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Kein Beitrag zum Frieden: Antwort an den AttacBeirat 13. April 2017 von ADOPT A REVOLUTION
W e il wir im D e ze m b e r 20 16 vo r de r rus s is ch e n Bo ts ch aft ge ge n die rus s is ch e n K rie gs ve rb re ch e n in Os t Ale ppo pro te s tie rt h ab e n, kritis ie rte n uns j üngs t Mitglie de r de s wis s e ns ch aftlich e n Be irats vo n attac. H ie r ko m m t uns e re Antwo rt. In einer „Erklärung zum Syrienkrieg“ aus dem AttacBeirat wurden wir für unsere Proteste gegen die russischen Bombardements auf OstAleppo kritisiert. Der Tenor des Schreibens: Nicht Assad, nicht die tödliche Gewalt, mit der das syrische Regime gegen die unbewaffneten Demonstrationen vorging, auch nicht die Gegengewalt der bewaffneten Opposition trügen die Hauptverantwortung für den Syrienkrieg, sondern die USA. Eine so beliebte wie mehr als zweifelhafte These. Auch wenn die ausführliche „Erklärung zum Syrienkrieg“, die von WissenschaftlerInnen wie Elmar Altvater, Frigga und Wolfgang Haug, Frieder Otto Wolf sowie zehn anderen Personen unterzeichnet wurde, jenseits der „Nachdenkseiten“ und der staatlichrussischen PropagandaAgentur Sputnik kaum Resonanz erzeugte, haben wir uns als MitinitiatorInnen der Friedensproteste vor der russischen Botschaft zu einer Antwort entschlossen, weil sich ähnliche Argumentationsmuster mit dem gleichen paternalistischen Ansatz in der Syriendebatte leider immer wieder finden. Unsere Antwort kritisiert fünf Aspekte der „Erklärung zum Syrienkrieg“: Erstens, dass sich das Schreiben auf mehr als zweifelhaften Quellen beruft. Zweitens, dass der Fokus auf die USA als Schuldigen – ganz in KalterKriegsManier – den Syrienkrieg nicht erklären kann. Drittens kritisieren wir, dass das Schreiben im Gegensatz zur expliziten Intention der AutorInnen kein Schreiben zur Versachlichung der Debatte ist. Viertens, dass das Schreiben relevante Fakten absichtlich einfach verschweigt und fünftens, dass es in paternalistischer Manier betroffene Syrerinnen und Syrer in keinem Satz zu Wort kommen lässt, ja diese
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nicht einmal kritisch erwähnt, obwohl sie bei den Protesten vor der russischen Botschaft stark vertreten waren. Le s e n S ie uns e re Antwo rt auf die S yrie ne rklärung aus de m wis s e ns ch aftlich e n Be irat vo n attac! Dokument als PDF lesen…
Kein Beitrag zum Frieden Eine Antwort auf die „Erklärung zum Syrienkrieg“, von einigen Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats von attac Deutschland Im Dezember 2016 protestierten SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und AktivistInnen aus Deutschland und Syrien vor der russischen Botschaft in Berlin gegen den Bombenhagel der russischen Luftwaffe auf OstAleppo und andere Orte in Syrien. 14 ProfessorInnen aus dem Wissenschaftlichen Beirat von attac haben insbesondere die InitiatorInnen der Kundgebung in einer „Erklärung zum Syrienkrieg” scharf kritisiert: Nicht Russland, sondern die USA trügen die Hauptverantwortung für den Syrienkrieg, so behaupten die AutorInnen. Die mit akademischen Würden durchaus nicht geizenden ProfessorInnen greifen dabei in der „Erklärung” auf Quellen zurück, die einer seriösen Überprüfung nicht standhalten. Zudem trägt die „Erklärung” nicht zu einer Fakten gestützten Debatte zu Syrien bei, sondern sie relativiert durch eine ideologische Sichtweise auf den Syrienkonflikt Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch russisches und iranisches Militär, sie verschweigt zentrale Tatsachen und sie geht in paternalistischer Manier über die eigentlich Betroffenen hinweg. Jenseits der Frage, wer den Krieg begonnen hat, ist festzuhalten: Putins brutaler Krieg gegen Aleppo war und ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Auch wenn die „Erklärung“ keine große öffentliche Aufmerksamkeit weckte, wollen wir – syrische BürgerrechtlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, SchriftstellerInnen und Adopt a Revolution – als InitiatorInnen der Friedensproteste darauf antworten, weil sich ähnliche Argumentationsmuster mit dem gleichen parternalistischen Ansatz in der Syriendebatte leider immer wiederfinden. Unsere Kritik bezieht sich auf fünf Aspekte: 1. D ie Frage de r Q ue lle n Natürlich ist eine politische Erklärung kein wissenschaftlicher Text. Für eine fundierte Debatte ist es jedoch unerlässlich, dass die Quellen benannt werden, auf denen die Tatsachenbehauptungen fußen. Aus die s e m Grund h ab e n wir die Auto rInne n zwe im al ge b e te n, uns ih re Q ue lle n anzuge b e n, dam it wir die Fakte n üb e rprüfe n kö nne n. Eine Antwo rt b lie b aus . D ie s irritie rt uns ins b e s o nde re de s h alb , we il de r T e x t T ats ach e nb e h auptunge n und Zah le nangab e n
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b e inh alte t, die tro tz inte ns ive r Re ch e rch e nich t nach zuvo llzie h e n s ind – und gerade in der Debatte um den Konflikt in Syrien kursieren häufig „alternative Fakten“. Ein Beispiel: Auf Seite 4 des Papiers schreiben die AutorInnen, dass „40 000 irakische Zivilisten – mindestens viermal so viel wie in Aleppo – seit August 2014 durch die Bomben der USgeführten Koalition starben“. Diese Zahl nutzte bereits Jürgen Todenhöfer im Freitag – auch dort gegen alle journalistischen Standards ohne Quellenangabe. Weitere verschwörungstheoretische Blogs berufen sich auf diese Zahl, ohne dass eine überprüfbare Quelle dafür genannt wird. Der Iraq Body Count– wahrlich keine der USRegierung nahestehende Quelle – kommt für den Zeitraum März 2014 bis Dezember 2016 auf die Zahl von 3.709 getöteten ZivilistInnen durch die Bomben der USgeführten Koalition. Das unabhängige Monitoringprojekt Air Wars geht im Zeitraum August 2014 bis Ende Februar 2017 von einer Zahl zwischen 2.463 und 3.580 durch die USgeführte Koalition getöteten ZivilistInnen aus. Diese Zahlen sind empörend und öffentliche Kritik daran ist dringend geboten. Jede/r einzelne Tote ist eine Tragödie. Aber die beiden transparent erhobenen Opferstatistiken sind von der behaupteten Zahl von angeblich 40.000 von der USgeführten Koalition getöteten ZivilistInnen weit entfernt. S o lange für die s e Zah l ke ine b e las tb are Q ue lle vo rlie gt, is t nich t aus zus ch lie ß e n, das s die Auto rInne n h ie r e ine r ge zie lte n D e s info rm atio n aufge s e s s e n s ind. 2. D e r Fo kus auf die U S A Für die AutorInnen liegt die Verantwortung für die dramatische Entwicklung in Syrien ganz zentral bei den USA. Auch wir sehen und kritisieren die Kriegsverbrechen des US Militärs in Syrien: Ob gezielte Tötungen mit Hilfe von Drohnen, der Einsatz von Uranmunition auch in Syrien oder die Militärschläge gegen den sogenannten „Islamischen Staat“, bei denen es immer wieder zu zivilen Toten kommt – all dies muss aufgeklärt und geahndet werden. D o ch die in de r Erklärung s ugge rie rte T h e s e , de r Im pe rialis m us de r U S A s e i s ch uld am K rie g in S yrie n, is t fals ch . D ie dafür ge nannte n o de r zitie rte n Argum e nte h alte n e ine r Üb e rprüfung nich t s tand: Das Argument des langen Plans der USAußenpolitik. Dem Papier zufolge soll es bereits im Jahr 2001 den großen Plan der USRegierung gegeben haben, in sieben Staaten – darunter Syrien – einen Regimewechsel durchzuführen. Zwar hatte die BushAdministration Syrien im Jahr 2002 zur erweiterten „Achse des Bösen” gerechnet. Daraus abzuleiten, dass diese Politik über die BushAdministration hinaus Bestand gehabt hätte, und damit das Verhalten der USAußenpolitik seit Beginn des Aufstands in Syrien im März 2011 zu erklären sei, entbehrt jeglicher Grundlage. Seit 2009 hat die ObamaAdministration den Kurs der USRegierung in Bezug auf Syrien fundamental geändert. D ie s b e le ge n ne b e n de r Eins e tzung de s e rs te n U S Bo ts ch afte rs in D am as kus nach ze h n Jah re n im Jah r 20 10 auch die fünf T re ffe n zwis ch e n U S Auß e nm inis te r Jo h n K e rry m it Bas h ar alAs s ad zwis ch e n 20 0 9 und 20 11. In de m Zus am m e nh ang b e s ch rie b K e rry S yrie n üb rige ns als „an e s s e ntial playe r in b ringing pe ace and s tab ility to th e re gio n“ . Statt auf
