Eckermann - Wir vom Neptunplatz

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KÜSSER-QUALITÄTEN

Das eigentlich Absurde an der Situation waren nicht Will oder seine Piercings, sondern seine Kusstechnik. Lucky war kein Kind von Traurigkeit. Wie jeder Mann liebte er Sex. Aber er war anspruchsvoll geworden in den letzten Jahren. Was die Optik und den Intellekt seiner Partner anging, vor allem aber ihre Küsser-Qualitäten. War ein Kuss früher eher so etwas wie eine Eintrittskarte oder ein kurzes Vorspiel, war diese Kunstform mehr und mehr zu einem Dealbreaker geworden. Ein Mann, der nicht küssen konnte, würde nur noch in absoluten Dürreperioden einen Weg in Luckys Hose finden. Zum erweiterten KussNo-go gehörten Zungenakrobaten, Schnäuzerträger – besonders die Kölsche Spezialität mit Kurbelspitzen – Raucher, Zahnarztverweigerer und natürlich Zungengepiercte. Jetzt hing Lucky Will bereits seit mehr als vier Drinks zwischen den Lippen – und war begeistert. Nicht vom Piercing, soweit verzauberte Will ihn dann doch nicht. Aber von seiner Technik, von seiner beharrlichen Weichheit, seinem unaufdringlichen Knabberstyle, der Lucky völlig vergessen ließ, was da alles an Metallveredelung zwischen Ohren und Mundwinkeln baumelte und vor allem die sensible Zungenspitze zierte. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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Zu Beginn hatte Lucky fast die Fäuste geballt vor Angst, dass Will ihm mit seiner Abrisskugel einen Schneidezahn aushebelte. Doch mehr und mehr war er dahingeflossen. Bis er schließlich völlig vergessen hatte, wie Will aussah, wie der Laden aussah, in dem sie knutschten, und wohin das alles überhaupt führen sollte. Bis Will plötzlich abbrach, ihn anlächelte, sich dann zum Barmann wandte und bezahlte. Lucky war irritiert. Hormonell verstrahlt, aber irritiert. „Will? Was machst du?“ „Einer Anzeige als Zechpreller entgehen?“ Will grinste Lucky offen an und bestellte beim Barmann ein Taxi. „Wir fahren zu dir.“ Dominante Männer waren in Luckys Welt ein weiterer Njet-Faktor. „Vergiss es“, setzte er sich wieder demonstrativ auf seinen Barhocker. „Bei mir sind die Wände aus Pressspan. Und ich will meinen Nachbarn auch morgen noch in die Augen sehen.“ „Dann gehen wir zum Aachener Weiher.“ „Ja klar, morgen zum Schwäne füttert – falls die bei den Temperaturen nicht fest mit der Eisdecke verwachsen sind. Vielleicht hast du‘s nicht mitbekommen, Will, aber jenseits deiner Sonnenbank ist so gut wie Winter.“

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Will schenkte Lucky den Blick eines Hundes mit Scherbe in der Pfote. Lucky schüttelte entschlossen den Kopf. „Wenn das überhaupt was gibt mit uns, dann nur mit Stil. Warum gehen wir nicht zu dir. Hast du keinen Stil?“ Will grinste Lucky unschuldig an. „Ich hab so viel Stil, du würdest meine Wohnung nur noch unter Protest verlassen.“ „Na dann …“ Lucky versuchte es mit einem aufmunternden Grinsen. „Na ja … in meinem Bett liegt jemand, der in etwa zwei Stunden aufstehen und auf den Großmarkt fahren muss.“ „Jemand?“ Lucky war froh, dass der Barhocker unter ihm nicht die gleiche wabbelige Konsistenz annahm, die seine Knie plötzlich hatten. „Sein Mann“, grinste der immer noch knackige Barmann und stellte zwei neue Drinks vor die beiden. „Mein Mann“, bestätigte Will. Und immer noch glänzte dieses unschuldige Jungengrinsen zwischen seinen Piercings hervor.

