INDIEKINO MAG #15, November/Dezember 2021

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INDIEFEATURE

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Shahrbanoo Sadat (31) lebte bis zu ihrem 11. Lebensjahr als Flüchtling im Iran, ehe sie mit ihren Eltern in deren abgelegenes Bergdorf in Zentralafghanistan zurückkehrte. In Kabul und Paris wurde sie zur Filmemacherin. Die Macht­ übernahme der Taliban zwang sie zur Flucht – nach Berlin. Für ihr Langfilmdebüt WOLF AND SHEEP (2016) erhielt sie den Art Cinema Award in Cannes. Mit Eva Szulkowski sprach Sadat über ihren neuen Film KABUL KINDERHEIM, über ihr Verhältnis zum Kino und die Zukunft Afghanistans.

„Im Kino geht es um Geschichten, und ich habe die Geschichten“ INDIEKINO: KABUL KINDERHEIM ist der zweite von fünf Filmen, die Sie basierend auf der unveröffentlichten Autobiografie von Anwar Hashimi drehen wollen. Wie kam es dazu? Shahrbanoo Sadat: Als ich vor fast 12 Jahren zum ersten Mal Anwars Text gelesen habe, war ich sehr erstaunt, denn er ist kein Schriftsteller. Sein Text war sehr ehrlich, poetisch, politisch, persönlich, alles in einem. Ich war sehr bewegt, denn er sprach nicht nur über sein eigenes Leben, sondern auch über die Geschichte des Landes. Für mich war es das erste Mal, dass ich etwas darüber lernen konnte. Das ist in meiner Generation sehr üblich: Wir sind, wie der Rest der Welt, von all den aktuellen Ereignissen so eingenommen, dass wir alle nur einige Stichworte über Afghanistan kennen. Es ist auch nicht einfach, die Realität in Büchern und Texten von afghanischen Autoren zu finden – die sind oft parteiisch. Es war das erste Mal, dass ich etwas las, mit dem ich mich wirklich verbunden fühlte. Man erkennt in KABUL KINDERHEIM heute deutliche Parallelen zu den Geschehnissen in Afghanistan in diesem Jahr. Haben Sie während der Entstehung des Films auch an die Zukunft gedacht? Ja, absolut. Als ich an der Geschichte arbeitete, war ich so ergriffen von all den Ähnlichkeiten: Man musste nur Mudschaheddin durch die Taliban ersetzen und die Sowjets durch Amerika. Ab 1979, in D 46

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den 80ern und Anfang der 90er Jahre, herrschte 13 Jahre lang afghanisch-sowjetischer Krieg in Afghanistan. Kabul aber war dieser friedliche Ort – wenn man nur die Terroranschläge ignorierte, die manchmal passierten. So war es auch in meiner Zeit dort. Hier lebte die Mittelschicht, Frauen hatten viel mehr Freiheiten und junge Leute schufen sich hier eine Blase: Auf Partys gehen, Dating, Social Media und so weiter. Sie taten so, als lebten sie nicht in einem Kriegsland, sondern wie andere junge Menschen in anderen Teilen der Welt. Während ich recherchierte, dachte ich: Das ist genau so, wie Taliban jetzt manchmal Terroranschläge in Kabul verüben - sie haben viel mehr Macht in den Provinzen, aber ihr Ziel ist es, Kabul einzunehmen, und vielleicht wird das eines Tages auch passieren. Die Geschichte Afghanistans, vor allem im letzten Jahrhundert, ist wie ein Kreis: Alle zwei Jahrzehnte gehen wir an den gleichen Ort zurück, an dem wir waren, es fühlt sich einfach so an, als wären wir in einer Schleife. In KABUL KINDERHEIM spielen Kinofilme eine wichtige Rolle. Konnten Sie als Kind auch ins Kino gehen? Ich wurde in eine konservative und religiöse Familie hineingeboren. Jede Art von Kunst und Musik war in unserem Haus verboten. Selbst bei der Hochzeit meiner älteren Schwester brauchte es einen sehr langen Streit mit meinem Vater, bis er meinem Bruder erlaubte, sich von seinem Freund zwei Stunden lang ein


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