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weitere Aufrüstung in der Region setzte die ObamaAdministration zudem auf einen militärischen Rückzug aus dem Nahen Osten – etwa aus dem Irak. Dieser fundamentale policy change der letzten acht Jahre in der USAußenpolitik wird in der Erklärung jedoch mit keinem Wort erwähnt. Das wird einer seriösen Analyse nicht gerecht. USA als Hauptverantwortliche für den Syrienkrieg. Auf Seite 5 der Erklärung schreiben die AutorInnen, die USRegierung trage die Hauptverantwortung für den Syrienkrieg, weil sie im Irak die Rahmenbedingungen für die Entstehung des so genannten „Islamischen Staats“ geschaffen habe. Schon alleine aufgrund der zeitlichen Abfolge der Ereignisse ist das Argument nicht nachvollziehbar. Der so genannte „Islamische Staat“ beziehungsweise seine Vorläuferorganisationen erlangten in Syrien erst im Jahr 2013 eine militärische Relevanz, während kriegerische Auseinandersetzungen im Land bereits ab Ende 2011 nach der Gründung der „Freien Syrischen Armee“ durch Deserteure aus der syrischen Armee stattfanden. Von März 2011 bis April 2014 waren in Syrien nach Angaben der UN bereits mindestens 92.901 Menschen in Folge des Konflikts ums Leben gekommen. Die USA unterstützen eine Armee von Dschihadisten. Es kann nicht bestritten werden , dass die USRegierung in Syrien auch militärische Gruppen unterstützt hat, die sich mittlerweile radikalisiert haben und „Tahrir alSham“ (dem Nachfolger der alQaidanahen „Jabhat al Nusra“) nahe stehen. Die große Mehrheit der von den USA unterstützten bewaffneten Gruppen – so sie denn noch existieren – werden jedoch auch von der russischen Regierung als „moderate Rebellen“ bezeichnet. (Als ‚moderat‘ bezeichnet die russische Regierung allerdings auch radikalreligiöse, beziehungsweise islamistische Gruppen von Bewaffneten wie „Ahrar alSham“ oder „Jaysh alIslam“ – eine Einschätzung die wir in keiner Weise teilen können.) Für die Be h auptung, die U S A h ätte n ge m e ins am m it ande re n, darunte r auch Is rae l, e ine Arm e e vo n D s ch ih adis te n aufge b aut (S . 1 f), fe h lt j e glich e Q ue lle ngrundlage . Anders als in der Erklärung dargestellt, hat dies auch der zitierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh 2007 nicht behauptet (Die Quelle, auf die sich hier ohne Nennung bezogen wird, ist vermutlich der Artikel „The Redirection“, erschienen im „The New Yorker“ am 5. März 2007). Interessant ist, dass trotz des starken Fokus‘ auf die Rolle der USRegierung in Syrien, in der Erklärung die militärische Gruppierung völlig unerwähnt bleibt, die am stärksten durch die USRegierung unterstützt wird: die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG, dem syrischen Arm der PKK. An diese lieferte das USMilitär nicht nur Munition und Waffensysteme, sondern stellt ihnen auch Militärberater zur Seite und leistet Luftunterstützung, die faktisch einer Flugverbotszone gleicht. Den drei genannten Beispielen entsprechend lässt sich die von den AutorInnen unterstellte massive Schuld der USA am Syrienkonflikt weder mit den von ihnen zitierten Quellen belegen noch aus den tatsächlichen Handlungen der USRegierung ableiten. D ie K o nze ntratio n auf die alle inige S ch uld de r U S Re gie rung läs s t die Auto rInne n die ko m ple x e , m ultipo lare Inte re s s e nlage ve rge s s e n, die wir h e ute – üb rige ns nich t nur – in S yrie n vo rfinde n. S ie m ach t s ie b lind ge ge nüb e r de r P o litik de rj e nige n S taate n, die in S yrie n e ine de utlich aggre s s ive re im pe rialis tis ch e
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P o litik ve rfo lge n als die U S A – darunte r Rus s land und de r Iran ge naus o wie die T ürke i, S audiArab ie n und K atar. Deshalb wäre vielmehr die Frage durchaus offen zu diskutieren, ob nicht die Rückzugspolitik der USRegierung negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Konflikts in Syrien hatte, weil sie dadurch Spielräume für andere Akteure ermöglicht, die ihre Eigeninteressen auf noch rücksichtslosere Weise verfolgten. 3. K e in Be itrag zur Ve rs ach lich ung de r D e b atte Die Erklärung beklagt eine einseitige „prowestliche“ Berichterstattung zu Syrien (S. 6) und fordert eine Versachlichung der Debatte. Leider verpassen die AutorInnen aufgrund ihrer ideologisch bedingten Fokussierung auf das alte Feindbild USA wie oben erwähnt nicht nur, sich mit der Politik derjenigen Staaten auseinanderzusetzen, von denen zweifelsohne Aggression und imperialistische Handlungen in Bezug auf Syrien ausgehen. Sie machen in der Erklärung den Fehler, den sie den TeilnehmerInnen der Friedensdemonstrationen vor der russischen Botschaft vorwerfen: Die UnterzeichnerInnen schreiben Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nur der einen Seite zu – unterschlagen Fakten und blenden die Verbrechen aller anderen Akteure aus. S o rich tig e s is t, darauf h inzuwe is e n, das s die Gräue ltate n b e waffne te r o ppo s itio ne lle r Gruppe n m e dial zu we nig Be ach tung finde n, s o s e lb s tve rs tändlich m üs s te n ge rade aus e ine r linke n P e rs pe ktive h e raus Me ns ch e nre ch ts ve rb re ch e n unab h ängig vo n de n T äte rInne n kritis ie rt we rde n. Eine po litis ch e S ym path ie für die e ine o de r ande re S e ite darf nich t zu e ine r Re lativie rung vo n de re n Ve rb re ch e n füh re n. D ah e r is t e s m e h r als b e fre m dlich , das s die Erklärung die m as s ive n Ve rb re ch e n de s rus s is ch e n Militärs und iranis ch e r Milize n nich t nur ve rs ch we igt, s o nde rn e s gar für „ab s urd” h ält, Rus s land für die Anwe ndung m as s ive r m ilitäris ch e r Ge walt zu kritis ie re n (S . 1). Universelle Werte werden hier selektiv für politische Zwecke geopfert. Über der Parteinahme für die russische und iranische Politik („Russland und Iran haben zunächst alle Möglichkeiten für eine diplomatische und friedliche Lösung des Konfliktes ausgeschöpft“, S. 1), blenden die Unterzeichner völlig aus, dass Russland seit Beginn des Aufstands in Syrien im UN Sicherheitsrat sechs Resolutionen zu Syrien per Veto blockiert hat, die mit nicht militärischen Mitteln nach einer Lösung des Konflikts suchten. Und schließlich greift die Erklärung zu einer zynischen Verkehrung der Tatsachen und zur Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Kriegs gegen OstAleppo: „erst als sich dieser Versuch (zur friedlichen Beilegung) als aussichtslos erwies, haben sie (Russland und Iran) militärisch eingegriffen und den Krieg in Aleppo vorerst beendet“. „Alternative Fakten“ nennt man das heutzutage. Ein weiteres, besonders irritierendes Beispiel für diese Einseitigkeit ist die lange Abhandlung zum Giftgaseinsatz in Syrien. Neben der Streuung falscher Fakten (etwa die Behauptung, USGeneral Martin Dempsey hätte in einem Bericht erklärt, das am 21. August 2013 in Ghouta eingesetzte Sarin stamme nicht aus den Arsenalen des syrischen Regimes (S. 3), der
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der entsprechende UNBericht widerspricht.) – werden lediglich solche Indizien angeführt, die nur einen Schluss zulassen sollen: Die syrische Armee unter Assad könne nicht verantwortlich sein für den tödlichsten Giftgaseinsatz des 21. Jahrhunderts. Indizien, die einen anderen Schluss erlauben, etwa dass das AssadRegime tagelang die Untersuchung der Vorfälle durch UNChemiewaffeninspektoren untersagte, dass es seitens des syrischen Regimes bis heute keinerlei medizinische Hilfe für die Opfer des Chemiewaffenangriffs gab, sondern im Gegenteil, die vom Giftgas betroffenen Gebiete in der Folge weiter belagert wurden und weiterem massiven Beschuss und Luftangriffen seitens der syrischen Armee ausgesetzt waren, dass dem AssadRegime durch einen UNBericht auch an anderen Orten der Einsatz von Giftgas als Kampfstoff nachgewiesen wurde, oder dass die Analysen zahlreicher investigativer Medien von der New York Times bis zum Spiegel in der Breite zu einer anderen Einschätzung kommen – all diese Indizien bleiben unerwähnt. Wir können – anders als die AutorInnen der Erklärung es für ihre Version suggerieren – bis heute nicht eindeutig sagen, wer für den GiftgasAngriff im Sommer 2013 verantwortlich war. Dies steht auch im Zusammenhang damit, dass die russische Regierung bis heute im UNSicherheitsrat eine strafrechtliche Verfolgung des Einsatzes von Chemiewaffen in Syrien blockiert. S e lb s t die S am m lung vo n Fakte n durch die U N, um K rie gs ve rb re ch e n in S yrie n für e ine s päte re Ve rwe rtung durch die inte rnatio nale S trafge rich ts b arke it zu s ich e rn, m us s te die U N Vo llve rs am m lung b e s ch lie ß e n, we il de r U NS ich e rh e its rat in die s e r Frage n durch die S tim m e Rus s lands b lo ckie rt war. Fest steht jedoch, dass das Militär des AssadRegimes nach wie vor chemische Waffen, insbesondere Chlorgas, auch in Wohngebieten einsetzt. Auch das hat die UN in ihrem Bericht vom Sommer 2016 festgestellt. Wer wirklich etwas zur Versachlichung der Debatte über die Verantwortlichkeiten im Syrienkonflikt beitragen möchte, sollte sich auch mit diesen Fakten auseinandersetzen. 4. D as Ve rs ch we ige n vo n Fakte n Wie bereits oben im Zusammenhang mit dem Einsatz von Chemiewaffen in Syrien skizziert, mangelt es der Erklärung nicht nur an stichhaltigen Fakten, sondern es ist vor allem die bewusste Auslassung bestimmter Hintergründe und seriöser Quellen, die zu einer massiven Verzerrung des Bildes des Syrienkonflikts führt. Auf der einen Seite beklagen die AutorInnen, dass die russische Regierung nicht für ihren Beitrag zur chemischen Abrüstung in Syrien gewürdigt werde (S. 3), auf der anderen Seite ignorieren sie die zahlreichen Berichte über den russischen Einsatz international geächteter Waffen und Angriffe auf zivile Infrastruktur. Die Erklärung stellt Assad als angeblichen Beschützer der Minderheiten und den so genannten „Islamischen Staat” als seinen Hauptgegner dar. Gleichzeitig verschweigt sie, dass das Militär des AssadRegimes und die russische Luftwaffe seit September 2015 vor allem die oppositionellen Gruppen angegriffen haben und nicht vorrangig Ziele der ISTerrormiliz.
