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Geschichte anwenden? Zum Umgang mit Vergangenheit und Geschichte in Frankfurt (Oder) und Słubice Geteilte Gegenwart an der Oder Die Grenzziehung zwischen Frankfurt und Słubice im Jahr 1945 stellte für die beiden an der Oder gelegenen Städte das bedeutendste Ereignis ihrer jüngeren Vergangenheit dar. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erstreckte sich Frankfurt, wie auch der gleichnamige Regierungsbezirk, beidseitig der Oder. Die „Dammvorstadt“ war als kleinere Stadthälfte am rechten Ufer durch eine Straßenbahn mit dem Frankfurter Zentrum links des Flusses verbunden. Frankfurt erfuhr zum Ende des Krieges 1945 nicht nur seine Teilung, die unmittelbar die Gründung der neuen Stadt „Słubice“ auf dem nunmehr zur Volksrepublik Polen gehörenden Gebiet der früheren Dammvorstadt bedeutete, die historische Hanse- und Handelsstadt wurde auch in weiten Teilen durch Brände zerstört; ihr früheres Zentrum lag für viele Jahre nach dem Krieg als geräumtes Ruinenfeld brach. Erst ab den 1950er Jahren erfolgte der Wiederaufbau in größerem Stile und mit beachtlicher Energie – das am linken Flussufer gelegene Frankfurt (Oder) entwickelte sich zur wirtschaftlichen, politischen und administrativen Kapitale des nach ihm benannten Bezirks der Deutschen Demokratischen Republik.1 Nach 1945 bildeten sich zwei Gesellschaften in zwei Städten heraus, deren Identitäten neu zu verhandeln und historisch zu verorten waren. Dieser Prozess verlief in relativer Abschottung und Abgewandtheit der beiden vormals zusammengehörenden Stadthälften. Die Grenze zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR war – bis auf die Zeit des visafreien Verkehrs zwischen 1972 und 1980 – weitgehend geschlossen.2 Trotz der erzielten Fortschritte der letzten 20 Jahre – zu denen 1 Zur Geschichte von Frankfurt (Oder) als Bezirkshauptstadt der DDR (1952–1989) liegt bislang keine fundierte Monographie vor, siehe deshalb einzelne Aufsätze in: Monika Kilian, Ulrich Knefelkamp (Hg.): Frankfurt Oder Słubice. Sieben Spaziergänge durch die Stadtgeschichte. Berlin 2003; Ulrich Knefelkamp, Siegfried Griesa (Hg.): Frankfurt an der Oder 1253–2003. Berlin 2003, sowie Mechthild Funk, Hans-Werner Funk: Frankfurt (Oder) Bewegte Zeiten – Die 50er und 60er Jahre (Bildband). Gudesberg-Gleichen 1998; Rat der Stadt Frankfurt (Oder) (Hg.): 725 Jahre Frankfurt (Oder) (Bildband). Frankfurt (Oder) 1978; Jörg Kotterba, Herbert Kriszun: „Hör mal zu, Fritze!“ 20 Menschen über Frankfurt (Oder) und Fritz Krause, der 25 Jahre lang ihr Oberbürgermeister war. Schkeuditz 1998. 2 ����������������������������������������������������������������������������������������� Auf die deutsch-polnischen Kontakte und Kooperationen zwischen 1945 und 1989 geht in seinem einführenden Kapitel besonders Czesław Osękowski ein. Dabei verweist er auch auf die Zeit
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beispielsweise Großprojekte wie die 1991 wieder gegründete Europa-Universität Viadrina mit ihrem Słubicer Gegenstück, dem Collegium Polonicum, gehören – bleiben die Identitäten beider Städte noch immer durch die teilende Kriegs- und Nachkriegsgeschichte geprägt. Welche Faktoren hatten Einfluss auf die Identitätsbildung der beiden geteilten neuen Städte nach Ende des Zweiten Weltkrieges? Welche Identitätsdiskurse haben sich nach der politischen Wende des Jahres 1989 im Zeichen verschwindender Grenzen, schrumpfender Städte und des Europäischen Zusammenwachsens entwickelt, und welche Rolle spielten Vergangenheit und Geschichte in diesem Prozess? Und nicht zuletzt: Was kann der Ansatz einer angewandten Geschichte in der spezifischen Grenzsituation von Frankfurt und Słubice leisten?
