D PARASITE Herz für die Verdammten D M.C. ESCHER: REISE IN DIE UNENDLICHKEIT Lieblingskünstler D SKIN Raus aus der „Familie“ D DAS KAPITAL IM 21. JAHRHUNDERT Piketty, verfilmt D AFTER THE WEDDING Williams vs Moore D INSEL DER HUNGRIGEN GEISTER Außerhalb der „Migrationszone“ D BRUDER SCHWESTER HERZ Geschwisterclinch D NORMAL Alltag, hinterfragt D BAIT Etwas zerbricht D DER GLANZ DER UNSICHTBAREN Genau hinschauen D DUNKEL, FAST NACHT Die Ranken des Bösen D EASY LOVE Experiment in Authentizität D DEUTSCHSTUNDE Schwochow verfilmt Lenz D NEVRLAND Flucht in den Chat D AMA-SAN Eintauchen D WEITERMACHEN SANSSOUCI Kritische Theorie
Magazin FÜR unabhängigeS KINO
D 02 D OKTOBER 2019
indiekinoMAG
PARASITE – Start am 17.10.2019
13 · 10 · 2019
EUROPÄISCHER
KINOTAG
Mit der Stimme von MATTHIAS BRANDT als M. C. ESCHER
Editorial Ein wenig von der Leichtigkeit des Sommers bleibt dem Kino auch im Oktober erhalten. Wie im letzten Monat in HEUTE ODER MORGEN geht es in BERLIN 4 LOVERS und EASY LOVE um Beziehungen, die mehr oder weniger ernst sein können. Im deutschen Western BRUDER SCHWESTER HERZ reiten die Geschwister durch Brandenburger Sommerwiesen und LA PALMA amüsiert sich mit dem Horrorklassiker Pärchenurlaub. Aber zum Herbstanfang entdeckt das Kino auch das Klassenbewusstsein neu. „Nicht die Tatsache, dass es extreme Klassenunterschiede gibt, ist beängstigend, sondern die Vorstellung, dass wir das Problem auch in der Zukunft nicht lösen werden, nicht in unserer Generation und nicht in der Generation unserer Kinder“, sagt Cannes-Gewinner Bong Joon-ho in unserem Interview. In seiner „Horror-Comedy-Action-Gesellschaftssatire“ PARASITE erzählt er von der Unterschichtsfamilie Kim, die sich – schlimmster Alptraum der Bourgeoisie - in das elegante Luxusleben der Familie Park einschleicht. Auch den französischen Regisseur Louis-Julien Petit treibt die Ungleichheit in der Gesellschaft um. Die Komödie DER GLANZ DER UNSICHTBAREN (LES INVISIBLES), die sich an englischen Vorbildern wie GANZ ODER GAR NICHT orientiert, spielt in einem Tageszentrum für wohnungslose Frauen und wurde mit Hilfe von Darstellerinnen, die im eigenen Leben Obdachlosigkeit erfahren haben und wissen, wovon sie sprechen, realisiert. Auch SKIN, der Film des israelischen Regisseurs Guy Nattiv über einen US-amerikanischen Neonazi, der den Ausstieg aus einer sektenähnlichen Nazi-„Familie“ versucht, spielt am Rand der Gesellschaft, und in BAIT trifft neuer Reichtum auf einheimische Fischer. Die US-amerikanische Doku DAS KAPITAL IM 21. JAHRHUNDERT unternimmt es, die Thesen des französischen Ökonomen Thomas Piketty über gesellschaftliche Ungleichheit in ein anschauliches filmisches Pamphlet zu verwandeln. Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß im Kino Eure INDIEKINO Redaktion Die Novemberausgabe von INDIEKINO erscheint am 25.10.
Reise in die Unendlichkeit Ein Dokumentarfilm von Robin Lutz
AB 10. OKTOBER IM KINO!
INDIEINHALT
04 Magazin 10 „Ohne Humor könnte ich nicht arbeiten. Ich hätte das Gefühl zu ersticken“ Interview mit Bong Joon-Ho 14 LIEBLINGSKÜNSTLER M.C. ESCHER: REISE IN DIE UNENDLICHKEIT 16 „Er war der erste Ex-Neonazi, den ich traf, und ich der erste Jude, dem er begegnete.“ interview mit Guy Nattiv zu SKIN
24 GENAU HINSCHAUEN DER GLANZ DER UNSICHTBAREN 36 WEITER im Kino 38 Kinderfilme 42 DAS KINO IM JAHR 1989 45 Kinoadressen, Impressum, Abo 46 Nachbild
Neu im Oktober 19 27 24 33 34 28 19 28 18 34 23
After the Wedding Ama-San Bait Barstow, California Berlin 4 Lovers Bonnie & Bonnie Born in Evin Brittany Runs a Marathon Bruder Schwester Herz Datsche Deutschstunde
22 23 38 30 35 20 35 29
Dunkel, fast Nacht Easy Love Fritzi – Eine Wendewundergeschichte Der Glanz der Unsichtbaren Ich war noch niemals in New York Insel der hungrigen Geister Joker
Das Kapital im 21. Jahrhundert 21 Die Khello Brüder
32 21 32 14 20 26 26 22
La Palma Lebe schon lange hier Lieber Antoine als gar keinen Ärger M.C. Escher - Reise in die Unendlichkeit La maladie du démon – Die Krankheit der Dämonen Memory Games Nevrland Normal
10 20 16 34 33 18 27
Parasite Roger Waters: Us & Them Skin Vulkan We Have Always Lived in the Castle Weitermachen Sanssouci Zwischen uns die Mauer
2.10.
9.10.
17.10.
24.10.
20 Roger Waters: Us & Them
38 Fritzi – Eine Wendewundergeschichte
19 19 35 20 29 32 26 10 34
24 34 28 28 23 21 21 32 18
Starts der Woche
3.10. 27 33 34 23 26 22 16 33 27 D4
Ama-San Barstow, California Datsche Deutschstunde Memory Games Normal Skin We Have Always Lived in the Castle Zwischen uns die Mauer D OKTOBER 2019
10.10. 18 22 30 35 14 20
Bruder Schwester Herz Dunkel, fast Nacht Der Glanz der Unsichtbaren Joker M.C. Escher – Reise in die Unendlichkeit La maladie du démon – Die Krankheit der Dämonen
After the Wedding Born in Evin Ich war noch niemals in New York Insel der hungrigen Geister Das Kapital im 21. Jahrhundert La Palma Nevrland Parasite Vulkan
Bait Berlin 4 Lovers Bonnie & Bonnie Brittany Runs a Marathon Easy Love Die Khello Brüder Lebe schon lange hier Lieber Antoine als gar keinen Ärger Weitermachen Sanssouci
ELEMIAH PRÄSENTIERT
»EIN STRAHLENDER FILM, KOMISCH UND ZU TRÄNEN RÜHREND« LA DEPECHE »WERDEN DIESE FRAUEN SIE ZUM LACHEN BRINGEN? – JA, UND NICHT ZU KNAPP!« 20 MINUTES
»DIESER FILM ERZÄHLT VOR ALLEM VON WÜRDE.« FOTOGRAMAS Audrey
LAMY
Corinne
MASIERO
Noémie
LVOVSKY
Déborah
LUKUMUENA
DER GLANZ DER
UNSICHTBAREN EIN FILM VON LOUIS-JULIEN PETIT
SARAH SUCO
AB 10. OKTOBER IM KINO
PABLO PAULY
INDIEMAGAZiN
© Nordische Filmtage Lübeck
NORDISCHE FILMTAGE
Die nordischen Filmtage in Lübeck sind so ein „Lieblingsfestival“, auf das Filmbegeisterte und Nordeuropafreund*innen jedes Jahr fahren und für das sie sich extra frei nehmen. Das Festival zeigt immer im Oktober/November Neues aus Dänemark, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Norwegen und Schweden. In eigenen Sektionen sind auch norddeutsche Produktionen, nordeuropäische Serien und VR-Experimente zu sehen. Darüber hinaus gibt es immer ein umfangreiches Kinder- und Jugendprogramm – was wenig überraschend ist, kommen doch einige der schönsten Kinderfilme aus Skandinavien und sind Kinder dort auch in „Erwachsenfilmen“ sehr viel präsenter als bei uns. Die Debüts von Bille August, Lasse Hallström, Aki Kaurismäki oder Fridrik Thór Fridriksson waren hier zuerst zu sehen. Die 61. Nordischen Filmtage finden vom 29.10.–3.11. statt. www.nordische-filmtage.de
LESBISCH SCHWULE FILMTAGE HAMBURG Aus einem Filmseminar zum Thema „Homose-
© Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg, Fotograf*in Michel Dingler
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xualität im Film“ entstanden, feiern die Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg/ International Queer Film Festival vom 15.–20.10. das 30. Jubiläum. In dieser Zeit ist die Veranstaltung zwar gewachsen, der Idee von einem Festival von der Community für die Community aber immer treu geblieben. Finanziert durch Soli-Events und unterstützt durch ehrenamtliche Arbeit zeigen die Filmtage Dokumentar- und Spielfilme, die sich mit allen Aspekten queeren Lebens beschäftigen, sind aber vor allem ein großes gemeinsames Fest. Das Programm, das in den Hamburger Kinos Passage, Metropolis und 3001, im Kampnagel und der Roten Flora stattfindet, ist international und aktuell, anspruchsvoll, schräg und unterhaltsam. Dazu gibt es ein Rahmenprogramm aus Partys, Vorträgen und Workshops. Ein Special zu Webserien steht bereits fest. www.lsf-hamburg.de
INDIEMAGAZIN
DOK Leipzig Das Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, kurz DOK Leipzig ist das wichtigste deutsche Dokumentar- und Animationsfilmfestival. Neben dem Wettbewerb, dessen Filme noch nicht feststehen, sind in diesem Jahr sicher vor allem die Sonderreihe „BRDDR“ mit Filmen aus West und Ost, in denen das eigene System durch die Bezugnahme auf das gegnerische bestimmt wird, und das Symposium und die Filmreihe mit dem Titel „Wem gehört die Wahrheit? Der politische Gegner im Visier der Filmkamera“ interessant. Aber auch die Reihe „Re-Visionen“, in der die eigene Geschichte des Festivals reflektiert und Filme gezeigt werden, die einst aus dem offiziellen Programm ausgemustert wurden oder besonders umstritten waren, ist mehr als einen Blick wert. Im Animationsprogramm werden als Gaststars die Brothers Quay erwartet, und in der neuen Reihe Animation Perspectives stellen jeweils zwei Filmschaffende ihre Arbeiten gemeinsam vor. Den Dialog eröffnen Brenda Lien, die mit viralen Phänomenen wie Katzenvideos arbeitet, und Max Colson, der Architektur-Software in seine Filme integriert. Das Festival findet vom 28.10.–3.11. statt. www.dok-leipzig.de
VERLOSUNG: MIRAI – DAS MÄDCHEN AUS DER ZUKUNFT Für Anime-Fans verlosen wir fünf Buch&Film-Pakete mit Mamoru Hosodas schönem und sehr persönlichen MIRAI – DAS MÄDCHEN AUS DER ZUKUNFT: Eigentlich hatte sich der vierjährige Kun auf die Geburt seines Schwesterchens gefreut. Die Schwester, die mit der Mutter zusammen aus dem Krankenhaus kommt, ist dann aber total nervig. Sie schreit und schläft, man darf nicht richtig mit ihr spielen, und auf einmal ist Kun nicht mehr die wichtigste Person im Haus. Traurig und beleidigt flüchtet er in den kleinen Garten. Dort öffnet sich ihm ein Zugang zu einer magischen Welt, in der er Mitgliedern seiner Familie zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens begegnet. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.10. an info@indiekino.de, Stichwort: Mirai.
© DOK Leipzig
EUROPEAN ARTHOUSE CINEMA DAY 2019 Bereits zum vierten Mal organisiert der internationale Verband der Filmkunstkinos CICAE am Sonntag, den 13.10. den European Arthouse Cinema Day (EACD), um gemeinsamen mit den Kinozuschauer*innen das engagierte europäische Kino zu feiern. Mittlerweile machen über 1.000 Kinos in fast 40 Ländern mit und zeigen Preview und Premieren, Veranstaltungen mit Gästen und Musik, Retrospektiven und Ausstellungen … Wahrscheinlich ist auch das Lieblingskino um die Ecke dabei: artcinemaday.org Lieber Antoine als gar keinen Ärger
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INDIEMAGAZiN
RUSSISCH DOK: DAS BESCHWIPSTE PORTRÄT Einmal im Monat zeigt die Initiative „Russisch Dok“ in München, Berlin, Heidelberg und Neustrelitz russische Dokumentarfilme. Im Oktober wird es poetisch. PORTRET „POD MUKHOI“ (DAS BESCHWIPSTE PORTRÄT, OmeU) von Elena Laskari zeigt kurze Episoden aus dem tragischen Leben des Leningrader Underground-Dichters Oleg Grigoryev. Grigoryev ist vor allem für seine aufrichtige, unmittelbare Sprache und seine Bücher mit Gedichten für Kinder wie „Sonderlinge“ oder „Wachstumsvitamin“ bekannt. Fragt der Vogel im Käfig: / Wie geht‘s dir auf dem Zweig? /Auf dem Zweig so wie im Käfig, / nur Stäbe sind selten. facebook.com/russischdok
FILM- UND MUSIKFEST BIELEFELD Doch, es gibt Gründe nach Bielefeld zu reisen, auch wenn man es nicht muss. Vom 25.10.–10.11. wird das Film- und Musikfest Bielefeld von der Bielefelder Murnau-Gesellschaft ausgerichtet und zeigt Stummfilme mit Live-Begleitung: In FLESH AND THE DEVIL glühen die Feuer der Leidenschaft zwischen John Gilber und Greta Garbo, in Alfred Hitchcocks BLACKMAIL wird Max Schmelings spätere Ehefrau Anni Ondra erpresst. STEAMBOAT BILL JR. von Buster Keaton wird vom Metropolis Orchester Berlin begleitet, und Friedrich Wilhelm Murnaus unheimliches, bizarres, realistisches, komisches und zärtliches Meisterwerk SUNRISE von den Bielefelder Philharmonikern. www.murnaugesellschaft.de
Sunrise
SOUNDTRACK DES MONATS: TOMANDANDY: 47 METERS DOWN: UNCAGED Der Unterwasser-Haunted-House-Thriller 47 METERS DOWN: UNCAGED konnte leider die Direct-to-Video-Ästhetik seines Vorgängers nicht überwinden. Umso erfreulicher ist es, dass der dazugehörige Soundtrack von Tomandandy qualitativ an ihre frühen Werke wie ARLINGTON ROAD anschließen kann. Die sphärisch-synthetischen Klänge erinnern zuerst an die Ruhe und die weiten Panoramen von Ozean-Dokus, bevor mit einem sonargleichen Rumpeln und immer wieder anschwellenden Störgeräuschen die buchstäblich unmenschliche Bedrohung in die Welt der jungen Taucherinnen dringt. Plötzliche Schockmomente sind selten, und Streicher kommen nur digital verfremdet vor. Die Spannung entsteht durch das konstant gehaltene Sirren, das sich wie die Haie manchmal zurückzieht oder verschiebt, aber nie ganz verschwindet. Dazu kommen unterschwellige Herztöne und das Ticken einer Atemmaske, sowie Orgeln, die die Begräbnisstätte, in der 47MDU spielt, in Erinnerung rufen. Ohne die Bilder des Films entsteht eine Industrial-angehauchte Klanglandschaft mit ganz eigenen Bildern, die beunruhigend-atmosphärisch sein können, in den aufregenden Momenten aber eher an DRIVE als an JAWS erinnern. Das macht das Erlebnis runder und ermöglicht so einen kleinen Tauchgang für zuhause. Ärgerlich ist einzig, dass dieser Soundtrack vorerst nur digital erhältlich ist und eine Veröffentlichung auf Vinyl/ CD noch auf sich warten lässt. D8
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INDIEMAGAZiN
DOKUARTS 12: NUANCES NOW Film als Kunst und Film über Kunst. Vom 10.-27. Oktober findet im Berliner Zeughauskino das DokuArts Festival statt, das anspruchsvolle Dokumentarfilme zeigt, die sich mit Kunst und Künstler*innen beschäftigen. ARCADIA von Paul Wright ist eine psychedelische Reise durch britische Dokumentarfilme zur Musik von Adrian Utley (Portishead) und Will Gregory (Goldfrapp), in THE EYES OF ORSON WELLES stellt Mark Cousins den Filmemacher als Karikaturist vor und in UP THE MOUNTAIN porträtiert Zhang Yang eine Kunstschule in einem abgelegenen Dorf… Insgesamt werden 25 Filme aus 17 Ländern gezeigt und am Freitag, den 11. Oktober findet begleitend zur Filmwerkschau ein internationales Symposium statt, das sich unter anderem mit dem diesjährigen Motto auseinandersetzt: der Nuance. Anmeldung und Programminfos unter: www.doku-arts.com
Up the Mountain
VERLOSUNG: DAVID LYNCH BOX
Diesen Monat bedauern wir sehr, dass Mitarbeiter*innen nicht an den Verlosungen teilnehmen können. STUDIOCANAL hat uns nämlich je eine Dvdund Bluray-Box ihrer neuen David-Lynch-Gesamt(!)edition zur Verfügung gestellt. Die Box enthält: ERASERHEAD (1977), Der ELEFANTENMENSCH (1980), DUNE – DER WÜSTENPLANET (1984), BLUE VELVET (1986), WILD AT HEART – DIE GESCHICHTE VON SAILOR UND LULA (1990), TWIN PEAKS – DER FILM (1992), LOST HIGHWAY (1997), THE STRAIGHT STORY – EINE WAHRE GESCHICHTE (1999), MULHOLLAND DRIVE (2001), INLAND EMPIRE (2006). Wer gewinnen möchte, schreibt uns bis zum 15.10. eine Mail an info@indiekino.de, Betreff: David Lynch. Wer seine Gewinnchancen erhöhen möchte, erklärt uns in einem Satz, worum es in der dritten Staffel von Twin Peaks eigentlich geht und landet damit doppelt im Lostopf.
