2009-11 Hartmut Rueffert - Rede in Borna

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Leipziger Volkszeitung (LVZ) Borna-Geithain, Titelseite vom 6. November 2009


Leipziger Volkszeitung (LVZ) Borna-Geithain vom 7. November 2009, S. 19.


Leipziger Volkszeitung (LVZ) Borna-Geithain vom 7. November 2009, S. 19.


Rede am 5. November 2009 zum Festakt der Stadt Borna zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde, erlauben Sie mir vorab einige Sätze, die einfach gesagt werden müssen, denn dass Gunter Weißgerber und ich heute überhaupt hier sprechen können, haben wir Ihnen zu verdanken. Ich danke ausdrücklich den Fraktionen von CDU, SPD, FDP /Freie Wähler, den Fraktionsvorsitzenden Roland Wübbeke, Dietmar Stein und Jochen Steinhäuser. Und in gewisser Weise bedanke ich mich auch bei Ihnen, Frau Luedtke. Durch ihre sehr eigene Art mit Geschichte umzugehen und den Fraktionen das Handeln zu erschweren, haben sie Wind gesät. Der bläst Ihnen nun ins Gesicht. Was wir dabei in Borna erlebt haben, war keine von niederen Instinkten geleitete Schlammschlacht, wie uns Herr Knorr weißmachen wollte, sondern gelebte Demokratie mit außerparlamentarischer Aktivität. Die Zeit, dass eine Partei bestimmt, wohin die Reise geht, ist zum Glück vorbei. Die Worte Dietmar Steins zu den letzten beiden Stadtratssitzungen waren die notwendige Antwort darauf, vielen Dank. Und mit Konspiration, Herr Natsidis, hat das auch nichts zu tun, wenn sich demokratische Parteien zum fraktionsübergreifenden Meinungsaustausch treffen. Des Weiteren möchte ich das wunderbare Rundfunkblasorchester Leipzig, das einzige zivile Blasorchester Europas, dessen Arbeit und musikalische Qualität ich sehr schätze, um Verständnis bitten, dass sich ihr großer Auftritt zeitlich ein wenig verzögert. Und noch eine Vorbemerkung. In der öffentlichen Darstellung werden die Ereignisse vom Herbst `89 oft zusammengerafft und ohne Vorgeschichte dargestellt. Es gab ein paar Friedensgebete, dann Demonstrationen – als 70.000 um den Ring zogen, kapitulierte die Staatsmacht, Schabowski verhaspelte sich und die Mauer war offen, dann hat Kohl ein bisschen verhandelt und fertig war die deutsche Einheit. So einfach war’s wohl nicht. Meine Damen und Herren, was glauben Sie, waren die Ursachen dafür, das im Herbst vor 20 Jahren erst Hunderte, dann Tausende, schließlich Hunderttausende auf die Straßen gingen? Das schöne Wetter, unter dem Motto: Goldener Herbst ? Oder die Aussicht auf Bockwurst und Bier wie zum 1. Mai ? Oder weil die SED Reformen versprach ? Nichts von alledem. Wir sind auf die Straßen gegangen, weil wir es satt hatten, die täglichen Lügen zu ertragen. Weil wir uns nicht mehr erniedrigen wollten, weil wir so nicht mehr leben wollten. Wir sind auf die Straßen gegangen, um dem einseitigen Machtanspruch öffentlich zu widersprechen (die Partei, die Partei hat immer recht – was für ein dummes Zeug). Weil wir es satt hatten, zurechtgeschwindelte Wahlergebnisse anzuerkennen. Weil wir es satt hatten, unseren Kindern Heuchelei beizubringen. Das darfst du sagen – aber das lieber nicht. Weil wir nicht mehr wollten, dass der Parteifunktionär entscheidet, was Recht ist, anstatt ein unabhängiges Gericht. Und wir wurden mehr, wurden mutig … überwanden unsere Angst und hatten Kraft dem Staat und seinen Repressalien zu widerstehen. Erst zaghaft, noch geduckt und oft den Schutz des Kirchendaches suchend, später selbstbewusst und frei, die offene Konfrontation herausfordernd.


