Carlsen - Neptunlatz

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WILLIG UND DANKBAR

Ordentlich vorgeglüht und mit Barmann-Tipps von Mark versorgt, schaukelte Lucky vor der Tür des Glamrock zwischen zwei Zielen hin und her: seinem Zuhause und den Verlockungen der Nacht. Da es keinen schlechteren Ratgeber als Alkohol gab, entschied er sich für die Nacht und torkelte Richtung schwules Bermudadreieck. Mark war einfach unglaublich. Er dachte keine Sekunde nach und machte einfach, was er für richtig hielt. Dass das im Zweifel immer falsch war und grundsätzlich mit Frauen zu tun hatte, machte ihn dennoch nicht unglücklich. Lucky dagegen dachte jede Sekunde seines Lebens nach, über Fehler der Vergangenheit oder Gefahren der Zukunft. Dass sich dazwischen auch so etwas wie Gegenwart versteckte, die es zu genießen galt, merkte er selten. Und meist erst dann, wenn er vor Mark am Glamrock-Tresen saß und sich dessen Liebesdramen anhörte. Es war irgendetwas Undefinierbares zwischen spät und früh, und so wankte Lucky über einen fast verlassenen Rudolfplatz Richtung Eckig. Dabei ließ er seine Gedanken frei galoppieren. Er hatte keine Beziehung. Keinen Sex. Und er war horny wie ein Stier beim Almauftrieb. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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Die letzten Wochen, in denen er sich ausschließlich mit heterosexueller Erotik hatte herumschlagen müssen, brauchten ein klares Ende. Ein Signal der Entschlossenheit. Oder verführte ihn bloß der bunte Cocktailmix, den er gerade standhaft durchgetestet hatte? Er blieb für einen Moment an der roten Ampel stehen, versuchte sich zu sammeln, fand nichts, das des Sammelns würdig war, und stieß schließlich mit einem gemurmelten „Nur Kucken, nicht anfassen“-Vorsatz die Tür zum Eckig auf. Warmes Licht legte sich auf seine promillegeschwängerte Netzhaut – der Laden war noch gut besucht, und von allen Seiten schossen interessierte Blicke auf ihn ein. Lucky probierte ein selbstbewusst wirkendes 360Gradlächeln, brach nach 180 Grade schwindelbedingt ab und ging straight zum Tresen durch, dessen Gelsenkirchener-Barock-Anmutung ihn magisch anzog. Mit dem zungenmotorisch einwandfrei vorgebrachten Zweisilber „Gin Fizz“ und zwei Fingern, die „doppelstöckig“, „Peace“ oder „Fick dich“ bedeuten konnten, schraubte er sich verhältnismäßig elegant auf einen Barhocker und grinste stumpf in das bunte Flaschenregal. „Was weht die Nacht denn da für eine Sünde ins Paradies?“ gluckste es in sein linkes Ohr. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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Lucky drehte sich langsam um und sah in die stahlblauen Scheinwerfer eines Kalendermodells, das man sich überhaupt nicht mehr schönzutrinken brauchte. Reflexhaft schloss Lucky die Augen, atmete tief ein und aus, hob die Liddeckel wieder. Was er jetzt sah, hatte nur noch wenig mit dem ersten Eindruck zu tun, machte ihm aber auch nicht mehr so viel Angst: ein etwa 1,80 großer, braungebrannter Fitnessfreak im knallengen Muskelshirt, Glatze, leicht vernarbte Wangen, neugierige Augen, einladendes Lächeln ohne schadhafte Zähne. Es gab auf den zweiten Blick nur etwa 42 Gründe, die gegen ihn sprachen: je 20 durchbohrten seine Ohren, die restlichen zwei waren durch seine Mundwinkel geschossen. Ein Piercingfreak. Süß. Aber ein Piercingfreak. Der knackige Barmann stellte zwei Gin Fizz vor Lucky: „Zum Wohl“. Lucky drehte sich zu den Drinks, nahm einen, überlegte einen Moment mit geschlossenen Augen, reichte dem Piercingfreak schließlich den anderen Drink, stieß mit ihm an und stürzte den Gin gegen sein Zäpfchen. „Ich bin Will.“ „Will? Wie in willig und dankbar?“ Will schien diesen Spruch mehrmals täglich zu kassieren, also schnitt Lucky die unangenehme Pause mit einem „Lucky“ ab, legte aber gleich den Finger auf die Lippen, als er Wills Lächeln sah. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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„Nein, Will, heute ist nicht dein lucky day.“ Damit war die Stimmung für Luckys Einschätzung ausreichend abgelöscht. Er war Single. Er war einsam. Er war horny. Aber ein Piercingfreak? Da musste er nicht mal kucken, geschweige denn anfassen. Gottseidank! Will wandte sich ab und tuschelte mit dem knackigen Barmann. Lucky bereitete sich auf einen doofen Spruch, einen Rausschmiss oder beides vor. Statt dessen stand ein paar Sekunden später ein weiterer Gin Fizz vor ihm. Und einige Platitüden, Gags, Lacher und Tuscheleien später spürte Lucky zwischen seinen Lippen die erste gepiercte Zunge seines Lebens.