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INDIEFEATURE
Bong Joon-ho ist einer der aufregendsten Genre-Regisseure des aktuellen Kinos. Sein neuer Film PARASITE hat bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Erstes internationales Aufsehen hatte Bongs Monsterfilm THE HOST erregt, SNOWPIERCER war bereits eine internationale Produktion mit Starbesetzung. Nach seinem Netflix-Film OKJA kehrt Bong mit PARASITE nach Korea und auf die große Leinwand zurück. Für INDIEKINO sprach Pamela Jahn mit dem Regisseur.
INDIEKINO: Erinnern Sie sich noch an Ihre allererste Idee zum Film? Was war der Auslöser?
schon da. So ähnlich war es auch mit dem Film. Ich erinnere mich, dass ich bereits 2013 mit Leuten in meinem Umfeld über die Idee gesprochen habe.
Bong Joon-ho: Der Ansatz ist bei jedem Film ein anderer und er lässt sich nicht immer genau definieren. Bei MOTHER beispielsweise fing alles mit der Schauspielerin an. Ich wollte unbedingt einen grotesken Film mit ihr drehen. Und bei The Host war es Loch Ness. Ich bin seit meiner Kindheit von der Sage um das Monster fasziniert gewesen, das heißt, auch da gab es einen klaren Ausgangspunkt. Im Hinblick auf PARASITE war die Sache jedoch etwas verschwommener, mehr wie ein Fleck auf der Hose. Wissen Sie? Man kommt nach Hause und entdeckt einen Fleck auf der Hose, aber man hat keine Ahnung, wo der herkommt. Und irgendwie war er immer
Was haben Sie den Leuten damals gesagt?
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Vor sechs Jahren lautete der Arbeitstitel noch „Decalcomania“ und die Grundidee bestand darin, zwei Familien zu porträtieren, die jeweils aus vier Familienmitgliedern bestehen. Und jedes Familienmitglied war gewissermaßen wie ein Abziehbild der entsprechenden Person aus der anderen Familie. Ich wusste, ich wollte eine reiche und eine arme Familie gegenüberstellen und schauen, was passiert, wenn man die jeweiligen Familienmitglieder untereinander austauscht. Es ging mir um die seltsam groteske
INDIEFEATURE
„Ohne Humor könnte ich nicht arbeiten. Ich hätte DAS Gefühl zu ersticken“ Interview mit Bong Joon-ho zu PARASITE
Situation, die dabei entsteht. Man könnte also durchaus sagen, dass die gesellschaftliche Problematik, die Klassenunterschiede und der politische Hintergrund bereits in dieser ersten Version des Films vorhanden waren.
Ihre Filme lassen sich allgemein schwer einordnen. Wie finden Sie für sich persönlich das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Genreelementen, die Ihren Arbeiten jeweils eingeschrieben sind?
Wenn der Regisseur von THE HOST einen neuen Film mit dem Titel PARASITE ins Kino bringt, vermutet man zunächst einen weiteren Sci-Fi- oder Horrorfilm. Hatten Sie bedenken, der Titel könnte die Zuschauer in die Irre führen?
Ich sehe mich als Genre-Regisseur. Manchmal halte ich mich an die Konventionen des jeweiligen Genres und manchmal unterlaufe ich sie. Aber ich finde nicht, dass ich jemals zu weit außerhalb der vorgegebenen Genregrenzen agiere. Und ich fühle mich ehrlich gesagt auch wohler, wenn ich mich innerhalb der Grenzen bewege. Was nicht heißen soll, dass die Art und Weise, wie ich Genre in meinen Filmen verwende, dem typischen Hollywood-Stil gleichkommt. In der Hinsicht, denke ich, bekommt man eher den Einfluss meiner koreanischen Wurzeln zu spüren. Andererseits sind die Emotionen, die der Film freisetzt, etwas, dass jeder Mensch nachvollziehen kann, der ein Herz hat. Es sind universelle Gefühle. Für mich ging es in Parasite in erster Linie um ein seltsames Gefühl von Traurigkeit, viel mehr als um Rache. Ki-woo beispielsweise, der Sohn in der armen Familie, wird eigentlich nie richtig wütend, obwohl er mitunter extremen Situationen und extremer Armut ausgesetzt ist. Er akzeptiert das alles
Der Originaltitel von The Host bedeutet in Korea eher „Monster“, aber natürlich läuft man im Englischen Gefahr, dass die Leute eine Verbindung herstellen und annehmen, dass es sich eventuell um ein Sequel handelt. Ich habe vorab immer dazu sagen müssen, dass dem nicht so ist. Und trotzdem gibt es immer noch Menschen, die davon ausgehen, dass es sich um einen klassischen Genrefilm handelt. Es gab sogar einen Journalisten, der die Schauspieler fragte: „Wer von ihnen hat einen Parasiten im Körper?“ Woraufhin ich antwortete: „Wir sind alle clean. Und sehr reinlich. Wenn es um Hygiene geht, sind wir alle perfekt.“
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INDIEFEATURE einfach. Und wenn man den Film aus seinem Blickwinkel betrachtet, dann bekommt man dieses Gefühl von Traurigkeit intensiv zu spüren. Im Gegensatz zu der Traurigkeit, von der Sie sprechen, steht der Humor, der in PARASITE ebenfalls greift und auch aus Ihren anderen Filmen nicht wegzudenken ist. Fällt es Ihnen leicht, den richtigen Ton zu finden für die Geschichten, die Sie erzählen? Das ist ein sehr instinktiver Prozess. Ich bin mir nie genau bewusst darüber, welche Elemente ich wie miteinander verblende. Das ist wie bei einem Barkeeper. Ich habe keine konkreten Maßeinheiten, weiß nicht genau, wieviel Whisky in den Drink gehört. Man gibt eine bestimmte Menge ins Glas und das ist die Menge, die man für richtig hält. Aber es stimmt, ein sehr wichtiges Element in meinen Filmen ist der Humor. Ich glaube, ohne Humor könnte ich nicht arbeiten. Ich hätte das Gefühl zu ersticken. Sie haben es bereits angesprochen: In Ihrem Film geht es um Klassenunterschiede, es geht um die Kluft zwischen Reich und Arm, aber auch um die Widersprüche im System. Auch wenn ich es nicht klar ausspreche, geht es um Polarisierung. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist offensichtlich. Aber die Frage, die auf der Hand liegt, ist doch: Warum wird diese Kluft auch trotz all unserer Bemühungen und den Verbesserungen, die wir am System vornehmen, nicht kleiner? Ich trage eine Angst in mir, die sich genau aus dieser Frage nährt, und die letzte Szene im Film spielt darauf an. Nicht die Tatsache, dass es extreme Klassenunterschiede gibt, ist beängstigend, sondern die Vorstellung, dass wir das Problem auch in der Zukunft nicht lösen werden, nicht in unserer Generation und nicht in der Generation unserer Kinder. Darauf spielt der Film an, wenn der Sohn sich vornimmt, dass er eines Tages das Haus kaufen wird. Er ist erfüllt von Entschlossenheit, aber als Zuschauer und mit etwas Abstand betrachtet, zweifelt man daran. Es scheint von vornherein ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, und das macht die Sache so traurig, Wie haben einmal tatsächlich durchgerechnet, wie viele Jahre er bei einem durchschnittlichen Einkommen und ohne große Ausgaben sparen müsste, um das Haus zu kaufen. Er würde 547 Jahre brauchen. Wenn man davon ausgeht, dass beide Familien in gewisser Hinsicht als Parasiten verstanden werden können, welche Form ist schädlicher? Es stimmt, ich sage oft, dass die wohlhabende Familie ebenfalls als Parasiten gesehen werden könnte. Die Geschichte dreht sich um die arme Familie, die sich im Haus der Reichen einnistet. Aber es geht auch darum, dass die reiche Familie die arme in ihr Leben hineinzieht, weil sie sonst nicht zurechtkommen würden. Sie brauchen jemanden, der sie chauffiert, der den Abwasch macht, und in der Hinsicht sind auch sie Parasiten. Ich denke, gefährlicher sind nicht die, die in die Ecke gedrängt und zum Parasitendasein getrieben werden, sondern diejenigen, die mit Absicht versuchen, den anderen das Blut auszusaugen. Und wer ist das wohl in diesem Film? Andererseits darf man es sich auch nicht zu einfach machen. Ich denke nicht, dass es in dem Film klare Schurken und eindeutige Opfer gibt. In SNOWPIERCER war es der Zug, in PARASITE kommt der Villa der reichen Familie ein ganz eigener Charakter zu. Worauf kam es Ihnen bei der Architektur des Hauses an? D 12
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Beide Häuser, die Villa der reichen und die Untergeschosswohnung der armen Familie sind Sets, die wir eigens für den Film gebaut haben. Und da zirka 60 Prozent der Handlung im Haus der Reichen stattfindet, wurde es schließlich zu einem weiteren Protagonisten im Film und bedurfte sehr genauer Planung. Zu dem Zeitpunkt, als das Drehbuch fertig war, stand für mich im Grunde auch die Architektur des Hauses fest. Ich fertigte eine einfache Zeichnung an, die ich an den Production Designer weiterreichte. Aber als der meinen Entwurf zu einem echten Architekten brachte, schimpfte der nur: „Niemand baut so Häuser. So einen Ort kann’s gar nicht geben.“ Mit anderen Worten, der Production Designer hatte keine leichte Arbeit, zwischen meiner Vorstellung und den Anweisungen des Architekten ein Haus zu bauen, dass einerseits die Struktur aufwies, die ich wollte, und andererseits echt und realistisch aussah. Und ich finde, er hat die Sache großartig gemeistert, aber es gibt sicher Architekten, die den Film sehen und denken, das geht gar nicht. Wieso? Keine Ahnung, aber Architekten sind merkwürdige Menschen. Ich war begeistert von dem Haus. Ich würde sogar selber gerne in so einem Haus wohnen. Aber sie haben nur gesagt: „Das ist lächerlich. Komplett bescheuert.“ Verrückt, oder? Abgesehen von dem Haus, welche der Figuren ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Ich hoffe, die Schauspieler lesen das Interview nicht. Und ich muss auch sagen, ich mag eigentlich alle Figuren und alle Schauspieler im Film. Aber da wir ja hier nicht in Korea sind und es keiner von ihnen mitbekommt: Wenn ich ganz ehrlich bin, mochte ich Moon-gwang am meisten, die ursprüngliche Haushälterin. Sie ist diejenige, die den Film plötzlich von einem Moment auf den anderen komplett auf den Kopf stellt. Und als Schauspielerin hat Lee Jung-eun etwas sehr Merkwürdiges, Unheimliches an sich. Wenn man mit ihr filmt, weiß man nicht, was sie fünf oder zehn Sekunden später tun wird. Sie trägt einen sehr animalischen Instinkt in sich. Nicht wenige Kritiker vergleichen Ihren Film gerne mit anderen aktuellen sozialkritischen Werken wie SHOPLIFTERS von Hirokazu Kore-eda und US von Jordan Peele. Fordert die aktuelle politische Lage weltweit derzeit wieder eine größere Auseinandersetzung mit Themen dieser Art? Ich habe Jordan Peeles Film leider noch nicht gesehen, aber ich war sehr überrascht, als ich den Trailer zum ersten Mal sah, weil darin auch eine Art Abziehbild vorkommt. Und wie gesagt, war das meine ursprüngliche Idee zum Film. Aber denke ich, dass wir als Regisseure und Künstler im Grunde gar keine andere Wahl haben, als uns mit der Zeit auseinanderzusetzen, in der wir leben. Wir sind ergriffen von dem, was um uns herum passiert. Ich kenne weder Peele noch Hirokazu persönlich, aber als Schöpfer künstlerischer Werke lassen wir uns alle von der gleichen Zeit inspirieren - jeder auf seine Weise und nach seiner Überzeugung. Welchem Genre würden Sie Ihren Film am ehesten zuordnen? Ich würde sagen, PARASITE ist eine schwarze Horror-Komödie-Action-Gesellschaftssatire. Aber mein amerikanischer Verleiher schickte mir neulich eine Rezension, in der es heißt: „Bong Joon-ho selbst ist das Genre.“ Das gefällt mir eigentlich am besten. D Das Gespräch führte Pamela Jahn
Südkorea 2019 D 132 min D R: Bong Joon-ho D K: Kyung-pyo Hong D S: Jinmo Yang D M: Jaeil Jung D D: Song Kang-Ho, Lee Sunkyun, Park So-dam, Chang Hyae Jin D V: Koch Films
Parasite
Herz für die Verdammten Die Familie Kim lebt in der Gosse und atmet den Uringestank der Straßenpinkler aus der Kneipe nebenan ein. Mit Dosenbier feiern sie die Entdeckung eines neuen offenen W-Lans, auch wenn es nur auf dem Klo, auf dem man nur in gebückter Haltung sitzen kann, Empfang gibt. Die Kims stinken, sie fressen wie die Schweine, sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, sie stehlen, lügen und betrügen. Aber sie können sich tarnen. Dann sehen sie aus wie die braven, gottesfürchtigen Bürger von nebenan. Bis niemand mehr hinsieht. Bong Joon-hos Cannes-Gewinner PARASITE ist ein Film über den schlimmsten Alptraum der Bourgeoisie. Seine Unterschichtsfamilie scheint eins mit dem Dreck zu sein, aber sie schleicht sich in ein Leben aus Schönheit, Güte und kultivierter Eleganz. Ein Freund des Sohnes Ki-woo bietet diesem seine alte Stellung als Nachhilfelehrer bei der Teenager-Tochter der begüterten Familie Park an. Ki-woo verwandelt sich in eine Ausgeburt bürgerlichen Charmes und stellt sich bei der herzensguten und erznaiven Hausherrin Yeon-kyo vor, die sofort von dem freundlichen Pseudo-Studenten begeistert ist. Das Haus der Parks ist ein architektonisches Wunder, ein Traum der entspannten Eleganz, der größtmögliche Kontrast zum Kellerloch der Kims. Aber die Angst wohnt mit im Haus, vor allem die, dass die Kinder sich nicht ganz so optimal entwickeln könnten wie gewünscht. Schnell hat Ki-woo die Schwächen der Familie ausgemacht und auch seine Schwester als Zeichenlehrerin für den kleinen Sohn bei den Parks untergebracht. Der wird als einziger misstrauisch, weil die Kims den gleichen Geruch ins Haus schleppen. Bong Jong-hos Cannes-Gewinner ist eine finstere, absurde, komische und spannende Klassenkampf-Satire, die zwar aus der Perspektive der Kims erzählt, sie aber als Nemesis der reichen Parks inszeniert. Bong hatte schon immer ein Herz für die Verdammten der Erde. In seinem Monsterfilm THE HOST weiß eine dysfunktionale Familie am ehesten, wie man der Kreatur aus der Gosse entkommt, in SNOWPIERCER gelingt sogar beinahe die Revolution, im Kinderfilm OKJA wird ein riesiges Schwein vor der Fleischindustrie gerettet. Aber seine Familie Kim ist ambivalenter und gefährlicher als die Figuren aus den früheren Filmen. Erst gegen Ende des Films wird ihre stoische Würde deutlich, aber bis dahin gibt es noch einige Überraschungen. D Tom Dorow Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Bong Joon-ho‘s Cannes winner PARASITE is a film about the bourgeoisie‘s worst nightmare. Working-class family Kim creeps into the life of beauty, goodness, and cultivated elegance that the Park family is leading.
