuschung war, so beschreibt Houellebecq darin doch deutlich, Jahre bevor die ersten Schwangerschaften und Todesfälle auf der Klage-
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mauer von facebook verkündigt wurden, wie unsere geklonten Nachfahren nur noch elektronisch miteinander verkehren. Houellebecq ist ein Prophet, der selbst an der Welt leidet. Dass er dies Leid nie zu verstecken versucht hat, hat ihn für viele zur Hassfigur gemacht. Aber seine Erscheinung ist keine Pose. Er zeigt sich im zerknautschten Parka, weil er ihm wirklich wie ein Panzer ist. Er sitzt wie ein geschlagener Hund in den Fernsehstudios, die Fingerspitzen vom Nikotin vergilbt, und ist im Grunde selbst eine der Figuren, die seine Romane bevölkern: der Mittelstandsfranzose in seiner unüberbietbaren Mediokrität. Ein Mann, wie er einmal sagte, von »perverser Aufrichtigkeit«. Ob er gerührt sei über diesen Preis, hat ihn eine Reporterin kurz nach Bekanntgabe gefragt. Nein, ließ er mit leiser, wackliger Stimme wissen. »Es ist ein merkwürdiges Gefühl«, fügte er noch hinzu. Alles andere als emotionale Teilnahmslosigkeit hätte auch überrascht. Frankfurter Rundschau, 10. 11. 2010
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Susannah Hunnewell
The Art of Fiction: Michel Houellebecq
»Mögen Sie die Stooges?«, fragte Michel Houellebecq am zweiten Tag des Interviews. Er legte seine elektrische Zigarette ab (sie glühte rot auf, wenn er inhalierte, und statt Rauch stieg Dampf auf) und erhob sich langsam vom Sofa. »Iggy Pop hat ein paar Stücke geschrieben, die auf meinem Roman Die Möglichkeit einer Insel beruhen«, erklärte er. »Er sagte, es sei das erste Buch seit zehn Jahren, das ihm gefallen hat.« Frankreichs berühmtester lebender Schriftsteller klappte sein MacBook auf, und die raue Stimme der Punklegende füllte die kleine Küche: »It’s nice to be dead.« Michel Houellebecq wurde 1958 auf La Réunion geboren. Seiner Website ist zu entnehmen, dass seine bohemienhaften Eltern, eine Narkoseärztin und ein Bergführer, »bald jegliches Interesse an seiner Existenz verloren«. Im Anschluss an einen kurzen Aufenthalt bei den Großeltern mütterlicherseits in Algerien wurde er vom siebten Lebensjahr an von der Großmutter väterlicherseits aufgezogen, die in Nordfrankreich lebte. Nach einer von Arbeitslosigkeit und Depression geprägten Phase, die zu
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mehreren Psychiatrieaufenthalten führte, fand Houellebecq eine Anstellung als Systemtechniker im französischen Nationalrat. (Die Parlamentsmitglieder waren »ganz reizend«, sagt er.) 1991 verfasste Houellebecq, der sich seit der Universität dem Schreiben gewidmet hatte, eine anerkannte Studie über H. P. Lovecraft. Im Alter von 36 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, Ausweitung der Kampfzone, der das erdrückend langweilige Leben zweier Computerprogrammierer schildert. Das Buch, das zum Kultroman wurde, inspirierte die Fans dazu, eine Bewegung namens »Depressionismus« zu gründen. (Houellebecq, der die Ehrenmitgliedschaft annahm, sagt, er »verstand ihre Theorien nicht richtig, und ehrlich gesagt war es mir auch egal«.) Sein nächster Roman, Elementarteilchen (1998), eine Mischung aus Sozialstudie und expliziten Sexszenen, verkaufte sich in Frankreich 300 000 Mal
Eine Woche mit Houellebecq – Auszug aus dem Literatur-Blog der Kritikerin Nelly Kaprielian TAG 1 10.00 h Woran erkennt man einen großen Roman? Daran, dass man auch bei der zweiten Lektüre noch ständig Neues entdeckt, dass man immer wieder aufs Neue erstaunt, beeindruckt, amüsiert ist, der Text einen pausenlos über die Welt und das eigene Leben nachdenken lässt. So verhält es sich mit Michel Houellebecqs neuem Roman Karte und Gebiet. Ich habe ihn gerade zum zweiten Mal gelesen, in Vorbereitung meines Interviews mit ihm heute Abend. Das Buch erscheint am 8. September, und die Presse ist schon jetzt voller Lobeshymnen. Jeder neue Roman von Houellebecq ist ein Ereignis.
