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TIll – kAmpF Um DIE wAhRhEIT

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Geschichte eines Hassverbrechens

Es ist eins der erschütterndsten Bilder der amerikanischen Geschichte: Der tote Emmett Till, aufgebahrt in einem Leichenschauhaus, sein Gesicht eine nicht zu identifizierende Masse aus Fleisch und Knochen, gelyncht von weißen Rassisten. Im Hintergrund ist seine Mutter Mamie zu sehen und von ihr handelt Chinonye Chukwus TILL. Die Geschichte beginnt Mitte der 50er Jahre. Emmett und seine Mutter leben in Chicago, wo Rassismus spürbar, aber meist nicht lebensbedrohlich ist. Ganz anders im Süden, wohin Emmett fahren wird, um ein paar Tage seine Verwandten zu besuchen. In Mississippi ist Emmett ein Fremdkörper, viel selbstbewusster als es ein Schwarzer hier sein darf, sein sollte, wenn er Konflikten mit Weißen aus dem Weg gehen will. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, hatte ihm eingebläut, sich „klein“ zu machen, bloß keinen Weißen zu provozieren, doch Emmett ist ein Teenager und nimmt die Worte seiner Mutter nicht ernst. Ein unbedarfter Flirtversuch mit einer weißen Frau reicht aus, um die Situation zu eskalieren: Die Verwandten der Frau entführen Emmett, foltern und lynchen ihn. Kaum auszuhalten ist der Anblick seiner geschundenen Leiche, die Chukwu unbarmherzig zeigt, genauso wie Mamie Till den Anblick ihres toten Sohnes ganz bewusst zur Schau stellte. Emmett Till wurde in einem offenen Sarg aufgebahrt, so dass jeder sehen konnte, jeder sehen musste, welche brutalen Folgen Rassismus haben kann. Die Bilder gingen um die Welt, Mamie Till engagierte sich den Rest ihres Lebens in der Bürgerrechtsbewegung, die langsam, viel zu langsam Erfolg hatte: Erst Anfang 2022 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Lynchen als Hassverbrechen ächtete, der „Emmett Till Antilynching Act“. Für den Mord an Emmett Till büßte jedoch niemand: Seine beiden weißen Mörder wurden freigesprochen. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023

„Diese Chronik von Paris der 80er Jahre ist von großer Sanftheit geprägt.“

Le Figaro

Le Parisien

94

soRRy gENossE

Waghalsige Flucht

Hedi und Karl-Heinz verlieben sich auf den ersten Blick, als sie sich 1969 auf Tante Klärchens Familienfeier kennenlernen. Mondlandung und Vietnamkrieg halten die Welt in Atem – und die Mauer trennt die Thüringer Medizinstudentin und den Frankfurter Linksaktivisten. Jahrelang schreiben sie sich Briefe und träumen davon, endlich zusammenzuleben. Voller Sehnsucht nach Hedi entscheidet sich Antikapitalist Karl-Heinz dazu, in die DDR überzusiedeln. Doch die Stasi hat ihn schnell im Visier und will ihn in West-Berlin als Spion einsetzen. Als auch Hedi unter Schikanen leiden muss, schmieden die beiden mit den Freund*innen Gitti und Lothar einen Plan: Mit einem Ersatzpass, den sie in Bukarest beantragen wollen, soll es für Hedi unter Gittis Identität über Rumänien und Österreich nach Westdeutschland gehen. Die echte Gitti soll vorgeben, von Lothar in eine Falle gelockt worden zu sein. Blauäugig und überzeugt von ihrem „bombensicheren“ Plan machen sich die vier auf den Weg. Doch kaum in Rumänien angekommen, geht alles schief.

In SORRY GENOSSE bringt Vera Maria Brückner in verspielter Form die tragikomische Geschichte einer waghalsigen Flucht auf die Leinwand. In Studiokulissen im Retro-Look stellt sie Szenen bei den Behörden in Rumänien mit Karl-Heinz und Hedi nach, die aus ihren alten Briefen vorlesen. Andere Orte, die eine Rolle für den Weg der beiden spielten, besucht sie mit ihnen noch einmal und lässt sie dort von ihren Erlebnissen erzählen. Ergänzt durch Archivaufnahmen und alte Fotos und untermalt von Ton Steine Scherben-Songs verbindet die 1988 geborene Regisseurin deutsch-deutsche Geschichte mit den persönlichen Erinnerungen der sympathischen Protagonist*innen Karl-Heinz und Hedi, die sich weder durch den Eisernen Vorhang noch durch Stasi und Securitate aufhalten ließen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 9.2.2023

Hedi and Karl-Heinz fall in love at first sight when they meet in 1969, but the wall separates the Thuringian med student and the Frankfurter leftist activist. Director Vera Maria Brückner directs the tragicomic story of a risky escape in a playful documentary format.

mIDwIvEs

Mintgrüne Klinik

Respektvolle Nähe. Vielleicht ist es das, was diesen Dokumentarfilm vor anderen Dingen auszeichnet. Da ist etwa, gleich zu Beginn, die Szene, in der man auch als Zuseher froh ist, als der Kleine endlich zu schreien beginnt: Wir wohnen einer Geburt bei, sind ganz dicht mit dran. Und doch hat man, ähnlich wie in fast allen Szenen dieses unaufgeregten und doch eindringlichen Films, das Gefühl, dass hier weder die Intimgrenze des Babys, noch die der Mutter überschritten wird. MIDWIVES begleitet zwei Hebammen (engl.: Midwives), eine Buddhistin und eine Muslima, die in einer winzigen Klinik im Westen Myanmars zusammenarbeiten. Beide helfen den muslimischen Rohingya – eine der, laut UN, am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt: Dem Militär Myanmars werden unter anderem ethnische Säuberungsaktionen gegen die Rohingya-Muslime vorgeworfen.