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Das systematische Töten durch das Militär des AssadRegimes (durch Luftangriffe unter anderem mit durch UNResolution 2139 geächteten Fassbomben genauso wie in den Foltergefängnissen des Regimes) findet in der Erklärung der WissenschaftlerInnen nicht statt. Be rich te vo n Nich tre gie rungs o rganis atio ne n wie Amnesty International, Human Rights Watch, Physicians for Human Rights, Ärzte ohne Grenzen o de r medico international – Organis atio ne n, die s o wo h l s e it lange m für kritis ch e , fundie rte Be rich te s te h e n und s e it Jah re n m it lo kale n P artne rn in S yrie n zus am m e narb e ite n – las s e n die Auto rInne n de r Erklärung vo lls tändig unb e rücks ich tigt. Diese Organisationen haben schon in der Vergangenheit einen Beitrag zur Versachlichung geleistet, weil sie nicht nur die Gewalt von oppositionellen Gruppen in Syrien kritisiert, sondern vor allem die massiven Menschenrechtsverbrechen des AssadRegimes angeprangert und auch die Kriegsverbrechen des russischen Militärs immer wieder thematisiert haben. D urch die s tark s e le ktive Nutzung vo n Fakte n e nts te h t e in e x tre m ve rze rrte s Bild de s S yrie nko nflikts . Vo n re no m m ie rte n W is s e ns ch aftle rInne n h ätte n wir uns an die s e r S te lle e in Minde s tm aß an Aus e inande rs e tzung m it Argum e nte n e rwarte t, die de r e ige ne n po litis ch m o tivie rte n T h e s e e ntge ge ns te h e n, ans tatt die s e e infach zu ve rs ch we ige n. 5. Ein pate rnalis tis ch e r Ans atz Be im Le s e n de r Erklärung fällt auf, das s s ie üb e r die Ere ignis s e in S yrie n und ih re H inte rgründe b e rich te t, o h ne S yre rInne n üb e rh aupt zu W o rt ko m m e n zu las s e n. W ir h alte n die s e n m e th o dis ch e n Ans atz für grundle ge nd fals ch und le tztlich pate rnalis tis ch . D ie U nte rze ich ne r re duzie re ndie Ge s ch e h nis s e in S yrie n auf fas t aus s ch lie ß lich vo n auß e n ge s te ue rte , ge o po litis ch e Inte rve ntio ne n und de gradie re n die S yre rInne n s e lb s t dam it q uas i zu S tatis tInne n ih re r e ige ne n Ge s ch ich te . Die SyrerInnen werden nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die zunächst einmal selbst für die Entwicklungen verantwortlich sind auf Seiten der Opposition mit ihrem Aufstand für Selbstbestimmung im März 2011, auf Seiten des Regimes mit der gewalttätigen Unterdrückung der Protestbewegung und bei der anschließenden Militarisierung des Konflikts. Statt dessen dreht sich die Erklärung um einen Ansatz, der suggeriert, der Lauf der syrischen Geschichte werde von Washington aus gesteuert. D ie Igno ranz ge ge nüb e r de n vo m S yrie nkrie g unm itte lb ar Be tro ffe ne n s e tzt s ich fo rt in de r Igno ranz de r Auto rInne n ge ge nüb e r de m e x is te ntie lle n S ch utzb e dürfnis de r in S yrie n le b e nde n Me ns ch e n. Ob s ie e th nis ch e n und re ligiö s e n Minde rh e ite n ange h ö re n o de r de r s unnitis ch e n Me h rh e its ge s e lls ch aft – die Zivilb e vö lke rung in S yrie n h at e in Anre ch t auf S ch utz vo r K rie gs ve rb re ch e n und Me ns ch e nre ch ts ve rle tzunge n. Dass die – naturgemäß heterogenen – politischen Perspektiven von Syrerinnen und Syrern von den AutorInnen gänzlich unbeachtet bleiben, ist überraschend: Mittlerweile leben in Deutschland Hunderttausende Syrerinnen und Syrer, von denen viele bereit sind, über die
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Gründe ihrer Flucht und die politische Situation in Syrien zu sprechen. Bei den Protesten gegen die Bombardierung OstAleppos vor der russischen Botschaft waren Syrerinnen und Syrer am stärksten vertreten. Bezeichnend, dass die Erklärung zum Syrienkrieg sich explizit nur auf die in ihrer großen Mehrheit weiße, deutsche „Gruppe von Prominenten aus Kultur und Politik” (S. 1) bezieht – und die auf der Mahnwache zahlenmäßig am stärksten vertretene Gruppe der syrischen DemonstrantInnen einfach übergeht. Fazit Warum lassen sich 14 renommierte und engagierte ProfessorInnen zu einer solch unwissenschaftlichen und ungenauen Analyse zu Syrien hinreißen? Während zahlreiche von ihnen Ende 2012 noch den Friedensappell zu Syrien „Freiheit braucht Beistand“ unterzeichneten, lässt sich diese Erklärung kaum anders lesen als ein Zeugnis tiefgreifender antiamerikanischer Ressentiments und kritiklosem Wegsehen bei den Menschenrechtsverletzungen anderer Mächte. Die Konsequenzen dieser Haltung sind aus einer linken Perspektive, wie attac sie zu vertreten beansprucht, katastrophal: In Syrien selbst versperrt sie die dringend notwendige solidarische Perspektive für diejenigen, die im Land trotz Bombardements und Belagerungen durch das AssadRegime und seine Verbündeten und die trotz dschihadistischem Terror weiter an emanzipatorischen Projekten arbeiten. Auf der geopolitischen Ebene versperrt sie den Blick auf eine weitaus komplexer gewordene Welt, in der mehr als nur zwei Akteure relevant sind – und sie verhindert damit auch die Entwicklung von menschenrechtspolitischen Ansätzen, die dieser Komplexität Rechnung tragen. Stattdessen befeuert die der Erklärung zugrunde liegende Haltung eine simplifizierende, populistische PseudoAnalyse, nach der stets die USA bzw. „der Westen” an negativen Entwicklungen auf der ganzen Welt schuld seien – eine Meinung, die sich auf innenpolitischer Ebene in der AFD, in Teilen der Linkspartei, aber auch innerhalb der SPD großer Beliebtheit erfreut und im antiamerikanischen Umkehrschluss allen sich als antiwestlich gerierenden Akteuren – von Putin über den Gottesstaat Iran bis zum Assad Regime – selbst angesichts schwerster Verbrechen die Absolution erteilt. Vo r alle m ab e r unte rm inie rt die s e H altung die Ide e de r unive rs ale n und unve räuß e rlich e n Me ns ch e nre ch te . Es s o llte nun wirklich ke in P ro b le m dars te lle n, vo r de r rus s is ch e n Bo ts ch aft ge ge n die m as s ive n Luftangriffe auf Os tAle ppo zu pro te s tie re n, und gle ich ze itig die ds ch ih adis tis ch e n Milize n für die vo n ih ne n in Os tAle ppo b e gange ne n Me ns ch e nre ch ts ve rle tzunge n zu kritis ie re n. Es sollte kein Problem sein, gegen die Kriegsverbrechen der iranischen und russischen Verbündeten des AssadRegimes zu demonstrieren, und zugleich Verbrechen anzuprangern, die SaudiArabien mit USamerikanischen oder deutschen Waffen im Jemen verübt. Und es sollte kein Problem sein, Hungerblockaden, Folter und Bombardements durch die AssadArmee zu verurteilen, und gleichzeitig oppositionelle Milizen anzuprangern, wenn diese Wohnviertel beschießen oder politische GegnerInnen entführen.