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und machte ihn zum internationalen Star. Es war der Beginn der immer noch erbittert geführten Debatte, ob Houellebecq als brillanter Realist in der großen Tradition eines Balzac gefeiert oder als verantwortungsloser Nihilist verworfen werden sollte. 2001 erschien Plattform. Das Buch handelt von einem Reisebüro, das sich entschließt, Sextourismus in Thailand aggressiv zu vermarkten. Im Roman führt dies zu einem Terroranschlag muslimischer Extremisten. Aufgrund gewisser Ansichten der Hauptfigur wurden Houellebecq Frauenfeindlichkeit und Rassismus vorgeworfen. Diese Vorwürfe verfolgen den Autor zu seinem Schrecken bis heute. »Woher nehmen Sie den Mut, manche der Dinge zu schreiben, die Sie schreiben?«, fragte ich ihn. »Ach, das ist ganz leicht. Ich stelle mir einfach vor, ich sei schon tot.« 2005 erschien Die Möglichkeit einer Insel, ein in der Zukunft angesiedelter Roman, in dessen Mittelpunkt eine Reihe von Klonen steht. Da Houellebecq den Ruf genießt, sich zu betrinken und seine weiblichen Gesprächspartner anzugraben, war mir etwas bang, als ich die Türklingel des bescheidenen Mietshauses in Paris betätigte. Aber während der zwei Tage, die wir zusammen verbrachten, war er ausgesprochen höflich und geradezu schüchtern. Er trug ein Flanellhemd und Hausschuhe und litt offensichtlich unter einer akuten Attacke seines chronischen Hautausschlags. Den größten Teil des Interviews verbrachte er rauchend auf dem Sofa. (Er versucht, von vier Päckchen am Tag herunterzukommen, daher die elektrische Zigarette.) Jede meiner Fragen traf zunächst auf Grabesstille, in die er mit geschlossenen Augen Rauch blies. Mehrmals fragte ich mich, ob er eingeschlafen war. Irgendwann kam die Antwort, mit erschöpfter, monotoner Stimme, die erst am zweiten Tag einen Hauch weniger ermüdet klang. Seine anschließenden E-Mails waren skurril und bezaubernd. Houellebecq, der derzeit allein lebt, wurde zweimal geschieden und hat einen Sohn aus erster Ehe. Seit dem Jahr 2000 lebt er an der Westküste Irlands. Die Sommer verbringt er in seiner Eigentumswohnung in Andalusien.
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Susannah Hunnewell: Wer sind Ihre literarischen Vorbilder? Michel Houellebecq: In letzter Zeit bin ich mir da nicht mehr so sicher. Meine Antwort darauf war immer, dass mich Baudelaire begeisterte, Nietzsche und Schopenhauer, Dostojewski und später auch Balzac. Und all das stimmt. Ich bewundere sie. Ich liebe auch die anderen romantischen Dichter, Hugo, Vigny, Musset, Nerval, Verlaine und Mallarmé, sowohl für die Schönheit ihrer Werke als auch für ihre erschütternde emotionale Intensität. Aber ich beginne mich zu fragen, ob das, was ich als Kind gelesen habe, nicht eigentlich wichtiger war. Zum Beispiel? In Frankreich gibt es zwei klassische Autoren für junge Leser, Jules Verne und Alexandre Dumas. Ich habe immer Jules Verne bevorzugt. Der ganze
11.00 h Es gibt keinen Sex darin, keine Swingerclubs, keine thailändischen Prostituierten. Der Roman ist weniger wütend und polemisch als Houellebecqs vorherige Werke, und er wird als das beurteilt werden, was er ist: ein großes Buch, ein umfassender Roman, ein metaphysisches Labyrinth von schwindelerregender Komplexität, die Vision einer Welt, die wir einmal kannten und an die Globalisierung verloren haben. Nein, er ist nicht im engeren Sinne komisch. Und doch gelingt es Houellebecq, seine Verzweiflung mit einer Ironie zu verbinden, die einen unweigerlich in ihren Bann zieht. Ich glaube, das ist der Grund, aus dem ich – wie alle Kritiker – meinen Beruf ausübe: Ich tue es für das intensive Gefühl, für den Adrenalinschub, dafür, ein Werk von Genialität zu entdecken. Wenn es nicht elf Uhr morgens wäre, würde ich mir einen Wodka eingießen. 12.00 h Ich kaufe eine Flasche Veuve Clicquot.
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Geschichtskram bei Dumas langweilte mich. Jules Verne hatte diese umfassende Weltsicht, die ich mochte. Alles schien ihn zu interessieren. Ich begeisterte mich auch für die Märchen von Hans Christian Andersen. Sie brachten mich völlig durcheinander. Baudelaire habe ich merkwürdig früh gelesen, ich war ungefähr dreizehn, aber der Schock meines Lebens war Pascal. Da war ich fünfzehn. Ich war auf Klassenfahrt in Deutschland, und komischerweise hatte ich Pascals Gedanken eingepackt. Ich glaube, es berührte mich so tief, weil ich bei meinen Großeltern aufgewachsen war. Plötzlich wurde mir klar, dass sie sterben würden, und wahrscheinlich bald. So habe ich den Tod entdeckt. Welche Autoren haben Sie noch beeinflusst? Ich habe viel Science-Fiction gelesen. H. P. Lovecraft und Clifford Simak. Als es noch Menschen gab ist ein Meisterwerk. Cyril Kornbluth auch und R. A. Lafferty. Was interessiert Sie an Science-Fiction? Ich glaube, ich brauche manchmal eine Pause von der Realität. Wenn ich selbst schreibe, betrachte ich mich als Realisten, der ein bisschen übertreibt. Aber eine Sache in Lovecrafts Ctulhu-Zyklus hat mich definitiv beeinflusst: die Art, wie er sich verschiedener Blickwinkel bedient. Hier ein Tagebucheintrag, dort die Aufzeichnungen eines Wissenschaftlers, gefolgt von den Aussagen des Dorftrottels. Man kann diesen Einfluss in Elementarteilchen wiederfinden, wo ich von biologischen Diskussionen über Realismus zur Soziologie wechsle. Gäbe es die Science-Fiction nicht, lägen alle meine Einflüsse im 19. Jahrhundert. Sie haben sich selbst als »alte calvinistische Nervensäge« bezeichnet. Was meinen Sie damit? Ich neige zu der Auffassung, dass Gut und Böse existieren und dass das Verhältnis, in dem sie in uns verteilt sind, unveränderlich ist. Der moralische Charakter eines Menschen ist festgelegt, fixiert bis zum Tod. Das