„Revolution, ist das Morgen schon im heute Ist kein Bett und kein Thron für den Arsch zufriedner Leute“ sang die Gruppe Renft schon Anfang der 1970er Jahre. Und sie wurden erneut verboten, es sollte für immer sein. „Es war doch nicht alles schlecht in der DDR“ höre ich immer wieder die Menschen sagen, ihre eigene Biografie schützend. Der Staat war schlecht liebe Freunde. Er hat gefoltert, er hat gemordet, er hat Lebenswege zerschnitten und umgeleitet. Das freie Wort – verboten. Die freie Schrift – verboten. Wenige Zeilen reichten, um zum Staatsfeind zu werden. Das Leseland DDR war eben auch das Land der verbotenen Bücher, der verbotenen Lieder. In einem Gedicht des Lyrikers Rainer Kunze heißt es dazu: Auf einen Vertreter der Macht oder ein Gespräch über das Gedichteschreiben

sie vergessen, sagte er, wir haben den längeren arm

dabei ging es um den Kopf

Eine Paranoia der Angst wurde über das ganze Land gelegt. Als ob man vom Sandmännchen und dem grünen Pfeil leben könnte. Die DDR war schlecht liebe Freunde. Sie hat uns gefangen gehalten im Käfig. 6 h hoch und 4 h breit. Und selbst in diesem Käfig keine Freiheit. Diese ewige Kontrolle des Gewissens, die psychischen Zersetzungsmaßnahmen. Kein Wunder, dass so Viele dem Land den Rücken gekehrt haben. Und selbst das war mit einer jahrelangen zermürbenden Gängelei verbunden. So toll war die DDR, dass es 1989 allein im Bezirk Dresden über 30.000 Ausreiseanträge gab. Allein in diesem Bezirk waren etwa 100.000 Menschen nicht mehr bereit, in diesem schönen liebenswerten, von der ganzen Welt ob seiner gedopten Leistungssportler geachteten Land, im Land der grünen Wälder und sauberen Flüsse zu leben. Sie waren fest dazu entschlossen sich dem bösen revanchistischen Kapitalismus an den Hals zu werfen. Diese Menschen waren in diesem ach so wunderbaren Land so verzweifelt, dass sie in Kauf genommen haben, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen, ihre Häuser (sofern es die gab) an den Staat abzugeben. Zu erdulden, dass die Kinder in der Schule schlechter benotet und vor der Klasse ob der Meinung ihrer Eltern getadelt wurden. Sie haben in Kauf genommen, dass Freundschaften zerbrachen und, dass man sich nie wieder sah. Ich habe selbst mehrere Freunde zwischen 1985 und `89 verabschiedet, für immer. Man wirft mir gern eine gewisse Unterkühltheit vor, Freunde, das täuscht. Es ging ja nicht um eine Urlaubsreise, es gab keine Rückfahrkarte. Die beklemmenden Stunden davor, mit den letzten Freunden in einer leergeräumten Wohnung. Dann der Weg zum Bahnhof, der Bahnsteig gesäumt von der Staatsmacht in Zivil. Der Abschied, für immer. Ich weiß bis heute nicht, wie ich dieses Gefühl beschreiben soll. Dort habe ich gelernt mich schnell zu verabschieden. Keine Tränen, nicht vor denen, die nur darauf gewartet haben, unsere Ohnmacht auszuspähen. Also lasst uns trennen, den Unrechtstaat und von den Menschen. Auch in einem solchen Staat konnte man anständig leben. Aber machen wir uns nichts vor, die beruflichen Möglichkeiten waren begrenzt, die Entwicklungschancen der Kinder derer ebenso. Liebt euere Nische, aber sie ist eine Sackgasse. Und nun ist kräftiger Wind hineingeweht, von der anderen Seite. Hat Manchem die stickige Gemütlichkeit weggeblasen und nun beschwert er sich ob der sozialen Kälte. Dabei ist er es selbst, der seinen Nachbarn abblitzen lässt und wegen jeder Kleinigkeit einen Streit vom Zaune bricht. Lasst uns erkennen, wie das Land funktioniert hat, wie es bis ins kleinste Detail unser Leben zu beeinflussen versuchte. Gemessen an den heutigen Möglichkeiten medizinischer und sozialer Betreuung war die DDR nicht mal ein Sozialstaat, höchstens eine Sozialkulisse. Die Umweltbedingungen hatten in vielen Regionen ein Ausmaß angenommen, dass man von Vergiftung sprechen musste. Ich habe einige Jahre in Mölbis gelebt und weiß sehr genau, was sozialistischer Umweltschutz bedeutete:

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Auszug aus dem Buch „Zwischen Romanik und Braunkohle“ : „Staatsbürgerkunde vor dem Hintergrund von Mölbis und Espenhain, unmöglich. Ist es denn gut für den Menschen, wenn er in solch erbärmlichen Betrieben Dreck und Gift schlucken muss ? Ist es denn gut, wenn nachts Krankenautos durch die Straßen rasen, weil Kinder Atemnot haben, weil mal wieder die Filter gezogen wurden ? Ist es denn in Ordnung, wenn dazu noch billiger Fusel gereicht wird, um den ganzen Dreck runterschlucken zu können? Ist es denn normal, dass das Gemüse aus dem Garten besser nicht gegessen wird, weil es vielleicht vergiftet ist ? Wie kann es sein, dass es mitten im Espenhainer Werk, zwischen all diesem Lärm und den Gasen eine Bettenstation gab ? Und wieso steht darüber nichts in der Zeitung ? Die Antworten sind bekannt, auch daran ist das land kaputtgegangen.“ Winter ohne Schnee Erfroren rotbraunes wuchert Im Ödland wie fellreste auf Geschundenem Leib Von fernen kraftwerken ziehen Geschwollne adern aus gas am Kaltblauen himmel Mit trauer hängenden drähten Spießen stahlmasten aus dem schlamm Wo bäume wuchsen Schwarze vögel hacken in Die narbe: hier leben nur Totenvögel und menschen Wo bäume wuchsen. Frank Sonntag, 1986

Nicht eure Biographien will ich kränken, wenn ihr doch nur erkennen möget, welche Blutspur kommunistische Diktaturen auf dieser Erde hinterlassen haben, auch in der DDR. Sie wollten die Besseren sein, was für eine Farce. Die Lager waren ja noch da, als sie wieder mit Andersdenken gefüllt wurden, wieder zu Tausenden, die Züge rollten wieder nach Osten, aber an Auschwitz vorbei in den GULAG nach Sibirien. Die SPD könnte ein Lied davon singen, ein sehr trauriges, umso unverständlicher, warum sie heute den Erben der SEDDiktatur so nah auf die Pelle rückt. 1953 dann der Aufstand der Werktätigen, der Aufstand des Proletariats, dem angeblich die Macht gehörte. Der 17. Juni bleibt ein wichtiges Datum in der Kette des Aufbegehrens und wir sollten ihn nie vergessen. Besonders die beiden Ereignisse 17. Juni 1953 und die Säuberungsaktionen der 1950er Jahre spielen heute in der öffentlichen Diskussion, außer ihrer Nennung selbst, kaum eine Rolle. Dabei sind die Zahlen erschreckend. Nur ein Beispiel: Während einer 1-jährigen ABM konnte eine Frau, keine ausgebildete Historikerin, im Landkreis Großenhain / Meißen, über 1.000 Menschen herausfinden, die weggebracht wurden und nie wieder kamen. Nun ist die Maßnahme ausgelaufen. Und hier in Borna? Siegfried Nass hat einige Fälle recherchiert und in einem Buch veröffentlicht, das im Museum der Stadt erhältlich ist. Nur die Spitze eines Eisberges ? 1956, der ungarische Aufstand, Prag 1968. Wie die Tschechen ihren Helden Jan Pallach heute noch ehren und ihren Dichter-Präsidenten Vaclav Havel, die Blumen auf dem Wenzelsplatz seit 1968, das Blumemeer seit 1989. Sie wissen, wem sie ihre Freiheit zu verdanken haben. Der Mauerbau am 13. August 1961 spielt zum Glück im öffentlichen Bewusstsein in Ost und West eine Rolle. Man konnte sie sehen, von beiden Seiten. Vor allem aber konnte man sehen, sie war gegen das eigene Volk gerichtet. Die Grenzschutzanlagen mit Stacheldraht und Selbstschussvorrichtungen dienten ausschließlich dazu, die eigene Bevölkerung am Übertritt zu hindern und zu erschießen. Charta 77 und dann Polen 1981, Solidarnosc, freie Gewerkschaften, das Land selbst im Kriegszustand freier und kritischer als die DDR. 3