Brüche: Identitätsdiskurse in Frankfurt und Słubice seit 1945 Frankfurt (Oder) und Słubice haben eine teils gemeinsame, teils getrennte, in jedem Fall aber an Komplexität reiche Geschichte. Und tatsächlich haben beide auf eine spezifische Art eine gebrochene Identität. Obwohl die beiden Stadthälften städtebaulich einen urbanen Raum bilden,3 wandten sie sich nach 1945 als Grenzstädte voneinander ab und entfremdeten sich infolge von politischen Entscheidungen, ideologischen Vereinnahmungen und schlichtem Nicht-Wissen über den jeweiligen Nachbarn.4 Es gilt jedoch zu betonen, dass Słubices städtebauliche Topographie nach 1945 deutlich weniger urban war als die des linksufrigen Frankfurt, da Słubice auf der baulichen und urbanen Substanz der kleineren, industriell und infrastrukturell weniger entwickelten Stadthälfte am rechten Oderufer entstanden war. Auch waren die Planungen für die städtebaulichen Entwicklungen in Frankfurt und Słubice nach 1945 nicht vergleichbar. So war die Dammvorstadt beispielsweise nur zu einem geringen Teil zerstört worden, weshalb das Thema Wiederaufbau in Słubice eine weitaus geringere Rolle spielte als es in Frankfurt der Fall war. Dort musste man sich aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung grundlegende Fragen der Neuordnung des städtischen Raumes stellen. Im Jahr 1952 wurde der Wiederaufbau des visafreien Verkehrs in den 1970er Jahren: Czesław Osękowski: Pogranicze polsko-niemieckie w okresie transformacji (1989–1997) [Das deutsch-polnische Grenzland in der Zeit der Transformation (1989–1997)]. Zielona Góra 1999, S. 12–44.; vgl. auch Dagmara Jajeśniak-Quast, Katarzyna Stokłosa: Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder) – Słubice, Guben – Gubin und Görlitz – Zgorzelec 1945–1995. Berlin 2000, S. 63–109. 3 Als städtebaulich gemeinsamer Raum werden Frankfurt und Słubice hier verstanden, da sie bis 1945 einen gemeinsamen Stadtorganismus bildeten. 4 Vgl. Eckard Reiß: Das Ende der Frankfurter Dammvorstadt und das Entstehen von Słubice (Eine Chronologie). In: Hefte des Historischen Vereins Frankfurt (Oder) 2 (2003), S. 26–40; Wolfgang Stribrny: Frankfurt/Oder. Porträt einer Brückenstadt. Berlin, Bonn 1991, S. 90.
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1. Das wiederaufgebaute Frankfurt an der Oder
Frankfurts von der DDR-Regierung beschlossen und nach 1956 allmählich realisiert. Im Zuge dessen entstanden mehrere Konzepte zur Neuordnung und Neuausrichtung des städtischen Gefüges, wovon jedoch keines übergreifend umgesetzt wurde. Erste Ansätze eines an der vor 1945 bestehenden historischen Bausubstanz Frankfurts orientierten Wiederaufbaus, wie er beispielsweise in der Bahnhofstraße realisiert wurde,5 mussten technischen und ökonomischen Zwängen weichen. Anstelle der bis dato formulierten Vorstellungen für die Zukunft der Stadt entstanden fortan auf dem Gelände der ehemaligen Altstadt „uniforme Zeilenbauten“, die „die Feinstruktur des historischen Stadtgrundrisses ebenso wie regional charakteristische Gestaltungsmerkmale“6 ignorierten. 5 ������������������������������������������������������������������������������������������� In der Frankfurter Bahnhofstraße entstanden nach 1952 Neubauten, die mit Motiven aus unterschiedlichen Epochen der Stadtgeschichte verziert wurden. Diese verliehen den Gebäuden – im Vergleich zur später präferierten Großplattenbauweise – ein individuelles und historisierendes Antlitz. 6 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Jörn Düwel: Frankfurt an der Oder. Grenzstadt nach Osten. In: Brandenburgische Denkmalpflege 1 (1995), S. 19–30, hier insbesondere S. 20 und S 30; eine Besonderheit stellt die zuerst nach Entwürfen Hermann Henselmanns aufgebaute Bahnhofstraße dar. Henselmann erinnert in den entstandenen Wohnbauten an die Backsteingotik und Stilistik der 1920er und 1930er Jahre. Vgl. ebd., S. 23.