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ähnelt der calvinistischen Idee der Vorbestimmung, der zufolge Menschen von Geburt an gerettet oder verdammt sind, ohne dass sie etwas daran ändern können. Und ich bin eine griesgrämige Nervensäge, weil ich mich weigere, von der wissenschaftlichen Methode abzuweichen oder zu glauben, dass es eine Wahrheit jenseits der Wissenschaft gibt. Man sagt, dass Sie politisch rechts stehen, weil Sie in Elementarteilchen gegen den Liberalismus der sechziger Jahre Stellung zu beziehen scheinen. Was halten Sie von dieser Interpretation? Es ist meine feste Überzeugung, dass man gegen die hauptsächlichen gesellschaftlichen Veränderungen nichts tun kann. Es mag zu beklagen sein,
18.07 h Houellebecq ist … houellebecqisch. Das Ritz? Das Meurice? Das Plaza? Nein. Wenn er sich in Paris aufhält, wohnt er in einem total schäbigen Kettenhotel – ausgerechnet im 13. Arrondissement, derselben Gegend, in der auch seine Hauptfigur, der Künstler Jed Martin, lebt. Das Zimmer ist so deprimierend, dass man aus dem Fenster springen möchte. Auf dem ungemachten Bett liegt ein Schlafanzug, auf dem Tisch steht die elektrische Zahnbürste in ihrer Ladestation. Die übliche langsame Art zu sprechen, die übliche lange Stille vor jedem Satz, die übliche Zigarette im Mundwinkel. Und doch hat er sich verändert: Er ist dünner, sein Gesicht ist zerfurchter, der Blick müde, er wirkt erschöpft. Ich mache mir Sorgen. »Danke für den Champagner, aber ich habe auch schon eine Flasche besorgt. Wir trinken sie beide.« Und das tun wir. 22.30 h In dem marokkanischen Restaurant, in das er mich eingeladen hat, bestellt Michel eine Flasche Châteauneuf du Pape.
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dass die Einheit der Familie verschwindet. Man könnte argumentieren, dass sich das menschliche Leiden dadurch vergrößert. Doch beklagenswert oder nicht, wir können nichts dagegen tun. Das ist der Unterschied zwischen mir und einem Reaktionär. Ich habe gar kein Interesse daran, die Uhr zurückzudrehen, weil ich es schlicht für unmöglich halte. Man kann nur beobachten und beschreiben. Ich habe Balzacs zutiefst beleidigende Aussage immer gemocht, der einzige Zweck des Romans sei, die Katastrophe zu schildern, die durch die Veränderung der Werte über uns hereinbricht. Eine amüsante Übertreibung. Aber das ist es, was ich tue: Ich schildere die Katastrophe, die durch die Liberalisierung der Werte über uns hereinbricht. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen? Ich kann es nicht genau sagen. In der Schule mussten wir Aufsätze schreiben, »beschreibe einen Herbstnachmittag«, so in der Art, und es stimmt, dass ich unverhältnismäßig großen Gefallen daran fand und dass ich sie aufbewahrte. Außerdem führte ich Tagebuch, obwohl ich eigentlich nicht weiß, was es damals aufzuschreiben gab. Ich glaube, ich habe eher meine Träume festgehalten als Dinge aus dem täglichen Leben. Was haben Sie jetzt für einen Zeitplan, wenn Sie schreiben? Gegen ein Uhr nachts wache ich auf. Ich schreibe im Halbschlaf, in einem semibewussten Zustand. Je mehr Kaffee ich trinke, desto wacher werde ich. Und ich schreibe, bis ich es satthabe. Brauchen Sie noch etwas, um schreiben zu können? Flaubert sagte, dass man eine permanente Erektion braucht. Das trifft auf mich nicht zu. Ich muss hin und wieder spazieren gehen. Was die Verpflegung betrifft: Ja, es stimmt, Kaffee funktioniert. Er führt einen durch all die verschiedenen Bewusstseinszustände. Man beginnt im Halbkoma. Man schreibt. Man trinkt mehr Kaffee, und die Klarheit wächst, und es ist dieser Zwischenzustand, der Stunden andauern kann, in dem die interessanten Dinge passieren.
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Plotten Sie Ihre Romane? Nein. Sie wissen nicht, was auf der nächsten Seite passieren wird? Ich plane niemals voraus. Wie steht es mit Ihrem Stil? Sie neigen zu brutalen, oft amüsanten Gegenüberstellungen, in der Art: »Am Tag, als sich mein Sohn umbrachte, machte ich mir ein Omelette mit Tomaten.«
23.35 h Er ist, am Tisch sitzend, tief eingeschlafen. Was soll ich tun? Die Kellnerin ist so nett, ein Taxi anzuhalten, ich schüttele Michel, helfe ihm auf die Beine und befördere ihn ins Auto. »Wo sind wir?«, fragt er, noch im Halbschlaf. Als er das 13. Arrondissement erkennt, scheint er beruhigt. Ich sage ihm, am meisten bereite mir die Tatsache Sorge, dass ich in der Lage sei, keinen Geringeren als Michel Houellebecq persönlich unter den Tisch zu trinken. »Ja, aber du bist im Training, diese ganzen literarischen Cocktailpartys …« Es ist alles gut: Er hat seinen Sinn für Humor nicht verloren. 23.55 h Vor seinem Hotel rauchen wir noch ein paar Zigaretten, während das Taxi darauf wartet, mich nach Hause zu bringen. »Weißt du, Alkohol ist etwas, das in meine Jugend gehört. Ich trinke nicht mehr so wie früher. Ich bin jetzt alt, und ich glaube, ich habe nicht mehr lange. Karte und Gebiet könnte mein letztes Buch sein …« Berührend, bewegend, aufrichtig, brillant, lustig, ganz und gar bodenständig … Ein Interview mit Michel Houellebecq ist wie kein anderes Interview. Kein Zweifel, ich liebe den Kerl.