Hla, so der Name der Buddhistin, führt die Klinik, Nyo Nyo, die Muslima, unterstützt sie als Assistentin. Obwohl Nyo Nyos Familie seit Generationen in der Region lebt, werden sie als Eindringlinge betrachtet. Nyo Nyo hat einen Traum, der angesichts der Umstände kaum je realisierbar erscheint: Eines Tages möchte sie selbst eine Klinik eröffnen. Dabei besitzt sie als Muslima noch nicht einmal einen Ausweis. Einst, so heißt es irgendwann in diesem mit Archivbildern von Ausschreitungen und Totalen von Reisfeldern gleichermaßen arbeitenden Film, waren die Buddhisten und Muslime der Region miteinander befreundet. Die kleine mintgrüne Klinik, in der Nyo Nyo und Hla allen Verboten und Vorbehalten zum Trotz zusammenarbeiten, wird zum Hoffnungssymbol für ein, dereinst womöglich wieder herstellbares, friedliches interreligiöses Miteinander. D Matthias von Viereck

¢ Start am 26.1.2023

Midwives accompanies two midwives in a small clinic in western Myanmar – one of the woman is a Buddhist, the other a Muslima.

BERlIN JwD

Eine Winterreise nach (J)anz (W)eit (D)raußen oder JWD, wie man in Berlin sagt. Die märkischen Landschaften hinter der Stadtgrenze wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von proletarischen Erholungssuchenden überrannt. Kurz darauf fraß der Moloch Großstadt die scheinbar unschuldige Idylle. Seitdem wechseln Um-, Ab- und Aufbrüche in nicht vorhersehbarer Folge. Wie Exkremente einer vergangenen Zukunft liegen die ehemaligen Rieselfelder, zerfallenen Grenzanlagen, aufgelassenen Fabriken und begrünten Müllberge in der Landschaft verstreut.

¢ Start am 12.1.2023

EINE REvolUTIoN –AUFsTAND DER gElBwEsTEN

In Chartres, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohner*innen 90 Kilometer südwestlich von Paris besucht der Historiker und Dokumentarfilmer Emmanuel Gras Mitstreiter*innen der „Gilets jaunes“ wie Agnès, die ihren behinderten Sohn pflegt, und Nathalie, die mit ihren zwei Kindern von 1200 Euro im Monat leben muss. Ihr Engagement für die Gelbwesten schweißt sie zusammen. Gras ist nah dran, begleitet die Protagonist*innen zu Diskussionen und Demonstrationen, lässt auch Gegenstimmen zu, und fängt ein, wie auf große Erwartungen die Enttäuschung folgt. ¢ Start am 12.1.2023

Tara

Der mythische Taras war ein Sohn des Meergottes Poseidon, der als Stadtgründer der Stadt Taranto (Tarent) gilt. Auch der kleine Fluss Tara ist nach dem Göttersohn benannt. Einige Einheimische glauben an die heilenden Kräfte seiner Wasser. Der Dokumentarfilm von Volker Sattel und Francesca Bertin zeigt Badende im Fluss und einen Marienaltar im Schilf und taucht mit der Kamera ins Wasser. Aber allmählich enthüllen sich auch Bilder der benachbarten Fabriken, ein Stahlwerk und eine Deponie. Das Wasser des Tara ist kontaminiert.

¢ Start am 19.1.2023

AUF DER sUchE NAch FRITz kANN

Der erste Mann von Marcel Kolvenbachs Großmutter hieß Fritz Kann. Er wurde 1942, neun Monate vor der Geburt von Kolvenbachs Vater, auf Grund seiner jüdischen Herkunft deportiert. Der Filmemacher begibt sich auf Spurensuche nach diesem möglichen Großvater. In Ermangelung von Bildern oder Archivmaterialien wird das Suchen selbst zum Thema seines Films, die oft zum Scheitern verurteilten Versuche von Angehörigen, Hinweise zu finden, noch so vage Spuren nach Eltern oder Großeltern, die in der Mordmaschine des Dritten Reichs ums Leben gekommen sind. ¢ Start am 12.1.2023

Man kann den Film PASSAGIERE DER NACHT so sehen: Eine Frau wird von ihrem Mann verlassen, bekommt einen Job beim LateNight-Radio, trifft eine junge Obdachlose, die sie in ihr Haus aufnimmt, und die zwar bald wieder verschwindet, aber sie selbst und ihre Familie dazu inspiriert, ein freieres Leben zu führen. Alles wird gut, und schließlich wird auch die Obdachlose gerettet. Das ist nicht sehr interessant. Aber so wurde der Film bei der Berlinale von Vielen verstanden.