TIM BÜLOW
LEA FREUND
ZWISCHEN UNS DIE MAUER Nach einer wahren Geschichte AB 3. OKTOBER IM KINO
I JANDAL TA M E R M VON EIN FIL
AB 24. OKT. IM KINO U N K T, GLANZP sspiegel IST EIN K T E .“ Tage M N L U I P F E H Ö H „DER EN DER U R W EG N IC H T N easylo
ve-film
.de
INDIEFEATURE
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INDIEFEATURE
M. C. Escher: Reise in die Unendlichkeit Lieblingskünstler
Der niederländische Dokumentarfilm über den Zeichner, Druckgrafiker und Lithografen M.C. Escher (1898 – 1972) erinnert an amerikanische Popdokus. Alles ist in Bewegung, von der Kamera bis zu den nachträglich animierten Grafiken Eschers, in denen mal Lichter blinken, mal Eschers „Einroller“-Tierchen durchs Bild kugeln. Immer wieder fliegen die berühmten Zugvögel durchs Realfilmmaterial, und keine Szene kommt ohne Musikuntermalung aus. Einerseits ist das irritierend, denn Escher war eine sehr private Person und tüftelte am liebsten ganz alleine vor sich hin. Der Film beginnt sogar mit einem Schreiben, in dem er sich über die Begeisterung der Hippie-Generation für seine Arbeiten wundert und sich über die psychedelischen Farben beschwert, mit denen sie die Werke verunstalten. Andererseits ist Escher spätestens seit den 70er Jahren mehr als Pop denn als Kunst rezipiert worden. Seine Drucke zieren zahllose Jugendzimmer, wurden in Filmen zitiert und dienen als Vorlage für Tattoos. Escher selbst tut sich schwer damit, sich als Künstler zu bezeichnen, immer wieder beschreibt er, wie er zwischen den Stühlen sitzt – nicht klug genug für einen Mathematiker, aber auch nicht wirklich an Schönheit interessiert, wie es sich für einen Künstler gehören würde. Stattdessen verfolgt er ein Leben lang seine eigenen Obsessionen. Der Dokumentarfilm lässt meist Escher in Briefen und Notizen selbst zu Wort kommen, ergänzt durch Interviews mit seinen Söhnen. Die Genese von Eschers zunehmend komplexeren Rätselbildern lässt sich dabei gut mitverfolgen, von seinen Anfängen als naturalistischer Zeichner, der gern reiste und 10 Jahre lang in Italien lebte, über den Aufenthalt in der Alhambra, bei dem Escher seine Faszination für islamische Mosaike entdeckte, bis hin zu den Jahren der Besetzung der Niederlande durch die Nazis, in denen er sich isoliert im Atelier immer weiter in seine bildlichen Puzzle vertiefte und seine Fusion ornamentaler Figuren mit naturalistischen Motiven perfektionierte. D Hendrike Bake
Originaltitel: Escher – Het oneindige Zoeken D Niederlande 2018 D 81 min D R: Robin Lutz D K: Robin Lutz D S: Moek de Groot D V: MFA+ FilmDistribution
Start am 10.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
A documentary about M.C. Escher, who describes himself not as an artist, but as a mathematician.
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INDIEFEATURE
„Er war der erste Ex-Neonazi, den ich traf, und ich der erste Jude, dem er begegnete.“ Interview mit Guy Nattiv zu SKIN
INDIEKINO: Mr. Nattiv, wie kommt ein israelischer Jude dazu, einen Film über die US-amerikanische Neonazi-Szene zu drehen? Guy Nattiv: Ich bin in Israel geboren und aufgewachsen und habe dort auch die ersten 40 Jahre meines Lebens gelebt. Dann habe ich meine Frau kennen gelernt, eine amerikanische Schauspielerin. Ich bin in die USA gezogen und habe beschlossen, nochmal neu anzufangen. Ich wollte keine Filme mehr drehen, die für mich nicht eine ganz persönliche Herzensangelegenheit sind. Die Geschichte von SKIN wurde zu einer solchen. Noch in einem Coffee Shop in Tel Aviv fiel mein Blick zufällig auf einen Zeitungsartikel mit einer Reihe von Fotos, die alle das gleiche Gesicht zeigten. Auf dem ersten war es voller Tätowierungen, aber von Bild zu Bild wurden es weniger. Es war die Geschichte von Bryon Widner, und sie zog mich sofort in den Bann.
menschlichen Mann, der mir erzählte, wie er ab seinem 14. Lebensjahr von diesen Menschen indoktriniert und beeinflusst wurde. Es war ein sehr emotionales Wochenende, nach dem er mir auf einer Serviette die Rechte an seiner Lebensgeschichte abtrat. Und so begannen wir unsere gemeinsame Arbeit am Drehbuch, die sich über vier Jahre hinzog. Aber die Geschichte, die Sie in SKIN zeigen, ist durchaus fiktionalisiert, oder? Bryon erzählte mir viele Geschichten, die zu brutal waren, als dass ich sie im Film hätte zeigen können. Andere waren nicht interessant genug oder hätten vom Wesentlichen abgelenkt. Doch die zentralen Elemente – von der Begegnung mit seiner heutigen Frau Julie und ihren Töchtern bis hin zur Matriarchin der Neonazis – sind allesamt der Realität entnommen. Gab es auch juristische Gründe für Veränderungen?
Aber was war der persönliche Bezug? Meine Großeltern waren Holocaust-Überlebende, und ich bin mit ihren Geschichten über die Gräueltaten der Nazis aufgewachsen. Aber mein Großvater, dem ich besonders eng verbunden war, hat auch immer wieder gesagt, dass ihm nichts wichtiger ist als zu verzeihen, nicht zuletzt den jungen Generationen in Deutschland und Polen. Als ich ihm von Widners Geschichte erzählte, meinte er, das sei genau das, wovon er immer gesprochen habe: Junge Leute, die indoktriniert werden, aber zu besseren Menschen werden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt und ihnen verzeiht. Wenn ich mit meinem Film auch nur einen einzigen Zuschauer zum Umdenken bewegen kann, habe ich schon unglaublich viel erreicht. Und gerade mein Außenseiter-Blick auf diese amerikanische Neonazi-Szene könnte dabei vielleicht helfen. Sie haben auch den echten Bryon Wildner getroffen, nicht wahr? Oh ja, ohne ihn würde es den Film nicht geben. Er steckt in einer Art Zeugenschutzprogramm des FBI, aber es gab eine Fernsehdokumentation namens „Erasing Hate“ über ihn. Deren Machern schickte ich eine Email, sie verrieten mir den Namen seines Facebook-Profils, und ich schrieb ihm eine sehr emotionale Nachricht. Zwei Monate lang hörte ich nichts von ihm und wollte schon aufgeben, als er plötzlich antwortete. Wir skypten und verabredeten uns zu einem Treffen, im Niemandsland von New Mexico. Ich war nervös: er war der erste Ex-Neonazi, den ich traf, und ich der erste Jude, dem er begegnete. Aber ich erlebte einen intelligenten, zutiefst D 16
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Klar, schließlich haben wir es hier mit Verbrechern und Gang-Mitgliedern zu tun, von denen wir erzählen. Schon aus Sorge um meine eigene Sicherheit musste ich also manches verändern. Trotzdem will ich noch einmal betonen, dass die Authentizität nie in Frage stand. Nicht zuletzt, weil Bryon und auch Daryle Lamont Jenkins, der Aktivist, der ihm den Ausstieg aus der Szene ermöglich hat, immer am Set waren. Die beiden waren beratende Produzenten und teilten sich sogar ein Hotelzimmer. Den Schwarzen Hünen und den Ex-Neonazi zusammen zu sehen, das hörte nie auf, mich zu berühren. Eine letzte Frage nochmal zu Bryon Widner: sind Sie davon überzeugt, dass Menschen wie er sich wirklich ändern können? Sie müssen es wollen und die richtigen Bedingungen dafür finden. Das ist wie mit Alkoholikern oder Sekten-Aussteigern: Es braucht enormen Willen und ein Umfeld, das einen echten Wandel überhaupt möglich macht. Was Bryon angeht, habe ich keinen Zweifel, dass er es geschafft hat. Und zwar nicht nur die Entfernung der Tattoos. Auch von seinem Hass ist nichts mehr übrig und seine früheren Überzeugungen sind verschwunden, weil er gelernt hat, dass praktisch alles Bullshit war, was ihm als Jugendlicher eingetrichtert wurde. Heute versucht er sogar, ein Studium nachzuholen. Was nun allerdings nicht heißt, dass er nicht weiterhin traumatisiert ist. Niemand, der ein solches Leben hinter sich tat, geht daraus ohne Blessuren und innere Dämonen hervor. Und mit letzteren kämpft er natürlich bis heute. D Das Gespräch führte Patrick Heidmann
Originaltitel: Skin D USA 2018 D 110 min D R: Guy Nattiv D B: Guy Nattiv D K: Arnaud Potier D S: Lee Percy, Michael Taylor D M: Dan Romer D D: Jamie Bell, Vera Farmiga, Bill Camp, Danielle MacDonald D V: 24 Bilder
„Durch und durch ungewöhnlich und großartig!“ SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
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me rlan t BESTES DREHBUCH FESTIVAL DE CANNES
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Skin
Nazi-Symbole auf der Haut Der israelische Regisseur Guy Nattiv hat im Februar dieses Jahres den Oscar für seinen Kurzfilm SKIN (2018) erhalten, in dem es um die Weitergabe von rassistischem Hass von Generation zu Generation geht. Der abendfüllende Spielfilm SKIN greift einige Szenen und Motive des Kurzfilms auf, erzählt aber eine andere Geschichte. Jamie Bell spielt den Skinhead Bryon Widner, der von einem Hinterwäldler-Neonazi-Paar zum Kronprinzen der Nazi-Terrorgruppe „Vinlanders Social Club“ herangezogen wurde, bevor er mit Hilfe des Schwarzen Aktivisten Daryle Jenkins aus der Szene aussteigt. Widners Gesicht ist mit zahlreichen Tätowierungen bedeckt, und der Film beginnt mit der ersten von zahlreichen Operationen, bei denen die Nazi-Symbole wieder aus der Haut gelasert werden. Die Geschichte wird in einer langen Rückblende erzählt. Widners Ausstieg beginnt, als er auf einer Nazi-Versammlung die alleinerziehende Mutter Julie (Danielle Macdonald) kennenlernt, die ihre drei Töchter germanischen Götterkitsch zur Ukulele singen lässt. Ihre Beziehung lässt zunächst nicht unbedingt darauf schließen, dass sich an Bryons Lebensstil oder Einstellungen etwas ändern würde. Auch Julie hat sich ein Hakenkreuz auf den Oberschenkel tätowieren lassen… SKIN ist ein extrem spannender psychologischer Thriller, der neben der permanenten Gewalt die systematische Verrohung und die vollständige Unterwerfung in einem hierarchischen Terror-System als den Kern des Nazi-Lebensstils ausmacht. Aber auch die Verrohung existiert in Graduierungen. Julie und Bryon saufen, aber sie trinken eher Bier als Schnaps. Bryon hat kein Problem mit körperlicher Gewalt, aber mit Mord. Jamie Bells und Danielle Macdonalds intensives und präsentes Spiel trägt in jeder Szene, vor allem Bell gelingt es, unter der Nazi-Visage immer wieder Spuren von Menschlichkeit aufblitzen zu lassen. D Hannes Stein
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Termine unter www.indiekino.de
Jamie Bell plays skinhead Bryon Widner who was raised to become the crown prince of Nazi terrorist group “Vinlanders Social Club“ by a backwoods neo-Nazi couple before leaving the scene with the help of Black activist Daryle Jenkins.
„Ein sofortiger Filmklassiker.“ SPIEGEL ONLINE
AB 31. OKTOBER IM KINO
INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 80 min D R: Max Linz D B: Max Linz, Nicolas von Passavant D K: Carlos Andrés López D D: Philipp Hauß, Bernd Moss, Sarah Ralfs, Sophie Rois, Maryam Zaree D V: Filmgalerie 451
Weitermachen Sanssouci Kritische Theorie als pfiffige Filmpraxis
Exzellenzprojekte und Evaluation, Feedback und Workflow, Drittmittel und Kennzahlen, Nudging und Coaching: Aus der Bedrohung durch Neoliberalismus und Turbokapitalismus zulasten von Freiheit, Wissen, Umwelt bastelt Regisseur Max Linz eine fröhliche Farce zum universitären Betrieb: Phoebe Phaidon hat einen kleinen Lehrauftrag am Institut für Kybernetik und Simulation, in der Mensa sammelt eine Nudging-App fleißig Daten. Die komplizierte Formel für den ästhetischen Zustand interessiert weder die Studierenden noch den Dozenten, eine Schildkröte bereichert fachfremd ein Seminar, zwischen unbeholfenen Referaten und doofen Vorlesungen streiken die Studis irgendwann, und ab und zu wird ein Lied gesungen. Denn Linz ist Brecht-geschult: Darstellung und Dargestelltes driften auseinander, illusionszerstörend. In künstlich gestelzten Dialogen und mit minimaler Ausdruckskraft geht es um Theoriediskurse und Erkenntnislethargie. Das ist politisches Lehrstück, agitatorisch aufbereitet – und dargebracht als satirische Komödie, in der Situationskomik mit Nonsenskalauern einhergeht und der hohle Leerlauf der wissenschaftlichen Verkenntnismaschinerie gnadenlos verhohnepiepelt wird. Können die Gretchenfragen nach der Universität, nach dem Wissen und der Wahrheit, nach dem Leben und dem Handeln denn tatsächlich unterhaltsam sein? Jawoll, können sie. Weil Linz Spross des durchpolitisierten Berliner Komödienfachhandels ist, in dem bürgerliche Hunde Selbstkritik üben oder Mädchen melancholisch sind: Hier wächst eine Generation junger Filmemacher*innen heran, die kritische Theorie in pfiffige Filmpraxis verwandelt und die Notwendigkeit politischer Veränderung in absurde filmische Welten gießt. Und wenn dann die gefürchtete Evaluation kommt: Dann bricht zwar die Welt zusammen, aber es wird weitergemacht, keine Sorge. D Harald Mühlbeyer
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
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A political didactic play and joyful farce about the university business.
Deutschland 2019 D 105 min D R: Tom Sommerlatte D B: Tom Sommerlatte D K: Willi Böhm D S: Anna Kappelmann D M: Nils Bergholz D D: Sebastian Fräsdorf, Karin Hanczewski, Wolfgang Packhäuser, Jenny Schily, Godehard Giese D V: Kinostar
Bruder Schwester Herz Westernromantik
Ein idyllisches Leben im Einklang mit der Natur. Saftig grüne Wiesen unter der Sommersonne, die Rinder grasen friedlich auf der weiten Ebene und im Gegenlicht reiten Franz (Sebastian Fräsdorf) und seine Schwester Lilly (Karin Hanczewski) unbeschwert durch das Gras. Sie haben den Hof und die Rinderzucht von ihrem Vater übernommen, der nach einem Unfall nicht mehr laufen kann. Jetzt kümmern sie sich um den friedlichen Alten und führen ein glückliches Leben in trauter Dreisamkeit. Doch die finanziellen Nöte werden zunehmend zur Last. Die Scheune müsste längst mal überholt werden. Die dörfliche Idylle ist geprägt vom Stillstand. Darin fühlt sich Franz wohl, Lilly verspürt den Drang nach Freiheit. Sie bändelt mit dem Sänger Chris (Godehard Giese) an und reißt aus. Für Franz bricht eine Welt zusammen. Halt findet er bei der Mitarbeiterin auf dem Hof, Sophie (Jenny Schily). Bereits in seinem behutsam erzählten Debüt IM SOMMER WOHNT ER UNTEN stellte Regisseur und Autor Tom Sommerlatte ein ungleiches Bruderpaar in den Mittelpunkt der Handlung. In BRUDER SCHWESTER HERZ ist das Gefüge ein wenig anders. Karin Hanczewski und Sebastian Fräsdorf machen die Harmonie zwischen den Geschwistern spürbar. Die Momente zwischen ihnen sind die stärksten in Sommerlattes Film. Doch die Handlung wirkt schematisch, die zahlreichen Westernmotive aufgesetzt und so richtig versteht man nicht, was Lilly an Chris jenseits des Klischees von einem wilden, freien Musikerdasein findet. Überdeutlich kommt hier die Liebe des Autors zum Genre zum Tragen. Der Indianer Chris inmitten von Cowboys, der Saloon mit den zwielichtigen Gestalten, der Showdown zwischen den Cowgirls – all das ist ebenso wie der leinwandfüllend in Szene gesetzte Ritt durch die brandenburgische Provinz sehr offensichtlich zusammengefügt. D Lars Tunçay
Start am 10.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Franz feels good in the countryside, his sister Lilly yearns to leave and begins an affair.
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INDIEKRITIKEN Deutschland/Österreich 2019 D 98 min D R: Maryam Zaree D B: Maryam Zaree D K: Siri Klug D S: Dieter Pichler D V: Real Fiction
Born in Evin
After The Wedding
Spurensuche im Gefängnis
Williams vs Moore
Man kommt momentan nicht an Maryam Zaree vorbei: Erst vor ein paar Wochen war sie in SYSTEMSPRENGER zu sehen, im Oktober in WEITERMACHEN SANSSOUCCI, sie spielte in Christian Petzolds TRANSIT mit, erhielt für ihre Rolle in 4 BLOCKS den Adolf-Grimme-Preis. Und jetzt auch noch ein Ausflug hinter die Kamera, zumindest teilweise. Denn Zarees Dokumentarfilm BORN IN EVIN ist eine filmische Autobiografie, eine Spurensuche, ein Versuch, die vielen Lücken in ihrer Vergangenheit zu schließen. Das gelingt nur zum Teil, vieles, was in den 36 Jahren von Zarees Leben unaussprechlich blieb, bleibt es auch, zumindest vorläufig, doch vorher nimmt Zaree die Zuschauer*innen mit zu einer Reise in ihre Vergangenheit, die an einem mehr als ungewöhnlichen Ort begann: Im Hochsicherheitsgefängnis Evin, am Stadtrand der iranischen Hauptstadt Teheran gelegen, dem Ort, an dem das Regime politische Gegner einsperrt, foltert, im schlimmsten Fall ermordet. Die genauen Umstände ihrer Geburt hat Zaree bis heute nicht erfahren, denn ihre Mutter spricht nicht mit ihr über diese Erfahrung, hat das Trauma ihrer Inhaftierung verdrängt. Und damit auch an die nächste Generation weitergetragen, an Zaree, die etwa bei bestimmter Musik mit körperlichem Unwohlsein reagiert, jener Musik, mit der in Evin akustische Folter betrieben wurde. Auf ihrer jahrelangen Spurensuche, die sie in ihrem Film dokumentiert, traf Zaree Verwandte in aller Welt, sprach mit Leidensgenossen, mit anderen Personen, die in Evin geboren wurden, mit anderen Exil-Iraner*innen, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten und vieles verdrängt haben. Das ist sehr persönlich, dabei nie eine intime Nabelschau, und wenn Zaree auch bisweilen zu allzu deutlichen visuellen Metaphern greift (ein befreiender Fallschirmsprung zieht sich etwa durch den Film) ist ihr mit BORN TO EVIN ein sehenswerter Film gelungen. D Michael Meyns
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
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USA 2019 D 110 min D R: Bart Freundlich D B: Susanne Bier, Bart Freundlich, Anders Thomas Jensen D K: Julio Macat D S: Joseph Krings D M: Mychael Danna D D: Michelle Williams, Julianne Moore, Billy Crudup, Eisa Davis D V: Telepool
Actress Maryam Zaree goes searching for traces of her past. She was born in Evin, an Iranian high-security prison where the regime imprisoned, tortured, and killed the political opposition.