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Das ist nicht das, was ich unter Stil verstehe. Es ist nur die Art, wie ich die Welt wahrnehme. Eine Art Nervosität, die zu schnellen Reihungen führt. Es unterscheidet sich nicht so stark vom Punkrock. Man schreit, aber man moduliert dabei ein wenig. Über meinen Stil wurden wissenschaftliche Arbeiten verfasst. Zu welchen Schlussfolgerungen gelangten sie? Meine Sätze sind von mittlerer Länge und reich an Satzzeichen. Anders gesagt, meine Sätze sind normal lang, aber auf ganz unterschiedliche Weisen zerstückelt. Adverbien sind etwas, das die Leute hassen. Ich benutze Adverbien. Es gibt noch etwas anderes, das daher rührt, dass ich Gedichte schreibe. Lektoren wollen immer, dass man Wiederholungen streicht. Ich mag sie. Die Wiederholung ist Teil der Poesie. Mir macht es also nichts aus, mich zu wiederholen. Ich glaube, ich bin sogar der zeitgenössische Romancier mit den meisten Wiederholungen. Sie sagen, eine Quelle der Inspiration seien Geschichten, die Ihnen die Leute erzählen. Offenbar vertrauen Fremde sich Ihnen gerne an. Ich hätte wohl einer der weltbesten Psychiater werden können, weil ich den Eindruck erwecke, nichts und niemanden zu verurteilen. Was nicht ganz zutrifft. Manchmal bin ich ziemlich schockiert darüber, was ich da zu hören kriege. Ich zeige es nur nicht. Sie haben eine Biographie über H. P. Lovecraft geschrieben, und ich war erstaunt darüber, wie sehr seine traurige Liebesgeschichte jenen in Ihren Büchern ähnelt. Ja, die Frau, die mutig und dynamisch ist und alles in ihrer Macht Stehende tut, damit alles funktioniert, und der unglückliche, inkompetente Mann. Was ist Ihr Konzept der Liebe zwischen Mann und Frau? Ist sie möglich? Ich würde sagen, die Frage, ob die Liebe noch existiert, nimmt in meinen
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Romanen dieselbe Rolle ein wie die Frage nach Gottes Existenz bei Dostojewski. Es könnte sein, dass die Liebe nicht mehr existiert? Das ist die Frage der Stunde. Und was bringt sie zum Verschwinden? Die materialistische Auffassung, dass wir allein sind, dass wir allein leben und allein sterben. Das ist mit Liebe nicht sehr gut vereinbar.
TAG 2 12.00 h In seinem Roman beschreibt sich Houellebecq als einsam, depressiv, verwahrlost, ständig betrunken, als jemanden, der den ganzen Tag Zeichentrickfilme guckt und dabei Junkfood isst. Gestern erzählte er mir, dass es ihm ein großes masochistisches Vergnügen bereitet hat, so über sich selbst zu schreiben. Außerdem ist er als Figur in den Büchern anderer Autoren aufgetaucht, und er wollte ihnen allen zeigen, dass man es besser machen kann. Das ist ihm gelungen! TAG 3 11.30 h Die Frage, die jedes Mal gestellt wird, wenn es um den neuen Houellebecq geht: »Alle sagen, es sei ein Meisterwerk. Stimmt das oder nicht?« Keine Frage, er ist der Star der literarischen Saison. Ich kann nichts dafür, dass ich jeden Tag über ihn schreiben muss. TAG 4 11.00 h Ich versuche, meine Kolumne zu schreiben. Ich habe eine E-Mail von Michel bekommen, mit der Bitte, nicht das Oben-ohne-Foto für das Cover der neuen Ausgabe zu verwenden. Schade, diese Fotos sind mit Abstand die besten.
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Sie sagen, Sie seien »zyklothym«. Was bedeutet das? Es heißt, dass man zwischen Depression und Jubel hin und her schwankt. Aber alles in allem bezweifle ich, dass ich wirklich depressiv bin. Was sind Sie dann? Einfach nicht besonders aktiv. Die Wahrheit ist, wenn ich mich ins Bett lege und gar nichts tue, geht es mir dabei ganz gut. Ich bin ziemlich zufrieden. Es ist also nicht unbedingt das, was man unter einer Depression verstehen würde. Aber was hindert Sie daran, dem nachzugeben, was Sie die größte Gefahr für sich genannt haben: schmollend in einer Ecke zu sitzen und ständig zu wiederholen, dass alles scheiße ist? Im Moment genügt mein Bedürfnis, geliebt zu werden, als Antrieb. Ich möchte trotz meiner Makel geliebt werden. Ein wahrer Provokateur ist jemand, der Dinge sagt, die er nicht wirklich denkt, nur um zu schockieren. Ich versuche zu sagen, was ich denke. Und wenn ich das Gefühl habe, dass das, was ich denke, Unmut erregen wird, dann brenne ich umso mehr darauf, es mit großem Enthusiasmus vorzubringen. Und tief in mir möchte ich trotzdem geliebt werden. Aber natürlich gibt es keine Garantie, dass das vorhalten wird. Worin besteht Ihrer Meinung nach die Anziehungskraft, die trotz all der Brutalität von Ihrem Werk ausgeht? Darauf gibt es zu viele Antworten. Die erste ist, dass die Sachen gut geschrieben sind. Eine andere ist, dass man die dunkle Ahnung hat, dass es die Wahrheit ist. Dann gibt es noch eine dritte, die ich am liebsten mag: weil es intensiv ist. Es gibt ein Bedürfnis nach Intensität. Von Zeit zu Zeit muss man der Harmonie den Rücken kehren. Man muss sogar der Wahrheit den Rücken kehren. Wenn es an der Zeit ist, muss man den Exzess energisch umarmen. Jetzt klinge ich schon wie Jean Paul.