Mikhaël Hers, der mit AMANDA (dt. Mein Leben mit Amanda) einen der besten Filme über die Folgen des Terrors für das Leben und Träumen von Pariser*innen gedreht hat und auch dort mit sehr subtilen Realitätsverschiebungen arbeitete, gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Geschichte nicht ganz für bare Münze genommen werden kann. Die Hauptfigur Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) hat oder hatte Brustkrebs. Ihre Geschichte beginnt am 8. Mai 1981. Der Sozialist François Mitterand ist gerade zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Auf den Straßen wird gefeiert. Tatsächlich war die Wahl aber zwei Tage später, am 10. Mai.

Elisabeth freut sich im Auto ihrer Familie mit den Feiernden auf den Straßen. Im Autoradio läuft die Radiosendung „Les passagers de la nuit“, und die Moderatorin kündigt als erstes Lied „Regarde“ von Barbara an. Darin gibt es die Verse: „Regarde, au ciel de notre histoire, une rose, à nos mémoires, dessine le mot espoir …“ („Sieh es dir an: Am Himmel unserer Geschichte, zeichnet eine

Rose zu unseren Erinnerungen das Wort Hoffnung“). Aber das Lied ist nicht zu hören. Über den Kamerablicken auf moderne Architektur und Feiernde in der Nacht liegen melancholische Synthesizer-Sounds.

PASSAGIERE DER NACHT kündigt sich als ein Film über die Erinnerung an die Hoffnung an. Im Moment, in dem der Radio-Ton verschwindet, entgleitet die Realität. Ist Elisabeth am 8. Mai gestorben, und halluziniert sich zwei Tage in die Zukunft, und von dort aus vier, acht Jahre weiter in eine Zukunft, in der – mit Hilfe einer Traumfee, der obdachlosen Talulah (Noée Abita), alles gut wird? Die Fee war bereits zuvor erschienen. In den ersten Bildern des Films steht Talulah vor dem Stadtplan in der Pariser U-Bahn, auf dem die möglichen Fahrtstrecken damals mit Leuchtpunkten markiert wurden und auf Knopfdruck erstrahlten. Der analoge Zauber der Großstadt liegt in einer Überblendung auf ihrem Gesicht. Man kann ihre Figur als ein weiteres „manic pixie dream girl“ verstehen, eines dieser hübschen, etwas verpeilten, aber mit hoher Energie ausgestatteten Film-Mädchen, die in tausenden Coming-of-Age Filmen schüchterne Jungs, neuerdings auch schüchterne Mädchen, aus ihrer Lethargie reißen, um dann selbst gerettet zu werden oder verloren zu gehen. Aber Talulah ist klarer als ein geisterhaftes Phantasma markiert als in klassischen Coming-of-Age-Filmen.

Der Film macht nach diesen ersten Szenen zwei Zeitsprünge, nach 1984 und 1988. 1984 hat Elisabeth ihre Krebs-Erkrankung überwunden, aber ihr Mann hat sich getrennt, und sie hat Geldsorgen.

Sie braucht einen Job, hat aber nie gearbeitet. Sie bekommt einen Job in der von Wanda (Emmanuelle Béart) moderierten Show „Les passagers de la nuit“. Dort lernt sie Talulah kennen, die als Gast eingeladen wurde, aber danach einsam auf einer Parkbank sitzt. Elisabeth nimmt das Mädchen mit nach Hause und quartiert sie in einer romantischen Dachkammer ein, ein Raum nahe dem Dach des Hochhauses, in dem die Familie wohnt – das moderne, imaginäre Äquivalent zum Gartenhaus im viktorianischen Roman, mit dem dieser Film einiges gemein hat. Talulah wird von allen geliebt und geht gern mit Elisabeths Teenager-Kindern ins Kino, und verschwindet wieder.

Vier Jahre, 1988, später taucht Talulah als Junkie wieder auf, wird aber geheilt, als wäre Heroinsucht ein böser Schnupfen. Sie will ins Kino, den Film VOLLMONDNÄCHTE von Eric Rohmer sehen. Matthias erklärt ihr, dass die Schauspielerin aus dem Film – Pascale Ogier – gestorben sei. „Das kann nicht sein“ murmelt Talulah immer wieder. Pascale Ogier war in den frühen achtziger Jahren der größte junge weibliche Star des französischen Kinos. Sie starb 1984, im gleichen Jahr, in dem auch Rohmers VOLLMONDNÄCHTE ins Kino kam. Talulah ist aus der Zeit gefallen. Warum?

Kurz vor ihrem Tod hatte Pascale Ogier in dem Experimentalfilm GHOST DANCE von Ken McMullen mitgespielt, in dem sie mit Jacques Derrida ein Gespräch über Film als Kunst der Geisterbeschwörung führt. Eine Erklärung für die Brüche in diesem Film wäre, dass die ganze Geschichte das Phantasma von Elisabeth

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