Isabel (verhuscht und sperrig: Michelle Williams) sitzt in einem indischen Dorf und meditiert mit den Kindern eines Waisenhauses. Hier hat sie ihren Ort und ihre Aufgabe gefunden, ein besonders verletzlicher Junge ist ihr besonders ans Herz gewachsen. Selbst als eine New Yorker Unternehmerin dem Projekt viel, sehr viel, Geld in Aussicht stellt, sperrt sie sich dagegen, das Dorf zu verlassen und in die USA zu reisen, aber die Ansage ist eindeutig: Sponsoring gibt es nur, wenn Isabel persönlich vorstellig wird. Auftritt Julianne Moore als Wirtschaftsboss Theresa – supereffizient, kurz angebunden und topgepflegt – die neben einem Unternehmen und einer Familie mit drei Kindern gerade auch noch die Hochzeit ihrer ältesten Tochter managet. Sie lädt Isabel ein, dazuzukommen. Am Montag werde man dann weitersehen. Isabel ist irritiert, spielt aber mit, bis sie auf der Hochzeit feststellt, dass sie Theresas Ehemann Oscar (Billy Crudup) kennt. Offenbar verfolgt Theresa einen Plan, der über das Waisenhaus hinausgeht. Aber welchen? Bart Freundlich hat Susanne Biers Arthouse-Erfolg von 2006 NACH DER HOCHZEIT mit einem Gender-Tausch neu inszeniert. War es damals Mads Mikkelsen, der der dänischen Gesellschaft und der eigenen Familie den Rücken gekehrt hatte, ist es jetzt mit Michelle Williams eine Frau. Bereits im Original war die Geschichte ganz schön weit hergeholt, funktionierte aber trotzdem. Im US-Remake werden die psychologischen Löcher und emotionalen Abkürzungen deutlicher. Aber das fällt so richtig erst im letzten Drittel auf, wenn das ganz große Melodrama zuschlägt. Zunächst macht es vor allem Spaß, Michelle Williams und Julianne Moore, die eine misstrauisch, die andere übergriffig, dabei zuzusehen, wie sie ihre unterschiedlichen und dabei gleichermaßen unbeirrbaren Charaktere aufeinanderprallen lassen. D Hendrike Bake
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Isabel (Michelle Williams) had dedicated her life to working in an Indian orphanage. Businesswoman Theresa (Julianne More) brings her back to New York under the pretense of wanting to donate money, but she actually has an entirely different motive.
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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Island of the Hungry Ghosts D Deutschland D 98 min D R: Gabrielle Brady D K: Michael Latham D S: Katharina Fiedler, Lara Rodríguez Vilardebó D M: Aaron Cupples D V: Wolf Kino
La maladie du démon – Die Krankheit der Dämonen
Insel der Hungrigen Geister Außerhalb der „Migrationszone“
Die Weihnachtsinsel ist australisches Territorium, liegt aber 1550 Kilometer vom australischen Kontinent entfernt rund 350 Kilometer vor der indonesischen Küste. Die Bevölkerung der Insel ist eigentlich chinesisch. Auf der Weihnachtsinsel lebt auch eine riesige Population von Krabben, die jedes Jahr eine Wanderung vom Dschungel zum Meer unternehmen. Seit 2012 hat die australische Regierung pazifische Territorien wie die Weihnachtsinsel erneut als „außerhalb der australischen Migrationszone“ deklariert, ein Status, den die Gebiete bereits von 2001 bis 2007 hatten. Geflüchtete haben seitdem praktisch keine Chance mehr, auf dem Seeweg Australien zu erreichen. Wer es trotzdem versucht und auf dem Meer aufgegriffen wird, wird in die Lager auf den Pazifik-Inseln deportiert. Dort besteht kein Anspruch auf ein Asylverfahren. In Gabrielle Bradys vielfach preisgekröntem Dokumentarfilm über die Weihnachtsinsel begleitet die Kamera auch die Krabbenwanderung und einen Ritus der chinesischen Bewohner. Jedes Jahr werden Opfergaben für die Geister der Minenarbeiter verbrannt, die als erste Bewohner der Insel gelten, weil sie kein richtiges Begräbnis bekommen haben und deshalb nicht wiedergeboren werden können. Die beiden Erzählstränge über die traditionelle Lebensweise auf der Weihnachtsinsel stehen in brutalem Kontrast zu den Erfahrungen, die die Trauma-Therapeutin Poh Lin Lee macht, die Geflüchtete behandelt und behutsam zum Sprechen bewegt. Ihre Patienten sind ohne Hoffnung, entrechtet und doppelt traumatisiert durch die Erfahrungen der Flucht und der Lager. Poh Lins Arbeit wird immer stärker erschwert. Während der Dreharbeiten zum Film beschließt die australische Regierung, für alle Angestellten und Zulieferer der Lager ein Schweigegebot zu verhängen. Ein erschütternder Film, der zeigt, welcher Grad an Barbarei auch in angeblich liberalen Demokratien bereits möglich ist. D Tom Dorow
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
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Gabrielle Brady’s award-winning documentary about the Christmas Island follows the work of trauma therapist Poh Lin Lee, who treats interned refugees from the Australian camps.
Lilith Kuglers Dokumentarfilm zeigt die Arbeit des Vereins „Yenfaabima“, dessen Mitglieder sich in Burkina Faso um psychisch Kranke kümmern, die sonst oft aus Aberglauben aus der Gesellschaft ausgestoßen werden. Der Krankenpfleger Tindano und der Pfarrer Guitano leisten Aufklärungsarbeit und bieten eine mobile Sprechstunde für Kranke an, von denen einige sonst in Ketten leben, weil sie als von Dämonen besessen gelten.
Start am 10.10.2019
Deutschland 2019 D 90 min D R: Lilith Kugler
Roger Waters: Us + Them Roger Waters sieht seine Konzerte nicht als angenehme Ablenkung, die „comfortably numb“ in den Abgrund marschieren lässt, sondern als Aufruf an die Menschheit, gemeinsam einen Weg zu finden, den Planeten zu retten. Seine 2017/18-Welttournee war ein überwältigendes Spektakel, das neben Pink-Floyd-Klassikern auch Stücke von Waters’ neuestem Album beinhaltete. Gefilmt von seinem Stammregisseur Sean Evans zeigt der Film US + THEM Waters und Band auf der Bühne in Amsterdam, ihr Publikum vereinend. Am 2. und 6. Oktober als Kino-Event. Nur am 2. und 6.10.
USA 2019 D 135 min D R: Sean Evans
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN
Die Khello Brüder
Lebe schon lange hier
Der Dokumentarfilm begleitet zwei Brüder, die aus Aleppo nach Deutschland geflohen sind und hier mit ihrem neuen Leben und miteinander klarkommen müssen. Tarek kam 2013 mit seiner Familie als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Als Journalist, ohne deutsche Sprachkenntnisse, tut er sich schwer, Arbeit zu finden. Zakwan, der Maler, kommt 2015 nach monatelanger Flucht in Deutschland an. Er nimmt seine Arbeit wieder auf, hat aber über die Flucht die Liebe zu den Farben verloren und malt seine Erlebnisse in düsteren Kohlezeichnungen auf.
Sobo Swobotnik hat mehrere Jahre lang in Berlin-Mitte mit der Kamera aus dem Fenster geblickt und die Bilder zu einem Film zusammengeschnitten, der dem Lauf eines Jahres folgt. Die alltäglichen Beobachtungen und kleinen inszenierten Szenen werden von Musik von Till Mertens begleitet und kommentiert (Alter Herr: Dissonanzen. Junge Frau: romantisches Thema), der Schauspieler Clemes Schick liest dazu Aufzeichnungen von Swobotnik: „Seine Träume waren so groß, dass sie selbst Träume hatten.“ Eine Art Heimatfilm aus der Berliner Off-Kultur.
Start am 24.10.2019
Deutschland 2018 D 78 min D R: Hille Norden
Start am 24.10.2019
Deutschland 2019 D 98 min D R: Sobo Swobodnik D D: Eckhard Geitz, Carl Luis Zielke, Elias Gottstein, Alina Gabriel
INDIEKRITIKEN Italien 2019 D 70 min D R: Adele Tulli D B: Adele Tulli D K: Clarissa Cappellani, Francesca Zonars D S: Ilaria Fraioli, Elisa Cantelli, Adele Tulli D V: missingFILMs
Normal
Dunkel, fast Nacht
Das Alltägliche hinterfragen
Die Ranken des Bösen
Ein Dokumentarfilm ohne Kommentar. Und dabei so ästhetisch, dass er in einer Videokunst-Ausstellung laufen könnte. NORMAL zeigt Alltagssituationen und Rituale der ultimativen (Hetero-)Normativität. Der Film führt vor Augen, was in unserer westlichen Konsum- und Selbstoptimierungsgesellschaft als weiblich gilt oder männlich besetzt ist. Größtenteils ohne Dialoge und Sprache gelingt es der italienischen Filmemacherin Adele Tulli, die Absurdität von Geschlechtertrennung deutlich zu machen: Während die Frauen im Park kinderwagengerechte Fitnessübungen lernen, geben sich die Männer Nachhilfe im zielgerichteten Rumkriegen. Tullis Beobachtungen überraschen, amüsieren und erinnern einen daran, dass auch das Alltägliche hinterfragt werden kann. Normal, was ist schon normal? NORMAL zwingt einen hinzuschauen, wo man meinte, nichts mehr entdecken zu können. Tulli stellt sich und ihr Publikum bewusst vor eine Herausforderung, indem sie keine Interviews, kein Voice-Over zulässt – nur das, was die Kamera vorfindet. Ihre Reise führt quer durch Italien, vom Kindesalter bis zum Erwachsensein. Mit empathischem, oft humorvollem Blick zeigt sie, wie konstruierte Geschlechter unser Leben in Phasen strukturieren. Und wie wir innerhalb dieser unsere eigene Identität stets neu verhandeln müssen. Denn letztendlich teilen wir alle dieselbe Bühne, auf der wir kollektiv Geburt, Liebe, Arbeit, Familie erleben. NORMAL gleicht damit mehr einer psychologischen Studie als einem filmischen Kommentar zum Gender-Diskurs. Was auf den ersten Blick wie der entlarvende Blick einer Akademikerin wirkt, entpuppt sich als zärtliche Erforschung dessen, was uns in der Gruppe Männer/Frauen einerseits eint – und andererseits in unserer Individualität verwundbar macht. D Anna Hantelmann
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
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Originaltitel: Ciemno, prawie noc D Polen 2019 D 114 min D R: Borys Lankosz D B: Borys Lankosz, Magdalena Lankosz D K: Marcin Koszalka D D: Magdalena Cielecka, Marcin Dorocinski, Agata Buzek, Piotr Fronczewski, Roma Gasiorowska D V: Camino Filmverleih
The documentary shows daily situations and rituals of ultimate (hetero-)normativity without added commentary.
Als sie Kinder waren, versprach Alicjas Schwester Eva ihr, sie zu beschützen. Um die „Katzenfresser“, die ein Tor öffnen und das Böse selbst in die besten Menschen hineinlassen könnten, abzuwehren, müssten die Schwestern die Perlenkette der Prinzessin Daisy finden, die früher einmal im nahen Schloss wohnte. Die Perlen wurden nicht gefunden, aber Eva hielt ihr Versprechen, auf Kosten ihres eigenen Lebens. Viele Jahre später kehrt Alicja als investigative Journalistin in ihr Heimatdorf zurück, um zu einer Reihe von Kindesentführungen zu recherchieren. Die Mutter eines entführten Mädchens scheint so apathisch und unter Drogen, dass es vielleicht auch eine profane Erklärung für das Verschwinden ihrer Tochter gibt, aber ein Nachbarskind will wissen, dass die Kleine schon tot ist. Und wenn die Katzenfresser nicht real sind, sollte es in der Gegend doch auch keine Katzenfrauen geben, die Alicjas alter Nachbar mit Essen und Kleidung versorgt … Je tiefer Alicja in das Geheimnis des Dorfes vordringt, desto mehr wird offenbar, wie weit die Wurzeln und Ranken des Bösen reichen. Sowohl in der Bildsprache als auch in einigen Situationen lässt DUNKEL, FAST NACHT an Märchen und Volkssagen denken. Es kommt ein altes Schloss vor, böse Mütter, Kinder, die Pakte schließen und alleine durch den Wald fliehen, und in der Figur eines alten Mannes mit Fliegerkappe sogar eine Art Zwerg. Aber ähnlich wie in DIBBUK – EINE HOCHZEIT IN POLEN (2015) ist das Böse nicht übernatürlich, sondern erwächst aus den Grausamkeiten, die im Laufe der polnischen Geschichte stattfanden, und deren Folgen noch Generationen später zu spüren sind. Basierend auf dem Buch von Joanna Bator erzählt Borys Lankosz eine Geschichte, die einen starken Magen erfordert, durch die märchenhaften Aspekte aber einen wärmenden Hoffnungsschimmer bekommt. Der Weg dorthin ist lang und führt durch einen dunklen Wald. D Christian Klose
Start am 10.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
The adaptation of joanna Bators novel starts out as athriller and veers quickly into dark fairy tale territory.
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INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 88 min D R: Tamer Jandali D K: Janis Mazuch D S: Leonhard Lierzer, Amparo Mejías, Yana Höhnerbach D D: Stella Vivien Dhingra, Sophia Seidenfaden, Sönke Andersen, Lenika Lukas D V: Mindjazz Pictures
Easy Love
Deutschstunde
Experiment in Sachen Authentizität
Schwochow verfilmt Lenz
Laien, die sich selbst spielen, nach einem Drehbuch auf Grundlage eigener Erlebnisse: EASY LOVE von Regisseur Tamer Jandali ist ein Experiment in Sachen filmischer Authentizität. Noch dazu dreht sich alles um das Intimste, was ein Mensch von sich zeigen kann: um Liebe und Sex, um Alltag und Probleme. Die Hauptfiguren sind lesbisch und hetero, monogam oder unterwegs, alle aber sexuell interessierte Menschen, die nach Wegen suchen, ihre Sexualität auszuleben und Verbindungen zu knüpfen. Lenny zieht in die Einzimmerwohnung ihrer neuen Freundin ein; Sören lebt in luxuriöser Obdachlosigkeit bei der jeweiligen Bettbekanntschaft. Stella will eine offene Beziehung führen. Sophia wohnt wieder bei ihrer oldschool-feministischen Mutter und beginnt, als Prostituierte zu arbeiten. Leichtfüßig springt der Film von einer Figur zum anderen, um sie immer wieder in eindrücklichen Montagen zusammenzuführen. Intensive Sexszenen entfalten eine intime Atmosphäre. Die Dialoge wirken lebensnah, die Figuren haben eine ganz eigene Intensität. Sie sind Hipster und Hippies, sind selbstgerecht und esoterisch, respekt- und liebevoll, nehmen Drogen, tanzen im Freien mit Glitzer im Gesicht, sind mal sympathisch und mal richtig nervig – Menschen halt. Man muss manchmal aufpassen, ihnen gegenüber nicht zynisch zu sein, wie sie nach Sinn und Liebe suchen, „mit ihren Beziehungen und mit ihrem Ficken und mit ihrem hedonistischen Lifestyle“, wie es Sophia selbst einmal formuliert. Dann wieder fühlt man sich ihnen doch ganz nah. In allen Plots spielen weibliche Lust und Selbstbehauptung eine wichtige Rolle, aber auch männliche Sexualität wird aus interessanten Perspektiven betrachtet. Antworten für die komplexen Probleme des Da- und Miteinander-Seins werden nicht geliefert. Stattdessen will uns EASY LOVE nur zeigen, wie sich das alles anfühlt. D Eva Szulkowski
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
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Deutschland 2018 D 125 min D R: Christian Schwochow D B: Heide Schwochow, Siegfried Lenz D K: Frank Lamm D S: Jens Klüber D D: Levi Eisenblätter, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Johanna Wokalek, Sonja Richter, Maria Dragus, Louis Hofmann, Tom Gronau D V: Wild Bunch
Non-professional actors playing themselves following a screenplay based on their own experiences: EASY LOVE by director Tamer Jandali is an experiment in matters of cinematic authenticity.