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Was meinen Sie? »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« Für mich würde der Satz lauten: »Nun aber bleiben Schönheit, Wahrheit und Intensität; aber die Intensität ist die größte unter ihnen.«
TAG 5 11.00 h Ein Fernsehteam kommt vorbei, um mich für die Abendnachrichten zu Houellebecq zu interviewen. Die große Frage des Journalisten: Ist Houellebecq ein Genie? Es ist lustig. Vor fünf Jahren haben sie immer wieder gefragt: Ist Houellebecq ein Scharlatan? Wie schnell sich die Zeiten ändern. Ich sage dem Nachrichtenmann, dass ich gerade viertausend Wörter benutzt habe, um nicht so reduktiv zu sein. Er grinst breit. »Gut, aber das hier ist Fernsehen!« Sie setzen mich vor einen Blue Screen – ich komme mir vor wie in Avatar –, und ich forme lange Sätze, um mich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Vielleicht kann ich sie hypnotisieren … oder einschläfern … 11.15 h »Schön und gut, aber ist er ein Genie? Ja oder nein?« Das mit der Hypnose hat offenbar nicht geklappt. »Sie müssen sich für Ja oder Nein entscheiden!« Er sieht aus, als könne er jeden Moment losschreien, also murmle ich so etwas wie: »Ja, auf seine Weise ist Michel Houellebecq wohl eine Art Genie.«
Gekürzter Abdruck aus: The Paris Review, A Week in Culture
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In der Lovecraft-Biographie schreiben Sie: »Jede ästhetische Schöpfung bedarf einer gewissen freiwilligen Blindheit.« Ja, es ist richtig, man muss sich sozusagen einer Familie zuordnen. Man muss ein wenig übertreiben. Wer, würden Sie sagen, ist Ihre Familie? Es mag Sie überraschen, aber ich bin davon überzeugt, der großen Familie der Romantiker anzugehören. Ihnen ist bewusst, dass das überraschend klingt? Ja, aber die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt; ein Romantiker ist nicht mehr, was er einmal war. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich de Tocquevilles Demokratie in Amerika gelesen. Ich bin sicher, wenn man einen traditionellen Romantiker nähme und ihn mit dem vermischte, was laut de Tocqueville im Zuge der demokratischen Entwicklung mit der Literatur passiert – sie macht den Durchschnittsbürger zum Subjekt, entwickelt ein starkes Interesse an der Zukunft, bedient sich eines realistischeren Vokabulars –, dann käme ich dabei heraus. Was ist Ihre Definition eines Romantikers? Es ist jemand, der an die unbegrenzte Glückseligkeit glaubt, die ewig währt und hier und jetzt erlangt werden kann. Der Glaube an die Liebe. Auch der Glaube an die Seele, der sich komischerweise selbst bei mir als besonders hartnäckig erweist, obwohl ich nicht aufhöre, das Gegenteil zu behaupten. Sie glauben an unbegrenzte, ewige Glückseligkeit? Ja. Und ich sage das nicht nur, um zu provozieren.