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DER MORGEN DANACH

Lale blinzelte verschlafen. Draußen kreisten die Raben, irgendwo entfernt kläffte ein Hund. Sie reckte sich. Schön, vor dem Wecker aufzuwachen. Noch schöner, dass Adnan den Laden heute allein schmeißen würde. Erst jetzt bemerkte sie Hannes‘ Hand auf ihrer Hüfte. Er schlief hinter ihr. Im Löffel. Sie schloss die Augen, hörte auf seinen Atem und dachte an letzte Nacht. Der Sex war wunderschön. Vertraut, eingespielt – und doch anders als sonst. Langsam, um ihn nicht zu wecken, drehte sie sich um. Wenn er schlief, sah er so anders aus. Viel sinnlicher, verletzlicher, nicht so cool. Am Tag versteckte er seine Gefühle meist hinter einem stahlharten Pokerface. Aber im Schlaf und beim Sex konnte sie sehen, wie er wirklich war: sensibel und zärtlich. Der Mann ihrer Träume. Ob sie es doch nochmal versuchen sollten? Vielleicht gab es ja einen Weg, mit dieser kranken Form von Fernbeziehung fertig zu werden. Sie hob seine Hand an, löste sich vorsichtig aus der Umklammerung und stand auf. In der Küche kochte sie sich einen Tee. Dann ging sie ins Bad und ließ Wasser in die Wanne. „Was wird das denn?“ Hannes stand hinter ihr im Türrahmen und beobachtete sie lächelnd. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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„Ich dachte, wir baden zum Abschied. Ist doch viel schöner, als über ner Tasse Tee am Küchentisch zu hocken.“

Wenig später saßen sie einander in der Wanne gegenüber. Ihre Füße lagen auf seinem Brustkorb, er knabberte an ihren Zehen und hatte seine Beine zu beiden Seiten um ihren Körper gelegt. „Warum bist du eigentlich hier?“, fragte sie. „Die haben mich interviewt. Für einen Image-Film. Und dann gab‘s noch ein Fotoshooting mit Bundespräsident und Verteidigungsminister.“ Er knabberte weiter an ihren Zehenspitzen. „Nein, das mein‘ ich nicht“, sagte Lale. „Ich mein, warum du hier bist. Bei mir. In dieser Wanne.“ Sie grinste unsicher. Warum hatte sie überhaupt damit angefangen? Es lief doch alles gut bisher. Warum jetzt ein Grundsatzgespräch vom Zaun brechen? „Hör zu, Lale“, sagte Hannes reserviert und umschloss ihre Füße mit seinen Beschützerhänden. „Ich hab da unten was über mich gelernt. Ich bin kein guter Mensch. Und ich mache Fehler. Ein Fehler war, dass ich nicht von Anfang an kapiert habe, dass ich nicht gut bin für dich.“ Seine Worte trafen Lale direkt ins Herz. Auf einmal wusste sie, dass er es nicht noch mal probieren wollte. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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„Bist du deshalb hergekommen? Um mir das zu sagen?“ Hannes nickte. Lale zog ihre Füße zurück und setzte sich auf. Ihre Haare, die sie zu einem Knoten hochgebunden hatte, lösten sich und fielen ins Wasser. „Alles, was ich dir gesagt habe, ist wahr“, sagte er. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Totales Pokerface. Manchmal hasste sie diese „Lonesome-Cowboy“-Attitüde. Und diese kalten Augen, die ihm der Scheiß-Krieg verpasst hatte, die hasste sie erst recht. „Du bedeutest mir mehr als mein Leben, Lale“, sagte er. „Ich will, dass du glücklich bist. Deswegen müssen wir Abstand halten. Ich bin nicht gut für dich.“ Lale kämpfte gegen ihren aufkommenden Zorn. Jetzt musste er nur noch sagen „Du verdienst was besseres“, dann hätte er alle TrennungsPlatitüden in einem Atemzug benutzt. „Danke. Ich weiß selbst, was gut für mich ist.“ Er nickte und klatschte mit der flachen Hand aufs Wasser. Die Bewegung verursachte eine unruhige Wellenflut. Das Wasser war schon fast kalt. Oder kam die Kälte aus ihrem Inneren? „Ich weiß, Lale. Das meine ich doch. Als du Schluss gemacht hast, hast du dich geschützt vor mir. Und das war richtig. Du bist anders als ich. Du © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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verschmilzt in einer Beziehung. Ich kann das nicht. Ich brauch meinen Freiraum.“ „Soll das heißen, du bist deswegen Soldat? Weil ich dich in den Krieg getrieben habe?“ „Quatsch. Ich mein’, du hattest Recht mit der Trennung. Wir tun uns beide keinen Gefallen, wenn wir das vergessen.“ Das Wasser war tatsächlich eiskalt. Lale beugte sich vor und ließ heißes nachlaufen. „Wie kannst du das nur so sehen“, sagte sie zitternd. Ihre Stimme verriet hoffentlich nicht, wie verletzt sie war, „du kommst nach Köln, erzählst mir, dass du mich liebst, schläfst mit mir. Und dabei geht‘s dir die ganze Zeit nur um Sex?“

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