INDIEKINO MAG #21, September 2022

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MITTAGSSTUNDE – STArT AM 22.09.2022 D MITTAGSSTUNDE Zurück im Dorf D LIEBE, D-MArK UND TOD Von der Arabeske zum Rap D THrEE THOUSAND YEArS OF LONGING Erzähl-Geist D PETEr VON KANT Erotisch aufgeladen D UNSErE HErZE, EIN KLANG Chor-Magic D DIE KÜCHENBrIGADE Feel-Good-Realismus D ALLE rEDEN ÜBErS WETTEr Bildungsaufsteigerin D DAS GLÜCKSrAD Zarte Gespräche D ATLANTIDE Venedig im Geschwindigkeitsrausch D HIVE Aivar-Kollektiv D MOONAGE DAYDrEAM Stil-Ikone Bowie D DANCING PINA Zwei Re-Inszenierungen D MUTTEr Die Frau ist gebügelt D DA KOMMT NOCH WAS Liebe mit Machtgefälle D FrEIBAD Zwischen Wassereis und Aggression D rEX GILDO – DEr LETZTE TANZ Doppelbild D 21 D SEPTEMBEr 2022MAGAZIN FÜr UNABHäNGIGES KINO indiekinoMAG

D 89 min D R: Annika Pinske D B: Annika Pinske, Johannes Flachmeyer D S: Laura Lauzemis D D: Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Judith Hofmann, Marcel Kohler, Max Riemelt, Emma Frieda Brüggler, Sandra Hüller D V: Grandfilm Clara, a philosophy PhD student and divorcee from a working-class family in Brandenburg, is travelling to a family celebration with her daughter. A film about the bad conscience of an academic who is from a non-academic background.

KÜCHENBrIGADE

DIE

Originaltitel: La Brigade D Frankreich 2022 D 97 min D R: Louis-Julien Petit D B: Liza Benguigui, Sophie Bensadoun D K: David Chambille D S: Antoine Vareille D M: Laurent Perez Del Mar D D: Audrey Lamy, François Cluzet, Chantal Neuwirth D V: Piffl Medien

CathyFeel-Good-RealismusMaries(AudreyLamy)

Spezialität als Sous-Chefin ist die „Rübenorgel“. Als ihre Chefin, die Fernsehstarköchin Lyna Deletto diese vor Kameras verhunzt und im Teamgespräch danach noch ein „die Leute wollen das so“ nachschiebt, hat Cathy Marie end gültig genug und schmeißt hin. Der nächste Job klingt zunächst wie eine charmante Landgastronomie, erweist sich aber als Kantine eines Heims für unbegleitete männliche Minderjährige. „Wenn wir eine wahrhaftige Anzeige geschaltet hätten, hätte sich niemand beworben“, erklärt der Heimleiter Lorenzo (François Clu zet) freundlich. Cathy Marie möchte am liebsten auf dem Absatz umdrehen, aber sie braucht das Geld. Lamy (REBELLINNEN, DER GLANZ DER UNSICHTBAREN) ist wunderbar als zackige, ange spannte und von ziemlich Vielem sehr wenig begeisterte Köchin, die versucht, auch unter diesen widrigen Umständen ihre Stan dards durchzuziehen – und dann doch langsam mitbekommt, dass die Bewohner des Heims noch viel widrigere Umstände zu meistern haben. Aus Küchenhelfern werden Schützlinge, und vielleicht lässt sich aus der Kantine eine Ausbildungsstätte machen, die einigen von ihnen eine Chance bieten könnte – wenn sie zuvor nicht abgeschoben werden. Schon in DER GLANZ DER UNSICHTBAREN verband Regisseur Louis-Julien Petit eine char mante Feel-Good-Geschichte mit dem Anliegen, etwas über die soziale Wirklichkeit in Frankreich zu erzählen. Ging es damals um die Lebensrealität obdachloser Frauen, geht es hier um junge Geflüchtete und eine Bürokratie, die ihnen die Zukunft verstellt. Wenn die Kombination von Wohlfühlplot und sozialem Bewusst sein dabei nicht immer ganz aufgeht, liegt das weniger an Schwä chen des Drehbuchs als an Schwächen der Realität – man könnte auch sagen, es ist ein Zeichen von Haltung. D Hendrike Bake  Start am 15.9.2022

Bildungsaufsteigerin daheim „Ich will mich nicht mehr über alles erheben müssen,“ sagt Clara, die Philosophie-Doktorandin aus einem proletarischen Elternhaus in Brandenburg. ALLE REDEN ÜBERS WETTER von Annika Pinske ist einer der wenigen Filme über das schlechte Gewissen von Akademiker*innen aus nicht-akademischen Verhältnissen. Im akademischen Umfeld wirkt Clara überanstrengt und unsicher. Auf Uni-Feiern bricht sie aus Unsicherheit Benimm-Codes und erfindet eine unglaubwürdige Familiengeschichte. Wie MITTAGS STUNDE erzählt ALLE REDEN ÜBERS WETTER von einer Rückkehr zu den Eltern, hier für eine Familienfeier und mit der 17-jährigen Tochter aus einer geschiedenen Ehe im Schlepptau. Die Ost-As pekte der Geschichte sind deutlich, obwohl Clara zu jung ist, um noch eine richtige DDR-Geschichte zu haben: Antenne Mecklen burg-Vorpommern läuft im Auto-Radio, und auch sonst besteht der Soundtrack aus Deutschrock voller goldener Lebensweishei ten („Gib nie deine Sehnsucht auf“). Jugendliche hören Nazi-Rock, ein Kind wird geschlagen, Macker reißen sexistische Witze. Auf dem Familienfest hört Clara auch die Vorwürfe der ehemaligen Nachbarn: „arrogant“, „wenn du so genau Bescheid weißt …“, „… hält sich wohl für was Besseres“. Was Clara mit ihrem Satz aus drückt, ist die Internalisierung dieser Vorwürfe, aber auch eine Anklage, eine Weigerung mitzumachen und eine Absichtserklä rung zur Ablösung von ihrer Mentorin. Das komplizierte Verhält nis von Bildungsaufsteiger*innen zu ihrer Biografie zeigt der Film sehr genau. Das Uni-Milieu wirkt dagegen ein wenig zu offen stan desbewusst gezeichnet. Die Selbstinszenierung als aufgeklärte Geister, die nicht viel auf Herkunft und Etikette geben, gehört unter Akademiker*innen eigentlich zum guten Ton. D Tom Dorow  Start am Deutschland15.9.20222022

D 20 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

ALLE rEDEN ÜBErS WETTEr

Sous chef Cathy Marie has had enough of her TV star boss and quits. The next job which sounds like a charming rustic gastronomy turns out being a shelter canteen for unaccompanied male minors.

SEPTEMBEr 2022 D 21 D IN DIEKRITIKEN TERmINE uNTER www.INdIEKINo.dE

DAS GLÜCKSrAD Ein vorsichtiger Film DAS GLÜCKSRAD von Ryūsuke Hamaguchi (DRIVE MY CAR) ist ein zarter, vorsichtiger Film. Man muss ausgeschlafen genug sein für die Nuancen der Erzählung, dann wird man mit einer Reihe von Begegnungen belohnt, die ein bisschen glücklich machen. Hamaguchi erzählt drei Geschichten, die nur durch Schwingungen miteinander verbunden sind, und immer geht es um Gefühle, die vergessen oder verdeckt waren und die in einem unerwarteten Gespräch oder in der Begegnung mit einem fremden Menschen wachgerüttelt werden. In der ersten Episode „Magie (oder noch weniger Verlässliches)“ erfährt Meiko beispielsweise, dass ihre beste Freundin Tsugumi sich verliebt hat, und errät, dass es um dabei um ihren Ex geht, wovon Tsugumi nichts ahnt. Nach dem Gespräch sucht Meiko ihn auf. Die zurückhaltende Kamera fängt jedes Detail dieser mittelgroßen emotionalen Bewegung ein, die Intimität des Freundinnengesprächs im Taxi, den Moment, in dem Meiko auf einmal in sich gekehrter wirkt und man nur noch sie sieht, während draußen die Nachtlichter der Stadt vorbeiziehen, die Konfrontation mit dem Ex, in der Reste von Verletzung und Verlangen mitschwingen, aber auch einfach der Wunsch nach Konfrontation, Klärung, Offenheit. In der zweiten Geschichte „Bei offener Tür“ unternimmt die Studentin Nao den Versuch, ihrem Freund zuliebe einen Dozenten, Professor Segawa, in eine Falle zu locken und zu verführen. Die Verführung verläuft nicht ganz nach Plan – auch weil der Professor auf einer offenen Bürotür besteht – ist aber für beide eine Bereicherung. Die Gespräche, die Hamaguchis Protagonist*innen führen, sind zumeist höflich und dennoch von einer grundlegenden Ehrlichkeit, die es allen überhaupt erst möglich macht, sich besser in der Welt zu veror ten. Das ist erstaunlich berührend. D Hendrike Bake  Start am 1.9.2022 Ryusuke Hamaguchi (DRIVE MY CAR) tells the stories of three women in three episodes; about their decisions, their insecurities and doubts and their curiousity about what might lie ahead.