Generationen von Deutsch-Leistungskurslern haben Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ gelesen und an ihm deutsche Geschichte, Mitläufertum, Widerstand und die Abgründe der bloßen Pflichterfüllung studiert. Christian Schwochow hat den Roman nun ganz werkgetreu verfilmt, in einer naturalistischen, oft auch manierierten filmischen Sprache, die den Film DEUTSCHSTUNDE kaum zum geeigneten Lehrstück an Filmakademien macht, aber von Deutschlehrer*innen sicher gern als Abwechslung auf den Stundenplan gesetzt werden wird. Erzählt wird aus der Perspektive des jungen Siggi, der in der Rahmenhandlung im Erziehungsheim sitzt und sich anhand eines Deutschaufsatzes mit dem während des Zweiten Weltkriegs Erlebten auseinandersetzt. Dort lebte Siggi (Levi Eisenblätter) mit seinem weniger nationalsozialistischen, als übertrieben pflichtbewussten Vater Jens (Ulrich Noethen), der Mutter und der Schwester an der norddeutschen Küste, unweit des Malers Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti). Der wird wegen seiner expressionistischen Gemälde bald als entarteter Künstler verfemt und mit Malverbot belegt. Zwischen diesen Polen bewegt sich Siggi, zerrissen vom Wunsch, dem Vater zu gefallen und doch spürend, dass Unrecht geschieht. Schwochow inszeniert diese exemplarische Geschichte gediegen, voller Pathos und großer Gesten, in einer klassischen filmischen Form, die den berühmten Stoff ungebrochen auf die Leinwand bringt. Von der Debatte um den Maler Emil Nolde, der Lenz als Vorbild für die Figur Nansens diente und auch durch den Erfolg des Romans den Mantel des Nazi-Gegners noch ein wenig länger tragen konnte, ist nichts zu spüren. Schwochows DEUTSCHSTUNDE ist eine an sich in jeder Hinsicht solide Adaption, die jedoch daran zu glauben scheint, dass Lenz’ „Deutschstunde“ in einer Zeitkapsel existiert, an der man nicht rütteln darf. D Michael Meyns
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Christian Schwochow has adapted Siegfried Lenz’ novel “Deutschstunde”. The German literature classic is about young Siggi, who reflects on his relationship to his overly dutiful father and “degenerate” painter Nansen in an essay for German class.
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Bait
Etwas zerbricht
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An BAIT wirkt alles alt. Das Bild ist auf körnigem 16mm-Schwarzweißfilm gedreht, der in einer Weise springt und zerkratzt ist, die man nicht mit Computern simulieren kann. Die Häuser und Menschen des Küstenorts in Cornwall sehen so aus, wie sich das gehört, wenn man schon sehr lange von Schifffahrt und Fischfang lebt, und die merkwürdigen Pausen zwischen den Sätzen liegen vielleicht am Schnitt oder an einer Art des Schauspiels, die schon lange aus der Mode ist. Das Dorf wirkt wie aus einer anderen Zeit oder Realität. Andererseits sind die Hosen, die die Tochter der neuen Besitzer des alten Fischerhauses trägt, modern eng, und die Eltern setzen alles daran, das Haus in maritimem Charme zu renovieren. Die Ausrüstung, die Fischer-ohne-Boot Martin dafür nutzen muss, ist rostig oder wurde schon oft geflickt. Aber dann macht er das eben. Den Teufel wird er tun und betrunkene Junggesellenabschiede herumschippern wie sein Bruder. Martin ist und bleibt stolzer Fischer. Bald wird er das Geld für sein Boot zusammenhaben, und bis dahin lässt er sich nichts gefallen. Das werden die Eindringlinge aus London schon noch begreifen. Martin starrt auf das Haus. Das Bild zittert und flackert kurz. Etwas zerbricht und zeigt ein Bruchstück einer Tragödie, die noch kommt oder schon war. Das Bild stabilisiert sich. Martin starrt aufs Haus… BAIT ist ein Kunstfilm, der soziale Realität zeigt. Gentrifizierung ist eine Realität, genau wie der Widerwille der Alteingesessenen, ihr altes Leben einfach so aufzugeben. Anstatt dass Charaktere aber viel reden und erklären, lässt Mark Jenkin den Fischer und die zugezogenen Londoner immer nur kurz aneinander geraten und dann ihre Pläne weiterverfolgen. An die fragmentierte Bildsprache und Erzählweise muss man sich erst gewöhnen, aber dann öffnen sich dadurch Ebenen, die sich mit konventionellen Mitteln kaum erschließen würden. D Christian Klose Großbritannien 2019 D 89 min D R: Mark Jenkin D B: Mark Jenkin D K: Mark Jenkin D D: Mary Woodvine, Edward Rowe, Simon Shepherd, Giles Kino D V: Arsenal Institut
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Director Mark Jenkin tells the tale of the gentrification of Cornwall in grainy 16mm black and white that‘s jumpy and scratched. Martin, a fisherman without a boat, has to renovate the house of newly arrived Londoners, but he has his own plans.
OKTOBER 2019 D
25 D
INDIEKRITIKEN Deutschland/USA/Schweden 2018 D 85 min D R: Janet Tobias, Claus Wehlisch D B: Janet Tobias, Claus Wehlisch D K: Zac Nicholson D S: Claus Wehlisch D M: John Piscitello D V: Neue Visionen
Memory Games Erinnern als Leistungssport
Ein Film über Gedächtnissportmeisterschaften hätte ohne weiteres zu einer Freakshow verkommen können. Menschen, die sich innerhalb von fünf Minuten 145 Wörter, die Reihenfolge mehrerer Kartenstapel einprägen können, oder blind einen Zauberwürfel lösen können, das müssen doch sozial inkompetente Inselbegabte sein, denen zuzuhören keinen Spaß macht. MEMORY GAMES beweist das Gegenteil. Die vier begleiteten Gedächtnissportler*innen leisten Unglaubliches und sind absolut auskunftswillig. Für Johannes aus Magdeburg, der nach einer Muskeldystrophie seinen Ergeiz vom Tischtennis auf das Erinnern verlagerte, und den Amerikaner Nelson, der sich beim Besteigen des Mount Everest noch schneller Zahlen merken kann als Zuhause, ist es einfach eine Sportart, für die man trainieren und in der man sich messen kann. Der Film lässt sie, den Münchner Simon, sowie die Schwedisch-Mongolin Yanjaa ihre Geschichten erzählen, bevor bei der Weltmeisterschaft in Indonesien alle gegeneinander antreten. Aber es geht auch um das Erinnerungsvermögen und seine Relevanz für Kultur, Religion, Gesellschaft und Geschäftswelt. Das Geheimnis der scheinbar übermenschlichen Gedächtnisleistung sind „Memory Palaces“, eine Methode, die Informationen mit visuellen oder emotionalen Stimuli verknüpft und daraus ein individuelles Konstrukt baut, das die Erinnernden blitzschnell durchfliegen, und so die Daten wieder aufrufen können. Eingeführt durch einen BBC-Gaststar und in 3D-Animation visualisiert, erscheinen die Leistungen immer noch imposant und etwas kryptisch, dafür aber auch als eine Fertigkeit, die sich jeder Mensch zu eigen machen kann. Gerade in einer Zeit, die sich zunehmend auf die digitale Speicherung und ständige Verfügbarkeit von Information verlässt, ist das organische Erinnern so ein Ausdruck der eigenen Stärke in einer ansonsten überwältigenden Sintflut der Sinneseindrücke. D Christian Klose
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
D 26
D OKTOBER 2019
MEMORY GAMES depicts four memory athletes as they prepare for the world championship in Indonesia. Their secret is the “memory palace”, a method that connects the stored information to visual and emotional stimuli.
Österreich 2019 D 90 min D R: Gregor Schmidinger D B: Gregor Schmidinger D K: Jo Molitoris D S: Gerd Berner D D: Simon Früwirth, Paul Emile Forman, Josef Hader, Wolfgang Hübsch, Ali Anton Nori D V: Edition Salzgeber
Nevrland
Fluchten in den Sex-Cam-Chat Der 17-jährige Jakob (Simon Frühwirth) lebt ziemlich trist mit seinem Vater (Josef Hader) und dem pflegebedürftigen Großvater (Wolfgang Hübsch) in Wien. Brüllend füllt der Fernseher die Stille, die sich zwischen den Männern breitmacht. Beim Aushilfsjob im Schlachthof spritzt Jakob das Blut von Schweinehälften. Eine aufflammende Angststörung macht die Schichten zur Hölle. Jakob hat eine Panikattacke und muss zur Therapie. Auf einem Stuhl sitzend, soll er die Position seiner Angst im Raum beschreiben. Sie sei direkt hinter ihm, sagt er. Der eigene Körper wird in seiner Unberechenbarkeit zum Feind, inmitten des Chaos des sexuellen Erwachens. Berührungen, Kontakte gibt es nicht in Jakobs Leben. Kleine Fluchten bietet der Sex-Cam-Chat, wo er auf den Kunststudenten Kristjan (Paul Forman) trifft. Die virtuelle Annäherung befördert Jakob nach einer Krise ins Real Life. Er verabredet sich mit Kristjan und gemeinsam starten sie in eine Nacht aus Techno-Beats, Drogen und Sex. Der österreichische Regisseur Gregor Schmidinger bezeichnet sein Langfilmdebüt als „post-gay“, da es die psychische Krise und nicht die sexuelle Identität im Fokus hat. Schmidinger litt selbst an Angstattacken und wollte die Erfahrung in Bilder bannen. Der NEVRLAND-Trip ist keine Kuschelfahrt und überlässt dem Publikum die Interpretation. Traumähnliche Sequenzen zwängen sich als Störmomente in die atmosphärische Dichte und steigern sich zu symbolisch aufgeladenen Szenen. Die intensive Bildsprache ist packend, wirkt aber in der Länge zuweilen angestrengt. Übermalt sind die surrealen Visionen von Beats des Meat Market Labels, dem Urgestein der schwulen Technoszene Wiens. Der wortkarge Jakob findet seine Verkörperung in Simon Frühwirths intensivem Spiel, für das er den Max-Ophüls-Preis 2019 erhielt. D Clarissa Lempp
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
17-year-old Jacob works in a slaughterhouse. An anxiety disorder make the shifts hellish for him. Sex cam chats with art student Kristjan offer a short-term relief.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 110 min D R: Norbert Lechner D B: Susanne Fülscher, Antonia Rothe-Liermann, Norbert Lechner D K: Bella Halben D D: Lea Freund, Tim Bülow, Leo Zirner, Lukas Zumbrock, Franziska Weisz D V: Alpenrepublik
Zwischen uns die Mauer Teenie (West) meets Teenie (Ost)
Zum 30. Jahrestag der Maueröffnung erscheinen mindestens drei Filme, die von der deutschen Teilung und ihrem Ende erzählen. Der Trickfilm für Kinder FRITZI – EINE WENDEWUNDERGESCHICHTE (S. 38), das Familiendrama IM NIEMANDSLAND (Start im November) und die deutsch-deutsche Teenager-Liebesgeschichte ZWISCHEN UNS DIE MAUER. Nun bin ich zwar aus dem Westen, aber alt genug, um die Mauer noch gekannt zu haben und in eine deutsch-deutsche Teenager-Liebesgeschichte verwickelt zu werden, wenn auch nur als West-Ost-Bote. Aber natürlich war ich auch selbst ein bisschen in die Gabi aus dem Prenzlauer Berg verknallt, wenngleich alles im Osten so schräg war, die Mode, die Broilerrestaurants, die Jugendclubs mit den weißen Tischdeckchen und der zehn Jahre alten Musik. Die Verfilmung des autobiografischen Romans von Katja Hildebrand ZWISCHEN UNS DIE MAUER tut wenig, um Vertrauen zur historischen Genauigkeit zu schaffen. Klar, die Schaufenster von Ostläden sahen anders aus als im Westen, aber was eine Jugendgruppe (West) hier in Berlin (Hauptstadt der DDR) bestaunt, ist dann doch etwas zu bizarr: Dosenfisch, Pils, das „Pils“ heißt, und dann, auf einem Podest deutlich erhöht, das sensationellste Angebot: eine Karotte und eine Sellerieknolle. Schlimmer noch ist die Erfindung einer jugendlichen Mauertoten von 1986, die obendrein so edel und gut ist, dass es einem sofort verdächtig vorkommt. Sie liest so gern die Bücher in der Bibliothek des Pfarrers, bei ihren Eltern gibt es nur Marx und Engels, und sie beschließt die Flucht aufgrund der intellektuellen Ödnis. Hier gibt es Stasi-Folter für West-Teenies, als hätte der Terror gegen real existierende Ost-Teenies nicht gereicht, hier sehen Partys (Ost) genauso aus wie Partys (West), dabei waren wir uns damals so fremd. Die Laxheit, mit der hier mit der Geschichte umgegangen wird, macht selbst die wahre Love-Story unglaubwürdig, was schade ist, denn Lena Freund und Tim Bülow als Liebespaar Anna (West) und Philipp (Ost) machen ihre Sache gut.
Portugal/Schweiz 2016 D 113 min D R: Cláudia Varejão D B: Cláudia Varejão D K: Cláudia Varejão D S: Cláudia Varejão, João Braz D V: Wolf Kino
Ama-San Mit großer Sorgfalt
Die Ama-San pflegen eine jahrtausendealte japanische Tradition. Sie sind „die Frauen des Meeres“. Ohne Sauerstoff oder weitere Hilfsmittel tauchen sie in die Tiefen des pazifischen Ozeans, teils bis zum Grund, um von dort Muscheln und andere Meeresschätze zu sammeln. Wie viele traditionelle Berufszweige ist auch die Arbeit der Ama-San eine aus der Welt scheidende Gepflogenheit. Die älteste der drei Frauen, die die portugiesische Regisseurin Cláudia Varejão in einem Fischerdorf auf der Izu-Halbinsel besucht hat, ist 85 Jahre alt. Matsumi, Mayumi und Masumi arbeiten seit 30 Jahren zusammen. Die minutiöse Vorbereitung auf ihre Tauchgänge begehen sie stets mit der gleichen Sorgfalt, bevor sie sich in die Tiefe begeben und auf die ungewisse Suche nach verkäuflichen Lebewesen machen. Für sie ist das Arbeitsalltag, die Zuschauer*innen entdecken dort die Ruhe und Faszination der Unterwasserwelt. Auch der Film selbst scheint sich mit den verlangsamten Geschwindigkeiten der Schwerelosigkeit fortzubewegen. Erst nach 15 Minuten erscheint der Titel. Die Szenen sind lang, es gibt nur wenige Schnitte und die Kamera beobachtet die Frauen ruhig. So folgen wir ihnen nicht nur bei ihren Tauchgängen, sondern vor allem auch bei profansten Alltagserledigungen, beim Beten oder zum Karaoke. Mögliche Fragen, die dabei aufkommen können, müssen sich die Zuschauer*innen selbst erschließen, einen begleitenden Kommentar oder Interviews mit den Frauen gibt es nicht. Wer sich darauf einlässt, erlangt einen detailreichen Einblick in einem fernen Kulturkreis – der auch die Vorstellung von einem traditionellen Frauenleben, nicht nur in Japan, in Frage stellt. Es ist daher eine schöne Überraschung, dass dieser Film drei Jahre nach dem Start seiner Festivallaufbahn in Deutschland noch eine Kinoauswertung erfährt. D Katharina Franck
D Tom Dorow Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Termine unter www.indiekino.de
An East-West teen love story set shortly before the fall of the Berlin Wall.