Doch damit nicht genug, die Bespitzelungen wurden raffinierter, die Maßnahmen der Zersetzung komplexer. Mindestens 250.000 politische Gefangene hat es in der DDR gegeben. Das bedeutet bei ca. 16 Mio. Einwohnern und etwa 2 Generationen, dass jeder 64. Bürger der DDR ein politischer Gefangener war. Für die Stadt Borna bedeutet das, dass es in Borna etwa 390 Menschen gab und gibt, die aus politischen Gründen in der DDR inhaftiert waren. Und wen kennen Sie meine Damen und Herren und warum stehen diese Menschen heute nicht hier auf der Bühne ? Deshalb exemplarisch für alle nicht bekannten Bornaer Opfer des SED-Regimes eine Biographie: Gudrun Jugel, Borna Geboren 1951, mit 17 Jahren inhaftiert, verurteilt nicht nach Jugendstrafrecht, wegen angeblich asozialem Verhalten 2 Jahre Gefängnis, davon 10 Monate in Leipzig, im Stasi-Knast Beethovenstraße, 5 Monate Einzelhaft, den Rest der Haftzeit im berüchtigten Frauenknast in Hoheneck. Im Gefängnis wurde die inoffizielle Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst erpresst. 1971 bis 1973 tritt sie regelmäßig mit Renft auf, liest die kritischen Texte von Gerulf Pannach zwischen den Musiktiteln, damit die Fans auch wissen, was da gesungen wird. Sie offenbart sich Gerulf Pannach, blitzartig bricht die Stasi den Kontakt ab, die Konspiration war aufgeflogen. Gudrun Jugel findet im Herbst 1989 beim NEUEN FORUM in Borna eine politische Heimat und neue Freunde. (Übergabe des 1. Rosenstraußes) Im Gründungsaufruf des NEUEN FORUM vom September 1989 heißen die ersten Sätze: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Beleg dafür sind die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht.“ Im VEB Musikelectronic Geithain beschäftigt, sammle ich Unterschriften für die Zulassung des NEUEN FORUM, als plötzlich über den Betriebsfunk ausgerufen wird, ich solle mich beim Direktor melden. Schnell verstecke ich die Papiere und sage allen, denen ich auf dem Weg zum Direktor begegne, dass mich die Stasi abholen wird. So ist es dann auch. Rein ins Auto, Stadtrundfahrt, konspirative Wohnung, Verhör: Zigarette? Was, Sie rauchen nicht? Aber wir! Hinsetzen, Name, Wohnort, Wissen sie doch. Wir wollen es von Ihnen wissen. Reden Sie. Wer sind ihre Hintermänner, wer hat unterschrieben? Sind wohl stumm geworden, Rüffert, oder was? Sie kommen hier nicht mehr raus, wenn Sie nicht reden, dass verspreche ich Ihnen. Dort hin setzen, schneller. Wer hat unterschrieben? Sie können es uns ruhig verraten, wir kriegen es sowieso heraus. Ich sehe aus dem Fenster in einen dunklen Hinterhof, in dem nur spärlich die Sonne hineinscheint. Zu mir spreche ich: Schöne grüne Blätter dort draußen, und das bisschen Sonne scheint nur für dich. Schweigen, du musst schweigen, du darfst nichts verraten, nichts verraten, nichts verraten. Hör nicht mehr hin, wenn sie fluchen und die gleichen Fragen zum hundertsten Mal stellen. Hör nicht mehr hin. Sie haben doch Kinder, oder? Es sind doch ihre Kinder, oder ist ihre Frau etwa fremdgegangen, ha ha ha. Ihre Scheidung steht an, wir wissen alles. Angst Die Angst zu sprechen Es muß das Wort im Munde bleiben wo ich nichts mehr vermag Es würd sich an mir rächen gellt laut es durch den Tag Die Angst zu lachen der Torheit närrisch Tanz Wo Macht sich dreht im Kreise Im schlimmeren Erwachen des Verdachts und Ignoranz