Originaltitel: Guzen to sozo D Japan 2021 D 121 min D R: Ryûsuke Hamaguchi D B: Ryûsuke Hamaguchi D K: Yukiko Iioka D D: Kotone Furukawa, Hyunri, Shouma Kai, Aoba Kawai, Katsuki Mori, Ayumu Nakajima D V: Film Kino Text

Judit Kalmár und Céline Coste Carlisle nähern sich dem traditionellen portugiesischen Musikstil anhand der Fado-Sängerinnen Ivone Dias und Marta Miranda. Die Protagonistinnen aus zwei Generationen erinnern sich vor der Kamera an das vergangene Leben in Lissabons Alfama, der Altstadt, die eng mit dem Fado verbunden ist – Liedern, in denen die Fadistas von ihren Sorgen und Sehnsüchten singen. Mit Fado untermalt taucht der Film in das sich wandelnde Lissaboner All tagsleben ein.  Start am 8.9.2022

D

MArIUPOLIS 2 Bereits 2015 besuchte der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius die Stadt Mariupol, um die Folgen des russischen Angriffs festzuhalten. Im März 2022 kehrte er zurück, um die Leute wiederzutreffen, die er bereits 2015 gefilmt hatte. MARIU POLIS 2 rückt vor allem die Zivilisten in den Fokus, die unter dem Kriegsgeschehen zu leiden haben, viele von ihnen suchen in einer ehemaligen Kirche Zuflucht. Beim Versuch, Mariupol zu verlas sen, wurde Kvedaravičius Anfang April von russischen Soldaten erschossen. Die Cutterin Dounia Sichov hat mit Unterstützung von Hanna Bilobrova, Kvedaravičius’ Lebensgefährtin den Film vollendet.  Start am Litauen/Frankreich/Deutschland29.9.20222022 112 min D R: Mantas Kvedaravič

D 22 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

Originaltitel: Silêncio – Vozes de Lisboa D Portugal 2020 D 86 min D R: Judit Kalmár, Céline Coste Carlisle D D: Ivone Diaz, Marta Miranda, Pa INTO THE ICE Das Filmteam begleitet drei Wissenschaftler*innen, die zum Zusammenhang von Klimawandel und der Gletscherschmelze des grönländischen Eisschildes forschen, und filmt sie bei Bohrungen, Messungen und lebensgefährlichen Abstiegen in hunderte Meter tiefe sogenannte Gletschermühlen. Das Eis wird dabei immer stärker zum Gegenüber, aus dem sich Erkenntnisse nicht einfach herausmeißeln lassen, sondern dem mit Offenheit, Vorsicht und „gesundem Respekt“ zu begegnen ist. Auch die Forscher*innen selbst treten als Individuen und nicht nur als nüchterne Datenlie ferant*innen in Erscheinung.  Start am 15.9.2022

DIE JUNGEN KADYAS Israelische, arabische und deutsche Mädchen treffen sich in der „Schola Cantorum Weimar“ für das gemeinsames Chorprojekt „Voices of Peace“. Singen sollen sie auf Jiddisch, einer ihnen fremden Sprache. Aus ihren zwei Chorkulturen soll über Nacht eine werden. Die Erwachsenen erwarten Disziplin. Und mit aller Macht drängen Religion, Politik und Geschichte ihrer Heimatlän der in das Sommerleben. Doch die Mädchen haben ihren eigenen Willen.  Start am 8.9.2022 Deutschland 2018/2019 D 102 min D R: Yvonne Andrä, Eyal Davidovitch

Deutschland/Dänemark 2022 D 85 min D R: Lars Henrik Ostenfeld

FADO – DIE STIMMEN VON LISSABON Die Dokumentarfilmregisseurinnen

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EUrOPA PASSAGE

letzten Arbeitsmonaten als Geschäftsführer des Carl Hanser Verlags bis kurz vor der Pandemie. Frank Wierke (STERNE) hört Krüger zu: in der Wohnung, in der Akademie der Künste, beim Spazierenge hen und im Garten, ein Sprechen über große und kleine Fragen, zwischen Kindheitserinnerungen und Autorenalltag, weitschwei fender Naturbetrachtung und Arbeitsbibliothekspragmatismus, während die Handkamera meist in Krügers Gesicht liest, und manchmal seinem Blick folgt.  Start am 22.9.2022 Deutschland 2022 D 91 min D R: Frank Wierke https://www.facebook.com/LETsDOKBerlinBrandenburgwww.letsdok.de Dokfilm.Sehen?! 11.9. – 18.9. Berlin | Joachimsthal | Potsdam | Ribbeck | Lindow AB 8.9. IM KINORAPIDEYEMOVIES.DE

D 90 min D R: Andrei Schwartz

Fünf Jahre lang begleitete Andrei Schwartz eine Gruppe rumäni scher Roma, die zwischen ihrem Heimatland und Hamburg pen deln. In Hamburg versuchen sie, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu erbetteln. Sie schlafen in Parks und unter Brücken. Weil die Stadtverwaltung sie als „willentlich obdachlos“ betrach tet, haben sie keinen Zugang zu Hilfsprogrammen, auch nicht im Winter. Die beiden Protagonisten, Maria und Tirloi haben immerhin eine kleine Wohnung. Ihre dreizehnjährige Tochter Ioana geht in die Schule und kann als erste in der Familie lesen und schreiben. Start am Deutschland15.9.20222022

VErABrEDUNGEN MIT EINEM DICHTEr –MICHAEL KrÜGEr Der Zeitraum der Verabredungen zwischen Filmemacher und Dichter erstreckt sich auf fast ein Jahrzehnt: von Krügers

D 24 D SEPTEMBEr 2022 IN DIEFEATUrE Venedig als ein Rausch aus Geschwindigkeit und dem unbe dingten Willen, bis an die äußerste Grenze zu gehen. Vier Jahre lang hat der Künstler Yuri Ancarani in der Subkultur jugendlicher Schnellbootfahrer verbracht und nebenbei seinen halbdokumen tarischen Spielfilm ATLANTIDE gedreht. ATLANTIDE ist einer der visuell und atmosphärisch beeindruckendsten Filme, der in diesem Jahr ins Kino gekommen ist, ein filmisches Gedicht über das Leben – und manchmal auch Sterben – auf dem Wasser. Die jungen Männer motzen ihre kleinen Boote mit riesigen Motoren, LED- und Stroboskop-Beleuchtung und möglichst lauten Hifi-An langen auf, aus denen Hardcore- und Minimal-Techno dröhnt, manchmal auch italienischer Hip Hop. Die Mädchen sitzen und liegen daneben, nach ihnen sind die Boote benannt, und wenn die Beziehung zu Ende geht, wird der Aufkleber mit dem Namen abge kratzt. Die Szene trifft sich auf der Klosterinsel San Francesco del Deserto. Man sonnt sich, die Boote dümpeln, es wird gekifft, der Sound wummert. Nebenan hackt ein Mönch zum Techno das Unkraut aus den Klosterbeeten. Daniele würde gern dazu gehö ren, aber sein Boot ist nicht schnell genug, und der Motor leckt. Er kauft einen größeren Motor und stiehlt eine Schiffsschraube. Natürlich kommt das heraus, aber vor der Abrechnung wagt er es endlich, nach Venedig hineinzufahren und sich zu präsentieren.

SEPTEMBEr 2022 D 25 D IN DIEFEATUrE Rauschhafter Sex, rauschhafte Bilder vom Rasen in den Sonnen aufgang, vom Schweben durch die alte Stadt, Blicke, Brücken, Körper. ATLANTIDE ist ein Trip. Dieser Form eines beiläufigen dokumentarischen Blicks mit einer totalen Überinszenierung des Sounds und der Kamerabilder gelingt es tatsächlich, ein Lebens gefühl so scheinbar unmittelbar zu vermitteln, wie das zuletzt Fred Kelemen in VERHÄNGNIS und FROST gelungen war. Manche würden das „authentisch“ nennen, aber Stil ist hier alles, im Film wie im Leben der jungen Männer. D Tom Dorow  Start am 8.9.2022 ATLANTIDE Venedig GeschwindigkeitsrauschimArtistYuriAncaranispentfouryearsamongyoung speedboat drivers in the lagoons of Venice. His semi-documentary film ATLANTIDE is a trip made up of speed and sex, racing at sunset and floating across the old city. Italien/Frankreich/USA/Katar 2021 D 100 min D R: Yuri Ancarani D B: Yuri Ancarani D K: Yuri Ancarani D S: Yuri Ancarani, Yves Beloniak D M: Francesco Fantini, Lorenzo Senni D D: Daniele Barison, Bianka Berényi, Maila Dabalà, Alberto Tedesco, Jacopo Torcellan D V: rapid eye movies

FrEIBAD Zwischen Wassereis und Aggression

Das Frauen-Freibad in Doris Dörries gleichnamiger Komödie ist das Sommerzuhause unterschiedlichster Frauen. Unter einem zentral gelegenen Sonnenschirm campieren Tag für Tag die Münchener Schickeria-Veteraninnen Eva (Andrea Sawatzki als Ex-Schlagerstar) und Gabi (Maria Happel im Gucci-mit-MopsLook). Unter den Bäumen lagert die liberale Emine (Ilknur Boyraz) mit Kind und Kegel und empört sich über ihre älteste Tochter, die Sportschwimmerin Yasemin (Nilam Farooq), die im Burkini ihre Bahnen im Becken zieht. Dem Treiben zu schauen die genervte Bademeisterin Steffi (Melodie Wakivuamina), Kassenkraft und Bodybuilderin Rocky (Lisa Wagner) und Grillmeisterin und trans Frau Kim (Nico Stank) – um nur einige Mitglieder des Aquafit nesskurs-großen Ensembles zu nennen. Es herrscht diese vola tile Hochsommerstimmung zwischen Wassereis und Hitzschlag, Spaß und Aggression, und ein labiles Gleichgewicht besteht zwischen den Fraktionen. Das kippt, als eine Gruppe saudischer Schweizerinnen das Bad für sich entdeckt. Voll verschleiert okku pieren sie Evas und Gabis Schirmplatz und bald bietet Kim nur noch Lammwürstchen an. Oben ohne geht Hardcore-Feminis tin Eva zum „Gegenangriff“ über. Zwischen bunten Badetieren und Beckenrandspringen verhandelt Dörrie aktuelle Debatten um weibliche Körper, Selbstbestimmung und Schönheitsideale. Dabei bricht sie gerne demonstrativ mit Vorurteilen (die Bodybuil derin ist hetero etc.) und landet immer auf Seite der persönlichen Freiheit: Über das korrekte Frausein bestimmt jede Frau selbst. Auf der Plot- und Dialogebene ist das ziemlich grob geschnitzt. Sehr schön ist die Freibadatmosphäre. In bunten Wimmelbildern feiert jeder Schwenk über das Blau-Grün von Wiesen und Becken die Vielfalt von Frauen, Frauenkörpern, Frauenbildern und Frau enselbstverständnissen. D Hendrike Bake  Start am 1.9.2022

D 26 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken Deutschland 2022 D 103 min D R: Doris Dörrie D B: Doris Dörrie, Madeleine Fricke, Karin Kaçi D K: Hanno Lentz D S: Frank Müller D M: Anna Kühlein D D: Ilknur Boyraz, Nico Stank, Nilam Farooq, Julia Jendroßek, Andrea Sawatzki D V: Constantin Film Verleih Originaltitel: En corps D Frankreich 2022 D 117 min D R: Cédric Klapisch D B: Santiago Amigorena, Cédric Klapisch D K: Alexis Kavyrchine D D: Marion Barbeau, Hofesh Shechter, Denis Podalydès D V: STUDIOCANAL