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
The Japanese “women of the sea” dive into the depths of the Pacific Ocean to collect mussels and other ocean treasures, without oxygen or any other aids. A documentary
OKTOBER 2019 D
27 D
INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 90 min D R: Ali Hakim D B: Maike Rasch, Ali Hakim D K: Rodja Kükenthal D S: Janina Gerkens D M: Andreas Bruhn, Christian Frank D D: Emma Drogunova, Sarah Mahita, Kasem Hoxha, Miguel Ribeiro D V: Edition Salzgeber
Bonnie & Bonnie Zwei gegen den Rest der Welt
USA 2019 D 103 min D R: Paul Downs Colaizzo D B: Paul Downs Colaizzo D K: Seamus Tierney D S: Casey Brooks, Peter Teschner D M: Duncan Thum D D: Jillian Bell, Michaela Watkins, Utkarsh Ambudkar, Lil Rel Howery D V: DCM Film
Brittany Runs A Marathon Bodenhaftung
„Alles ist so derbe kompliziert“, seufzt die 17-jährige Yara (Emma Drogunova) aus Hamburg. Die Wilhelmsburgerin tanzt gern Hip-Hop und dreht gemeinsam mit ihren Freund*innen Videos, um sie auf YouTube hochzuladen. Als die Clique ein sogenanntes „Prank“-Video filmt, läuft Yara einer zufällig ausgesuchten Person auf der Straße hinterher und nimmt ihre Hand. Die taffe Kiki (Sarah Mahita) reagiert wenig begeistert, aber als sich Yara und Kiki in die Augen schauen, funkt es. Kurze Zeit später lädt Kiki, die aus schwierigen Verhältnissen kommt, Yara auf eine Spritztour ein – und die beiden küssen sich. Yara muss die aufkeimende Beziehung zu Kiki allerdings geheim halten, denn ihr aus Albanien stammender Vater und ihr Bruder Bekim (Slavko Popadic) sind strikt dagegen und halten an starren Traditionen fest. Während Bekim versucht, Yara einzusperren und zu überwachen, plant der Vater, sie mit dem Sohn von Bekannten zu verheiraten. Doch die beiden jungen Frauen, die sich in Anlehnung an das berühmte Gangsterpaar Bonnie und Bonnie nennen, kämpfen für ihre Liebe und für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. BONNIE & BONNIE ist das Spielfilmdebüt des Regisseurs Ali Hakim, der gemeinsam mit Maike Rasch auch das Drehbuch zum Film schrieb. Hakim, geboren in Kabul, kam 1989 nach Deutschland und wuchs in Hamburg-Wilhelmsburg auf. Sein temporeiches und größtenteils sehr glaubwürdig inszeniertes Coming-of-Age-Drama bewegt sich nah an der Lebenswelt der Jugendlichen. Handyvideos und Online-Postings sind Teil des Films und treiben die Handlung voran. Die Hauptdarstellerin Emma Drogunova, European Shooting Star 2019, spielt die zwischen ihren Gefühlen zu Kiki und ihrer Familie hin- und hergerissene Teenagerin Yara sehr überzeugend. Mit BONNIE & BONNIE setzt Hakim ein starkes Zeichen gegen Homophobie und für Gleichberechtigung. D Stefanie Borowsky
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
D 28
D OKTOBER 2019
Wilhelmburgers Yara and Kiki are in love, but Yara has to keep it a secret because her father and brother adhere to conservative traditions. Nevertheless, the two young women fight for their love and for their right to a self-determined life.
Brittany braucht keinen Arzt, der sie auf ihre nicht unbedingt gesunden Lifestyle-Choices hinweist. Die Endzwanzigerin wollte doch nur etwas Adderal verschrieben bekommen und sich damit dann wieder ins Partyleben stürzen. Stattdessen erhält sie einen Vortrag darüber, dass ihr schlechter Schlaf etwas mit ihrem Gewicht zu tun hat. Aber die 130 Dollar für ein Fitnesstudio hat Brittany nicht. Die einzige Alternative ist zu joggen. Mit einer kleinen Runde um den Block fängt es an, aber nach und nach fühlt sie sich immer sicherer und findet bald richtig Gefallen daran. Und weil Brittany auch ambitioniert ist, hat sie schnell ein Ziel vor Augen: Am New York City Marathon teilnehmen. Dafür braucht sie aber auch wieder Geld, und besonders ihre dürre Influencer-Mitbewohnerin kann sich mit der neuen Brittany nicht so richtig anfreunden. Aber Einfallsreichtum war schon immer Brittanys Stärke und beim Laufen findet sie neue Freunde, die ihr auch bei Rückschlägen zur Seite stehen. Debüt-Regisseur Paul Downs Colaizzo hat Brittanys Geschichte an der seiner ehemaligen Mitbewohnerin angelehnt, und Hauptdarstellerin Jillian Bell sieht man an, dass sie im Laufe der Dreharbeiten wirklich stark abgenommen hat und im Finale des Films beim echten New York Marathon zu sehen ist. Dieser reale Bezug bietet ein Gegengewicht zum üblichen dramatischen Bogen. Natürlich gewinnt Brittany mit schrumpfendem Gewicht an Selbstbewusstsein und will sich auch wieder verlieben, aber auch schlanker ist sie immer wieder so widerborstig und selbstzerfleischend wie in ihrem alten Leben. Jillian Bell lässt im Zusammenspiel mit den Charakteren um sie herum, die manchmal genauso verloren in der Welt wirken wie Brittany, einen glaubwürdigen Freundeskreis entstehen, der zusammenhält, auch wenn es zwischendurch kracht. D Christian Klose
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
At 27 Brittany decides to stop the unhealthy party life and prepares for a marathon.
Termine unter www.indiekino.de
Originaltitel: Capital in the 21st Century D Frankreich/Neuseeland 2019 D 103 min D R: Justin Pemberton D B: Matthew Metcalfe, Justin Pemberton, Thomas Piketty D K: Jacob Bryant, Darryl Ward D S: Sandie Bompar D M: Jean-Benoît Dunckel D V: STUDIOCANAL
AB 17. OKTOB E R I M KI NO
Das Kapital im 21. Jahrhundert Zurück zur Ungerechtigkeit
Justin Pembertons Verfilmung von Thomas Pikettys politisch-ökonomischem Bestseller DAS KAPITAL IM 21. JAHRHUNDERT setzt auf sensorischen Overkill. Neben zahlreichen Talking Heads – außer Thomas Piketty selbst treten unter anderem die britische Aktivistin und Labour-Politikerin Faiza Shaheen, die Wirtschaftsjournalistin Gillian Tett und der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz auf – gibt es ein Gewitter an Filmausschnitten, Comics, Cartoons, alles ist mit Sound- und Dialogschnipseln sowie mit Musik unterlegt. Das macht den Film bunt und schnell, als müsse eine Debatte über Wirtschaftstheorie und Politik sich so rasant bewegen wie die Kapitalströme selbst. Pembertons Film hält sich insofern an Pikettys Buch, als auch der Film eine historische Erzählung der Entwicklung des Kapitals unternimmt, natürlich nicht so ausführlich wie Piketty, der seine Thesen und Untersuchungsergebnisse auf über 800 Seiten ausführlich belegt. Es geht im Höllentempo vom Kapital als Grundbesitz im Feudalismus über die Akkumulation von Kapital als Produktionsmittel während der industriellen Revolution über die Entstehung des Finanzkapitals, den Kolonialismus und die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, den New Deal und die Weltkriege zum keynesianisch-sozialdemokratischen Wirtschaftswunder der 50er bis 70er Jahre, zur Ölkrise, der Wende zum Neoliberalismus und bis zur seitdem rückläufigen Entwicklung hin zu einer gesellschaftlichen Ungleichheit, die wieder das Niveau des Manchester-Kapitalismus erreicht hat und Gefahr läuft, die demokratischen Institutionen zu zerschlagen. Der Film ist ein überzeugendes Pamphlet für ein Revival echter sozialdemokratischer Politik, allerdings bleiben Pikettys klare Forderungen nach hohen staatlichen Investitionen in Bildung und Technologie sowie massiver Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen ein wenig auf der Strecke. D Tom Dorow
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
E I N FI LM V ON MARYAM ZARE E www.realfictionfilme.de
DOKUARTS 12 FESTIVAL FÜR FILME ZUR KUNST 10.-27. OKT. 2019 ZEUGHAUSKINO BERLIN UNTER DEN LINDEN 2 WWW.DOKU-ARTS.DE 25 FILME AUS 17 LÄNDERN ALS DEUTSCHLANDUND BERLINPREMIEREN, U.A. MIT UND ÜBER: MANIA AKBARI, MILES DAVIS, IDA HAENDEL, JACQUELINE DE JONG, ANNE TERESA DE KEERSMAEKER, MILOŠ FORMAN, SEAMUS HEANEY, TOYO ITO, NAOMI KAWASE, BUSTER KEATON, MALEONN (MA LIANG), PIET OUDOLF, ZIVA POSTEC, PAULA REGO, ORSON WELLES
An adaptation of the non-fiction bestseller by Thomas Piketty.
Gefördert durch
Termine unter www.indiekino.de
Kooperationspartner
INDIEFEATURE
Der Glanz der Unsichtbaren Genau hinschauen
Zunächst hört man nur eine Stimme. Eine Frau erzählt vom Sozialamt. Das dauert zwei Wochen, sagte der Beamte. Ich warte schon drei Monate, habe ich gesagt. Oh, das ist wohl nicht übermittelt worden, meint der. Der blöde Arsch. Was machen die Idioten da eigentlich den ganzen Tag? Die Kamera geht auf und zeigt zunächst Details. Wartenummern, eine Frau im Bus, eine lange Schlange. Dann erst sieht man die ganze Gruppe. Es sind obdachlose Frauen, die an einem grauen, kalten Morgen vor dem „L’Envol“ stehen, einem Tageszentrum für Wohnungslose, und darauf warten, dass es aufmacht. Erstmal zuhören. Genau hinschauen. Der Anfang von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN (auf Französisch kürzer und kämpferischer LES INVISIBLES – DIE UNSICHTBAREN) ist programmatisch für die Herangehensweise von Regisseur Louis-Julien Petit. Ausgangspunkt für seine Komödie waren ein Dokumentarfilm und ein Sachbuch. In ihrem Film FEMMES INVISIBLES: SURVIVRE DANS LA RUE und dem anschließenden Buch „Sur la route des invisibles“ hat Claire Lajeunie obdachlose Frauen, die 40% der französischen Wohnungslosen ausmachen, porträtiert. Petit war von den Frauen fasziniert, merkte aber bald, dass eine reine Adaption des Buches dem Text nichts hinzuzufügen hatte und entschied sich für einen leichteren, D 30
D OKTOBER 2019
komödiantischen Ansatz, etwas in der Richtung wie MEIN WUNDERBARER WASCHSALON oder GANZ ODER GAR NICHT schwebte ihm vor, auch die Filme von Ken Loach fallen einem ein, wenn man DIE UNSICHTBAREN sieht. Dreh- und Angelpunkt des Films ist das Tageszentrum L’Envol. Hier finden die Frauen einen sicheren Ort, können duschen und ausruhen und sich aufwärmen. Das Team des Zentrums verteilt Busfahrkarten, macht Termine beim Sozialamt und besorgt Schlafplätze. Für Petit ist dieses tägliche Kleinklein nicht nur atmosphärischer Hintergrund, er interessiert sich für Abläufe und Details und erzählt über sie viel vom Leben auf der Straße – und von denen, die versuchen, Hilfe zu bieten, und die fast genauso unsichtbar sind. Wenn Audrey (Audrey Lamy) erschöpft in ihrem Büro sitzt und im Stakkato die Nummer der Schlafstation wählt, wieder und wieder und nochmal, bis die Leitung endlich nicht mehr besetzt ist, spricht das Bände über die Not, im Winter ein Dach über dem Kopf zu finden und die Sisyphusarbeit der Helferinnen. Auf der Jobsuche schleppt Chantal (Adolpha Van Meerhaeghe) drei große Taschen mit. Es ist ihr ganzes Hab und Gut, wo soll sie sonst damit hin? Aber mit den Taschen dabei, ist fast schon garantiert, dass niemand sie einstellt. Dass sie allen sofort frei
INDIEFEATURE
Originaltitel: Les Invisibles D Frankreich 2018 D 102 min D R: Louis-Julien Petit D B: Marion Doussot, Claire Lajeunie, Louis-Julien Petit D K: David Chambille D S: Nathan Delannoy, Antoine Vareille D M: Laurent Perez del Mar D D: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Déborah Lukumuena, Noémie Lvovsky D V: Piffl Medien
Start am 10.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
heraus erzählt, dass sie ihre Ausbildung im Gefängnis gemacht hat, hilft natürlich auch nicht. Das Envol jedenfalls ist ein guter Ort, aber es ist bedroht. Es werden nicht genug Frauen in feste Verhältnisse vermittelt. „Ihr nehmt sie zu sehr an die Hand, so werden sie nie selbständig,“ sagt der junge Beamte mit dem Hipster-Bart, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben gefroren hat. Die Frauen vom Envol – die Kundinnen und die Sozialarbeiterinnen – wollen sich das nicht bieten lassen und beschließen, eine eigene Jobbörse aufzumachen, sich gegenseitig Fertigkeiten zu vermitteln und die Vermittlung selbst in die Hand zu nehmen. Das ist allerdings nicht so einfach wie gedacht. Der dramaturgische Bogen von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN ist ähnlich gestrickt wie in GANZ ODER GAR NICHT oder CALENDER GIRLS, funktioniert aber bei weitem nicht so reibungslos. Und das ist in meinen Augen eine gute Sache. Petit lässt sich immer wieder von der Wirklichkeit ablenken, und zu der gehört auch, dass nicht alle Lebensläufe vermittelbar sind. Nicht jede Geschichte lässt sich mit einem hübschen Schleifchen abschließen. Viele der Dialoge sind inszeniert, und während die Sozialarbeiterinnen von professionellen Schauspielerinnen gespielt werden, engagierte Petit für die Rollen fast aller wohnungslosen Frauen
“L‘Envol,“ a day center for homeless women, faces closure. The residents decide to take matters into their own hands. That doesn‘t always go well, but it does give hope.