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Die Angst zu weinen im Lauten und im Stillen denn aufgestauter Schmerz könnte in mir keimen zu entsagen eignem Willen Die Angst der Angst nicht zu entrinnen treibt mir die Worte aufs Papier Ein Licht der Dunkelheit zu setzen mich wieder wiederzugewinnen Zu sprechen lachen weinen über das Entsetzen Dietmar Matzke, Anfang 1989 Nach Vernehmungen 1980 und 1988 durch den Staatssicherheitsdienst der DDR

Widerstand war möglich, aber es bedurfte einer gehörigen Portion Mut. Vom Griechischen Philosophen Heraklit stammt der Satz: „Veränderungen beginnen mit Mut und enden mit Glück.“ Ich hatte viel Mut und rückblickend muss ich sagen, noch viel mehr Glück. Als Totalverweigerer war mir klar, dass ich irgendwann meine 2 Jahre abzusitzen hatte. Die friedliche Revolution verhinderte dies. Die Linke feierte vor ein paar Jahren die Festnahme des chilenischen Diktators Pinochet in England und dessen Verurteilung. 3.500 Chilenen lies er verschwinden und ermorden. Allein in den beiden Gefängnissen und im Lager von Bautzen starben nach neuesten Forschungen ca. 16.000 Menschen. Zurück nach Borna. Offene Oppositionsarbeit in der DDR war fast unmöglich, deshalb auch nur schwer wahrnehmbar. Und doch gab es sie, auch in Borna. Seit 1983 gab es eine Gruppe Jugendlicher, die sich sonntags traf, bei mir unterm Dach, die konspirative Wohnung des MFS genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Einig waren wir uns, dass nur reden nicht hilft. Also Aktionen. Zu öffentlichen Versammlungen gehen, Fragen stellen. Das hatte sich schnell erschöpft, sofort wurde beschlossen, dass es geschlossene Versammlungen waren. Eingaben schreiben, Wochen auf Antworten warten, die ohne Ergebnis waren. Bäume pflanzen, wenn möglich im Stadtgebiet. Dann der nächste Schritt: Ein eigenes kleines Heftchen, eines der vielen kreativen Samisdat-Hefte der Oppositionsgruppen: „Namenlos“. Jeden Monat, mit der Schreibmaschine die Texte gehämmert, 4 Durchschläge und wieder von vorn. Mit Unterbrechungen fast 3 Jahre. Und immer wieder Diskussionen, was noch getan werden könnte. Mit einer Kerze in der Hand, Montags 17.00 Uhr auf dem Bornaer Marktplatz im Gedenken an die Inhaftierten der Jenaer Friedensbewegung, die reihenweise im Knast landeten. Wer macht da mit? (Das war 1985.) Erst jüngst stellte ich die Frage heutigen Gymnasiasten in Dresden. Da sind doch bestimmt 10 bis 15 Leute mitgekommen, waren sie der Meinung. Wir saßen zu zweit, einmal zu dritt auf dem Markt. Ausgeliefert den Blicken der Passanten und der Staatsmacht. Keine Rückzugsmöglichkeit. Wir hatten Glück. Also weiter. Mit Freunden aus Leipzig planten wir eine Straßensperrung in Espenhain. Unser Rettungsanker sollte Greenpeace sein. Die Sache flog auf, wir ließen die Hände davon. Und doch noch eine Geschichte: 1. Mai 1987. Wir wollten mit eigenen Plakaten demonstrieren. Nicht außergewöhnliches, nur: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum atmen“, „Das Volk braucht die ganze Wahrheit“ M. Gorbatschow. Und: „Freiheit ist auch immer Freiheit der Andersdenken“ Rosa Luxemburg. Zu fünft waren wir, mit dabei Rainer Müller aus Benndorf, ein Mann, der für mich in der gleichen Reihe steht wie Christoph Wonneberger oder Uwe Schwabe. Christian Denecke aus Borna, wie wir Totalverweigerer des Kriegsdienstes 5