DAS LEBEN EIN TANZ

Die Kunst siegt immer Als Elise bei einem Auftritt stürzt, bricht der Boden unter ihren Füßen weg. Die professionelle Balletttänzerin ist auf dem Höhe punkt ihrer Karriere. Seit sie klein war, kannte sie nichts anderes als die Vorbereitung für den Moment im Rampenlicht. Das Tan zen half ihr über den Tod der Mutter hinweg, schuf so etwas wie ein Band zwischen ihr und dem Vater. Doch nun ist sie 26 und steht vor der Gabelung ihres Lebensweges. Soll sie weiter tanzen und ihre Zukunft aufs Spiel setzen, oder ist es Zeit, einen neuen Abschnitt zu beginnen? Um den Kopf frei zu bekommen und den Körper zu heilen, reist Elise aufs Land, wo sie Freunden bei der Bewirtung einer Künstlergruppe hilft. Dabei entdeckt sie eine Per spektive, neue Hoffnung und schließlich auch die Liebe. Zukunft, Liebe, Leidenschaft – Die Filme von Cédric Klapisch dre hen sich stets um die großen Themen des Lebens. Das war schon vor zwanzig Jahren bei L’AUBERGE ESPAGNOLE so, mehr noch bei seinem jüngeren Werk, etwa der Familiengeschichte DER WEIN UND DER WIND von 2017. Auch DAS LEBEN EIN TANZ, der im Original den weit weniger großspurigen Namen „En Corps“ – ein cleveres Wortspiel zwischen Körper (Corps) und Zugabe (Encore) – trägt, gibt sich mit nicht weniger als den grundsätzlichen Fra gen des Lebens zufrieden. Am Ende siegt stets die Kunst über die Probleme. Der Körper muss sich bewegen, um zu leben. Das geschieht hier in den eindrucksvollen Choreografien des israelischen Komponisten Hofesh Shechter, (dessen Musik Daft Punk-Mitglied Thomas Bangalter kongenial remixte). Shechter selbst übernahm eine wichtige Rolle als Leiter der Tanzkompanie in Klapischs Film. Die Bühne gehört jedoch Marion Barbeau, einer professionellen Tänzerin, die auch die schauspielerische Kür bra vourös meistert. D Lars Tunçay  Start am 8.9.2022

The women’s outdoor pool in Doris Dörrie’s eponymous comedy is a kind of biotope, the summer home for a variety of women. Between colorful rubber floats and poolside jumps, Dörrie explores current debates about the female body, self-determination and beauty ideals. After an injury, ballet dancer Elise is unsure of whether she can keep danc ing. Elisa travels to the countryside to clear her mind and heal her body and meets an artist group. Cedric Klapisch’s new film.

TErMINE UNTEr WWW.INDIEKINO.DE Deutschland/Schweiz 2021 D 98 min D R: Mareille Klein D B: Mareille Klein D K: Patrick Orth D S: Mechthild Barth D D: Ulrike Willenbacher, Zbigniew Zamachowski, Imogen Kogge, Franziska Machens, Ueli Jäggi D V: Weltkino DA KOMMT NOCH WAS Liebe mit Machtgefälle Helga (Ulrike Willenbacher) ist gefallen: Mit gebrochenem Knö chel bleibt sie buchstäblich in ihrem Haus stecken, das sie bis vor zwei Jahren mit ihrem Mann bewohnt hat, ehe der sie für eine andere sitzen ließ. In seinen ersten Minuten zeigt DA KOMMT NOCH WAS eindrücklich den stillen Schrecken der Situation: Die ledige, nicht mehr ganz so junge Frau, die sich aus eigener Kraft nicht aus einer Notlage befreien kann. Dass Alleinsein bitter, aber Zweisamkeit um jeden Preis nicht die Lösung sein kann, erzählt Autorin und Regisseurin Mareille Klein in ihrer unterhaltsamen, mit Bedacht inszenierten romantischen Komödie. Auch nach dem Fußbruch droht Helga, einsam zu bleiben. Zum Glück ist Ryszard (Zbigniew Zamachowski) da, die Ferienvertretung für Helgas Putzkraft. Trotz einer Sprachbarriere freunden sich die beiden an – und verlieben sich. Doch die ungleiche Machtvertei lung steht ihnen ebenso im Weg wie das rassistische, kleinkarierte Menschenbild in Helgas Freundeskreis. Genüsslich wird das mit telständische deutsche Spießerleben mit Haus, Garten, Auto und Zweierbeziehung veralbert. Wie die Deutschen Ryszard betrachten, wird vielen Ausländern in Deutschland bekannt vorkommen: Seine Arbeitskraft wird geschätzt, als Mensch dagegen ist er bestenfalls ein Kuriosum, sicher aber kein vollwertiges Mitglied der Gesell schaft. Entsprechend geht es auch weniger um Ryszard selbst als darum, was er für die deutschen Figuren repräsentiert. Zugleich verleiht Zamachowski dem Charakter mit seinem pointierten Spiel viel Tiefe und bahnt sich zielstrebig seinen Weg ins Zuschauer*in nen-Herz. Als Helga zusehends ihre eigenen Minderwertigkeits komplexe auf ihn überträgt, droht die Beziehung zu zerbrechen – wenn sie sie retten will, muss sie dazulernen und gegen den inter nalisierten Rassismus und Klassismus ankämpfen. D Eva Szulkowski  Start am 29.9.2022 Helga falls in love with Ryszard, her cleaner’s holiday replacement, while sitting at home with a broken foot. However, the uneven power balance is in the way as well as the racist, narrow-minded attitudes in Helga’s circle of friends. FILMFESTINTERNATIONALESEMDEN2022 – PUBLIKUMSPREIS –BESTER FILM FESTIVAL DE L’ALPE D’HUEZ 2022 – Beste Schauspielerin –Audrey Lamy NACH »DER GLANZ DER UNSICHTBAREN« DER NEUE FILM VON LOUIS-JULIEN PETIT AB 15.09. IM KINO LamyAudrey CluzetFrançois NeuwirthChantal KabaFatou KALOMBOYANNICK AMADOUBAH MAMADOUKOITA BARRYALPHA AWELYADAF GUIRODEMBA BOUBACARBALDE MOHAMATMOUSSAhamit MAISAIAIRAKLI SAYEDHOSSINIfarid BARUASAIKAT DIALLOAMADI DEEBAIHAM »Lachen,BRIGADEKÜCHENDIE»Mitreißend,berührendundvollerHoffnung«LEJOURNALDESFEMMESEmotion,EngagementundeinglänzendesEnsemble«RTLFRANCE»EinsehrbesonderesFeelgood-MoviemitgroßemHerz«LALIBRE

Und tatsächlich: Sowie ihre Pläne, gemeinsam mit den Frauen des Dorfes die Paprikapaste Aivar zu produzieren und im lokalen Supermarkt zu verkaufen, in Fahrt kommen, wird sie angefeindet und ausgegrenzt; Angriffe auf ihr Auto, Symbol ihrer Unabhängig keit, inklusive. Doch Fahrije stemmt sich unermüdlich gegen die Widerstände – auch wenn es darum geht, die Wahrheit über das Schicksal ihres Mannes zu erfahren. Dabei nimm sie das Risiko in Kauf, dass aus der stummen Beklemmung, die HIVEs Atmosphäre durchzieht, echte Trauer wird und sich lang unterdrückte Tränen ihren Weg ins Freie bahnen. D Eva Szulkowski  Start am 8.9.2022

D 28 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken Deutschland/Rumänien 2021 D 94 min D R: Natalia Sinelnikova D B: Natalia Sinelnikova, Viktor Gallandi D K: Jan Mayntz D S: Evelyn Rack D M: Maxi Menot, Anna Kühlein D D: Pola Geiger, Ioana Iacob, Knut Berger, Jörg Schüt tauf, Siir Eloglu, Susanne Wuest D V: ekysytent distribution Originaltitel: Zgjoi D Kosovo/Schweiz/Mazedonien 2021 D 84 min D R: Blerta Basholli D B: Blerta Basholli D K: Alex Bloom D S: Félix Sandri, Enis Saraçi D M: Julien Painot D D: Yllka Gashi, Çun Lajçi, Aurita Agushi, Kumrije Hoxha, Adriana Matoshi D V: jip Film & Verleih WIr KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN Feindliche Welt Anna ist Sicherheitsbeauftragte eines Wohnkomplexes. Umgeben von Wald leben hinter dem Zaun die Menschen und spielen Golf. Was auch immer zwischen den Bäumen lauert, hier wähnt man sich sicher. Der begehrte Raum wird nur nach strenger Prüfung vergeben, eine Gemeinschaft braucht schließlich Ordnung und Transparenz. Dabei hat Anna selbst ein Geheimnis. Tochter Iris ist überzeugt, den bösen Blick zu haben und verbarrikadiert sich seit Tagen im Badezimmer. Sie verpasst die Chorprobe, Nach barn fragen nach ihr. Anna lügt. Dann verschwindet der Hund des Hausmeisters. An immer mehr Stellen kommt es zu „unsozialem, unmoralischem, unüberlegtem“ Handeln. Die Verunsicherung im Haus ruft eine Bürgerwehr auf den Plan. Golfschläger werden zu Waffen, freundliche Hausgenossen zu Blockwarten. Iris’ Verhalten rückt Mutter und Tochter in den Fokus der arg wöhnischen Nachbarn, und Annas Lage ist prekär, in einer dop pelt feindlichen Welt. Das unbenannte Grauen draußen und der bürgerliche Terror im Haus, der mit seinen Stepford-Vibes auch mal humorige Momente schafft. Mob und Erzählung bleiben holz schnittartig, fast wie eine Parabel. Iris mystische Paranoia versus den vernunftskalten Verhaltenskodex, die Kinks und Geheimnisse der Bewohner*innen, die durch die Risse der sauberen Fassade scheinen. Regisseurin Natalia Sinelnikova studierte vor der Regie Fotografie, was in den gut komponierten Bildern zu sehen ist, die der Erzählung voraus auch die Atmosphäre setzen. Eine dunkle Stimmung entspinnt sich in der 70er-Jahre Architektur, wenn Anna durch die langen Korridore geht, in engen Aufzügen steht, oder über das eingezäunte Gelände streift. Wie ein unangenehmes Brummen, schwingt die Bedrohung draußen mit. D Clarissa Lempp  Start am 29.9.2022

In a hostile world, the residents of a building complex shield themselves from the outside and bully neighbours in the building who break the rules.

Kosovo, seven years after the end of the war: countless people who were kidnapped by the Serbian military are still missing. In the small village of Krusha e Madhe, Fahrije is trying to support her family and starts producing ajvar despite the protests of the patriarchal community.