Gekürzter Abdruck aus: The Paris Review, The Art of Fiction Nr. 206
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Jeff Koons hatte sich gerade von seinem Sitz erhoben und voller Begeisterung die Arme ausgestreckt. Ihm gegenüber saß Damien Hirst leicht in sich zusammengesunken auf einem weißen Ledersofa, das zum Teil mit Seidenstoff bedeckt war. Er schien im Begriff zu sein, einen Einwand geltend zu machen, auf seinem geröteten Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck. Beide trugen einen schwarzen Anzug − Koons einen Nadelstreifenanzug −, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Zwischen den beiden Männern stand auf einem niedrigen Tisch eine Schale mit kandierten Früchten, der keiner von beiden die geringste Aufmerksamkeit widmete. Hirst trank ein Budweiser Light. Hinter ihnen war durch eine Fensterwand eine Bürolandschaft zu sehen, ein babylonisches Gewirr aus riesigen Polygonen, das sich bis zum Horizont erstreckte; die Nacht war hell, die Luft ungemein klar. Die Begegnung hätte in Katar oder in Dubai stattfinden können; tatsächlich war die Raumausstattung einem Werbefoto aus einer deutschen Hochglanzbroschüre über das Hotel Emirates in Abu Dhabi nachempfunden. Jeff Koons’ Stirn glänzte ein wenig; Jed milderte den Glanz mit dem Pinsel ab und trat drei Schritte zurück. Mit Koons gab es ganz offensichtlich ein Problem. Hirst dagegen war leichter darzustellen: Man konnte ihn als brutalen, zynischen Typen wiedergeben, mit einem Ausdruck, der gleichsam besagte: »Ich bin steinreich, und ihr könnt mich alle mal«; man konnte ihn auch als unbequemen Künstler darstellen (wenn auch
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steinreich), der sich in seiner Arbeit auf ängstliche Weise mit dem Tod auseinandersetzte; und schließlich hatte sein Gesicht die typisch englischen Züge eines jener hitzköpfigen, pöbelhaften Kerle, wie man sie von den Fans des FC Arsenal kennt. Kurz gesagt, es gab verschiedene Aspekte, die sich jedoch zu einem kohärenten Porträt vereinigen ließen, das einen für seine Generation typischen englischen Künstler repräsentierte. Koons dagegen schien etwas Doppeldeutiges an sich zu haben, eine Art unlösbaren Widerspruch zwischen der üblichen Gerissenheit eines Vertriebsleiters aus der Technikbranche und der Überspanntheit eines Asketen. Schon seit drei Wochen arbeitete Jed am Gesichtsausdruck von Koons, der sich von seinem Sitz erhob und die Arme voller Begeisterung ausstreckte, als wolle er Hirst von etwas überzeugen; es wäre nicht schwieriger gewesen, einen pornographischen Mormonen zu malen. Er besaß zahlreiche Fotos von Koons: allein, in Begleitung von Roman Abramowitsch, Madonna, Barack Obama, Bono, Warren Buffett oder Bill Gates … Keines dieser Fotos brachte irgendetwas von Koons’ Persönlichkeit zum Ausdruck, auf allen glich er einem Verkäufer von Chevrolet-Cabrios, es war die Erscheinung, die er gewählt hatte, um sich der Welt zu präsentieren. Es machte Jed rasend, ebenso wie die Fotografen ihn schon seit langem rasend machten, vor allem die großen Fotografen mit ihrem Anspruch, auf den Bildern die Wahrheit über ihre Modelle an den Tag zu bringen; sie brachten gar nichts an den Tag, sondern begnügten sich damit, sich vor einen zu stellen und den Auslöser ihres Apparats zu betätigen, um leise glucksend aufs Geratewohl Hunderte von Aufnahmen zu machen, und später wählten sie dann die Fotos der Serie aus, die nicht total misslungen waren; so gingen sie vor, all diese sogenannten großen Fotografen, ohne Ausnahme, Jed kannte mehrere von ihnen persönlich und hatte nur Verachtung für sie übrig, in seinen Augen waren sie durch die Bank weg so kreativ wie ein Fotoautomat. Ein paar Schritte hinter ihm gab der Heizkessel in der Küche eine Folge von kurzen, knackenden Geräuschen von sich. Jed erstarrte. Es war schon der 15. Dezember.
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[…] Ein Jahr darauf zeigte die Heizung zum ersten Mal wieder ein Zeichen von Schwäche, nachdem die Reparatur so lange gehalten hatte. Das Gemälde »Der Architekt Jean-Pierre Martin gibt die Leitung seines Unternehmens ab« war seit langem beendet und in Erwartung einer persönlichen Ausstellung, die noch immer nicht terminiert war, im Lagerraum von Jeds Galeristen untergebracht. Jean-Pierre Martin selbst hatte − zur Überraschung seines Sohnes und obwohl dieser schon lange darauf verzichtete, das Thema anzuschneiden − beschlossen, die Villa in Le Raincy zu verlassen, um in ein Altersheim mit Pflegestation in Boulogne zu ziehen. Ihr alljährliches Abendessen würde diesmal in einer Brasserie namens Chez Papa an der Avenue Bosquet stattfinden. Jed hatte das Restaurant aufgrund einer Anzeige im Citymagazin Pariscope ausgewählt, die eine traditionelle Küche wie zu Großmutters Zeiten versprach, und dieses Versprechen war im Großen und Ganzen eingehalten worden. Weihnachtsmänner und mit Girlanden geschmückte Christbäume waren hier und dort im halbleeren Saal aufgestellt, der im Wesentlichen von kleinen Gruppen alter oder sogar sehr alter Leute besetzt war, die eifrig, gewissenhaft, ja fast grimmig auf den verschiedenen Gerichten traditioneller Küche