und meine beiden Freunde Eckhard Junghans und Thomas Pilz aus Zittau. Weit sind wir nicht gekommen. Nur wenige Minuten nach dem Aufrollen wurden wir nebst Transparenten sichergestellt. Aber das haben viele Menschen gesehen. Vielleicht ein kleines Zeichen, selbst mehr Mut zu wagen. Gemalt hatte diese Transparente Ines Geißler, wir haben sie nie verraten. Erst heute, nach über 22 Jahren erwähne ich ihren Namen zum ersten Mal in diesem Zusammenhang. Die Menschen, die damals aktiv waren, verstreut in alle Winde heut und doch damals Teil dieser Stadt, keine Nische, sondern der Versuch konstruktiven Widerstandes. Die Namen müssen genannt werden, sonst funktioniert Geschichte nicht. Heike Nöllgen (Knechtel), Jens Knechtel, Heike Meinig (Horenburg), Conny Horenburg, Robby Meinig, Marcus Ulbricht, Frank Steuer, Tobias Flex, Bernd Waworka, Silke Ursinus, Petra Riedrich- Möller, Ilona Rüffert, Matthias Pietsch, Jens Schönfelder, Karsten Kretzschmar, Rainer Müller, Christian Denecke, Gerlind Haarfeld (Zocher), Matthias Eckert, Sabine und Karsten Bach, Bernd Schröder, Barbara und Jörg Brauße, Katrin Zimmermann (Opitz), Martin Opitz, Andreas Bergmann, Silke Krasulsky (Wahlgren), Heike und Matthias Urban, Ute Landgraf (Marktgraf), Henning Landgraf, Kati Müller. Also eine ganze Menge Leute und ich bitte Diejenigen um Entschuldigung, die ich hier vergessen habe. Herbst `89 in Borna, das ist die Geschichte von vielen kleinen Demonstrationen, zweimal sogar 2 an einem Tag. Es ist die Geschichte von Friedensgebeten. Es ist vor allem aber die Geschichte des NEUEN FORUM Borna. Am 2. November haben wir hier in diesem Saal, zum 2. Rathausgespräch, das NEUE FORUM in Borna gegründet. Die Stasi bewachte die Ein- und Ausgänge, der Abgang von Saafried Thiele musste gesichert werden, sollte es zu Tumulten kommen. Tage vorher hatte ich Dietmar Matzke kennengelernt, dem ich nun den zweiten Strauß dieses Abends überreiche. Ohne ihn hätte der politische Umbruch in Borna anders ausgesehen, wäre das NEUE FORUM nicht zur führenden Kraft der Veränderung aufgestiegen und hätte nicht die Qualität in der Auseinandersetzung mit der SED erreicht. Seine organisatorischen und intellektuellen Fähigkeiten nutzend, hat er die Angst überwunden und die Forderungen dieser Zeit klar und deutlich formuliert. Wir waren und sind ein sich wunderbar ergänzendes Team, fern von Eitelkeiten. Weil Du die Ehrung an diesem Tage nicht von der Stadt erhalten wirst, die dir ohne Zweifel zusteht, und weil ich vor allem auch Dir verdanke, heute hier zu sprechen, bekommst Du sie von mir. Dietmar, ich danke dir. (Überreichung des 2. Rosenstraußes) Was dann folgte, lässt sich an einem solchen Abend nur im Telegrammstil erwähnen. Unser Büro wurde überrannt von Menschen, die endlich ehrliche Ansprechpartner für ihre Probleme fanden. Von der kaputten Wasserleitung über fehlenden Wohnraum bis hin zu erschütternden Berichten von Benachteiligung und Bespitzelung. Tägliche Abstimmung wer wo mit hin geht, seien es die konspirativen Wohnungen, der Bunker der Kreiseinsatzleitung in Eula, die SED-Kreisleitung oder die Stasi-Festung in der Luckaer Straße. Unvergessen Herr Gerhard Fritzsche, der leider schon verstorbene kompromisslose Herr, wie er mit einem riesigen Bolzenschneider in der SED-Kreisleitung vor den Augen der Bonzen die direkten Telefonleitungen in die Bezirkszentrale und nach Berlin kappte. Auch ihm postum eine besonderer Dank. Luckaer Straße, das große Eisentor mit Stacheldraht überhäuft wie die gesamte Mauer, die das Areal einschließt. Wütendes Hundegebell, heute wissen wir, dass sie hungern mussten, für den Ernstfall, für uns. Das Panoptikum vor Augen, alles leer, der Archivraum im Keller hinter einer schweren gepanzerten Tür wird uns als Frauenruheraum vorgeführt. Die Angst war beiderseits spürbar. Das wenige, was wir fanden, ging dann nach Leipzig. Immer wieder Absprachen, Montags zur Demo nach Leipzig, Sonntags meistens in Borna. Schließt euch an. Auch Transparente gab es hier. Vor der SED-Kreisleitung haben wir sie als Zeichen des Protestes zurückgelassen. Jeden Nachmittag die Bürostunden, dann die Vorbereitung unserer Kundgebung am 25. November auf dem Bornaer Markt, die Einschüchterungsversuche der SED.