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Eine um fas s e nde D e b atte , die nich t m e h r um „de n W e s te n” und „de n Os te n” kre is t, s o nde rn auf de m Grunds atz de r U nive rs alität de r Me ns ch e nre ch te b as ie rt und in S o lidarität m it de n Be tro ffe ne n ge füh rt wird, kö nnte e in po s itive r Be itrag zur Frie de ns po litik s e in. D ie Erklärung is t e s in ih re r S e le ktivität nich t. Frank H e rte rich und P e te r S ch ne ide r Initiatoren des Protestes der Schriftsteller am 07.12.16 vor der Russischen Botschaft Lara Q ab b ani und Anas Alb as h a InitiatorInnen der Friedenskundgebung am 12.12.16 vor der Russischen Botschaft Mo h am m ad Ab u H aj ar und Elias P e rab o (Adopt a Revolution) Initiatoren der Friedensdemonstration am 13.12.16 von der USamerikanischen zur russischen Botschaft Ein Grund, warum K rie gs ve rb re ch e n in S yrie n nich t aufge klärt we rde n kö nne n, s ind die zah lre ich e n Ve to s de r rus s is ch e n Re gie rung im U N S ich e rh e its rat. U m die s e zu um ge h e n, kann die Vo llve rs am m lung de r Ve re inte n Natio ne n e ige ne Re s o lutio ne n ve rab s ch ie de n, wie zule tzt im D e ze m b e r le tzte n Jah re s . D afür, das s die U N h andlungs fäh ig we rde n, m us s s ich j e tzt auch Auß e nm inis te r Gab rie l e ins e tze n. U nte rze ich ne n S ie uns e re n Aufruf an Gab rie l!
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Erklärung zum Syrienkrieg Aus dem wiss. Beirat von attac Deutschland
Wir möchten vorausschicken: Erstens ist uns nicht verborgen geblieben, dass Russland und Iran, die auf der Seite des Assad-Regimes in den Krieg eingetreten sind, ihre eigenen Interessen und strategischen Ziele verfolgen. Zweitens haben wir den Gewalteinsatz und die frühzeitige Einmischung ausländischer Staaten in den innersyrischen Konflikt von Beginn an für falsch gehalten und kritisiert: den Gewalteinsatz von Assad gegen die friedlichen Demonstranten, die gegen die Diktatur auf die Straße gegangen waren, ebenso wie gegen die Waffenlieferungen des Westens an die angeblich moderaten Rebellen und alle darauf folgenden Kriegshandlungen. Entgegen der im Westen herrschenden Mainstream-Meinung stellen wir jedoch fest: Russland und Iran haben zunächst alle Möglichkeiten für eine diplomatische und friedliche Lösung des Konfliktes ausgeschöpft; erst als sich dieser Versuch als aussichtlos erwies, haben sie militärisch eingegriffen und den Krieg in Aleppo vorerst beendet. Dafür Russland nun zu verurteilen, wie es die westlichen Mainstream-Medien fast einhellig tun, halten wir für absurd, genauso wie die einseitige Schuldzuweisung jener Gruppe von Prominenten aus Kultur und Politik, die am 7.Dezember 2016 vor der russischen Botschaft in Berlin unter dem Motto „Aleppo-Putins Schande!“ demonstriert haben. Wir fordern die Initiatoren und UnterzeichnerInnen des betreffenden Aufrufs zu einer öffentlichen Debatte über den tatsächlichen Hergang des Syrienkonflikts auf. Zu diesem Zweck rufen wir einige Fakten in Erinnerung: - Nach Aussagen des ehemaligen Oberkommandeurs der NATO, General Wesley Clark, begann die US-Regierung bereits unmittelbar nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 mit den Planungen des Regimewechsels in sieben Ländern, die von den USA als Gegner angesehen wurden, darunter Afghanistan, Irak, Libyen und auch Syrien. Um dort dieses Ziel zu erreichen, haben die USA seit 2005 die Rahmenbedingungen geschaffen. Dazu gehörte neben zahllosen medialen Propagandaaktionen gegen das Assad-Regime, die - von den USA gemeinsam mit Saudi-Arabien, Katar und Israel betriebene Finanzierung und Ausbildung einer Armee von Dschihadisten, die fortan in der westlichen Berichterstattung unter dem verharmlosenden Label „gemäßigte Opposition“ firmierte. Dabei gehörten die weitaus stärksten militärischen Kräfte dieser Opposition dem Al-Kaida-Netzwerk und der 1
radikal-islamischen al-Nusra Front an, die zuvor von den USA selbst als „Terror-Organisationen“ eingestuft worden waren. Diese Truppen sollten für den Sturz der Regierungen in Damaskus und Teheran eingesetzt werden, wie der renommierte Journalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh bereits 2007 aufdeckte. - Nach dem Beginn des Syrienkonflikts hat sich Russland zunächst nicht eingemischt, solange dieser Konflikt noch als ein rein innenpolitischer Konflikt angesehen werden musste. Erst als es dem „Islamischen Staat“, dessen Ursprung auf den Sturz Saddam Husseins und die Zerstörung Bagdads durch die USA im Frühjahr 2003 zurückgeht, gelang, mit den Mitteln des Terrors und mit militärischer und logistischer Unterstützung durch die Geheimdienste der USA, Saudi-Arabiens und der Türkei im Norden des Irak weite Gebiete mit der Metropole Mossul unter ihre Gewalt zu bringen, ist Russland aktiv auf der Seite der syrischen Regierung eingetreten. Denn es befürchtete zu Recht, es ginge auch in Syrien um einen Regime Change und um einen damit einhergehenden Verlust des russischen Militärstützpunkts im Mittelmeer. - Bekanntlich hatte Präsident Obama den Einsatz von Chemiewaffen als ‚Rote Linie‘ der USA für ihren Kriegseintritt gegen Assad benannt. Als am 21. August 2013 bei einem Giftgas-Angriff in Ghuta bei Damaskus Hunderte von Menschen auf grausame Weise ums Leben kamen, schien der Casus Belli eingetreten zu sein. Obama kündigte an, auf den Einsatz chemischer Waffen durch das Assad-Regime mit „einem gezielten militärischen Schlag zu antworten.“ Indes konnte Seymour Hersh schon am 8. Dezember 2013 in einem langen Artikel im „London Review of Books“ nachweisen, dass der Giftgas-Angriff in Ghuta nicht dem Assad-Regime angelastet werden kann, wie es bis heute geschieht. Nach Aussage des Ex-CIA-Agenten Ray Mc Govern, der zu den Chef-Analysten des CIA gehörte, konnten die mit Sarin bestückten Raketen, die angeblich aus einem Gebiet abgefeuert wurden, das unter der Kontrolle der Assad-Regierung stand, nicht von dort kommen. Assads Raketen hatten einfach nicht die nötige Reichweite. Auch handelte es sich nicht um den Typ Sarin, den die syrische Armee lagerte, wie eine spätere, vom britischen Geheimdienst M16 durchgeführte Labor-Analyse ergab. Und sollte ausgerechnet Assad so dumm und dreist gewesen sein, um vor den Augen der Weltöffentlichkeit selbst und eigenhändig den Kriegsgrund für die USA zu liefern und sein eigenes Todesurteil zu signieren? Am 23. Oktober 2013 berichtete die türkische Zeitung „Todays Zaman“ von der Pressekonferenz zweier Abgeordneter der „Republikanischen Volkspartei CHP, Eren Erdem und Ali Seker, auf der sie Dokumente und 2