HIVE Kosovo,Aivar-KollektivsiebenJahre nach Ende des Krieges: Noch immer wer den unzählige Männer, Frauen und Kinder vermisst, die vom serbi schen Militär verschleppt oder getötet worden waren. Im kleinen Ort Krusha e Madhe, heute auch als „Dorf der Witwen“ bekannt, verübten serbische Truppen 1999 ein Massaker mit Massenhin richtungen, Plünderungen und Brandschatzungen. Bis heute ist der Verbleib von über 60 Dorfbewohner*innen ungeklärt. Basie rend auf der wahren Geschichte der Mutter und Unternehmerin Fahrije Hoti handelt der Spielfilm HIVE von Regisseurin Blerta Basholli von den Folgen der Verbrechen in Krusha und vom Kampf der Überlebenden um Sichtbarkeit und Akzeptanz. Vielleicht kommt Fahrijes (Yllka Gashi) Mann ja doch noch heim – sowohl sein Vater Haxhi (Çun Lajçi) als auch die Kinder halten sich immer noch an dieser Hoffnung fest. In Fahrije aber brennt der Wunsch, Gewissheit zu haben, damit ihr eigenes Leben und das ihrer Familie endlich weitergehen kann. Sie möchte arbeiten und auch ihren Leidensgenossinnen aus dem Bund für Frauen von Vermissten zu Arbeit verhelfen. Die aber weigern sich erst, denn sie fürchten die Reaktionen der patriarchalen Dorfgemeinschaft.

Aber Alithea kennt sich mit Geschichten über Wünsche aus und bleibt vorsichtig. Zunächst will sie die Geschichte des Dschinns hören, der über Jahrtausende immer wieder in der Flasche ein gesperrt war.

SEPTEMBEr 2022 D 29 D IN DIEKRITIKEN TERmINE uNTER www.INdIEKINo.dE

Literary scholar Alithea (Tilda Swinton) researches myths in pop culture. At a conference in Istanbul, she buys an antique bottle and the jinn (Idris Elba) inside it grants her three wishes. But first, the jinn tells her about his life.

THrEE THOUSAND YEArS OF LONGING

Als George Miller jung war, las man Roland Barthes „Mythen des Alltags“ und Leslie Fiedlers Essay „Cross the Border – Close the Gap“, in dem der Erzähltheoretiker sich emphatisch für eine „Post moderne“ einsetzte, die die Grenze zwischen „Hochkultur“ („high brow“) und Trivialkunst („low brow“) einriss. Die Nouvelle Vague hatte die ästhetischen Qualitäten der amerikanischen Gangster filme und der Hitchcock-Thriller entdeckt. Millers Filme waren Umsetzungen dieser Ideen, neo-mythische, auf die einfachsten Erzählstrukturen konzentrierte Geschichten wie die MAD MAXFilme und Zaubermärchen wie THE WITCHES OF EASTWICK.

Verhandlungen mit dem Erzähl-Geist Als Regisseur des besten Actionfilms aller Zeiten, MAD MAX: FURY ROAD, darf George Miller alles machen, was er will. Miller ist 77 und dreht einen Film über das Erzählen, obwohl die Welt Nägel beißend auf seinen nächsten Actionkracher FURIOSA war tet. Der ist aber erst für 2024 angekündigt. Erst einmal gibt es dieses Herzensprojekt,

Der Dschinn ist eine Geschichtenmaschine, ein Literaturgeist, mit dem Alithea zuerst in der Sprache Homers spricht. Seine Geschichten über Verführung, Macht, Gewalt, Perversion, Liebe und Wissen handeln von der Macht der Erzählung selbst. Miller inszeniert diese Geschichten in sinnlich-buntem Kontrast zu dem generischen Hotelzimmer, in dem Elba und Swinton in weißen Bademänteln ihre Verhandlungen führen.

THREE THOUSAND YEARS OF LONGING ist ein beinahe akade mischer Film, vielleicht sogar eine Art Apologie eines Künstlers, der sein Leben lang in „trivialen“ Genres gearbeitet hat: Action, Comedy, Melodrama. Der Film ist eine Liebeserklärung an das Geschichtenerzählen. Vielleicht sind die Geschichten symbolisch etwas zu überladen, schließlich müssen sie die wichtigsten Funk tionen des Erzählens gleich mit demonstrieren, vielleicht hätte der Spannungsbogen doch ein wenig straffer gespannt werden können, aber das ist alles sehr schön und charmant anzusehen, Elba und Swinton sind wie immer liebenswert, die orientalis tischen Geschichten sind hübsch altmodisch und bunt insze niert. Was wird sich eine Literaturwissenschaftlerin von einem Geschichten-Geist wünschen? Genau, so ähnlich. Ist doch prima. Ein gutes Date-Movie. D Tom Dorow  Start am 1.9.2022

USA/Australien 2022 D 108 min D R: George Miller D B: George Miller D K: John Seale D S: Margaret Sixel D M: Junkie XL D D: Tilda Swinton, Idris Elba, Alyla Browne, David Collins, Kaan Guldur D V: Leonine

THREE THOUSAND YEARS OF LONGING.

In THREE THOUSAND YEARS OF LONGING, nach einer Kurzge schichte von A. S. Byatt., ist Tilda Swinton die Literaturwissen schaftlerin Alithea (lat. „aliter Thea“: die andere Göttin) mit dem Spezialgebiet der Narratologie, der Erforschung der Techniken des Erzählens. Auf einer Konferenz in Istanbul präsentiert sie diese Idee von Mythen, die sich in den Genres der Populärkultur erhalten. Im Hintergrund sind die Superhelden der Comicverlage Marvel und DC zu sehen, als Alithea eine Halluzination erfährt und sie ohnmächtig wird. In einem Istanbuler Basar kauft sie am nächsten Tag ein antikes Fläschchen, aus dem kurz darauf Idris Elba als Dschinn schlüpft, der Alithea drei Wünsche gewährt.

SOLL

D 30 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken Originaltitel: Bashtaalak sa’at D Ägypten/Libanon/Deutschland 2022 D 66 min D R: Mohammad Shawky Hassan D K: Carlos Vasquez D S: Carine Doumit D M: Amen Feizabadi D D: Donia Massoud, Ahmed El Gendy, Salim Mrad, Nadim Bahsoun, Hassan Dib, Ahmed Awadalla D V: Edition Salzgeber

A fairy tale, a performance, a musical. Quotes from the author Rabih Alameddine are mixed in with Egyptian pop songs. Hassan’s poetic fea ture-length debut is high on love, pondering about queer life and love – and like every good fairy tale it has a happy end. ICH DICH EINEM SOMMErTAG VErGLEICHEN?

Das poetische Langfilmdebüt Hassans ist ein kleiner Liebesrausch, ein Sinnieren über queeres Leben und Lieben – und wie jedes gute Märchen mit Happy End. D Clarissa Lempp  Start am 29.9.2022 Geretschläger Gerald Stock

Ein Liebesrausch

Regisseur Mohammad Shawky Hassan greift auf traditionelle Erzählschemata und Bilder zurück und versetzt sie in eine queere, arty Gegenwart. Er verwebt die individuellen Erinnerungen zu einem kollektiven Erfahrungsraum, der zwischen Ägypten, Libanon und Berlin schwebt, eine magische, neon-schimmernde Seifenblase.

Der Mond erzählt eine Geschichte von zwei Männern, die sich verlieben. Oder ist das Scheherazade und gar nicht der Mond, der wie eine Diskokugel über den beiden hängt? Im Bild ist nur einer der Männer zu sehen, in einem Raum aus Neonlichtern und Farbe. Ein Chor verflossener Liebhaber gesellt sich dazu, fla ckernde Lichter, die Frage nach der ersten Liebe, der zweiten, drit ten erfüllen den Raum. Im Erzählen kommen neue Geschichten auf, mal als märchenhafte Animation über Meermänner und ihre heimlichen Geliebten, mal als sexy Erinnerung an eine Clubnacht mit Dreier. Die Männer sitzen vor einem Green-Screen, dahinter Farben, ein Wald, ein Strand, Wohnungen, Fahrten, Porträts. Sie erzählen direkt in die Kamera und aus den Bekenntnissen wird immer mehr ein Dialog mit dem, der hinter der Kamera sitzt. „Wie war das, als wir uns liebten?“, fragt er. Aber es wird nicht nur rekapituliert, was zwischen Grindr, Polya morie, Lieben und Verlusten passierte. Es wird auch gesungen. Ein Märchen, eine Performance, ein Musical. Zitate des Schriftstellers Rabih Alameddine mischen sich mit solchen aus ägyptischen PopSongs. Mehr und mehr wird dieser Raum vor dem Green-Screen zum Safe-Space, in dem die Männer ihr Begehren und ihre Bezie hungen verhandeln. Verletzlich, zärtlich, lust- und hoffnungsvoll.

D M:

Schuller D V: Mizzi

Österreich/Deutschland 2022 D 136 min D R: Sabine Derflinger D B: Sabine Derflinger D K: Christine A. Maier, Isabelle Casez D S: Lisa Zoe

The documentary about and with Alice Schwarzer portrays the political career of the feminist by using historical footage and current interviews. SCHWArZEr Eine Art Selbstporträt In einer souveränen Montage, die geschmeidig zwischen den Zeiten springt, erzählt Sabine Derflingers Dokumentarfilm vom politischen Werdegang Alice Schwarzers. Erzählerin ist die Porträtierte dabei quasi selbst, wenn sie in zahlreichen historischen und aktuellen, für den Film gedrehten Interviews Auskunft gibt – über ihre Politi sierung in Frankreich als Teil des MLF (Movement pour la libération des femmes), über die Kindheit bei den Großeltern in Wuppertal und über Meilensteile ihres Engagements darunter unter ande rem ihr in 12 Sprachen übersetztes Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“, die Gründung der Emma im Jahr 1977, die Klage gegen den Stern wegen seiner Darstellung von Frauen als Sexualobjekte (O-Ton Nannen: „Wir machen das nur, wenn es inhaltlich geboten ist.“), die Kampagne gegen den § 218, und die Berichterstattung für die Bildzeitung über den Kachelmann-Pro zess. Auch Schwarzers enge Verbundenheit zu Feministinnen in Frankreich, Algerien und Iran kommt vor, und ihr Leben in den Medien – sei es als Zeitungsmacherin, Moderatorin, Lieblings-Has sobjekt, Talkshowgast oder Medienkritikerin. Schwarzer ist streit bar und zugleich jovial. Sie plaudert sichtlich gerne, kommt an jeder Ecke mit Leuten ins Gespräch und nimmt bereitwillig Stellung zu umstrittenen Positionierungen der Emma, wie der Haltung zum muslimischen Kopftuch (politisches Symbol) und zur Prostitution (das „skandinavische Modell“, das Freier bestraft, sollte umgesetzt werden). Die jüngsten Debatten um Selbstbestimmungsgesetz/ trans Identität und den Ukraine-Krieg sind dagegen nicht mehr Teil des Films. Man hört ihr interessiert zu, aber es fällt nach einer Weile auch auf, dass man nahezu ausschließlich ihr zuhört. Gegenpositio nen kommen nicht zu Wort. Damit ist ALICE SCHWARZER fast eine Art Selbstporträt. D Hendrike Bake  Start am 15.9.2022