Darstellerinnen, die Wohnungslosigkeit in ihrem Leben erfahren haben – und die können es mit den Profis an Leinwandpräsenz locker aufnehmen. Diese Präsenz – viel eher als die klassischen und manchmal etwas verloren wirkenden Erzählkinomomente des Films – ist der „Feelgood“-Faktor von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN. Mit wenigen Ausnahmen erzählen die Filme, die aus Frankreich in letzter Zeit zu uns ins Kino kamen, von bürgerlichen und großbürgerlichen Welten. Wenn überhaupt, dann kommt die Welt der „Gelbwesten“ dort als das Andere vor, das assimiliert wird, oder das zur persönlichen Entwicklung des bürgerlichen Individuums beiträgt. In der nächsten Zeit kann man sich nun auf eine Reihe klarsichtiger und wütender Produktionen freuen, die das Bürgertum links liegen lassen und von jenen erzählen, die auch Bürger und Bürgerinnen aber nie mitgemeint sind: LES INVISIBLES macht den Anfang, im November kommt mit HORS NORMES (Außerhalb der Norm) ein Herzensprojekt von Olivier Nakache und Éric Toledano ins Kino, das denen gewidmet ist, die das soziale Netz täglich zusammenhalten, und in LES MISÉRABLES, der Anfang nächsten Jahres startet, begibt sich Ladj Ly in die Banlieues. Die Unsichtbaren, die außerhalb der Norm und die Elenden rücken ins Zentrum. D Hendrike Bake OKTOBER 2019 D
31 D
INDIEKRITIKEN Originaltitel: En liberte! D Frankreich 2018 D 107 min D R: Pierre Salvadori D B: Pierre Salvadori, Benoît Graffin, Benjamin Charbit D S: Isabelle Devinck D M: Camille Bazbaz D D: Adele Haenel, Pio Marmaï, Audrey Tautou, Vincent Elbaz D V: Neue Visionen
Lieber Antoine als gar keinen Ärger
Deutschland 2019 D 88 min D R: Erec Brehmer D B: Erec Brehmer D K: Julian Krubasik D S: Clifford Palmer D M: David Reichelt D D: Marleen Lohse, Daniel Sträßer, Albert Meisl, Janina Schauer, Michael Tregor D V: Four Guys Film
La Palma Doof, aber realistisch
Clever gestrickt
Der Auftakt würde sich auch gut in einem Film der Serie „OSS“ machen, wo Jean Dujardin als Superagent James Bond-Klischees karikiert: Auch Santi (Vincent Elbaz) ist so ein Supercop und legt die Bösewichte in einer perfekten Choreografie der Reihe nach um, ohne sich auch nur das Handgelenk zu verstauchen. Doch die Szenen bebildern nur die Gutenachtgeschichte, die Yvonne (Adèle Haenel) ihrem Sohn allabendlich erzählt. Ihr Mann kam vor zwei Jahren ums Leben und gilt in den Augen der Bewohner ihrer Heimatstadt an der Côte d’Azur als Held. Doch als ein Verbrecher die Kommissarin als Witwe von Santi erkennt, zerbricht für Yvonne eine Welt. Ihr Mann, jene Lichtgestalt, machte gemeinsame Sachen mit der französischen Unterwelt. Wegen ihm sitzt der einfache Angestellte Antoine (Pio Marmai) seit acht Jahren unschuldig hinter Gittern. Als er freikommt ist er ein Wrack. Seine Frau Agnès (Audrey Tautou) erkennt ihn kaum wieder. In seiner Verzweiflung stürzt sich Antoine von einer Brücke und als Yvonne ihn rettet, sieht er ausgerechnet in ihr eine Heldin. Fortan hat sie alle Hände voll zu tun, den durchgeknallten Antoine vor sich selbst zu bewahren. Der actionreiche Auftakt setzt den absurd-komischen Ton für Pierre Salvadoris (LIEBE UM JEDEN PREIS) Film, führt aber gleichzeitig in die Irre. Der etwas platt betitelte LIEBER ANTOINE ALS GAR KEINEN ÄRGER verzichtet nämlich auf Brachialkomik und setzt den Gags eine feinfühlige Auseinandersetzung mit Schuld und den Folgen eines Justizirrtums entgegen. Wie lebt man weiter, nachdem einem das Leben geraubt wurde? Diese Frage beschäftigt Antoine und Yvonne gleichermaßen, basiert doch auch ihr Leben auf einer Lüge. Eine clever gestrickte französische Komödie mit gut aufgelegten Darsteller*innen und viel Situationskomik. D Lars Tunçay
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
D 32
D OKTOBER 2019
The husband of policewoman Yvonne put young innocent Antoine in prison, now she wants to help him with his re-integration in an incognito way …
Tourist*innen haben immer große Freude daran, den Akzent der Sprache ihres Urlaubslandes nachzumachen. Diese Angewohnheit ist ziemlich doof, aber auch ziemlich beliebt. So doof, einen Flug nach La Palma statt nach Las Palmas de Gran Canaria zu buchen, muss man aber erstmal sein. Sanne und Markus (mit viel Verve gespielt von Marleen Lohse und Daniel Sträßer) sind so doof. Sie landen auf der falschen Kanareninsel und geben sich in Folge noch abwegigerer Umstände nun in einem fremden Ferienhaus als spanisches Paar Pablo und Alba aus. Schlecht lispelnd versuchen sie, mit diesem Rollenspiel das Beste aus ihrem Urlaub und aus ihrer stark kriselnden Beziehung zu machen. Und so schwankt ihre Reise beständig zwischen sexy Auszeit und Beziehungshölle. Die Hölle, das sind aber auch immer die Anderen, denen Sanne und Markus auf La Palma genauso wenig aus dem Weg gehen können, wie sich selbst. Von Neo-Hippies bis zum Rentnerpaar erfüllen auch sie die schlimmsten Klischees deutschsprachiger Spanienbesucher*innen zur Hoch-, Neben- und Off-Saison: Ziemlich unangenehm und peinlich. Aber auch ziemlich realistisch und lustig. Eric Brehmers Spielfilmdebüt basiert auf seinem eigenen Drehbuch und aufmerksamen Beobachtungen – nicht nur von Urlauber*innen sondern von Menschen auf der Suche nach dem Glück an sich. Auf Inseln, in der beruflichen Erfüllung und in der Liebe. Sanne und Markus sind in jenem Alter, in dem sie grundlegende Entscheidungen treffen müssen, die ihre Beziehung in Frage zu stellen drohen. Weil sie das wissen, spielen sie miteinander und gegeneinander, bis auch „Pablo“ und „Alba“ eine endgültige Lösung füreinander finden müssen. Wie sie das tun ist oft unangenehm, manchmal richtig peinlich, dabei – auch wenn nicht jeder Witz sitzt – ziemlich amüsant und berührend; mit einem hohen Wiedererkennungswert für Reisende, Suchende und Liebende aller Orten. D Katharina Franck
Start am 17.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Markus booked a flight to La Palma instead of to Las Palmas, which isn’t conducive to his relationship with Sanne.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN USA 2018 D 90 min D R: Stacie Passon D B: Mark Kruger D K: Piers McGrail D S: Ryan Denmark D D: Taissa Farmiga, Alexandra Daddario, Crispin Glover, Sebastian Stan D V: Kinostar
We Have Always Lived In The Castle
Deutschland 2018 D 76 min D R: Rainer Komers
Barstow, California Wüste, lebenslang
Dezent knallig
Auf den ersten Blick hat Stacie Passons Adaption der gleichnamigen Novelle von Shirley Jackson etwas von einer „Young Adult Novel“-Verfilmung: Im Mittelpunkt steht ein Teenager, die 18-jährige Merricat, die mit ihren kurzen Hosen, den großen, misstrauisch guckenden Augen und streng geflochtenen Zöpfen auch noch als 12-Jährige durchgehen könnte. Die Farben des Films sind dezent knallig, das Grün der Pflanzen ist etwas giftiger als üblich, und die Räume der alten Villa, in der Merricat mit ihrer älteren Schwester Constance und ihrem Onkel Julian lebt, sind in satten, komplementären Farben gestrichen. Sehr schnell offenbart sich jedoch, dass diese verspielt bunte Welt voller Abgründe ist. Constance sieht mit ihren fröhlichen Blumenkleidern und den stets frisch ondulierten Haaren zwar so aus, als erwarte sie Besuch oder sei selbst im Aufbruch zu einer Landpartie, hat das das Haus aber seit Jahren nicht verlassen. Onkel Julian schreibt ununterbrochen an einem Bericht über jene schreckliche Nacht, als Merricats und Constances Eltern an einer Vergiftung starben und er selbst nur knapp überlebte. Die Leute im Dorf sind sich sicher, dass Constance die Familie vergiftet hat. Wenn Merricat, die als einzige das Haus verlässt, in diese feindselige Außenwelt geht, vergräbt sie Gegenstände im Garten, um das Böse abzuhalten. Als sie es eines Tages vergisst, kommt ein Cousin zu Besuch und nistet sich auf dem Anwesen ein … Die zunehmend düsteren Ebenen des Psychodramas erschließen sich vor allem über Text: der unzuverlässige Voice-Over-Bericht von Merricat, die wahnhaften Auslassungen des Onkels, die Anschuldigungen der Dorfbewohner. In der Synchronfassung fühlte sich WE HAVE ALWAYS LIVED IN THE CASTLE manchmal wie ein Bilderbuch an, in dem Text und Bild nebeneinander herlaufen. Wir empfehlen, es mal mit dem Original zu versuchen. D Toni Ohms
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
Termine unter www.indiekino.de
Stacie Passon’s adaptation of the eponymous Shirley Jackson novella looks like a colorful young adult novel adaptation at first glance, but the abysses soon open up more and more.
BARSTOW, CALIFORNIA ist nach NOME ROAD SYSTEM und MILLTOWN, MONTANA der dritte Film in Rainer Komers Dokumentarfilmreihe über den amerikanischen Westen. Es ist auch der erste Film in der Reihe, in dem es überhaupt gesprochene Worte gibt, obwohl es zwischen Interviews und Erzählungen immer wieder lange, statische Einstellungen von Rangierbahnhöfen und Wüstenlandschaften gibt. Der Erzähler der Films ist Stanley „Spoon“ Jackson, dessen Stimme aus seinen Memoiren über sein Aufwachsen in Barstow liest. Dass er nur als Off-Stimme im Film präsent ist, hat Gründe: Seit 1977 sitzt Jackson eine lebenslange Haftstrafe in verschiedenen kalifornischen Gefängnissen ab, zurzeit in New Folsom. Jacksons körperliche Abwesenheit wird durch den Detailreichtum seiner Erinnerung an das Aufwachsen in der Wüste mit den Eltern und 14 Brüdern ausgeglichen. Die Passagen über Jacksons Kindheit sind idyllisch aber geerdet, und selbst die schockierenden Passagen über frühe Gewalterfahrungen vermitteln ein Gefühl der Gelassenheit, oder mindestens der Distanziertheit. Zwischen diesen Meditationen interviewt Komer verschiedene Bewohner der Stadt – den Eigentümer eines Motels an der alten Route 66, einen Geologie-Studenten, eine Gruppe alter Gäste in einer Bar, Soldaten aus einer nahen Kaserne – und, in längeren Szenen, zwei Brüder von Spoon Jackson. Vor allem die Gespräche mit Jacksons Brüdern vermitteln ein Gefühl dafür, wie es sein muss, das ganze Leben in einer kleinen Wüstenstadt zu verbringen, während die Jahre über diesen leeren Flecken im bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat hinweg ziehen. Mit seinem fotografischen Blick und der Fähigkeit, Menschen entspannt ihre Geschichte erzählen zu lassen, ist Komers der perfekte Filmemacher, um die Geschichte einer Wüstenstadt zu erzählen. BARSTOW, CALIFORNIA ist ein schönes Gedicht in Wüstentönen, minimalistisch und expansiv. D John Peck
Start am 3.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
A documentary about Barstow, a remote town in California and hometown of Stanley “Spoon” Jackson, who has been in prison since 1977 and became an author there.
OKTOBER 2019 D
33 D
INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 72 min D R: Leonie Loretta Scholl, Pedro Costa Neves D K: Leonie Loretta Scholl, Pedro Costa Neves, Markus Ahren D S: Leonie Scholl D V: déjà-vu film
Vulkan – Volcano
Berlin 4 Lovers Urbanes Lebensgefühl
Wenn man BERLIN 4 LOVERS gesehen hat, weiß man als Nicht-Berliner*in, dass man gerne da wäre, und ist sich nicht sicher, ob man es aushalten würde. Von Leuten, die es dort aushalten, und davon, wie sie sich durch das Leben und die Liebe in der Hauptstadt navigieren, handelt der Dokumentarfilm von Produzentin und Regisseurin Leonie Loretta Scholl. Als Navigationshilfe und Kernthema der Interviews dient Tinder, die App, die das weltweite Datingverhalten binnen kürzester Zeit radikal verändert hat. „It’s very difficult to be in a city like Berlin and be alone“, sagt Gabriele, den die Kamera beim Streifzug durch die nächtlichen Straßen Berlins begleitet. Die Anonymität der Stadt und das kulturelle Überangebot machen es schwer, bleibende Verbindungen zu knüpfen, und die kühle deutsche Gesellschaft tut ihr Übriges. Tinder ermöglicht es, unkompliziert neue Menschen kennenzulernen, bringt jedoch selbst neue Komplikationen mit sich. Der Film hat einen rauen DIY-Charme und erinnert in seiner Herangehensweise ein wenig an die dokumentarische Tradition des Direct Cinema. Porträtiert werden sieben junge Frauen und Männer in der Umgebung, in der sie sich heimisch fühlen – im Atelier, auf dem Bett oder eben draußen, unterwegs. Mit drei unaufdringlichen Kameras schafft das kleine Team um Scholl eine Gesprächsatmosphäre, in der die Gefilmten authentisch erzählen und viel von sich preisgeben. Aufmerksam widmen sich die Bilder auch ihrer Lebensumgebung, der Ausgestaltung ihrer Wohnräume ebenso wie der Stadt selbst. Die feinen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Interviews entspinnen sich ganz ohne die Hilfe einer Erzählerstimme. BERLIN 4 LOVERS fühlt sich jetzt schon an wie ein ausdrucksstarkes Zeitdokument, das einen speziellen Moment in einer speziellen Stadt festhält und zugleich viel vom Lebensgefühl einer ganzen urbanen Generation vermittelt. D Eva Szulkowski
Start am 24.10.2019 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de
D 34
D OKTOBER 2019
BERLIN 4 LOVERS portrays the love lives of seven young men and women in the environment they feel comfortable in and the radical changes in dating behavior caused by the Tinder App.
Nachdem er seinen Konvoi verloren hat, strandet OSZE-Übersetzer Lukas in der ukrainischen Steppe. Hilflos in seinem ehemaligen und nun völlig anarchischem Heimatland findet er Unterschlupf im Haus des schrägen Vova und seiner Tochter Marusha. Beide üben auf Lukas eine Faszination aus, die ihn die Gefahren des nahen Krieges vergessen lässt. In intensiven Bildern verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, und zwischen Tragik und Komödie.
Start am 17.10.2019
Ukraine 2019 D 104 min D R: Roman Bondarchuk D D: Serhiy Stepansky, Viktor Zhdanov
Datsche Der New Yorker Schauspieler Valentine Hermann nutzt die Zeit „zwischen Jobs“ dazu, in der Datsche seines Opas seine deutschen Wurzeln zu erforschen. Doch die urdeutschen Kleingartenbewohner*innen sind auf den Fremden aus dem kapitalistischen Westen gar nicht gut zu sprechen. Besonders nicht, als Val aus Langeweile internationale Freunde einlädt, mit denen noch mehr Unruhe einkehrt, und zudem unter dem Dach Adam findet, der sich vor den Behörden und der Ausweisung versteckt. Die Nachbarn sind neugierig und der Konflikt vorprogrammiert. Start am 3.10.2019
Großbritannien 2018 D 93 min D R: Lara Hewitt D D: Zack Segel, Kunle Kuforiji, Luis Lüps, Marie Céline Yildirim, Juan Carlos Lo Sasso
Termine unter www.indiekino.de
CANNES FILM FESTIVAL Directors’ Fortnight 2018
GOLDEN GLOBES Nominiert 2019
ACADEMY AWARD® Nominiert 2019
ITFS STUTTGART Jurypreis 2019
Jetzt auf DVD und Blu-ray!
Joker In Venedig hat DER JOKER soeben den Goldenen Löwen gewonnen. Die bisherigen Festival-Reaktionen reichen von völliger Begeisterung bis zu „Hat hier keiner TAXI DRIVER gesehen?“. In jedem Fall scheint es so, als läute der JOKER eine neue Ära des New-Hollywood-Revivals ein. Die Comic-Vorlagen „The Killing Joke“ von Alan Moore und „Arkham Asylum: A Serious House on Serious Earth“ von Grant Morrison waren die aufregendsten DC-Veröffentlichungen der 80er Jahre, wesentlich nuancierter als Frank Millers „The Dark Knight Returns“. Start am 10.10.2019
USA 2019 D 118 min D R: Todd Phillips D D: Joaquin Phoenix, Zazie Beetz, Robert De Niro, Frances Conroy, Bill Camp, Shea Whigham © 2018 STUDIO CHIZU
Ich war noch niemals in New York Auf einer Kreuzfahrt nach New York geraten eine glamouröse Moderatorin (Makatsch), ihre Mutter, die nach einem Unfall das Gedächtnis verloren hat (Thalbach), ein verwitweter Stochastiker (Bleibtreu) und ein Eintänzer mit Vergangenheit (Ochsenknecht) aneinander. Zuerst sind sich die beiden zukünftigen Paare nicht ganz grün, aber bald nimmt Philipp Stölzls Verfilmung des Musicals mit den Hits von Udo Jürgens Kurs auf die große Liebe und ein Happy End auf. Katharina Thalbach hat Spaß an der nötigen Albernheit, und „Griechischer Wein“ wird noch lange im Ohr bleiben. Start am 17.10.2019
Termine unter www.indiekino.de
Deutschland 2019 D 128 min D R: Philipp Stölzl D D: Heike Makatsch, Moritz Bleibtreu, Katharina Thalbach, Michael Ostrowski, Marlon Schramm, Uwe Ochsenknecht, Pasquale Aleardi
WEITERHINIMKINO
Systemsprenger
Gelobt sei Gott
Benni ist acht Jahre alt und trägt immer leuchtendes Pink, aber niedlich ist sie kein bisschen. Meistens ist sie wütend. Sie schreit, sie rennt weg, sie schlägt andere Kinder und ist deshalb schon in etlichen Wohngruppen gelandet, zwischendrin auch mal in der Kinderpsychiatrie. Nun bekommt sie einen neuen Schulbegleiter, Micha, der normalerweise gewalttätige Jugendliche betreut. Micha lässt sich von Benni nicht rumschubsen, ist aber zugleich wirklich für sie da und es scheint, als könnte er, endlich, ein Haltepunkt im Leben des rastlosen Kindes werden.
François Ozons GELOBT SEI GOTT erzählt von der Recherche, die den Prozessen gegen den Priester Bernard Preynat, der in den achtziger Jahren mehr als 70 Kinder sexuell missbrauchte, und gegen die katholische Kirche wegen der Vertuschung des Missbrauchs vorausging. Mehr als für die Verbrechen der Kirchenfürsten interessiert sich Ozon aber für die Opfer. Sein Film wechselt mehrmals den Protagonisten: vom strenggläubigen großbürgerlichen Banker Alexandre zum atheistischen Mittelschichtsmann Pierre und schließlich zum Tagelöhner-Bohemien Emmanuel.
Deutschland 2019 D 119 min D R: Nora Fingscheidt D D: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela M. Schmeide, Lisa Hagmeister
Originaltitel: Grâce à dieu D Frankreich 2019 D 137 min D R: Francois Ozon D D: Melvil Poupaud, Denis Menochet, Swann Arlaud
Midsommar
Nurejew: The White Crow
MIDSOMMAR ist ein virtuoses Riff über bekannten Akkorden, eine Art Folk-Free-Jazz-Horror: Die Ethnologie-Studentin Dani erhält eine grauenhafte Nachricht und findet in ihrer Trauer wenig Unterstützung bei ihrem Uni-Freund Christian und dessen Freunden. Hinter Danis Rücken haben die eine Exkursion nach Nordschweden geplant, um eine abgeschiedene heidnische Gemeinde zu studieren. Natürlich fährt Dani dann doch mit, und der schwedische Kommilitone, der selbst aus der Gemeinschaft stammt, ist verdächtig begeistert …
Der britische Schauspieler Ralph Fiennes hat in seinem dritten Spielfilm als Regisseur das Leben des russischen Ballettrevolutionärs und Ausnahmetänzers Rudolf Nurejew verfilmt, genauer gesagt den legendären Parisaufenthalt des Kirow-Ballets 1961, bei dem Nurejew Schwanensee tanzte und in einer dramatischen Aktion um westliches Asyl bat. In diese Haupthandlung flicht Fiennes Rückblenden in verschiedene Zeitebenen ein, die vom kleinen Rudnik aus ärmliche Verhältnissen und vom jungen, unangepassten Tänzer erzählen.