Audio-Kassetten vorlegen konnten, in denen Details beschrieben wurden, wie Sarin in der Türkei produziert und an die terroristische alNusra Front weitergegeben wurde. Ein ehemaliger Offizier vom Nachrichtendienst in den USA klärte Hersh über die Zusammenhänge auf: „Wir wissen jetzt, dass der Gasangriff vom 21. August eine verdeckte Aktion von Erdogans Leuten war, um Obama über die ‚Rote Linie‘ zu stoßen.“ (Man fühlt sich an die Propaganda-Lüge von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins erinnert, die der BushRegierung seinerzeit den Grund für den Einmarsch in den Irak geliefert haben.) Am 31. August kündigte Obama im Rosengarten des Weißen Hauses überraschend an, dass der Angriff auf Syrien aufgeschoben würde und dass er erst das Votum des Kongresses einholen wolle. Inzwischen waren nämlich die Chemieproben aus Ghouta analysiert und vom britischen Geheimdienst weiter nach Porton Down, USA, und an General Martin Dempsey weitergeleitet worden. Auf Grund dieses Berichtes erklärte der US-General dem Weißen Haus: ein Angriff auf Syrien wäre ein ungerechtfertigter Akt der Aggression, denn das Sarin aus Ghouta stamme nicht aus den Arsenalen des syrischen Militärs. Obama wählte daraufhin den Plan B: Kein Bombenangriff, wenn Assad der Vernichtung all seiner chemischen Waffen unter Aufsicht der UNO zustimmen würde. Das Weiße Haus wollte jedoch seinen Irrtum nicht eingestehen. Das Assad-Regime musste auch nach diesem Kurswechsel für den GiftgasEinsatz verantwortlich gemacht werden. - Es war schließlich Russland und kein anderer Staat, das mit diplomatischem Geschick diesen Kurswechsel dazu nutzte, dass sämtliche Chemiewaffen Syriens unter Mitwirkung der USA und der Kontrolle der UN vernichtet wurden. Die Bemühung Russlands, die Massenvernichtungswaffen Syriens abzurüsten, war eine friedenspolitische Leistung, die indes von den Regierungen und Medien des Westens mit keinem Wort gewürdigt worden ist. - Der Bundeswehrgeneral und ehemalige Vorsitzender des NatoMilitärausschusses Harald Kujat, konstatierte oft und zu Recht, dass durch den Kriegseintritt Russlands die Genfer Syrienkonferenz überhaupt erst möglich geworden ist. Russland und Iran haben sich darüber hinaus auch große Mühe gegeben, um den Syrienkrieg diplomatisch und auf dem Verhandlungswege zu beenden. Sie haben Vorschläge für mehrtägige Waffenruhen in Aleppo immer wieder akzeptiert, während die Rebellen die Waffenruhe für ihre weitere Aufrüstung missbrauchten. Aber die westlichen Verbündeten, Saudi Arabien, die Golfstaaten, Israel und vor allem die bewaffneten Rebellen waren es, die jegliche Verhandlungen mit Assad ablehnten und seinen 3
Sturz zur Vorbedingung für Verhandlungen machten. Dem Westen und den USA fehlte offensichtlich der Wille, ihre Krieg und Unruhe stiftenden Verbündeten zu einer Verhandlung mit Assad zu zwingen. Dabei müsste es jedem Politiker mit Weitsicht und Verstand sonnenklar gewesen sein, dass Assad überhaupt nicht zurücktreten kann, selbst wenn er wollte. Man hat es im Westen nie verstanden oder verstehen wollen: Assad repräsentiert sämtliche religiösen Volksgruppen und Minderheiten, insbesondere Aleviten, Christen, Yeziden und andere in Syrien, die sein Regime wegen seines erklärten Laizismus unterstützen und von ihm auch erwarteten, nicht einfach das Feld zu räumen und es dem IS zu überlassen mit der sicheren Aussicht einer dann zu erwartenden Massenabschlachtung der religiösen Minderheiten und Aleviten. - Prof. Günter Meyer, langjähriger Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, erklärte in einem Interview am 15.01.2017 mit der heute-Redaktion: „Ohne die militärische Intervention Russlands im September 2015 wäre inzwischen nicht nur Aleppo komplett von den Dschihadisten erobert worden. Auch das Assad-Regime wäre längst zusammengebrochen. Damit hätten die Assad-Gegner unter Führung der USA ihr Ziel des Regimewechsels zwar erreicht. Die Macht hätten jedoch die stärksten militärischen Kräfte an sich gerissen. Und das wären die islamistischen Extremisten, wie die zum Al-Kaida-Netzwerk gehörende Nusra-Front und der von der internationalen Allianz unter US-Führung bekämpfe Islamische Staat (IS). Wem, wie israelische Politiker erklärten, eine solche Terrorherrschaft lieber ist als das Assad-Regime, der kann Putin vorwerfen, dass er dies verhindert hat.“ - Freilich ist es mehr als zu beklagen, dass dabei Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen zerstört wurden und seit September 2015 durch die Bomben Russlands in Ost-Aleppo und Idlib bis zu 10 000 syrische Zivilisten starben. Zwar widerstrebt es uns, die Toten beider Seiten gegeneinander aufzurechnen. Doch angesichts der einseitigen antirussischen Berichterstattung und Propaganda in den West-Medien muss daran erinnert werden, dass 40 000 irakische Zivilisten mindestens viermal so viel wie in Aleppo - seit August 2014 durch die Bomben der US-Geführten Koalition starben. Davon allein 15 000 in der Region Mosul. Seit 1980 haben allein die USA 14 muslimische Länder überfallen, besetzt oder bombardiert. Nicht ein einziges Mal griff in den letzten zwei Jahrhunderten ein muslimisches Land den Westen an. „Die deutsche Bundesregierung“, schreibt Jürgen Todenhöfer, „sitzt wie der gesamte westliche Mainstream in der ‚Fankurve‘ der USA und 4
betreibt ‚Fankurven-Politik‘: Danach sind amerikanische Bomben gute Bomben, russische Bomben böse Bomben. Moralische Objektivität darf man von Fans nicht erwarten… Al-Quaida und der IS haben in den letzten 20 Jahren mit ihren Terroranschlägen im Westen rund 5000 Menschen ermordet. Inklusive der Anschläge vom 11. September 2011. Wir haben uns zu Recht über diese Anschläge entsetzt…Aber der Westen hat laut Organisation ‚Ärzte gegen den Atomkrieg‘ seit 2001 allein im Irak, in Afghanistan und in Pakistan den Tod von 1,3 Millionen Menschen auf dem Gewissen. Doch es waren eben ‚nur‘ Iraker, Afghanen, Pakistaner.“(zit. nach der Freitag, 5. Januar 2017) Auch bei der Evakuierung der Rebellen durch syrische, iranische und russische Militärs haben wir in den hiesigen Medien immer nur von einer schuldigen Kriegspartei gehört: Russland und Iran. Als aber die Rebellen für jedermann ersichtlich acht syrische Busse, die zur Evakuierung der Rebellen und ihrer Familien gekommen waren, in Brand geschossen haben, waren die selben Medien plötzlich sprachlos, es gab kaum Berichte darüber, warum die Rebellen diese Tat begangen haben. - Wenige Tage nachdem die Evakuierung Aleppos als beendet erklärt wurde, haben bei ihrem Treffen in Ankara Russland, die Türkei und Iran eine Garantie dafür angeboten, dass ab jetzt der Syrienkonflikt auf diplomatischem Wege und durch Verhandlungen beendet werden sollte. Auch hier müssen wir mit Bitterkeit feststellen, dass sich kein einziger westlicher Politiker darum bemüht hat, Wladimir Putin, Hassan Rouhani und Recep Tayyib Erdogan beim Wort zu nehmen und ihr Garantieangebot als wichtig und konstruktiv hervorzuheben. Westliche Politikerinnen und Politiker scheinen nicht in der Lage zu sein, auf solche friedenspolitisch sehr wichtigen Signale zu reagieren. Es befremdet uns außerordentlich, dass die West-Medien, auch die UnterzeichnerInnen des antirussischen Aufrufs, mit keinem Wort die fatale US-amerikanische Politik des Regime Change im Nahen und Mittleren Osten erwähnen, geschweige denn kritisieren. Sind doch das offenkundige Ergebnis dieser Politik lauter „failed states“, sog. gescheiterte Staaten, die den Nährboden für die weitere Ausbreitung des Terrorismus und den Hauptgrund für die anhaltenden Flüchtlingsströme bilden. Wie blind- fragen wir- muss man eigentlich sein, um eine schwer zu leugnende Realität zu übersehen? Dem Syrien-Experten Prof. Günter Meyer wie auch Michael Lüders zufolge, dem kenntnisreichsten Mittelund Nahostexperten in Deutschland, tragen die US-Regierung mit George W. Bush die Hauptverantwortung auch für den Syrienkrieg, weil sie mit dem Einfall in den Irak unmittelbar die Rahmenbedingungen für 5