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DUELL IM MORGENGRAUEN

Lale war traurig. Und wütend. Und frustriert. Sie saß mit dem Mann ihrer Träume in der Badewanne – und stritt sich. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hatte. Eigentlich war vom ersten Moment an klar gewesen, dass die ganze Sache früher oder später im Streit enden würde. Die wunderbare Zeit dazwischen – der Sex, die Zärtlichkeiten, die vertraute Nähe zwischen ihnen –, das war alles nur das Vorspiel gewesen. „Wie kannst du nur glauben, dass du mir nicht wichtig bist“, warf er ihr gerade vor. Ihre Füße lagen wieder auf seinem durchtrainierten Brustkorb, und seine Beine schlängelten sich noch immer zu beiden Seiten um ihren Körper herum. Das Wasser duftete schwach nach Rosen und schwappte in kleinen Wellen auf und ab. Die aufgehende Sonne glomm durch das viel zu kleine Fenster und ließ das Wasser in der Wanne wild und ungeduldig glitzern. Sie stritten jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Richtig in Fahrt gekommen war das Ganze durch ihren Vorwurf, es sei ihm bei seinem Besuch nur um Sex gegangen. „Tja, wieso komm‘ ich wohl drauf, dass ich dir nicht wichtig bin?“

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Lale merkte, wie sich ihr Hals immer mehr zuzog, das passierte ihr immer, wenn sie zornig wurde. „Vielleicht, weil du wichtige Entscheidungen lieber ohne mich triffst?“ Hannes seufzte, nahm eine Hand von ihren Füßen und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen. „Lale“, begann er. „Ich habe schon mal gesagt, es tut mir leid. Sehr leid. Aber ich kann‘s nicht mehr ändern. Ich hab‘ da unten was angefangen, das ich auch zu Ende bringen muss.“ Bla, bla, bla. Diese Platte kannte sie schon. Und sie wurde nicht besser durch diese nervtötenden Wiederholungen. „Darum geht‘s mir ausnahmsweise nicht.“ Ihre Stimme war jetzt ganz kratzig. „Es geht darum, dass du schon wieder eine Entscheidung für uns beide triffst.“ „Das tue ich nicht.“ „Tust du doch!“, beharrte sie. „Du entscheidest, dass es gut ist, getrennt zu sein. Und ich soll damit klarkommen!“ Er atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepresst. Draußen krächzten immer noch die Raben. „Diese Entscheidung hast du auch schon mal für uns beide getroffen. Erinnerst du dich?“, sagte er schließlich. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“

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„Dann bestrafst du mich jetzt dafür, oder was?“ Wieder schwappte diese unendliche Traurigkeit in ihr hoch. „Ich hab damals keinen anderen Weg gesehen. Aber heute ...“, sie stockte und suchte nach Worten, „ich bin mir nicht mehr sicher. Es hat sich nicht viel geändert, seit wir getrennt sind. Ich krieg dich nicht aus meinem Kopf. Meine Gefühle sind immer noch da.“ Sie zögerte. „Vielleicht kann ich es ja doch irgendwie aushalten.“ Er schüttelte den Kopf. Seine Augen sahen jetzt fast traurig aus. „Lale, nein. Es tut mir so leid. Ich hätte nicht herkommen dürfen. Das Ganze war ein Fehler. Ich hab kein Recht, dich nochmal in mein beschissenes Leben hineinzuziehen.“ „Du ziehst mich in nichts rein!“, brauste sie auf. „Ich bin alt genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich kann jederzeit nein sagen. Damals wie heute.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Das stimmt nicht, Lale. Ich allein weiß, wie ich ticke. Ich bin nicht gemacht für eine Beziehung. Das wusste ich auch schon damals. Ich hätte dich von Anfang an in Ruhe lassen müssen. Alles was ich dazu sagen kann ist, dass es mir leid tut. Ich hab es wirklich versucht. Ich wollte wirklich der Mann sein, den du verdienst.“

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„Hör auf, so zu reden. Ich hab niemanden verdient. Ich liebe dich.“ Eine Träne rollte ihr aus dem Auge. Trotzig wischte sie sie weg. „Ich liebe dich auch“, sagte er. „So sehr, dass es wehtut. Aber manchmal reicht das eben nicht.“

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