ALICE

Programmkino-Pioniere

Kinemathek”

MIT MIr IN DAS CINEMA – DIE GrEGOrS

Im Berliner Arsenal-Kino sind sie eine Institution und finden sich nun selbst im Mittelpunkt eines Dokumentarfilms wieder: Die Gregors, Ulrich und Erika, die sich 1957 kennenlernten, bald hei rateten und seitdem ein Leben für das Kino leben. 1963 waren sie an der Gründung der „Freunde der deutschen Kinemathek“ beteiligt, die in Berlin das Arsenal Kino betreiben, ihr wichtigster Akt folgte aber 1971. Die Gründung des Internationalen Forum des jungen Films, das nicht unbedingt immer jungen, aber meist innovativen Regisseur*innen eine Heimat bot. Inzwischen hat sich die Filmwelt und auch die Berlinale gewandelt, in den „gro ßen“ Sektionen wie dem Wettbewerb laufen auch Filme, die früher nur im Forum gezeigt worden wären, doch das Forum ist längst eine eigene Marke. Egal, ob man Ulrich Gregors „Geschichte des Films“ gelesen hat, im Arsenal Kino eine umfassende filmische Bildung genossen oder bei den Gesprächen mit internationalen Filmemacher*innen nach den Forums-Vorführungen zugehört hat: Spannend und informativ war es immer, von den Gregors zu lesen oder ihnen zuzuhören. Und so lebt Agneskirchners KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA – DIE GREGORS auch ganz stark von Charme und Witz der Gregors. Mal im Kino sitzend, mal in ihrer Küche, mal vor dem Fernseher: Die Gregors erzählen gern – und auch ausführlich. Weswegen Alice Agneskirchner Dokumentar film angesichts einer Länge von zweieinhalb Stunden bisweilen etwas zäh wirkt. Unzählige Freunde, Freundinnen und Wegbe gleiter*innen kommen zu Wort, vor allem aber die Gregors, deren langes, reiches Leben auch eine Kulturgeschichte der alten Bun desrepublik ist. KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA – DIE GREGORS ist am Ende eine würdige Hommage an zwei große Cineasten. D Michael Meyns  Start am 1.9.2022 Ulrich and Erika Gregor met in 1957 and have led a life together dedicated to the cinema ever since. In 1963 they founded the “Freunde der deutschen who run Arsenal Kino in Berlin and started the “Internationale Forum des jungen Films” at the Berlinale in 1971.

DANCING PINA EIN FILM VON FLORIAN HEINZEN-ZIOB WWW.MINDJAZZ-PICTURES.DE/DANCING-PINA dancingpina IM KINO AB 15. SEPT. Premiere mit Gästen: Do. 15.9. | 20 Uhr Delphi Lux Dancing_Pina_Indiekino_82x122_rz.indd 1 08.08.22 09:44

TErMINE UNTEr WWW.INDIEKINO.DE Deutschland 2022 D 155 min D R: Alice Agneskirchner D B: Alice Agneskirch ner D K: Jan Kerhart D S: Silke Botsch D M: Max Knoth D V: Real Fiction KOMM

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V:

Ist das ein inszenierter Dokumentarfilm? Geschichts-Essay? Im Reichtum schwimmen und sich dessen nicht bewusst zu sein, ist abgeschlossene westdeutsche Vergangenheit. Jedenfalls gehört dieser Film eindeutig ins Kino. Jede deutsche Mutter ein Nach kriegsstar. Anke Engelke stellt sich zur Verfügung, bietet sich dar und ist einfach eine großartige Schauspielerin. Wieviel Sorgfalt in jeder Szene liegt! Wer sind eigentlich die Kinder, wenn wir einmal annähmen, dass der Film analog „Mutterarbeit“ verrichtet. Wir? Geht es um: “Gebärmutterentfernung. Einfach so.“ Oder: „Dieses Kind war wie ich und meine Wunde.“ Beides.

Pictures

iekriTikenMUTTEr

Genau in dem Moment in dem man sich fragt: „Müssen auch meine Gefühle auf Ewigkeiten durch Waschanlagen gurken?“, taucht ein lebendiges Mädchen auf. Sie jongliert an einer Ampel anlage. Ihre Haare flattern durch die Gegend, sie springt und lacht. Das ist zwar sehr romantisch, nur anders eben nicht zu ertragen: Wahres Vermögen ist die Möglichkeit. D Kathrin Eissing  Start am 29.9.2022

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Die Frau ist gebügelt MUTTER beginnt mit der hinreißenden Anke Engelke in der Bade wanne: „Ich war absolut frigide. Dann zog ich mit dem Mann zusammen, wieso weiß ich nicht … und dann dachte der: Ja, die knackst du. Egal wie lange das dauert …“ Darauf flauschige Hand tücher in genauen Bildern – sofort wird die sensible Kamera von Reinhold Vorschneider klar. Die Frau zieht sich an und ist gebü gelt. Sie bewegt sich, unbeeindruckt von sich selbst, in einem reichen Haus. Mit der Haut einer ihr Leben lang gebadeten Frau, steigt sie in das glänzende Auto und fährt zur Waschanlage. Dort hindurch schrubben sich wie durch eine Schablone die verschie denen Geschichten von Müttern in die Welt. Frauen erzählen durch Anke Engelke, die synchron zu den Off-Stimmen den Mund bewegt, von den Niederlagen ihrer Körper. Das in perfektem Hochdeutsch, als hätten alle ein Priesterseminar besucht oder kämen aus Hannover. „Ich hatte ja keine Zeit um abzutreiben.“

Die Frau wird geschminkt, angezogen, liegt auf einer Bühne. Die Kette der Mütter, die durch sie spricht reißt nie ab. Tapetenmus ter blenden, farbige Kostüme werden zurechtgeschnitten. Ver richtungen der Mutterschaft angegeben. „Es gab immer frisches Essen, nix aus der Dose!“ Die Bilder sind zum Sattsehen. Anke E. bindet ganz erstaunlich kunstvoll, furchtbar lieblose Sträuße. Eine Frau, Malerin, berichtet tatsächlich von Glücksgefühlen mit vier kleinen Kindern. Die Tröstung im letzten Drittel ist so knallhart gebaut, wie die Putzlappen auf dem makellosen Wäscheständer sauber sind. „Stabat Mater“ singen die einzigen Kinder mit Hän den an der Hosennaht. Segelfliegen, Tennis sind wichtig.

Anke Engelke plays a woman who is going through her routine, tying flow ers together, washing a blouse. Mothers speak about everday motherhood through her. A documentary experiment. R: Carolin Schmitz B: Carolin Schmitz K: Reinhold Vorschneider D S: Stefan Oliveira-Pita, Annett Kiener D D: Anke Engelke D mindjazz

D 32 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in D

Deutschland 2022 D 88 min D

LA CLAVE Nagel, Klangholz, Rhythmuselement La Clave: Das ist der hölzerne Schiffsnagel, wichtiges Werkzeug, als vor Jahrhunderten schon Havanna die Haupt-Reparaturwerft für den Schiffsverkehr zwischen der Alten und der Neuen Welt war. Man kann diese Nägel zum Klingen bringen. La Clave: Das sind Klanghölzer, die über der hohlen Hand mit rhythmischem Hopser aufeinandergeschlagen werden. La Clave: Das ist auch generell dieses rhythmische Element, das in verschiedenen Variationen den Herzschlag der kubanischen Musik ausmacht: „Clave“ ist der Schlüssel, und wer den nicht hat, der kann keine kubanische Musik machen. Kurt Hartel ist der Clave auf der Spur, und er findet sie überall: im Rumba und in den afrokubanischen Volksreligionen, im Salsa und im kubanischen Jazz – in einer der beeindruckendsten Szenen des Films wandelt ein Pianist eine Chopin-Nocturne in ein feuriges kubanisches Stück um, indem er mit der Basshand die Clave einfügt. Der Film taucht ein in die Kul tur- und Musikgeschichte von Kuba, die geprägt ist davon, dass jahrhundertelang Afrikaner hierher zur Sklavenarbeit verschleppt wurden, aber auch von der europäischen Musikkultur – auf Kuba konnten sich diese Traditionen auf spezifische Weise vereinen. Obwohl Musiker und Musikwissenschaftler ausführlich zu Wort kommen und mit historischen und auch theoretischen Exkursen einen Zugang zur kubanischen Musik bieten, ist „La Clave“ kein Musikseminar. Hartel legt größten Wert darauf, verschiedene kubanische Gruppen verschiedenster kubanischer Stilrichtun gen zu präsentieren. Gespickt mit diesen vielen Performances, auf der Bühne, im Proberaum, in der Musikschule oder auf der Straße, eröffnet sich ein musikalisches Panorama der Vielfalt –und auf der Suche nach dem Clave-Muster in den verschiedenar tigen Musikrichtungen hört man nochmal besonders gut hin und lässt sich mitreißen. D Harald Mühlbeyer  Start am 15.9.2022 La Clave: they are ship nails that were later used as wooden instruments to create the rhythmic element that makes up Cuban music. “Clave” also means key, and those who don’t have it can’t make Cuban music.