herumkauten. Es gab Wildschwein, Spanferkel oder Truthahn und zum Nachtisch natürlich die zu Weihnachten übliche mit Creme gefüllte Biskuitrolle wie zu Großmutters Zeiten. Höfliche, unscheinbare Ober walteten lautlos ihres Amtes wie in einem Zentrum für Brandopfer. Jeds Idee, seinen Vater in ein solches Restaurant einzuladen, hatte etwas Kindisches, das war ihm völlig klar. Der hagere, ernste Mann mit dem schmalen, strengen Gesicht schien sich nie für Gaumenfreuden interessiert zu haben, und die wenigen Male, an denen Jed mit ihm in der Stadt gegessen hatte, um ihn in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu treffen, hatte sein Vater ein Sushi-Restaurant gewählt − und zwar immer dasselbe. Es war geradezu pathetisch und ziemlich aussichtslos, eine gastronomische Geselligkeit schaffen zu wollen, für die es keine Grundlage gab und ver-
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mutlich nie gegeben hatte − als seine Frau noch am Leben gewesen war, hatte sie es immer gehasst zu kochen. Aber es war eben Weihnachten, und was hätte Jed sonst für ihn tun können? Seinem Vater war es völlig gleichgültig, wie er gekleidet war, er las immer weniger und schien sich kaum noch für irgendetwas zu interessieren. Er war, den Worten der Leiterin des Altersheims zufolge, »relativ gut integriert«, was vermutlich hieß, dass er mit so gut wie niemandem sprach. Im Moment kaute er mühselig auf seinem Spanferkel herum, mit einem Gesichtsausdruck, als handele es sich um ein Stück Gummi. Nichts deutete darauf hin, dass er das schon lange anhaltende Schweigen brechen wollte, und Jed suchte nervös und fieberhaft – er hätte keinen Gewürztraminer zu den Austern trinken sollen, das war ihm schon in dem Augenblick bewusst geworden, als er die Bestellung aufgegeben hatte, denn wenn er Weißwein trank, konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen – nach etwas, das einem Gesprächsthema ähnelte. Wenn er verheiratet gewesen wäre, wenn es wenigstens eine Freundin oder auch nur irgendeine Frau in seinem Leben gegeben hätte, wäre die Sache ganz anders verlaufen − Frauen gehen bei solchen Familiengeschichten eben viel geschickter vor als Männer, das ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt, und selbst wenn keine Kinder anwesend sind, geben diese immer einen potentiellen Gesprächsstoff ab, und alte Leute interessieren sich bekanntermaßen für ihre Enkelkinder, sie verbinden das mit den Zyklen der Natur oder so, auf jeden Fall entsteht dabei so etwas wie Rührung in ihrem alten Kopf, der Sohn ist zwar der Tod des Vaters, das steht fest, aber für einen Großvater ist der Enkel eine Art Wiedergeburt oder Revanche, und zumindest für die Dauer eines Weihnachtsessens kann so etwas durchaus genügen. Jed sagte sich manchmal, er solle für diese Weihnachtsabende ein escort girl engagieren und eine kleine Geschichte erfinden; dazu hätte er das Mädchen nur zwei Stunden vorher kurz über die Situation informieren müssen, sein Vater war nicht sehr neugierig, was Einzelheiten aus dem Leben anderer Leute betraf, eben nicht neugieriger, als Männer es im Allgemeinen sind.
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In den romanischen Ländern kann Politik als Gesprächsthema für Männer mittleren oder vorgerückten Alters ausreichen, in den unteren Schichten kann Sport eine weitere Möglichkeit bieten. Bei Leuten, die stark von angelsächsischen Werten beeinflusst sind, wird die Rolle der Politik eher durch Themen aus Wirtschaft und Finanz eingenommen, auch Literatur kann als Zusatzthema dienen. Doch was Jed und seinen Vater betraf, so interessierten sie sich weder für Wirtschaft noch für Politik. Jean-Pierre Martin war im Großen und Ganzen mit der Art einverstanden, wie das Land regiert wurde, und sein Sohn hatte dazu keine Meinung. Alles in allem erlaubte ihnen das aber immerhin, bis zur Käseplatte durchzuhalten, indem sie sich ein Ministerium nach dem anderen vornahmen. Als die Käseplatte auf einem Rollwagen herbeigeschoben wurde, kam etwas Leben in Jeds Vater, und er fragte seinen Sohn nach dessen künstlerischen Plänen. Leider würde Jed diesmal die Stimmung etwas trüben müssen, denn sein letztes Gemälde, »Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf«, gefiel ihm überhaupt nicht mehr, er kam nicht voran, seit ein oder zwei Jahren war er von einer Kraft beseelt gewesen, die inzwischen nachließ und allmählich versiegte, aber warum sollte er all das seinem Vater sagen, der konnte nichts dafür, niemand konnte im Übrigen etwas dafür, die Leute konnten angesichts eines solchen Eingeständnisses höchstens ein leichtes Bedauern ausdrücken, denn die zwischenmenschlichen Beziehungen sind letzten Endes ziemlich begrenzt. »Ich bereite fürs Frühjahr eine persönliche Ausstellung vor«, verkündete er schließlich. »Aber die Sache geht nicht so recht voran. Franz, mein Galerist, möchte gern einen Schriftsteller haben, der das Vorwort zu dem Katalog schreibt. Er hat an Houellebecq gedacht.« »Michel Houellebecq?« »Du kennst ihn?«, fragte Jed überrascht. Er hätte nie vermutet, dass sein Vater sich noch in irgendeiner Form für die gegenwärtige Kulturproduktion interessieren könnte.