USA 2019 D 147 min D R: Ari Aster D D: Florence Pugh, Jack Reynor, Will Poulter, William Jackson Harper
Großbritannien, Frankreich 2018 D 122 min D R: Ralph Fiennes D D: Oleg Ivenko, Adèle Exarchopoulos, Ralph Fiennes, Louis Hofmann
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D OKTOBER 2019
Oscar®-Preisträgerin
JULianne MOOre
Oscar®-nOMinierte
MicHeLLe WiLLiaMs
BiLLY crUDUP
„Unglaublich intensiv“ VARIETy
„Eine berührende Reise“ THE WRAp
AFTER THE WEDDING JeDe FaMiLie Hat ein geHeiMnis
AB 17. OktOBER im kinO www.AftERthEwEdding-film.dE © atW DistrO, LLc 2019
INDIEKINDER Deutschland/Luxemburg/Belgien/Tschechien 2019 D 80 min D R: Ralf Kukula, Matthias Bruhn D B: Beate Völcke, Péter Palátsik D S: Stefan Urlass D M: André Dziezuk D V: Weltkino
Shaun das Schaf – Der Film: UFO-Alarm
Fritzi – Eine Wendewundergeschichte Mit dem Hund durch die Mauer
Sommer 1989. Fritzi ist 12 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in der DDR in Leipzig. Als ihre beste Freundin Sophie nach Ungarn in den Urlaub fährt, passt Fritzi gerne auf deren Hund Sputnik auf. Nach den Ferien erscheint Sophie jedoch gar nicht wieder in der Schule: Ihre Mutter ist mit ihr von Ungarn aus nach Westdeutschland geflohen. Sie kann wegen der Grenze um die DDR nicht mehr zurück nach Leipzig. Bisher hat sich Fritzi nicht für Politik oder Nachrichten interessiert. Sie möchte einfach Sophie wiedersehen und Sputnik mit seinem Frauchen zusammenbringen. Jetzt merkt sie, dass das wegen der Mauer, die Deutschland teilt, gar nicht so einfach ist. Trotzdem gibt Fritzi nicht auf und unternimmt sogar gefährliche Sachen, um mit dem Hund durch die Mauer zu kommen. Wenn es um Gerechtigkeit geht, kann sie nämlich stur sein. Dafür kriegt sie Ärger mit der Stasi. Was ist das, fragt Fritzi ihre Mutter. Die sagt: eine Polizei, die den Menschen nicht hilft. Mit Fritzi kapieren wir, dass die Mauer nicht nur ein antifaschistischer Schutzwall ist, wie sie es in der Schule lernt, sondern auch aus der DDR ein Riesengefängnis für alle Bürger*innen gemacht hat. Gerade im Sommer 1989 haben die DDR-Bewohner*innen die Nase voll davon. Sie gehen auf der Straße demonstrieren und fordern Freiheit. Die Stasi, im Film ein merkwürdiger Herr mit Hut, ist nicht begeistert. Fritzi, naiv und mutig zugleich, gelangt mit Sputnik zu den Demos und zur Grenze. Was sie zunächst in ihrer Schulklasse zur Außenseiterin macht, bringt ihr aber auch Unterstützung ein. Gemeinsam haben die friedlichen Demonstrant*innen Erfolg. – Durch diesen mit vielen Details gezeichneten Film vermittelt sich das Lebensgefühl während der Wendezeit aus der Sicht eines Kindes; ein wunderbarer Anlass, im Gespräch deutsche Geschichte, wenn nicht gar Familiengeschichte, aufzuarbeiten. D Anna Stemmler
Auf der Farm von Shaun und seinen Freunden ist alles wie immer: Die Schafe denken sich tolle Sachen aus und der Hund Blitzer ist ein Spielverderber. Im nahegelegenen Ort Mossingham ist dagegen der Teufel los. Ein UFO ist gelandet! Eine Spezialeinheit rückt aus, um das Raumschiff zu untersuchen und Aliens zu finden. Ein kleines Alien hat sich tatsächlich auf die Erde verirrt. Es ist schillernd bunt, kann Stimmen nachmachen, mag Fast Food und Süßigkeiten, und möchte gerne wieder nach Hause … Start am 26.9.2019 D Großbritannien 2019 D R: Richard Phelan, Will Becher D 85 min; FSK: 0
Dora und die goldene Stadt DORA basiert auf der lehrreichen Kinder-Zeichentrickserie mit dem gleichen Namen. Die Heldin Dora, die inzwischen eine Teenagerin ist, wird mit ihrem Cousin Diego und zwei Schulfreunden in den peruanischen Dschungel verschleppt, wo sie ihre Eltern und eine vergessene Inkastadt voller Schätze finden muss. Dort erwartet die vier ein aufregendes Abenteuer und Doras Freund, der sprechende Affe Boots ist auch mit von der Partie. Start am 10.10.2019 D Australien/USA 2019 D R: James Bobin D 102 min
Start am 9.10.2019
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D OKTOBER 2019
FRITZI follows the adventures of a small girl from Leipzig when the GDR broke down.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKINDER
Mein Lotta-Leben – Alles Bingo mit Flamingo
Spatzenkino: Herbstgemüse
Wenn ihre Familie sie wieder nervt, freut sich Lotta besonders, ihre beste Freundin Cheyenne und die gemeinsame Bande „Die wilden Kaninchen“ zu haben. Nur als die „Glämmer“-Mitschülerin Berenike eine richtig große Fete veranstaltet, und alle, ja, wirklich alle, außer die „Kaninchen“ einlädt, muss die Elfjährige sich etwas einfallen lassen, um auch kommen zu dürfen. Den berühmten Sänger Marlon mitzubringen, könnte den Erfolg sichern, aber auch für Streit mit Cheyenne sorgen. Aber Lotta kriegt das hin.
Das Spatzenkino zeigt kurze Filme für die kleinsten Kinofans: Die kleine Prinzessin in DIE KLEINE PRINZESSIN: ICH MAG DEN HERBST NICHT! hat ein Geheimversteck gebaut, aber dann kommt der Wind und will das Dach wegpusten. Die „Sendung mit der Maus“ zeigt, was es auf einem Bauernhof im Herbst alles so zu tun gibt. Und im letzten Film WOMBO ist der knollige Wombo mit seinem Raumschiff auf der Erde gelandet und muss sich verstecken. Gut, dass er aussieht wie eine Kartoffel. Oder doch nicht?
D Deutschland 2019 D R: Neele Leana Vollmar D 94 min, FSK: oA
¢ Termine Berlin & Brandenburg unter: www.spatzenkino.de D D 2014 D 45 min, ab 4 Jahren
Momo Das Waisenmädchen Momo lebt in einem Amphitheater am Rande eines verschlafenen Dorfes. Ihr bester Freund ist der Straßenkehrer Beppo, aber auch die anderen Bewohner des Dorfes kümmern sich um sie. Doch dann beginnen Momos Freunde, sich zu verändern. Auf einmal haben sie immer weniger Zeit. Momo entdeckt, dass die grauen Männer, die neuerdings überall auftauchen, den Menschen die Zeit wegnehmen. Momo muss etwas unternehmen. Sie macht sich auf die Suche nach Meister Hora. Verfilmung des Kinderbuchs von Michael Ende. Start am 17.10.2019 D Deutschland/Italien 1986 D R: Johannes Schaaf D 100 min, FSK: 6
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INDIEFEATURE INDIEKINOHIGHLIGHTS
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INDIEKINOHIGHLIGHTS
CATVIDEOFEST 2019 Das CatVideoFest ist ein Videofest mit Videos in OmU (was heißt hier OmU?) von Katzen. Vermutlich gibt es Katzen in Kisten, weil Katzen gern in Kisten sitzen. Es gibt Katzen, die sich strecken, Katzen die lustige Geräusche machen, Katzen, die aussehen, als wären sie sehr unzufrieden, aber es gibt auch zufriedene Katzen, die sich einfach mal langmachen, anders als Katzen, die permanent Stress machen, aber die gibt es auch. Und weil
alle gern Katzen sehen, das heißt fast alle, kommt das CatVideoFest, das es schon eine Weile in den USA und andernorts gibt, erstmals auch nach Deutschland. Wir versprechen massive intellektuelle Unterforderung, was ja auch mal ganz schön ist. Übrigens ist der Zweck gut - für Katzen. Für Vögel, Fische und Mäuse: geht so. Kinotermine: mindjazz-pictures.de/filme/catvideofest-2019/ OKTOBER 2019 D
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INDIEFEATURE
Indiana Jones und der letzte Kreuzzug Otto – Der Außerfriesische Coming Out They Live Mio, mein Mio
DAS KINO IM JAHR 1989 Eine kleine Recherche zum Wende-Jubiläum
Im Oktober und November 2019 gibt es mehrere Filme, die – 30 Jahre danach – den Mauerfall am 9. November 1989 thematisieren oder deutsch-deutsche Verhältnisse verhandeln. Wir haben uns einmal angesehen, wie die Kinoleinwände vor 30 Jahren aussahen. Unser Fazit: Es gab im Umfeld des Wendejahres 1989 durchaus Filme, die auf eine Lockerung der Verhältnisse hindeuteten, wie etwa Wieland Specks westdeutscher WESTLER, der bereits 1987 im ZDF ausgestrahlt wurde, oder Heiner Carows ostdeutscher COMING OUT, der genau am 9. November im Ostberliner Kino International Premiere feierte. Auf der Berlinale liefen auch Filme wie Wadim Abdraschitows SLUGA (DER DIENER), eine schwer symbolische Geschichte über blinden und vorauseilenden Gehorsam, die vor Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion kaum nach Berlin gekommen wäre. Aber der Goldene Bär ging an RAIN MAN, der auch in der BRD der erfolgreichste Film des Jahres wurde, die Silbernen Bären an Isabelle Adjani für CAMILLE CLAUDEL und Gene Hackman für MISSISSIPPI BURNING. Insgesamt war im West-Kino wenig bis nichts von einer Revolution in der DDR oder einem Zusammenbruch des Ostblocks zu spüren. Die international erfolgreichsten Filme waren INDIANA JONES UND DER LETZTE KREUZZUG und Tom Burtons BATMAN mit Jack Nicholson als Joker, der erfolgreichste Arthouse-Hit war DER CLUB DER TOTEN DICHTER. Ein D 42
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rassistischer Schinken wie DRIVING MISS DAISY gewann einen Oscar als bester Film und lief auch in Deutschland extrem gut. Der erfolgreichste deutsche Film war OTTO – DER AUSSERFRIESISCHE, Uli Edels LETZTE AUSFAHRT BROOKLYN erreichte fast 800.000 Zuschauer und Dany Levys Debütfilm ROBBYKALLEPAUL begründete mit 150.000 Zuschauern die Erfolgsserie des späteren Berliner X-Verleihs. Der einzige Film aus den BRD-Top 100, der im Rückblick irgendetwas mit der tatsächlichen gesellschaftlichen Situation zu tun hatte, war John Carpenters Sci-Fi-Paranoia-Thriller THEY LIVE (SIE LEBEN), in dem der arbeitslose Ölarbeiter John Nada eine Sonnenbrille findet. Wenn er durch die Brille schaut, erkennt er auf den Werbeplakaten in der Stadt nur noch Befehle wie „Gehorche!“, „Konsumiere!“, „Schlafe weiter!“ und „Sieh Fern!“, und viele Gesichter, vor allem die der Mächtigen, sehen aus wie Totenschädel. Die Welt wird von Außerirdischen kontrolliert, John Nada und der Widerstand erheben sich. Heute ist THEY LIVE ein beliebter Kultfilm, allerdings auch unter rechtsextremen Verschwörungstheoretikern. Carpenters Film war eine Satire auf die westliche Konsum- und Mediengesellschaft, aber auch hierzulande wechselten 1989 viele die Brille, während sie anderen von der Nase flog. David Cronenberg Psycho-Thriller DEAD RINGERS (DIE UNZERTRENNLICHEN) über zwei ungleiche Zwillinge und Gynäkologen, die
beim Versuch sich zu „synchronisieren“ zunächst höchst perverse Ideen bekommen und sich später gegenseitig zerfleischen, als Metapher auf die deutsch-deutsche Situation zu lesen, würde dann vielleicht doch etwas den Bogen überspannen. Da gäbe es eher einen Zusammenhang mit Almodovars FRAUEN AM RANDE DES NERVENZUSAMMENBRUCHS. Soweit das Kino (West), von dem im Osten, abgesehen von im Westfernsehen ausgestrahlten Trailern, aber niemand etwas mitbekommen hat. In den DDR-Kinos liefen vor allem einheimische DEFA-Produktionen wie Hannelore Unterbergs Märchenfilm VERFLUCHTES MISSGESCHICK!, Frank Beyers Nachkriegskrimi DER BRUCH und Michael Gwisdeks anlässlich des Jubiläums der Französischen Revolution gedrehtes Debüt TREFFEN IN TRAVERS. Einige DDR-Filme zeigten gelegentlich auch Kante. Erwin Strankas Komödie ZWEI SCHRÄGE VÖGEL nahm die Ineffizienz der Planwirtschaft aufs Korn, in EIN BRAUCHBARER MANN von Hans-Werner Honert werden gleich zwei Ingenieure von der Kombinatsleitung ausgenutzt und Heiner Carows COMING OUT hatte nicht nur einen symbolträchtigen Titel, es war auch der erste Film, in dem ein DDR-Lehrer zu seiner sexuellen Orientierung stehen durfte, und in dem Neonazis gezeigt wurden, deren Existenz in der DDR bis dahin geleugnet wurde. Aus westlichen Ländern starteten 1989 in der DDR nur wenige Filme: CROCODILE
DUNDEE, PLATOON, OTTO – DER NEUE FILM (der im Westen schon wieder der alte Otto-Film war), PELLE, DER EROBERER, RENDEZVOUS MIT EINER LEICHE, DIRTY DANCING, der zum erfolgreichsten Film des Jahres werden sollte – und MIO, MEIN MIO. Die Astrid Lindgren Verfilmung von Wladimir Grammatikow mit einer internationalen Starbesetzung startete am 7. April 1989 in der DDR. Während MIO, MEIN MIO im Westen nur als Kinderfilm kleine Wellen machte, muss sich im Osten eine ganz andere Wirkung entfaltet haben. In unserem Kino in Berlin-Moabit haben sowohl Kolleg*innen als auch Gäste aus Ost-Berlin in den 90er Jahren immer wieder darauf gedrängt, dass wir MIO, MEIN MIO zeigen sollten, der im Osten ein Kultfilm sei. Wie wird es sich im Frühjahr 1989 wohl angefühlt haben, die Geschichte vom Waisenjungen Bosse zu sehen, der von einem Geist in das „Land der Ferne“ (DDR-Synchronisation, im Westen hieß das Land „Außerhalb“) bringen lässt, wo bereits sein Vater auf ihn wartet. Der Vater ist eigentlich der König Mio, und sein grünes Land befreien nun Bosse seine neuen Freunde von dem bösen Ritter Kato mit seinem Herz aus Stein. Am Ende sind alle Kinder frei, die der böse Ritter entführt hatte. Während das in den DDR-Kinos über die Leinwand lief, hatten sich bereits zahlreiche DDR-Bürger*innen in die deutsche Botschaft in Prag geflüchtet und hofften darauf, ausreisen zu dürfen. D Tom Dorow OKTOBER 2019 D
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INDIESERVICE
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D OKTOBER 2019
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D OKTOBER 2019
Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals Nordische Filmtage (S. 6): Nordische Filmtage Lübeck Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg: Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg, Fotograf*in Michel Dingler DOK Leipzig (S. 7): DOK Leipzig Verlosung Mirai (S. 7): AV Visionen Verlosung David Lynch Box (S. 9.): STUDIOCANAL Eine Gewähr für die Richtigkeit der Termine kann nicht übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung von Redaktion und Autor und mit Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandtes Textmaterial wird keine Haftung übernommen.
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Eine junge Frau steht in einer dunklen Landschaft, sehr still und sehr mittig, und blickt die Zuschauerin an. Die Schwärze hinter ihr ist so tief, dass sie einen fast monochromen Hintergrund bildet, vor dem sich alle Aufmerksamkeit auf die Frau konzentriert. Die einzige Lichtquelle im Bild
vorschau INDIEKINO im NOVEMBER
ist eine lodernde Flamme, die einen sanften, warmen Schein auf Gesicht und Arme der Frau wirft und in der Umgebung Gräser erkennen lässt. Von weiter weg sieht es so aus, als lodere das Feuer zu Füßen der Frau, doch in Wirklichkeit ist es ihr Kleid, das brennt. Dennoch steht die Frau mit einer Ruhe da, als würde sie für ein Porträt posieren. Sie weiß um die Gefahr, doch das Festhalten des Moments ist wichtiger als alles, was ihn zu zerstören droht. PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN ist der schönste Film, der dieses Jahr ins Kino kommt. Start am 31.10., Besprechung im nächsten Heft.
D PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN Schön und klug D BIS DANN, MEIN SOHN Familienepos D VERTEIDIGER DES GLAUBENS Missbrauch & Ratzinger D YUNG Wilde Teens D 2040 – WIR RETTEN DIE WELT und BUT BEAUTIFUL Mutmach-Dokus D LARA Über-Mutter-Ich D BOOKSMART Nachholbedarf D DIE KINDER DER TOTEN Jelinek-„Verfilmung“ D LE MANS 66 Männerfilm D DER UNSCHULDIGE Sekten-PsychoDrama D ARETHA FRANKLIN: AMAZING GRACE Nie gezeigte Aufnahmen D DER LEUCHTTURM Isoliert und monochrom D PFERDE STEHLEN Damals D GOTT EXISTIERT, IHR NAME IS PETRUNYA Feministische Satire D ICH BIN ANASTASIA Trans bei der Bundeswehr D BERNADETTE Blanchett am Pol D SORRY WE MISSED YOU Wütend und toll D 46
D OKTOBER 2019
LEIPZIG
InternatIonal leIpzIg FestIval For Documentary anD anImateD FIlm
28.10.– 3.11.2019