TITTENMONSTER
Lucky schreckte mit dem Geräusch eines Mannes hoch, der durch die Eisdecke gebrochen und vom Fluss einen Kilometer mitgeschleift worden war, ehe er seine schreienden Lungen im nächsten Angelloch endlich wieder mit Sauerstoff füllen konnte. Was für ein Alptraum: Sex. Mit einer Frau. Kein gutes Zeichen. Seine blonden Schnittlauchhaare stippelten klatschnass vom Kopf, er spürte deutlich den Herbstwind, der durchs geöffnete Schlafzimmerfenster zog. Auch die weißen Leinenlaken klebten zwischen seinen Beinen. Instinktiv fasste er sich ans Gemächt. Die Hitze kam zum Glück vom Laptop, der schon die ganze Nacht in seinem Schoß vor sich hin gesummt hatte wie eine faule Katze. Lucky versuchte, sich zu beruhigen. Doch die Erinnerung an die ekstatisch auf ihm herumturnende Frau verblasste viel zu langsam. Er schob sein PowerBook zur Seite und starrte auf das bunte Warhol-Porträt des rauchenden Hermann Hesse an der Wand gegenüber. Sein Herz hämmerte unbeirrt. Er schloss die Augen. Sex! Mit einer Frau! Er riss die Augen wieder auf. Herzhämmern. So weit war es schon gekommen. Jetzt träumte er auch noch vom Job. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“
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Er konzentrierte sich auf das Gefühl der Leinenlaken auf seiner Haut. Seit jeher verabscheute er jegliche baumwollene oder, noch schlimmer, bedruckte Bettwäsche. Nichts war vergleichbar mit dem sanften Gefühl eines jungfräulich weißen Leinenlakens. Nichts. Langsam entschleunigte sich sein Herz zurück auf Ruhepuls. Dieser verdammte Auftrag. Er hasste ihn, doch er musste ihn durchziehen. Im September und Oktober hatte er noch einige vielversprechende AutorenJobs in Aussicht gehabt. Bis auf einen hatten sich alle zerschlagen. Murphy‘s Law im Showgeschäft: Immer der Auftrag, den man überhaupt nicht wollte, blieb an einem kleben wie ein tief ins Profil getretener Kaugummi. Der Auftrag kam von Mandy Hundsthaler. In diesem Jahr hatte Lucky mehrere Shows für sie geschrieben. Die Blondine war ein klassisches Medienphänomen: Ein naives Tittenmonster, das seine Würde in kleinen Homestories prostituierte, mit grammatikalischer Unzurechnungsfähigkeit erheiterte und mit humoristischen Eskapaden brillierte – bis sie endlich ihre eigene Show bekam. Lucky coachte die sympathische Dumpfbacke durch den Medienzirkus, schrieb ihre Moderationen, ihre Witze, ihr Leben. Zum Dank überraschte sie ihn mit dem Job, der ihn an seine Grenzen brachte: © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“
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Er sollte für einen Buchverlag ihre Biographie schreiben. Oder besser eine Sammlung erotischer Kurzgeschichten, die in der Summe ihr 24-jähriges Erdendasein zusammenfassen sollten. Lucky konnte sich keinen Job vorstellen, für den er weniger geeignet war. Erotische Kurzgeschichten. Aus Frauenperspektive. Natürlich heterosexuell. Doch dann waren alle anderen Jobs weggebrochen und er stand mit nacktem Arsch im Wind, wie es sein Steuerberater ebenso bildstark wie mitleidslos ausgedrückt hatte. Sein Schicksal hing an einem seidenen Faden, der Mandy Hundsthaler hieß. Lucky las alles, was ihm an F-Promi-Biographien in die Hände kam: Katie Price, Paris Hilton, Veronica Ferres. Außerdem die Vagina-Monologe und andere Hetero-Heimsuchungen. Doch letztlich ging es ihm nur um eine Frage: Wie konnte er Mandy die deftigen erotischen Eskapaden, die der Verlag verlangte, auf den silikongetunten Leib stricken, ohne ihre Würde komplett in die Gosse zu jagen? Lucky hatte den ganzen Abend im Bett recherchiert. Den Laptop auf dem Schoß, hatte er sich durch die TV-Kanäle gezappt auf der Suche nach der ultimativen Idee. Von Talkshow zu Titten-Quiz, von Jahresrückblick zu Dokusoap. Er hatte sich auf Youtube durch die Hundsthaler-Shows gequält, fand sich – eingenickt – ölverschmiert im Ring mit Frauen. © eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“
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Erwachte wieder, wechselte die verschwitzten Laken, hackte ein paar Zeilen fürs Biographie-Konzept in den Rechner. Fühlte sein Scheitern. Flüchtete sich in weitere östrogenverseuchte Alpträume – und war jetzt völlig gerädert. Ohne jeglichen Impuls, sich der Welt auszusetzen. Wenn er mal von diesem bohrenden Heißhunger auf Lales Rührei absah.
Mit für die winterlichen Temperaturen nur fahrlässig angeföhnten Haaren und einem einnehmenden Duschduft nach Granatapfel enterte Lucky das Mampf, in dem bereits sechs Gäste saßen. Er nahm seinen Stammplatz am Panoramafenster ein und sah sich um. Lale steckte in der Küche bei ihrem Koch Adnan. Dem Geruch nach schien er Rührei mit Ziegenkäse zu zaubern. Lucky nutzte die tote Zeit bis zum ersten Doppelstock-Espresso, klappte sein Notebook auf und loggte sich bei „Spritzgebäck“ ein, der stilvollsten Playdate-Seite der Republik. Keine Sekunde später stupste Giorgio94 ihn an. Anstupsen! Was war nur aus dieser Welt geworden?! Früher quatschte man sich an der Bar, der Kühltheke, der U-Bahnhaltestellte an, lud sich auf einen Kaffee, ein Bier, einen Quickie ein. Heute wurde man auf Datingportalen angestupst. Wortlos. Sinnlos.
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Doch nicht in diesem Fall, denn Giorgio94 wartete gar nicht erst auf Luckys Reaktion. Er schoss gleich einen Fullscreen von sich hinterher, mit einer lässig in die Jeans geschobenen Hand. Untertitel: „Bock auf einen Skypewank?“ Lucky klappte den Laptop zu. Skypewank! Hatte er den Anschluss komplett verloren? Irgendein moralisches Update versäumt? War er über Nacht, na ja, über ein paar Nächte, zum Vollspießer geworden? Vielleicht. Aber die Vorstellung, sich am hellichten Wintermorgen mitten in seinem Stammcafé mit einem 18jährigen via Skype einen von der Palme zu wedeln, war fast so eklig wie seine erotischen Traumeskapaden letzte Nacht. Undenkbar. Zumindest mit diesem bohrenden Hungergefühl …
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