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Und jede Menge Menschen. Im Dezember 1989 zählt das NEUE FORUM 117 Mitglieder. Versammlungsräume werden gebraucht, Schriftverkehr muss erledigt werden, auch die Öffentlichkeitsarbeit. NEUES FORUM Kontext, unter dieser Rubrik werden unsere Artikel in der LVZ gedruckt, später dann ein eigenes Mitteilungs-Blatt mit gleichem Namen. Die Arbeit der Runden Tische beginnt. Wer geht wo hin, welche Themen. Wir waren vorbereitet. Und immer wieder neue unglaubliche Geschichten. Koordinierung der anderen FORUM Gruppen im Kreis, der Kontakt zur Bezirks- und Landesebene. Forderungen müssen formuliert und Strategien zu deren Durchsetzung erdacht werden. Die Restaurationsbestrebungen der SED werden im Januar 1990 unerträglich, wieder eine DEMO organisieren. Februar 1990, Umweltkonferenz in Böhlen, das NEUE FORUM Borna übergibt dem Umweltminister 16.000 Unterschriften von Menschen, die sich in den 14 Tagen vorher für ein Sozial-ökologisches Notstandgebiet aussprechen und den Aufruf und die Forderungen unterschreiben (die heute fast alle erfüllt sind). Und bei alledem sind wir noch arbeiten gegangen. Diese Leistung haben Menschen vollbracht, die an einem solchen Tag gewürdigt werden müssen und denen ich leider nicht im Namen der Stadt, so doch vor diesem Auditorium herzlich Danke. Andreas Bergmann, Lutz Wolfram, Gudrun Jugel, Martin Opitz, Matthias Pietzsch, Markus Ulbricht, Katrin Zimmermann, Silke Dörfl, Kaja Such, Karsten Kretzschmar, Dietmar Matzke, Gerhard Fritzsche, Ines Geißler, Rainer und Holger Bachmann, Henning und Holger Teichmann, Tobias Müller, Frank Schönherr, Silke Krasulsky, Christina Denecke, Rainer Müller – das waren die Aktivsten damals. Hans-Jörg Hense, Werner Marschner, Dr. Thomas Voigt, Reinhard Mäder, Manfred Ewald und Michaela Benedix, die später in der SPD aktiv waren. Und die Pfarrer Heiko Franke und Thomas Schorcht.

Schlussbemerkungen: Die Fotoausstellung von Herrn Schwerdtfeger haben Sie gesehen. Das wäre unsere Alternative gewesen. Gehen Sie mit ihren Kindern in die Gedenkstätten, der Eintritt ist frei. Schauen sie sich an, wie die DDR hinter den Kulissen aussah und handelte. Vermitteln Sie der nächsten Generation das Glück der Freiheit. Stellen Sie Anträge auf Einsicht in ihre Akte, wiederholen Sie das, wenn es schon Jahre her ist. Die Bestände wachsen weiter und es kommen immer wieder neue Unterlagen dazu. Das gilt auch für die Bornaer. Auch wenn Herr Henter hier akribisch aufräumte, die vielen Querverbindungen konnte er nicht mehr beseitigen. Wir müssen vom Unrecht erzählen, immer wieder, damit wir erkennen wie wertvoll es ist, nicht mehr in einer Diktatur zu leben. Leider wird der wunderbare Ruf „Wir sind das Volk“ heute anders betont, als wir ihn damals riefen. Die Betonung lag, die Staatsmacht im Angesicht, auf wir ( will heißen – ihr nicht ). Und deshalb: Wir sind das Volk. Vielen Dank. Hartmut Rüffert Es gilt das gesprochene Wort.

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