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Słubice kann als 60- oder 750-jährige Stadt beschrieben, seine Geschichte als Fortsetzung der Frankfurter Dammvorstadt oder als Nachkriegsneugründung auf alter Bausubstanz begriffen werden.7 Die faktischen Entwicklungen, zuvorderst der umfassende Austausch der Bevölkerung,8 sodann der Aufbau autarker und von der linken Oderseite unabhängiger Verwaltungs- und Versorgungsstrukturen, sprechen für die Auslegung, nach der Słubice als Nachkriegsgründung zu bezeichnen ist. Auch die Bevölkerungsentwicklung legt diese Annahme nahe. Bis zum Frühjahr 1945 hatte die Frankfurter Dammvorstadt circa 17.000 Einwohner, im Jahre 1946 hingegen nur noch 1.689. Geprägt waren diese ersten Nachkriegsjahre in Słubice durch Leerstand, die Beseitigung von Trümmern sowie durch den Abriss bestehender Gebäude. Um das Jahr 1950 lebten in Słubice 3.198 und im Jahr 1955 4.398 Personen.9 Erste infrastrukturelle Entwicklungen begannen in den 1950er Jahren: Es entstand eine Textil- sowie eine Möbelfabrik, deren Ansiedlung die Schaffung von Arbeitsplätzen und den damit verbundenen Zuzug von Arbeitskräften mit sich brachte. Die Einwohnerzahl Słubices wuchs während der gesamten Nachkriegszeit beständig, erreichte aber erst in den 1990er Jahren wieder das Vorkriegsniveau.10 Den Großteil der Nachkriegsbevölkerung Słubices bildeten Ausgesiedelte aus den ehemaligen Ostprovinzen der Zweiten Polnischen Republik, Umsiedler aus Zentralpolen sowie Siedler, deren Herkunftsorte nicht genau zu bestimmen waren.11 In die Lesart der Stadtgeschichte als Neugründung schreibt sich auch die Tatsache ein, dass sich die Benennung der neuen Verwaltungseinheit auf die Zeit vor der Gründung der Stadt Frankfurt im Jahre 1253 bezieht, wobei es keine eindeutige Erklärung für das Zustandekommen des Namens Słubice gibt. Drei Vermutungen liegen nahe: Die Benennung der Stadt nach dem slawischen Volksstamm der „Słupian“, der zwischen Oder und Spree siedelte und dessen Name vom Fluss „Słubi“ (auf Deutsch Schlaube) abgeleitet wurde,12 nach einer Siedlung rechts der Oder namens „Zbiwitz“, „Zbirwitz“ oder „Zliwitz“, die in der Gründungsurkunde der Stadt Frankfurt (Oder) erwähnt wurde, beziehungsweise nach den Wörtern „słub“, „słup“ 7 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Im Jahre 1996 zum 50. Stadtjubiläum von Słubice erschien eine von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebene Stadtgeschichte, die die Zeit 1945 bis 1995 umfasst: Maria Rutowska (Hg.): Słubice 1945–1995. Słubice 1996. Etwa zehn Jahre später erschien ein Band, der mit den frühen Besiedlungsspuren im Odertal beginnt: Sebastian Preiss, Uta Hengelhaupt (Hg.): Słubice. Historia, topografia, rozwój [Geschichte, Topographie, Entwicklung]. Słubice o. J. (2003). 8 ���������������������������������������������������������������������������������������� Zum Bevölkerungsaustausch und dem oftmals nur schleppend verlaufenden Prozess der Neubesiedlung in unmittelbarer Grenznähe vgl. Beata Halicka: „Mein Haus an der Oder“ – Erinnerungen von Neusiedlern der Oderregion im Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Propaganda. In: Osteuropa 11 (2006), S. 245–260; Preiss, Hengelhaupt: Słubice (wie Anm. 7), S. 112–116. 9 Preiss, Hengelhaupt: Słubice (wie Anm. 7), S. 116. 10 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Die Zahlen stammen aus den Akten des Archivs der Stadtverwaltung in Słubice. In: Preiss, Hengelhaupt: Słubice (wie Anm. 7), S. 113, 116. 11 Preiss, Hengelhaupt: Słubice (wie Anm. 7), S. 113. 12 Vgl. Jajeśniak-Quast, Stokłosa: Geteilte Städte (wie Anm. 2), S. 36.