Deutschland 2021 D 89 min D R: Kurt Hartel D K: Toussaint Alvarez D V: W-Film

TErMINE UNTEr WWW.INDIEKINO.DE ABwww.realfictionfilme.de22.SEPTEMBER IM KINO! ein Film von Frank VERABREDUNGENWierkeMITEINEMDICHTERMICHAELKRÜGER

D 34 D SEPTEMBEr 2022 IN DIEFEATUrE David Bowie – Musiker, Maler, Schauspieler: Ein wandlungsfä higer Künstler ohnegleichen. Ob als Ziggy Stardust, Major Tom oder Thin White Duke: David Robert Jones beherrschte das Spiel mit den Rollen wie kein anderer. Er überwand Geschlechter- und Stilgrenzen, war alles gleichzeitig und in einer Person, Identifika tionsobjekt für eine ganze Generation. Die Wucht, mit der seine Musik und seine Performance Anfang der Siebziger in die briti sche Gesellschaft und von dort aus in aller Welt einschlug, war Übernachhaltig.fünfJahrzehnte hinweg gelang es ihm, sich immer wieder neu zu erfinden. Auch sechs Jahre nach seinem Tod ist der Ver lust dieser Stilikone schmerzhaft spürbar. Sein Leben, sein Wir ken, sein Genie in einen Film zu fassen, erscheint da eigentlich unmöglich. Regisseur Brett Morgen, der sich in der Vergangenheit bereits mit ungewöhnlichen Dokumentarfilmen zum Nirvana-Sän ger Kurt Cobain (COBAIN: MONTAGE OF HECK) und der britischen Verhaltensforscherin Jane Goodall (JANE) auszeichnete, nähert sich Bowie durch seine Musik. Fünf Jahre lang wühlte er sich durch das immense Archiv an Bild- und Tonaufnahmen und schuf eine einzigartige 140-minütige Collage, ein Trip durch das Leben des Ausnahmekünstlers. Anhand der unterschiedlichen Phasen seiner Karriere entstand so eine absolut einzigartige Werkschau, ein Rausch aus „Sound and Vision“ – Klang und Bildern – der auf Augenhöhe mit Bowies Kunst ist. Zu Wort kommt dabei fast ausschließlich Bowie selbst, angereichert mit Zitaten von Brecht, Nietzsche und den Bildern von METROPOLIS oder NOSFERATU. So ist MOONAGE DAYDREAM – benannt nach einem Song auf dem 1972er Album „Ziggy Stardust and the Spiders From Mars“ – keine lückenlose Biografie oder umfassende Werkschau des Briten, sondern vielmehr ein gefühlvoller Versuch, seinen künstle rischen Ausdruck in Bilder fassen D Lars Tunçay  Start am 15.9.2022 MOONAGE DAYDrEAM Stil-Ikone David Bowie Director Brett Morgan (COBAIN: MONTAGE OF HECK) rooted through the immense archive of video and audio footage of David Bowie and created a unique 140-minute-collage, a trip through the life of the recording artist. USA 2022 D 140 min D R: Brett Morgen D B: Brett Morgen D D: David Bowie D V: Universal Pictures

SEPTEMBEr 2022 D 35 D IN DIEFEATUrE

D 36 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken Deutschland 2022 D 88 min D R: Rosa von Praunheim D B: Nico Woche, Rosa von Praunheim D K: Lorenz Haarmann D S: Mike Shephard D D: Kilian Berger, Ben Becker, Kai Schumann, Florian Korty D V: missingFILMs rEX GILDO – DEr LETZTE TANZ

“I am the state!”, is how “Sun King” Louis XIV summarized the political program of absolutism. Max Linz takes up this motive for the theatrical performance of politics in L’ETAT ET MOI and follows it through the history of German jurisdiction.

Deutschland

Doppelbild des Schlagerstars Ludwig Franz Hirtreiter, so hieß Rex Gildo einst mit bürgerlichem Namen, und so liegt er heute in München begraben. Für seine Fans, die weiterhin treu über ihn wachen, ist er noch immer der größte, der einzige wahre deutsche Schlagerstar. Wie er zu dem wurde, erzählt Rosa von Praunheim in seinem halb dokumentarischen, halb fiktionalen Film, in dem er nebenbei immer auch ein Stück weit aus dem eigenen Leben erzählt. Aber im Zentrum steht der Mann mit dem stets pechschwarzen Haar und den scheinbar angeborenen Lachfalten um die Augen. Der Mann, der stets gute Laune verbreitete, zum Schunkeln anregte und in seinen Liedern von der Liebe und einer heilen Welt sang, die es für ihn privat niemals gegeben hat. In den gespielten Sze nen verkörpert Kilian Berger den jungen, ungestümen Schönling, der anfangs beim Herrenausstatter arbeitet. Dort lernt er jedoch bald den von Ben Becker mit ehrlicher Güte gespielten älteren Fred Miekley („ein Gentleman aller erster Güte“) kennen, der sein Manager und Liebhaber werden soll. Mit seiner Hilfe schauspielert und singt sich Gildo im Deutschland der sechziger Jahre bald zum Liebling der Nation, zunächst im Duett mit Conny Froboess und später mit Gitte Haening, bis er 1972 mit „Fiesta Mexikana“ den Partyknüller schlechthin landet. Der andere, der private Gildo, hei ratet in der Zeit seine Cousine, um ja keinen Verdacht über seine Vorlieben und sexuellen Neigungen aufkommen zu lassen. Rosa von Praunheim verdichtet das Doppelbild, das er von Gildo zeich net, anhand von Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten, von Costa Cordalis bis hin zur Haushälterin. Am Ende kommen noch einmal die Fans zu Wort, die am Gemeinschaftsgrab von Gildo, sei ner Frau und Miekley vehement alle Spekulationen geraderücken und die Legende vom ewigen Schlagerstar heraufbeschwören. In dem Sinne: Hossa! Hossa! Hossa! D Pamela Jahn  Start am 29.9.2022 2022 D 85 min D R: Max Linz D K: Markus Koob D S: Kathrin Krottenthaler D D: Hêvîn Tekin D V: Edition Salzgeber

L’ÉTAT ET MOI

Nostalgische Revolutionsposse Mit dem Ausspruch „L’etat, c’ est moi!“ – „Der Staat bin ich!“ fasste der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV einmal das politische Pro gramm des Absolutismus zusammen: Macht ist von ihrer Verkör perung und Aufführung nicht zu trennen. Dieses Motiv der thea tralen Aufführung von Politik nimmt Max Linz in seinem dritten Spielfilm L’ETAT ET MOI auf und verfolgt es durch die Geschichte der deutschen Rechtsprechung. In seiner Komödie reist der Kom ponist Hans List (Sophie Rois) aus dem Jahr 1871 in das Berlin der Gegenwart. Mit ihm reisen ein Paragraf aus dem Strafge setz des deutschen Kaiserreiches, der den Straftatbestand des Hochverrats formuliert, und die Architektur rund um das Berliner Stadtschloss bzw. Humboldtforum als Schauplatz des gesamten Films. Während Hans List zur Zielscheibe der Exekutive wird, träumen Rechtsreferendar Yushi Lewis (Jeremy Mockridge) und Richterin Josephine Praetorius-Camusot (ebenfalls Sophie Rois) von der Leidenschaft amerikanischer Strafprozesse, und an der Staatsoper wird das revolutionäre Les Misérables inszeniert. Die Theatralität der Politik führt jedoch nicht zur Politisierung des Theaters – subversiv ist die Kunst in L’ETAT ET MOI höchstens aus Versehen. Vielleicht schwingt in dieser Diagnose eine gewisse Nostalgie mit, nach einer Zeit als Schriftsteller*innen und Kom ponist*innen noch auf den Barrikaden standen, wie während der Pariser Kommune, oder als Agitation noch eine legitime künstle rische Strategie war, wie zur Zeit des im Film zitierten Eisenstein? Nostalgisch ist auch die von Linz gewählte Form der Posse, inklu sive Verwechslungen, Slapstick und enttäuschter Liebe. Verstärkt werden die Absurditäten noch durch Verfremdungseffekte, Blicke in die Kamera und betont hölzerne Dialoge, so dass L’ETAT ET MOI wie eine Antwort auf Julian Radlmaiers marxistische Vampirkla motte BLUTSAUGER wirkt. D Yorick Berta  Start am 1.9.2022

For his fans, Rex Gildo is still the greatest German pop singer. Rosa von Praunheim has made a portrait of a man who always liked to spread joy and sang about love and an ideal world which never existed for him in his private life.

TErMINE UNTEr WWW.INDIEKINO.DE Deutschland 2022 D 111 min D R: Florian Heinzen-Ziob D B: Florian Heinzen-Ziob D K: Enno Endlicher, Igor Novic, Florian Heinzen-Ziob D S: Florian Heinzen-Ziob D V: mindjazz Pictures Österreich 2022 D 96 min D R: Kurt Langbein D K: Christian Roth D V: 24 Bilder

SeineLandpraktikumKüheblöken

The Wuppertal dance theater is trying to keep the work of legendary choreographer Pina Bausch alive after her death and gain a new audience for her pieces by performing new stagings with other companies, among other things.

DER BOBO UND DER BAUER (benannt nach dem gleichnamigen Buch von Klenk) rekonstruiert geschickt diese Geschichte und liefert zugleich Zeugnis ab über das bäuerliche Leben in Zeiten der Digitalisierung, Klimakrise und Massentierhaltung. Bachler berichtet von den Ängsten, Schwierigkeiten und Problemen, Klenk packt am Hof ordentlich mit an und rechnet parallel Gewinne und Kosten aus. Sein Fazit: Viel kommt dabei nicht rum. Als er später durch Zufall mitbekommt, dass Bachler vor dem Ruin steht und die Bank den Hof versteigern will, startet er eigenhändig eine Ret tungsaktion. Dass die Doku zum Ende hin etwas zerfasert wirkt, je mehr Themen Langbein aufgreift, ohne den längst im Raum stehenden dringlichen Fragen zur Wirtschaftlichkeit und Nachhal tigkeit in der Landwirtschaft nachzugehen, ist schade. Ein Grund diesen kleinen, wichtigen Film deshalb nicht zu sehen, ist es nicht. D Pamela Jahn  Start am 29.9.2022

DEr BAUEr UND DEr BOBO

DANCING PINA Re-Inszenierungen in Dresden und Dakar Theater- und Musikstücke werden oft noch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung aufgeführt und in neuen Kontexten neu interpre tiert. Tanz-Kunstwerke scheinen dazu verurteilt, mit dem Altern der ursprünglichen Ensembles in Vergessenheit zu geraten. Das Wuppertaler Tanztheater probiert nach dem Tod der legendären Choreografin Pina Bausch einen anderen Weg und bemüht sich, ihre Stücke für ein neues Publikum zu erschließen, unter anderem durch Neu-Einstudierungen mit anderen Kompagnien.