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»Im Altersheim haben wir eine kleine Bibliothek, ich habe zwei Romane von ihm gelesen. Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft. Hat er dir schon geantwortet?« »Nein, noch nicht …«, Jed dachte jetzt blitzschnell nach. Wenn selbst jemand, der zutiefst in einer verzweifelten, ja geradezu tödlichen Routine erstarrt war, jemand, der sich zutiefst in die Schattenseiten des Lebens verkrochen und den düsteren Weg zum Tod schon betreten hatte wie sein Vater, wenn also so jemand einen Autor wie Houellebecq zur Kenntnis genommen hatte, dann musste wohl wirklich etwas an ihm dran sein. Da wurde Jed plötzlich bewusst, dass er es versäumt hatte, Houellebecq per E-Mail an seine Anfrage zu erinnern, worum Franz ihn schon mehrmals gebeten hatte. Und dabei war die Sache sehr eilig. Aufgrund der Daten von Art Basel und Frieze Art Fair musste die Ausstellung im April oder spätestens im Mai stattfinden, und man konnte Houellebecq schlecht bitten, ein Vorwort für den Katalog in vierzehn Tagen herunterzuschreiben, er war immerhin ein berühmter, Franz zufolge sogar weltberühmter Autor. Sein Vater war wieder in seine Lethargie verfallen, er kaute mit ebenso wenig Begeisterung auf seinem Saint-Nectaire herum wie auf dem Spanferkel. Vermutlich geht es auf Mitgefühl zurück, wenn man alten Leuten eine stark entwickelte Esslust unterschiebt, weil man sich einreden möchte, dass ihnen wenigstens das noch bleibt, dabei sterben bei den meisten Menschen vorgerückten Alters auch die Gaumenfreuden unweigerlich ab wie alles andere. Stattdessen bleiben nur noch Verdauungsstörungen und Prostatakrebs. Ein paar Meter links von ihnen schienen drei Frauen in den Achtzigern andächtig vor ihrem Obstsalat zu verharren − vielleicht in Gedenken an ihre verstorbenen Ehemänner. Eine von ihnen streckte die Hand nach ihrem Champagnerglas aus, doch dann ließ sie sie auf den Tisch sinken; ihr Brustkorb hob sich von der Anstrengung. Nach ein paar Sekunden versuchte sie es mit stark zitternder Hand noch einmal, wobei sich ihr
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Gesicht vor Konzentration verzerrte. Jed nahm sich zusammen, um nicht einzugreifen, doch er wäre sowieso nicht dazu in der Lage gewesen. Selbst der Ober, der ein paar Meter neben ihnen stand und den Vorgang mit besorgtem Blick überwachte, hätte nicht mehr eingreifen können; diese Frau stand jetzt in direktem Kontakt mit Gott. Sie war vermutlich eher um die neunzig als Mitte achtzig. Damit alles einen guten Abschluss fand, wurde nun der Nachtisch serviert. Resigniert machte sich Jeds Vater über die traditionelle Biskuitrolle her. Jetzt würde die Sache nicht mehr lange dauern. Die Zeit verging auf seltsame Weise zwischen ihnen: Obwohl sie kein Wort wechselten und das an ihrem Tisch nun schon lange andauernde Schweigen eigentlich schwer auf ihnen hätte lasten müssen, schienen die Sekunden und sogar die Minuten mit rasender Geschwindigkeit zu verrinnen. Ohne dass ihm irgendein Gedanke durch den Kopf gegangen wäre, begleitete Jed seinen Vater eine halbe Stunde später zum Taxistand. Es war erst zehn Uhr abends, doch Jed wusste, dass die anderen Bewohner des Altersheims seinen Vater beneiden würden, weil er zu Weihnachten mehrere Stunden lang mit jemandem zusammen war. »Ihr Sohn ist ein guter Junge …«, hatte man schon mehrfach zu ihm gesagt. Nach dem Einzug in ein Altersheim mit Pflegestation befindet sich der ehemalige Senior − der nun unwiderruflich zum Greis geworden ist − ein bisschen in der Rolle eines Internatsschülers. Manchmal bekommt er Besuch: Das ist dann ein Moment des Glücks, er kann die Welt erkunden, Schokokekse von Bahlsen essen und den Clown Ronald McDonald treffen. Aber die meiste Zeit bekommt er keinen Besuch: Dann irrt er traurig zwischen den Handballpfosten über das geteerte Gelände des leeren Internats. Er wartet auf die Befreiung, darauf, flügge zu werden. Als Jed wieder in seinem Atelier war, stellte er fest, dass die Heizung noch funktionierte, die Raumtemperatur war normal, ja sogar recht warm. Er zog sich halb aus, ehe er sich auf seiner Matratze ausstreckte und mit völlig leerem Kopf sofort einschlief.
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»Ein Meister, entspannt, auf der Höhe seiner Kunst.« Süddeutsche Zeitung zu Karte und Gebiet
Michel Houellebecq bei DuMont: Elementarteilchen 357 Seiten, gebunden
Gegen die Welt, gegen das Leben 115 Seiten, gebunden
Gedichte (Suche nach Glück. Der Sinn des Kampfes. Wiedergeburt) 610 Seiten, drei Bände in Kassette
Ich habe einen Traum 110 Seiten, gebunden
Lanzarote 157 Seiten, gebunden
Lebendig bleiben 62 Seiten, gebunden
Die Möglichkeit einer Insel 445 Seiten, gebunden
Plattform 340 Seiten, gebunden
Volksfeinde (mit Bernard-Henri Lévy) 320 Seiten, gebunden
Die Welt als Supermarkt 98 Seiten, kartoniert
© 2010 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten »The Art of Fiction: Michel Houellebecq«; »A Week in Culture: Nelly Kaprielian« © 2010 Paris Review, New York Übersetzungen: Stephan Kleiner © Fotos Philippe Matsas © Flammarion (S. 2, 7) Philippe Matsas/Opale (S. 1, 8) Umschlagfoto: getty images Gesetzt in der DTL Documenta und der News Gothic Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Druck und Verarbeitung: Druckerei Eisenhardt, Frankfurt a. M. Printed in Germany
Prix Goncourt 2010
Michel Houellebecq Karte und Gebiet Etwa 400 Seiten Aus dem Französischen von Uli Wittmann Originaltitel »La carte et la territoire«, Flammarion (Paris) 2010 Ca. € 22,99 (D) / sFr. 34,90 Erstverkaufstag 16. März 2011 WG 1112 ISBN 978-3-8321-9639-4 auch als ebook
www.dumont-buchverlag.de