die Entstehung des IS geschaffen haben. Die USA und Deutschland haben Saudi-Arabien, den Hauptwaffenlieferanten des IS und anderer Terrorgruppen, die am Syrienkrieg beteiligt sind, seit 2010 mit über 130 Milliarden Dollar massiv aufgerüstet und damit einem gefährlichen Wettrüsten im Mittleren Osten kräftigen Aufschub erteilt. Der katholische Theologe Eugen Drewermann hat diese Politik kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Bereits 1991 stellte Paul Wolfowitz, Berater mehrerer US-Präsidenten und späterer Weltbankchef, eine höchst korrupte Persönlichkeit, die Agenda auf, die jetzt abgearbeitet wird: wie man den Irak und Syrien zerstört, wie man Libanon, die Hisbollah destabilisiert, Libyen angreift, den Iran dazwischen nimmt. Man kann von Glück sagen, dass Obama gegen Ende seiner Amtszeit diesen Spuk beendete, hatten doch die Israelis alle paar Tage damit gedroht, der angeblichen atomaren Gefahr, die vom Iran ausgehe, durch einen Großangriff zu begegnen.“ (www.jungewelt.de/2016/12.14/069.php) Angesichts all dieser Tatsachen und des neuen Kalten Krieges zwischen dem Westen und Russland, der immer mehr Fahrt aufzunehmen scheint, sind wir außerhordentlich besorgt über die einseitige pro-westliche und anti-russische Parteinahme wider besseren Wissens. Wir rufen deshalb alle gesellschaftliche Gruppen dazu auf, sich zusammen mit der Friedensbewegung für konflikt- und kriegsvorbeugende Wege in die politischen Auseinandersetzung einzubringen, die es z. B. für den Mittleren Osten schon immer gegeben hat und auch heute noch gibt: Gemeint ist eine internationale Initiative für Kooperation und gemeinsame Sicherheit für den gesamten Mittleren und Nahen Osten, die die absehbare Entwicklung in der Region als weltpolitisches Pulverfass verhindert hätte. Auch heute müsste eine solche Perspektive vor den Anfang einer jeden Genfer Syrienkonferenz gestellt werden Prof. Dr. Elmar Altvater, Prof. Dr. Rudolph Bauer, Prof. Dr. Armin Bernhard, Dr. Axel Bust Bartels, Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Prof. Dr. Frigga Haug, Prof. Dr. Wolfgang F. Haug,Prof. Dr. Birgit Mahnkopf, Prof. Dr. Mohssen Massarrat,. Prof. Dr. John P. Neelsen, Prof. Dr. Norman Paech, Prof. Dr. Michael Schneider, Dr. Fritz Storim, Prof. Dr. Frieder Otto Wolf Berlin, 25. Januar 2017
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Kein Beitrag zum Frieden Eine Antwort auf die „Erklärung zum Syrienkrieg“, von einigen Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats von attac Deutschland Im Dezember 2016 protestierten SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und AktivistInnen aus Deutschland und Syrien vor der russischen Botschaft in Berlin gegen den Bombenhagel der russischen Luftwaffe auf Ost-Aleppo und andere Orte in Syrien. 14 ProfessorInnen aus dem Wissenschaftlichen Beirat von attac haben insbesondere die InitiatorInnen der Kundgebung in einer „Erklärung zum Syrienkrieg1” scharf kritisiert: Nicht Russland, sondern die USA trügen die Hauptverantwortung für den Syrienkrieg, so behaupten die AutorInnen. Die mit akademischen Würden durchaus nicht geizenden ProfessorInnen greifen dabei in der „Erklärung” auf Quellen zurück, die einer seriösen Überprüfung nicht standhalten. Zudem trägt die „Erklärung” nicht zu einer Fakten gestützten Debatte zu Syrien bei, sondern sie relativiert durch eine ideologische Sichtweise auf den Syrienkonflikt Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch russisches und iranisches Militär, sie verschweigt zentrale Tatsachen und sie geht in paternalistischer Manier über die eigentlich Betroffenen hinweg. Jenseits der Frage, wer den Krieg begonnen hat, ist festzuhalten: Putins brutaler Krieg gegen Aleppo war und ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Auch wenn die „Erklärung“ keine große öffentliche Aufmerksamkeit weckte, wollen wir – syrische BürgerrechtlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, SchriftstellerInnen und Adopt a Revolution – als InitiatorInnen der Friedensproteste darauf antworten, weil sich ähnliche Argumentationsmuster mit dem gleichen parternalistischen Ansatz in der Syriendebatte leider immer wiederfinden. Unsere Kritik bezieht sich auf fünf Aspekte: 1. Die Frage der Quellen Natürlich ist eine politische Erklärung kein wissenschaftlicher Text. Für eine fundierte Debatte ist es jedoch unerlässlich, dass die Quellen benannt werden, auf denen die Tatsachenbehauptungen fußen. Aus diesem Grund haben wir die AutorInnen zweimal gebeten, uns ihre Quellen anzugeben, damit wir die Fakten überprüfen können. Eine Antwort blieb aus. Dies irritiert uns insbesondere deshalb, weil der Text Tatsachenbehauptungen und Zahlenangaben beinhaltet, die trotz intensiver Recherche nicht nachzuvollziehen sind – und gerade in der Debatte um den Konflikt in Syrien kursieren häufig „alternative Fakten“. Ein Beispiel: Auf Seite 4 des Papiers schreiben die AutorInnen, dass „40 000 irakische Zivilisten mindestens viermal so viel wie in Aleppo - seit August 2014 durch die Bomben der US-geführten Koalition starben“. Diese Zahl nutzte bereits Jürgen Todenhöfer im Freitag – auch dort gegen alle journalistischen Standards ohne Quellenangabe2. Weitere verschwörungstheoretische Blogs berufen sich auf diese Zahl, ohne dass eine überprüfbare Quelle dafür genannt wird. Der Iraq Body Count3 – wahrlich keine der US-Regierung nahestehende Quelle – kommt für den Zeitraum März 2014 bis Dezember 2016 auf die Zahl von 3.709 getöteten ZivilistInnen durch die Bomben der US-geführten Koalition. Das unabhängige Monitoringprojekt Air Wars4 geht im Zeitraum August 2014 bis Ende Februar 2017 von einer Zahl zwischen 2.463 und 3.580 durch die US-geführte Koalition getöteten ZivilistInnen aus. Diese Zahlen sind empörend und öffentliche Kritik daran ist dringend geboten. Jede/r einzelne Tote ist eine Tragödie. Aber die beiden transparent erhobenen Opferstatistiken sind von der behaupteten Zahl von angeblich 40.000 von der 1
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/170126-erklaerung-wiss-Beirat-zu-syrien-3Fassung.pdf
2
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-bumerang-des-westens
3
https://www.iraqbodycount.org/
4
https://airwars.org/
US-geführten Koalition getöteten ZivilistInnen weit entfernt. Solange für diese Zahl keine belastbare Quelle vorliegt, ist nicht auszuschließen, dass die AutorInnen hier einer gezielten Desinformation aufgesessen sind. 2. Der Fokus auf die USA Für die AutorInnen liegt die Verantwortung für die dramatische Entwicklung in Syrien ganz zentral bei den USA. Auch wir sehen und kritisieren die Kriegsverbrechen des US-Militärs in Syrien: Ob gezielte Tötungen mit Hilfe von Drohnen, der Einsatz von Uranmunition auch in Syrien oder die Militärschläge gegen den sogenannten „Islamischen Staat“, bei denen es immer wieder zu zivilen Toten kommt - all dies muss aufgeklärt und geahndet werden5. Doch die in der Erklärung suggerierte These, der Imperialismus der USA sei schuld am Krieg in Syrien, ist falsch. Die dafür genannten oder zitierten Argumente halten einer Überprüfung nicht stand:
Das Argument des langen Plans der US-Außenpolitik. Dem Papier zufolge soll es bereits im Jahr 2001 den großen Plan der US-Regierung gegeben haben, in sieben Staaten – darunter Syrien – einen Regimewechsel durchzuführen. Zwar hatte die Bush-Administration Syrien im Jahr 2002 zur erweiterten „Achse des Bösen” gerechnet. Daraus abzuleiten, dass diese Politik über die Bush-Administration hinaus Bestand gehabt hätte, und damit das Verhalten der US-Außenpolitik seit Beginn des Aufstands in Syrien im März 2011 zu erklären sei, entbehrt jeglicher Grundlage. Seit 2009 hat die Obama-Administration den Kurs der USRegierung in Bezug auf Syrien fundamental geändert. Dies belegen neben der Einsetzung des ersten US-Botschafters in Damaskus nach zehn Jahren im Jahr 2010 auch die fünf Treffen zwischen US-Außenminister John Kerry mit Bashar al-Assad zwischen 2009 und 2011. In dem Zusammenhang beschrieb Kerry Syrien übrigens als „an essential player in bringing peace and stability to the region“. Statt auf weitere Aufrüstung in der Region setzte die Obama-Administration zudem auf einen militärischen Rückzug aus dem Nahen Osten – etwa aus dem Irak. Dieser fundamentale policy change der letzten acht Jahre in der USAußenpolitik wird in der Erklärung jedoch mit keinem Wort erwähnt. Das wird einer seriösen Analyse nicht gerecht.