Für die vom klassischen Ballett Geprägten ist die Toleranz gegen über Fehlern und vermeintlicher Imperfektion höchst ungewohnt; schön zu sehen, wie sie beginnen, den Freiraum der Pina-Bau sch-Arbeit zu genießen. In Afrika sind die Themen andere, aber der Druck ist nicht geringer. Besonders für die Frauen bedeutet die Entscheidung für ein Leben als professionelle Tänzerin oft den Bruch mit familiären und gesellschaftlichen Erwartungen. Doch gibt es auch erstaunliche Ähnlichkeiten. Das Vertrauen auf die eigene Persönlichkeit als Kern der Bühnenarbeit, das charakte ristisch ist für Pina Bauschs Ansatz, hat in beiden Kulturen noch immer innovative Kraft. D Susanne Stern  Start am 15.9.2022

DANCING PINA folgt den Proben zu „Iphigenie auf Tauris“ an der Dresd ner Semperoper und zu Strawinskys „Frühlingsopfer“ an der École des Sables im Sénégal. In Dresden tanzt eine klassische Ballettkompagnie, in Dakar ein Ensemble aus verschiedenen afrikanischen Ländern, das vom Street Dance und traditionellen afrikanischen Tänzen geprägt ist. Unter der Regie von Stars der Originalchoreografien geht es darum, zwischen Werktreue und künstlerischer Freiheit die Essenz zu erhalten, die diese Stücke weltberühmt gemacht hat: Die tiefe menschliche Ehrlichkeit, das Suchen höchstpersönlicher Antworten auf grundlegende Fragen. Das ist Neuland in den Proberäumen, in Deutschland wie in Afrika.

After farmer Christian Bachler and chief editor of Falter magazine Florian Kenk butt heads in the media, the farmer invites “Bobo” to an internship. The documentary reconstructs the story and also shows what farming life is like in the age of digitalisation, the climate crisis and factory farming.

einmütig, als er über die Touristen wettert, und Christian Bachler fühlt sich bestätigt. Der Bergbauer kann gut mit Tieren, eigentlich besser als mit Menschen. Auf jeden Fall besser als mit Städtern wie Florian Klenk, seinerseits Chefredak teur des Falter in Wien. Zumindest war das so, bis die beiden sich vor einigen Jahren kennenlernten. Bachler stammt aus dem steirischen Krakautal und machte damals auf sich aufmerksam, weil er in einem Video im Internet über den Journalisten wetterte: Klenk hatte sich in einem Artikel über das Urteil im Schaden ersatzprozess um eine Kuh, die auf einer Alm eine Frau getötet hatte, auf Klägerseite und damit gegen die Menge gestellt. Daraus entwickelte sich ein Dialog, der zur Freundschaft wurde, nach dem Bachler den ahnungslosen „Bobo“ (Bobo = Ökospießer) zu einem Praktikum auf seinem Hof eingeladen und Klenk das Ange bot spontan angenommen hatte. Kurt Langbeins Dokumentarfilm

Im Keller des Kapitalismus Das Museum der Revolution in Belgrad ist eine reale Parabel auf den Kommunismus. 1961 wurde es als Kernstück einer Gruppe von Revolutionsmuseen in Jugoslawien geplant, das einen Über blick über die Geschichte des Landes und der Arbeiter*innen bewegung geben sollte. Nach etlichen Verzögerungen wurde in den 1970er Jahren mit dem ambitionierten, modernistischen Bau begonnen, der jedoch nie über das Fundament hinaus kam. Die Baustelle, umgeben von Regierungs- und Bankgebäuden und dem größten Shoppingcenter im gesamten Balkan ist heute eine Bra che. Doch im von Gras überdeckten Untergeschoss des Museums der Revolution hausen dutzende Menschen: Aus dem Museum ist ein Antimuseum geworden, das nicht die Heilsgeschichte prole tarischer Emanzipation ausstellt, sondern die prekären Realitäten im postsowjetischen Raum in sich birgt. Srđan Keča präsentierte die Geschichte und die zukunftslose Gegenwart des Museums der Revolution erstmals 2014 auf dem slowenischen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig. Nun ist daraus sein erster Langfilm geworden, der sich jedoch weniger mit dem Bauprojekt als mit seinen Bewohner*innen beschäftigt. Zwischen ästhetisch ausgefeilten Einstellungen des monumenta len Kellers und der Straßen Belgrads zeigt Keča (Buch, Regie und Kamera) das Leben der jungen Mutter Vera, der vielleicht acht jährigen Milica und ihrer Wahloma Mara. Ähnlich wie Tizza Covis und Rainer Frimmels ebenfalls mit Laien gedrehten LA PIVELLINA (2009) zeigt Keča mit Einfühlungsvermögen aber ohne Verklärung kleine Inseln der Intimität und Fürsorge inmitten einer täglich aufs Neue erbarmungslosen Realität im Keller des Kapitalismus. Die Stärke und Zuneigung der drei Frauen wird in jeder der zurück haltenden, über lange Strecken wortlosen Einstellungen fühlbar. D Yorick Berta  Start am 1.9.2022 In 1961 the Museum of Revolution in Belgrade was going to be the cen terpiece of a group of revolution museums in Yugoslavia, but it was never completed. Young mother Vera, her daughter Milka and her older friend Mara live in the basement of the unfinished building.

FITZCArrALDO (WA)

Anlässlich von Werner Herzogs 80stem kommt mit FITZCAR RALDO (1982) der wohl berühmteste Film des Duos Werner Herzog/Klaus Kinski als Wiederaufführung ins Kino. Kinski spielt einen größenwahnsinnigen Unternehmer, der ein Opernhaus im Dschungel bauen will und dafür einen Dampfer von indigenen Arbeitern über einen Berg hieven lässt – was Herzog tatsäch lich real darstellen ließ. Visuell ist das immer noch sehr beein druckend, Klaus Kinskis extreme Selbstinszenierung ist vor dem Hintergrund des jahrelangen Missbrauchs an seiner Tochter Pola dagegen nur noch schwer erträglich.  Start am 1.9.2022

TICKET INS PArADIES

MUSEUM OF THE rEVOLUTION

D 38 D SEPTEMBEr 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

Wenn uns nicht alles täuscht, müsste TICKET INS PARADIES eine Art „Comedy of Remarriage“ im Stil von PHILADELPHIA STORY sein. George Clooney und Julia Roberts sind ein geschiedenes Paar, deren Tochter einen Einheimischen auf den Philippinen hei raten will. Die beiden eigentlich dauer-verstrittenen Ex-Partner planen, das zu verhindern, aber Irrungen, Wirrungen. Mehr wis sen wir leider auch noch nicht, aber wer sich so schön streitet, verliebt sich doch auch wieder,

oder?  Start am Originaltitel:15.9.2022TicketTo Paradise D USA 2022 D R: Ol Parker D D: Julia Roberts, George Clooney, Kaitlyn Dever, Billie Lourd Deutschland/Brasilien/Peru 1982 D 158 min D R: Werner Herzog D D: Klaus Kinski, Claudia Cardinale, José Lewgoy, Miguel Angel Fuentes, Paul Hittscher Serbien/Kroatien/Tschechische Republik 2021 D 91 min D R: Srđan Keča D K: Srđan Keča D S: Hrvoslava Brkušić, Srđan Keča D V: déjà-vu Film

DON’T WOrrY DArLING DON’T WORRY DARLING scheint eine Art Sc-Fi-Horrorgeschichte im Stile von THE STEPFORD WIVES zu sein, aber mit großer Star besetzung. Florence Pugh (MIDSOMMAR) spielt die Ehefrau von Pop-Halbgott Harry Styles, der hier einen jungen Wissenschaftler in den 50er Jahren gibt. Das geheimnisvolle „Victory Projekt“, an dem Harry arbeitet, hat mit Sicherheit etwas damit zu tun, dass das utopische Vorstadtleben allmählich ins Unheimliche kippt.

Termine unTer www.indiekino.de

 Start am 22.9.2022 USA 2022 D R: Olivia Wilde D D: Florence Pugh, Harry Styles, Olivia Wilde, Gemma Chan, Kiki Layne, Nick Kroll, Chris Pine Südafrika 2022 D 124 min D R: Travis Taute D D: Jarrid Geduld, Gail Mabalane, Andre Jacobs

INDEMNITY

Der südafrikanische Debütfilm steht in der Tradition der ameri kanischen Actionthriller, die in den 1990ern die Kinos und Video theken füllten, und möchte am liebsten alle Tropen des Genres auf einmal abdecken. Der Kapstädter Feuerwehrhauptmann Theo Abrams wird des Mordes an seiner Frau beschuldigt. Auf dem Weg in die Haft kann er zwei Angriffe durch Auftragskiller gerade noch so abwehren und befindet sich ab dann auf der Flucht. Theo wird es schwer haben, seine Unschuld zu beweisen – trotz Zwangsurlaub, Hypnotherapie und Psychopharmaka nach einem traumatischen Einsatz, hatte er seine Ehefrau noch kurz vor dem Mord mit emotionalen Ausbrüchen verängstigt.  Start am 1.9.2022

D 40 D SEPTEMBEr 2022 LET’S DOK The Strait Guys IN DIEKINOHIGHLIGHTS

SEPTEMBEr 2022 D 41 D Seit 2020 deklariert “Let’s Dok“ eine Woche zur Woche des Dokumentarfilms, um auf die Vielfalt des Genres aufmerksam zu machen. Vom 12.-18.9. laden Kinos bundesweit zu Filmvorfüh rungen und zu Filmgesprächen mit Gästen und Expert*innen ein – zu den Vorführungen der Vulkan-Doku FIRE OF LOVE in Bayern debattieren dann beispielsweise Vulkanforscher Dr. Ulrich Küp pers (LMU München) und Dr. Stephan Bleek (AG DOK) über die Lebensleistung der Geowissenschaftler Katia und Maurice Krafft und die Bedeutung ihrer Filmaufnahmen für die Vulkanforschung heute. Zahlreiche Events bringen den Dokfilm an ungewöhnli che Orte – auf Marktplätze, in Bahnhöfe oder in Hochschulen, in Betriebe, Museen und Kirchen. In Köln gibt es im Rahmen von Let’s Dok eine Führung durch den Kuppelsaal mit Kurzfilmen, das Kino 8 1/2 in Saarbrücken richtet neben der Vorführung von LOST IN FACE eine Ausstellung mit Arbeiten der Hauptdarstelle rin Carlotta aus, und das Moviemento Berlin veranstaltet einen Dokfilm-Workshop für Jugendliche. Das Programm wächst noch. Alle Filme, Events und Kinos unter: letsdok.de IN DIEKINOHIGHLIGHTS

Es kommt immer auf den Kontext an. Ich habe während der Dre harbeiten zum Film ehrlich gesagt nie gedacht: Ich wünschte, wir hätten daraus eine Wüstenszene gemacht. Aber ich habe über die Nubische Wüste gesagt: Ich wünschte, wir könnten das alles im Studio drehen. Haben Sie eigentlich darüber nachgedacht, was Sie sich an Alitheas Stelle gewünscht hätten?