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(Pfahl), auf die Pfeiler der Oderbrücke hindeutend.13 Die Namensgeber gründeten Słubice demnach 1945 ohne Rekurs auf die Frankfurter Stadtgeschichte und die Vergangenheit des Stadtteils als Dammvorstadt. Das Słubicer Gedächtniskollektiv wurde nach 1945 maßgeblich durch den in den gesamten neuen polnischen Westgebieten propagierten „Piastenmythos“ beeinflusst. Dieser sollte die Integration der sich neu formierenden Gesellschaft forcieren, die ehemals deutschen Territorien möglichst rasch und umfassend polonisieren und die Oder-Neiße-Grenze legitimieren.14 Maßgeblich dafür waren die Etablierung der Bezeichnung „wiedergewonnene Gebiete“ und der Bezug auf das Herrschergeschlecht der Piasten, deren Einflussgebiet vom 10. bis zum 12. Jahrhundert annähernd der Gestalt der 1945 entstandenen Volksrepublik entsprach.15 Trotz dieser ideologischen Fundierung war ein Gefühl der Vorläufigkeit des geopolitischen Status quo bis in die 1970er Jahre eine weit verbreitete Grundhaltung unter den neuen Einwohnern, die eine persönliche Identifizierung mit dem neuen Lebensort ebenso erschwerte wie die mit dem offiziellen historischen Narrativ in Konflikt stehenden persönlichen Erinnerungen an Vertreibung, „Repatriierung“ und Neuansiedlung. Die Erinnerung an die alte Heimat konnte allein im kommunikativen Gedächtnis der Gesellschaft bewahrt werden. Die Disparität der Herkunftsorte der neuen Bewohner behinderte ihrerseits jedoch die Ausbildung einer gemeinsamen Erinnerung in der Stadt.16 Ferner ist eine Aneignung der Vergangenheit vor 1945 als Teil der eigenen Geschichte für die heutigen Einwohner Słubices ungleich schwieriger als für andere, heute polnische Städte in den früher deutschen Ostprovinzen: Słubicer Stadtgeschichte vor 1945 ist nicht die Geschichte einer Stadt, sondern eines deutschen Stadtteils, der städtebaulich und in Hinblick auf die Versorgung, beispielsweise mit Strom, Wasser und Gas, gänzlich auf die größere Stadthälfte links der Oder ausgerichtet war. Gleichzeitig gab es mit der Einwohnerschaft des links der Oder gelegenen Frankfurt einen zweiten Träger der Erinnerung, was dazu führte, dass sich entsprechend wenige Bewohner von Słubice für die bis 1989 einseitig dargestellte
13 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Mateusz Hartwich: Słubice – Spaziergang durch eine Stadt – Vorstadt. In: Kilian, Knefelkamp: Frankfurt Oder Słubice (wie Anm. 1), S. 66–67; Rutowska: Słubice 1945–1995 (wie Anm. 7), S. 19–20. 14 Umfassend zur „Notwendigkeit“ der Propaganda zur Herrschaftslegitimierung in den polnischen Westgebieten nach 1945 vgl. Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin 2003; dort insbesondere S. 271ff.; vgl. zudem Elżbieta Opiłowska: Kontinuitäten und Brüche deutsch-polnischer Erinnerungskulturen. Görlitz, Zgorzelec 1945–2006. Dresden 2009, S. 21ff. 15 Vgl. Grzegorz Rossoliński: Umbenennungen in der Ziemia Lubuska nach 1945. In: Institut für angewandte Geschichte (Hg.): Terra Transoderana. Zwischen Neumark und Ziemia Lubuska. Berlin 2008, S. 64, sowie andere Beiträge in diesem Band. 16 Vgl. hierzu Beata Halicka: Der „polnische Wilde Westen“ – Die Besiedlung der Ziemia Lubuska nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Institut: Terra Transoderana (wie Anm. 15), S. 48 ff.