USA als Hauptverantwortliche für den Syrienkrieg. Auf Seite 5 der Erklärung schreiben die AutorInnen, die US-Regierung trage die Hauptverantwortung für den Syrienkrieg, weil sie im Irak die Rahmenbedingungen für die Entstehung des so genannten „Islamischen Staats“ geschaffen habe. Schon alleine aufgrund der zeitlichen Abfolge der Ereignisse ist das Argument nicht nachvollziehbar. Der so genannte „Islamische Staat“ beziehungsweise seine Vorläuferorganisationen erlangten in Syrien erst im Jahr 2013 eine militärische Relevanz, während kriegerische Auseinandersetzungen im Land bereits ab Ende 2011 nach der Gründung der „Freien Syrischen Armee“ durch Deserteure aus der syrischen Armee stattfanden. Von März 2011 bis April 2014 waren in Syrien nach Angaben des UNHCR bereits mindestens 92.901 Menschen in Folge des Konflikts ums Leben gekommen.6
Die USA unterstützen eine Armee von Dschihadisten. Es kann nicht bestritten werden , dass die US-Regierung in Syrien auch militärische Gruppen unterstützt hat, die sich mittlerweile radikalisiert haben und „Tahrir al-Sham“ (dem Nachfolger der al-Qaida-nahen „Jabhat alNusra“) nahe stehen. Die große Mehrheit der von den USA unterstützten bewaffneten Gruppen – so sie denn noch existieren – werden jedoch auch von der russischen Regierung als „moderate Rebellen“7 bezeichnet. (Als ‚moderat‘ bezeichnet die russische Regierung
5
https://www.adoptrevolution.org/trump-in-syrien-keine-ruecksicht-auf-zivilisten/
6
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-06/syrien-krieg-vereinte-nationen-tote
7
http://eng.mil.ru/en/news_page/country/more.htm?id=12107227@egNews
allerdings auch radikalreligiöse, beziehungsweise islamistische Gruppen von Bewaffneten wie „Ahrar al-Sham“ oder „Jaysh al-Islam“ – eine Einschätzung die wir in keiner Weise teilen können.) Für die Behauptung, die USA hätten gemeinsam mit anderen, darunter auch Israel, eine Armee von Dschihadisten aufgebaut (S. 1 f), fehlt jegliche Quellengrundlage. Anders als in der Erklärung dargestellt, hat dies auch der zitierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh 2007 nicht behauptet.8 Interessant ist, dass trotz des starken Fokus‘ auf die Rolle der US-Regierung in Syrien, in der Erklärung die militärische Gruppierung völlig unerwähnt bleibt, die am stärksten durch die US-Regierung unterstützt wird: die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG, dem syrischen Arm der PKK. An diese lieferte das US-Militär nicht nur Munition und Waffensysteme, sondern stellt ihnen auch Militärberater zur Seite und leistet Luftunterstützung, die faktisch einer Flugverbotszone gleicht. Den drei genannten Beispielen entsprechend lässt sich die von den AutorInnen unterstellte massive Schuld der USA am Syrienkonflikt weder mit den von ihnen zitierten Quellen belegen noch aus den tatsächlichen Handlungen der US-Regierung ableiten. Die Konzentration auf die alleinige Schuld der US-Regierung läßt die AutorInnen die komplexe, multipolare Interessenlage vergessen, die wir heute – übrigens nicht nur – in Syrien vorfinden. Sie macht sie blind gegenüber der Politik derjenigen Staaten, die in Syrien eine deutlich aggressivere imperialistische Politik verfolgen als die USA - darunter Russland und der Iran genauso wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Deshalb wäre vielmehr die Frage durchaus offen zu diskutieren, ob nicht die Rückzugspolitik der USRegierung negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Konflikts in Syrien hatte, weil sie dadurch Spielräume für andere Akteure ermöglicht, die ihre Eigeninteressen auf noch rücksichtslosere Weise verfolgten. 3. Kein Beitrag zur Versachlichung der Debatte Die Erklärung beklagt eine einseitige „pro-westliche“ Berichterstattung zu Syrien (S. 6) und fordert eine Versachlichung der Debatte. Leider verpassen die AutorInnen aufgrund ihrer ideologisch bedingten Fokussierung auf das alte Feindbild USA wie oben erwähnt nicht nur, sich mit der Politik derjenigen Staaten auseinanderzusetzen, von denen zweifelsohne Aggression und imperialistische Handlungen in Bezug auf Syrien ausgehen. Sie machen in der Erklärung den Fehler, den sie den TeilnehmerInnen der Friedensdemonstrationen vor der russischen Botschaft vorwerfen: Die ProfessorInnen schreiben Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nur der einen Seite zu – unterschlagen Fakten und blenden die Verbrechen aller anderen Akteure aus. So richtig es ist, darauf hinzuweisen, dass die Gräueltaten bewaffneter oppositioneller Gruppen medial zu wenig Beachtung finden, so selbstverständlich müssten gerade aus einer linken Perspektive heraus Menschenrechtsverbrechen unabhängig von den TäterInnen kritisiert werden. Eine politische Sympathie für die eine oder andere Seite darf nicht zu einer Relativierung von deren Verbrechen führen. Daher ist es mehr als befremdlich, dass die Erklärung die massiven Verbrechen des russischen Militärs und iranischer Milizen nicht nur verschweigt, sondern es gar für „absurd” hält, Russland für die Anwendung massiver militärischer Gewalt zu kritisieren (S. 1). Universelle Werte werden hier selektiv für politische Zwecke geopfert. Über der Parteinahme für die russische und iranische Politik („Russland und Iran haben zunächst alle Möglichkeiten für eine diplomatische und friedliche Lösung des Konfliktes ausgeschöpft“, S. 1), blenden die ProfessorInnen völlig aus, dass Russland seit Beginn des Aufstands in Syrien im UN-Sicherheitsrat sechs Resolutionen zu Syrien per Veto blockiert hat, die mit nicht-militärischen Mitteln nach einer Lösung des Konflikts suchten.9 8
Gemeint ist vermutlich der Artikel „The Redirection“ erschienen in „The New Yorker“ am 5. März 2007. Online auffindbar unter:
http://www.newyorker.com/magazine/2007/03/05/the-redirection
9
Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Vetoed_United_Nations_Security_Council_resolutions_on_Syria
Und schließlich greift die Erklärung zu einer zynischen Verkehrung der Tatsachen und zur Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Kriegs gegen Ost-Aleppo: „erst als sich dieser Versuch (zur friedlichen Beilegung) als aussichtslos erwies, haben sie (Rußland und Iran) militärisch eingegriffen und den Krieg in Aleppo vorerst beendet“. „Alternative Fakten“ nennt man das heutzutage. Ein weiteres, besonders irritierendes Beispiel für diese Einseitigkeit ist die lange Abhandlung zum Giftgaseinsatz in Syrien. Neben der Streuung falscher Fakten10 – werden lediglich solche Indizien angeführt, die nur einen Schluss zulassen sollen: Die syrische Armee unter Assad könne nicht verantwortlich sein für den tödlichsten Giftgaseinsatz des 21. Jahrhunderts. Indizien, die einen anderen Schluss erlauben, etwa dass das Assad-Regime tagelang die Untersuchung der Vorfälle durch UN-Chemiewaffeninspektoren untersagte, dass es seitens des syrischen Regimes bis heute keinerlei medizinische Hilfe für die Opfer des Chemiewaffenangriffs gab, sondern im Gegenteil, die vom Giftgas betroffenen Gebiete in der Folge weiter belagert wurden und weiterem massiven Beschuss und Luftangriffen seitens der syrischen Armee ausgesetzt waren, dass dem Assad-Regime durch einen UN-Bericht auch an anderen Orten der Einsatz von Giftgas als Kampfstoff nachgewiesen wurde11, oder dass die Analysen zahlreicher investigativer Medien von der New York Times bis zum Spiegel in der Breite zu einer anderen Einschätzung kommen - all diese Indizien bleiben unerwähnt. Wir können - anders als die AutorInnen der Erklärung es für ihre Version suggerieren - bis heute nicht eindeutig sagen, wer für den Giftgas-Angriff im Sommer 2013 verantwortlich war. Dies steht auch im Zusammenhang damit, dass die russische Regierung bis heute im UN-Sicherheitsrat eine strafrechtliche Verfolgung des Einsatzes von Chemiewaffen in Syrien blockiert.12 Fest steht jedoch, dass das Militär des Assad-Regimes nach wie vor chemische Waffen, insbesondere Chlorgas, auch in Wohngebieten einsetzt.13 Wer wirklich etwas zur Versachlichung der Debatte über die Verantwortlichkeiten im Syrienkonflikt beitragen möchte, sollte sich auch mit diesen Fakten auseinandersetzen. 4. Das Verschweigen von Fakten Wie bereits oben im Zusammenhang mit dem Einsatz von Chemiewaffen in Syrien skizziert, mangelt es der Erklärung nicht nur an stichhaltigen Fakten, sondern es ist vor allem die bewußte Auslassung bestimmter Hintergründe und seriöser Quellen, die zu einer massiven Verzerrung des Bildes des Syrienkonflikts führt. Auf der einen Seite beklagen die AutorInnen, dass die russische Regierung nicht für ihren Beitrag zur chemischen Abrüstung in Syrien gewürdigt werde (S. 3), auf der anderen Seite ignorieren sie die zahlreichen Berichte über den russischen Einsatz international geächteter Waffen14 und Angriffe auf zivile Infrastruktur15 . Die Erklärung stellt Assad als angeblichen Beschützer der Minderheiten und den so genannten „Islamischen Staat” als seinen Hauptgegner dar. Gleichzeitig verschweigt sie, dass das Militär des Assad-Regimes und die russische Luftwaffe seit September 2015 vor allem die oppositionellen Gruppen angegriffen haben und nicht vorrangig Ziele der IS-Terrormiliz. 10
etwa die Behauptung, US-General Martin Dempsey hätte in einem Bericht erklärt, das am 21. August 2013 in Ghouta eingesetzte Sarin stamme nicht aus den Arsenalen
des syrischen Regimes (S. 3) Der entsprechende UN-Bericht kommt zu einem anderen Ergebnis. Vgl. http://www.refworld.org/docid/53182eed4.html
11
Vgl. http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-08/syrien-baschar-al-assad-militaer-chemiewaffen-zivilisten-un-bericht
12
Vgl. https://www.swp-berlin.org/kurz-gesagt/chemiewaffenangriffe-in-syrien-muessen-geahndet-werden/?type=98. Selbst die Sammlung von Fakten durch die UN, um
Kriegsverbrechen in Syrien für eine spätere Verwertung durch die internationale Strafgerichtsbarkeit zu sichern, musste die UN-Vollversammlung beschließen, weil der UNSicherheitsrat in dieser Fragen durch die Stimme Russlands blockiert war.