IN DIEFEATURE D 42 D SEPTEMBEr 2022 „ICH FrEUE MICH IMMEr, WENN ICH DUSCHEN KANN. VOr ALLEM,WENN ES DArUM GEHT, EIN PrOBLEM ZU LÖSEN.“ Interview mit George Miller über

George Miller: Nein, ich denke man kann Wissenschaft und Kunst nicht voneinander trennen, denn der Entstehungsprozess ist im Grunde derselbe. Unabhängig von der Forschung braucht es zunächst einen Moment der Inspiration, so wie bei einem großen Komponisten, der eine Anregung benötigt, um eine neue Sinfonie zu schreiben. Man könnte wahrscheinlich sogar argumentieren, dass Einstein der größte wissenschaftliche Künstler war, auf grund der Art und Weise, wie er einige tiefgreifende wissenschaft liche Geheimnisse artikulierte. Aber es kommt letztlich immer auf die eine Initialzündung an, diese Art von zufälligem, losgelöstem Denken, bei dem man plötzlich diesen Aha-Effekt hat. Wann haben Sie Ihre besten Ideen? Jemand hat mir neulich erzählt, er habe die besten Ideen weder auf dem Tennisplatz noch zu Hause, sondern auf dem Weg dazwi schen. Und das war bei mir auch schon immer so. Das ist das Einzige, was ich in meiner Arbeit wirklich verstanden habe, dass Ideen, wirklich bedeutsame Einfälle, nur in diesem hypnagogi schen Zustand hervortreten, auf halbem Weg zwischen wach sein und schlafen, zwischen Traum und Wirklichkeit. George Lucas meinte einmal, dass ihm seine mit Abstand besten Ideen unter der Dusche kämen. Und bei mir ist es ähnlich. Ich freue mich immer, wenn ich duschen kann. Vor allem, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Dann bin ich am liebsten in der Dusche oder im Flugzeug. Oder zumindest irgendwo, wo ich keine ande ren Verpflichtungen habe. Sie sind ein begnadeter Actionregisseur. Fühlen Sie sich wohler, wenn Sie Verfolgungsjagden mit hundert Meilen pro Stunde in der Wüste inszenieren oder wenn Sie intime Gespräche zwischen einer Akademikerin und einem Djinn in einem Hotelzimmer filmen?

THREE THOUSAND YEARS OF LONGING

Ich bin tatsächlich sehr anspruchslos. Und ich denke, jeder Wunsch mit einem unverdienten Ergebnis ist nur ein leerer Wunsch. Ich könnte mir zum Beispiel wünschen, dass THREE THOUSAND YEARS OF LONGING der erfolgreichste Film aller Als Regisseur hat der Australier George Miller ein kleines, eklektisches Werk geschaffen: Berühmt wurde er durch die MAD MAX-Filme (1979-2015), seinen einzigen Oscar gewann er aber für das Melodram LORENZO’S OIL (1992). Großen Erfolg hatten auch die schwarze Komödie

INDIEKINO: Zu Beginn des Films argumentiert die Akademikerin Alithea Binnie sinngemäss, dass wir Geschichten brauchen, um die Dinge zu erklären, die wir nicht verstehen. Lassen sich Wis senschaft und Kunst voneinander trennen, oder heißt das, dass Wissenschaft auch nur eine Geschichte ist?

THE WITCHES OF EASTWICK (1987), sowie der von Miller produzierte Kinderfilm Filme BABE (EIN SCHWEINCHEN NAMENS BABE, 1995) und BABE: PIG IN THE CITY (1998), bei dem Miller auch Regie führte, sowie die Animationsfilme HAPPY FEET (2006) und HAPPY FEET TWO (2011), über tanzende Pinguine. Zuletzt brachte der Actionfilm MAD MAX: FURY ROAD Miller zwei Oscarnominierun gen ein - für den Besten Film und die beste Regie - extrem ungewöhnlich für eine puren Genrefilm. Pamela Jahn hat mit George Miller über seinen jüngsten Film, die fantastische Liebesgeschichte THREE THOUSAND YEARS OF LONGING gesprochen.

Wie sehr hat sich dieser Gedanke in ihrem Kopf angesichts der Entwicklungen im Bereich der Spezialeffekte verändert? Der Film muss jetzt ganz anders aussehen als zu dem Zeitpunkt, als Sie anfingen, darüber nachzudenken.

Aber wie hält man die Begeisterung so lange, wenn ein Projekt, wie in diesem Fall, zwanzig Jahre auf sich warten lässt, bis man es verwirklichen kann?

Ich bin sehr glücklich, lange genug dabei zu sein, um Filme zu machen, die Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre den Übergang in die digitale Produktion erlebten, das war meiner Meinung nach ein großer Moment im Kino, wahrscheinlich der bedeutendste seit der Einführung des Tons. Und das Technische hat mich schon immer fasziniert, also bin ich sehr früh eingestiegen, etwa als wir die BABE-Filme gedreht haben. Es klingt jetzt sehr einfach, aber Schweine auf der Leinwand zum Reden zu bringen, war keine leichte Sache. Steven Spielberg hat damals zusammen mit George Lucas die ganze Pionierarbeit geleistet. JURASSIC PARK war der Anfang, das war ein bedeutender Moment. Es gab auch einige frühere Arbeiten, YOUNG SHERLOCK HOLMES kam noch davor. Der Unterschied zwischen heute und noch vor zehn Jahren ist im Hinblick auf CGI einfach bemerkenswert. Aber das ist alles Technik, Spielzeug, darin liegt nicht das Wesen der Geschichte.

irgendwann bekomme ich vielleicht die Möglichkeit, die eine oder andere davon auf die Leinwand zu bringen.

IN DIEFEATURE SEPTEMBEr 2022 D 43 D

Ich arbeite langsam, das stört mich nicht. Wenn es sein soll, kommt ein Projekt immer wieder zu einem zurück. Und ich denke, das passiert uns allen. Es gibt Geschichten, die Sie in ihrer Kind heit gehört oder gelesen haben. Oder Sie stoßen irgendwann auf ein Buch, das Sie danach ihr Leben lang begleitet. Als Fil memacher habe ich all diese Geschichten in meinem Kopf, und

Definitiv. Er projiziert in Alitheas Vorstellung das, was wir sehen, die Geschichten, die Magie. Idris sagte einmal zu mir: „Der Typ vermasselt es wirklich jedes Mal. Ich weiß nicht, ob du dich erin nerst, aber das ist wie bei Pinocchio.“ Ich meinte daraufhin: „Idris, das ist mein zweitliebster Film aller Zeiten.“ Er sagte, Pinocchio würde es auch immer wieder vermasseln. Und ich erinnerte ihn daran, was am Ende mit ihm passiert. Pinocchio findet Anmut und Würde. Und ich denke, ganz ähnlich ist es mit dem Dschinn und mit Alithea. D Das Gespräch führte Pamela Jahn Zeiten wird. Aber wenn der Film diesen Erfolg nicht verdient, dann ist der Wunsch hohl. Ich habe im Laufe meines Lebens festge stellt, dass die Dinge immer dann lohnenswert sind, wenn man sie auch verdient hat. Inspiration kommt immer aus dem Pro zess, der harten intellektuellen Arbeit, dieser Interaktion, diesem Wechselspiel zwischen der Intuition und dem Intellekt, diesem Ding, diesem Klebstoff. Wünsche dagegen entstehen aus einem falschen Verlangen. So wie bei Alithea. Sie wollte geliebt werden. Aber so einfach ist das eben nicht. Gibt es eine Parallele zwischen dem Erzählen einer guten Geschichte und dem Prozess des Sich-Verliebens? Ich denke schon. Zumindest ist das bei mir so, wenn ich mich in eine Geschichte verliebe. Es ist wie ein Sog, dem man nicht wider stehen kann. Und das war definitiv bei praktisch jeder Geschichte der Fall, die ich bisher verfilmt habe. Ich mache nicht viele Filme, aber genau aus diesem Grund. Manchmal lehne ich Angebote ab, so wie ich nie wieder einen MAD MAX-Film machen wollte, weil ich dachte, da wäre alles gesagt. Aber dann hatte ich eine Idee, die in mir keimte und wuchs und wuchs, bis ich wie besessen davon war, diese Geschichte zu erzählen. Und ganz ähnlich ging es mir mit A.S. Byatts Novelle oder Kurzgeschichte, sie passte einfach so gut zu dem, was ich über das Geschichtenerzählen und die Liebe empfand. Und natürlich hat das, wie alle Geschichten, damit zu tun, zu welchem Zeitpunkt man auf eine bestimmte Geschichte stößt. Das hat immer etwas Autobiografisches an sich.

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D 46 D SEPTEMBEr 2022 INDIEKINOVOrSCHAUIM OKTOBEr NACHBILD D TrIANGLE OF SADNESS Cannes-Gewinner D ALLE WOLLEN GELIEBT WErDEN Auf Kante D rHEINGOLD Hip Hop Legende D IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHr GIBT In der DDR-ModeSzene D MONA LISA AND THE BLOOD MOON Gedankenkontrolle D DEr NACHNAME Weiterstreiten D VErLOrENE ILLUSIONEN Balzac-Verfilmung D WAS DEIN HErZ DIr SAGT Adoptions-Slapstick D ATLAS Nach dem Terror D BrOS LBGTQ+ Jungshumor D rISE UP Revolutionsgeschichte D SCHWEIGEND STEHT DEr WALD Forsthorror D THE DEVILS LIGHT Horror-Madonna D THE WOMAN KING Dahomey D IGOr LEVIT. NO FEAr Politischer Pianist D rIMINI Seidl am Schlagerstrand D GIrL GANG Influencerin D WErNEr HErZOG – rADICAL DrEAMEr Porträt Das Schönste an FREIBAD von Doris Dörrie ist das Freibad. Zwischen den Spielszenen fängt die Kamera immer wieder das Gewimmel und Getöse, die Überbelichtung und Unübersicht lichkeit des Pool-Lebens ein. Was auf der Dialogebene geduldig ausbuchstabiert wird, erschließt sich hier auf einen Blick: Spaß macht vor allem die laute Vielfalt, auch wenn sie nervt. Der Film erzählt auch von der Sommerstille, die einkehrt, wenn am Abend die letzten Besucherinnen das Bad verlassen haben. Immer wenn es Nacht wird, sieht man dann in einer Einstellung die zurück gelassenen Schwimminseln und Badetiere lautlos und friedlich durchs unterwasserbeleuchtete Becken gleiten – ein geheimes, magisches Wasserballett. Kamera: Hanno Lentz.

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