13
Vgl. den bereits zitierten UN-Bericht vom Sommer 2016.
14
Vgl. u.a. https://www.hrw.org/sites/default/files/supporting_resources/incendiaries-5_year_review-final_0.pdf, https://www.hrw.org/de/news/2015/10/13/syrien-berichte-
ueber-einsatz-neuartiger-russischer-streumunition, https://www.hrw.org/news/2015/12/20/russia/syria-extensive-recent-use-cluster-munitions
15
Vgl. u.a. https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/03/syrian-and-russian-forces-targeting-hospitals-as-a-strategy-of-war/
Das systematische Töten durch das Militär des Assad-Regimes (durch Luftangriffe unter anderem mit durch UN-Resolution 2139 geächteten Fassbomben genauso wie in den Foltergefängnissen des Regimes16) findet in der Erklärung der WissenschaftlerInnen nicht statt. Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, Physicians for Human Rights, Ärzte ohne Grenzen oder medico international – Organisationen, die sowohl seit langem für kritische, fundierte Berichte stehen und seit Jahren mit lokalen Partnern in Syrien zusammenarbeiten – lassen die AutorInnen der Erklärung vollständig unberücksichtigt. Diese Organisationen haben schon in der Vergangenheit einen Beitrag zur Versachlichung geleistet, weil sie nicht nur die Gewalt von oppositionellen Gruppen in Syrien kritisiert, sondern vor allem die massiven Menschenrechtsverbrechen des Assad-Regimes angeprangert und auch die Kriegsverbrechen des russischen Militärs immer wieder thematisiert haben. Durch die stark selektive Nutzung von Fakten entsteht ein extrem verzerrtes Bild des Syrienkonflikts. Von renommierten WissenschaftlerInnen hätten wir uns an dieser Stelle ein Mindestmaß an Auseinandersetzung mit Argumenten erwartet, die der eigenen politisch motivierten These entgegenstehen, anstatt diese einfach zu verschweigen. 5. Ein paternalistischer Ansatz Beim Lesen der Erklärung fällt auf, dass sie über die Ereignisse in Syrien und ihre Hintergründe berichtet, ohne SyrerInnen überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Wir halten diesen methodischen Ansatz für grundlegend falsch und letztlich paternalistisch. Die Unterzeichner reduzierendie Geschehnisse in Syrien auf fast ausschließlich von außen gesteuerte, geopolitische Interventionen und degradieren die SyrerInnen selbst damit quasi zu StatistInnen ihrer eigenen Geschichte. Die SyrerInnen werden nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die zunächst einmal selbst für die Entwicklungen verantwortlich sind -auf Seiten der Opposition- mit ihrem Aufstand für Selbstbestimmung im März 2011, -auf Seiten des Regimes- mit der gewalttätigen Unterdrückung der Protestbewegung und bei der anschließenden Militarisierung des Konflikts. Statt dessen dreht sich die Erklärung um einen Ansatz, der suggeriert, der Lauf der syrischen Geschichte werde von Washington aus gesteuert. Die Ignoranz gegenüber den vom Syrienkrieg unmittelbar Betroffenen setzt sich fort in der Ignoranz der AutorInnen gegenüber dem existentiellen Schutzbedürfnis der in Syrien lebenden Menschen. Ob sie ethnischen und religiösen Minderheiten angehören oder der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft – die Zivilbevölkerung in Syrien hat ein Anrecht auf Schutz vor Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Dass die – naturgemäß heterogenen – politischen Perspektiven von Syrerinnen und Syrern von den AutorInnen gänzlich unbeachtet bleiben, ist überraschend: Mittlerweile leben in Deutschland Hunderttausende Syrerinnen und Syrer, von denen viele bereit sind, über die Gründe ihrer Flucht und die politische Situation in Syrien zu sprechen. Bei den Protesten gegen die Bombardierung OstAleppos vor der russischen Botschaft waren Syrerinnen und Syrer am stärksten vertreten. Bezeichnend, dass die Erklärung zum Syrienkrieg sich explizit nur auf die in ihrer großen Mehrheit weiße, deutsche „Gruppe von Prominenten aus Kultur und Politik” (S. 1) bezieht – und die auf der Mahnwache zahlenmäßig am stärksten vertretene Gruppe der syrischen DemonstrantInnen einfach übergeht. Fazit Warum lassen sich 14 renommierte und engagierte ProfessorInnen zu einer solch unwissenschaftlichen und ungenauen Analyse zu Syrien hinreißen? Während zahlreiche von ihnenEnde 2012 noch den Friedensappell zu Syrien „Freiheit braucht Beistand“ unterzeichneten, 16
Vgl. https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/5415/2017/en/
lässt sich diese Erklärung kaum anders lesen als ein Zeugnis tiefgreifender antiamerikanischer Ressentiments und kritiklosem Wegsehen bei den Menschenrechtsverletzungen anderer Mächte. Die Konsequenzen dieser Haltung sind aus einer linken Perspektive, wie attac sie zu vertreten beansprucht, katastrophal: In Syrien selbst versperrt sie die dringend notwendige solidarische Perspektive für diejenigen, die im Land trotz Bombardements und Belagerungen durch das AssadRegime und seine Verbündeten und die trotz dschihadistischem Terror weiter an emanzipatorischen Projekten arbeiten. Auf der geopolitischen Ebene versperrt sie den Blick auf eine weitaus komplexer gewordene Welt, in der mehr als nur zwei Akteure relevant sind – und sie verhindert damit auch die Entwicklung von menschenrechtspolitischen Ansätzen, die dieser Komplexität Rechnung tragen. Stattdessen befeuert die der Erklärung zugrunde liegende Haltung eine simplifizierende, populistische Pseudo-Analyse, nach der stets die USA bzw. „der Westen” an negativen Entwicklungen auf der ganzen Welt schuld seien – eine Meinung, die sich auf innenpolitischer Ebene in der AFD, in Teilen der Linkspartei, aber auch innerhalb der SPD großer Beliebtheit erfreut und im antiamerikanischen Umkehrschluss allen sich als antiwestlich gerierenden Akteuren - von Putin über den Gottesstaat Iran bis zum Assad-Regime - selbst angesichts schwerster Verbrechen die Absolution erteilt.Vor allem aber unterminiert diese Haltung die Idee der universalen und unveräußerlichen Menschenrechte. Es sollte nun wirklich kein Problem darstellen, vor der russischen Botschaft gegen die massiven Luftangriffe auf Ost-Aleppo zu protestieren, und gleichzeitig die dschihadistischen Milizen für die von ihnen in Ost-Aleppo begangenen Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren. Es sollte kein Problem sein, gegen die Kriegsverbrechen der iranischen und russischen Verbündeten des Assad-Regimes zu demonstrieren, und zugleich Verbrechen anzuprangern, die Saudi-Arabien mit US-amerikanischen oder deutschen Waffen im Jemen verübt. Und es sollte kein Problem sein, Hungerblockaden, Folter und Bombardements durch die Assad-Armee zu verurteilen, und gleichzeitig oppositionelle Milizen anzuprangern, wenn diese Wohnviertel beschießen oder politische GegnerInnen entführen. Eine umfassende Debatte, die nicht mehr um „den Westen” und „den Osten” kreist, sondern auf dem Grundsatz der Universalität der Menschenrechte basiert und in Solidarität mit den Betroffenen geführt wird, könnte ein positiver Beitrag zur Friedenspolitik sein. Die Erklärung ist es in ihrer Selektivität nicht. Frank Herterich und Peter Schneider Initiatoren des Protestes der Schriftsteller am 07.12.16 vor der Russischen Botschaft Lara Qabbani und Anas Albasha InitiatorInnen der Friedenskundgebung am 12.12.16 vor der Russischen Botschaft Mohammad Abu Hajar und Elias Perabo (Adopt a Revolution) Initiatoren der Friedensdemonstration am 13.12.16 von der US zur russischen Botschaft Berlin/Leipzig, 30. März 2017