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Geschichte Frankfurts vor 1945 zuständig fühlten. Nur wenige beschäftigten sich mit der Frage des Bruches in der Stadtgeschichte von 1945.17 In deutlicher Abkehr von der historischen Ausrichtung auf das städtebauliche, soziale und administrative Zentrum westlich der Oder orientierte sich Słubice nach 1945 gen Osten und wurde zum Verwaltungszentrum der nahe gelegenen kleineren Ortschaften des ehemaligen Ostbrandenburg.18 So wurde beispielsweise in den 1970er Jahren eine Schnellstraße mit Nord-Süd-Ausrichtung quer durch die Stadt gebaut, die das alte Straßennetz, das in west-östlicher Richtung sternförmig auf die Stadtbrücke zulief, zerschnitt.19 Die 1970er Jahre waren für die Entwicklung Słubices von besonderer Bedeutung. Die Öffnung der Grenze und der visafreie Verkehr zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR seit dem 1. Januar 1972 führten zu einer Aufwertung des gesamten deutsch-polnischen Grenzlandes. Für die Entwicklung der Region sahen die zentralen polnischen Behörden Mittel vor, um wichtige Investitionen, z. B. im Bereich des Tourismus, zu ermöglichen.20 Die Jahre nach 1972 können daher als neue Etappe der politischen, wirtschaftlichen und sozial-kulturellen Entwicklung der polnischen Westgebiete bezeichnet werden.21 Diese zog auch einen Wandel des Bewusstseins der Einwohner dieser Gebiete nach sich: Es verminderte sich das Gefühl der Vorläufigkeit und der Unsicherheit hinsichtlich der neuen deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze. Die DDR-Bürger kamen als Besucher in ihr östliches Nachbarland, die Polen
17 Hier sind aktuell zwei Namen zu nennen: Henryk Rączkowski vom Projekt Deutsch-Polnische Geschichte e.V. sowie der Deutsch-Polnischen Seniorenakademie und Roland Semik, ein junger Hobbyhistoriker und Journalist. 18 Vgl. zur städtebaulichen Entwicklung von Słubice Preiss, Hengelhaupt: Słubice (wie Anm. 7), S. 121, sowie Hartwich: Słubice – Spaziergang durch eine Stadt (wie Anm. 13), S. 70–71; zur administrativen Entwicklung der Region und der Stellung der Stadt Słubice vgl. Dariusz Rymar: Ukształtowanie się Ziemi Lubuskiej jako jednostki administracyjnej w świetle sprawozdań pełnomocników rządu (luty–lipiec 1945) [Die Herausbildung der Woiwodschaft Lebuser Land als administrative Einheit im Lichte der Berichte des Regierungsbevollmächtigten (Februar–Juli 1945)]. In: Rocznik Lubuski [Lebuser Jahrbuch] 2005, Bd. 31, Teil 2: Pogranicze lubusko-brandenburskie po II Wojnie Światowej [Das Grenzgebiet Lebuser Land – Brandenburg nach dem Zweiten Weltkrieg], S. 18. 19 Der Bau der Schnellstraße fällt in die Zeit der politischen Annäherung zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Anlass für den Bau war unter anderem der Besuch der Staatspräsidenten Edward Gierek und Erich Honecker am 24. Juni 1972. Vgl. Wielki dzień dla Słubic [Ein großer Tag für Słubice]. In: Echo Słubickie, Juli 1972. 20 Es wurden infrastrukturelle Investitionen getätigt, in deren Zuge unter anderem auch zahlreiche Hotels im deutsch-polnischen Grenzgebiet errichtet wurden. Während dieser Bauwelle entstand 1978 auch ein Hotel auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs in Słubice, worauf weiter unten ausführlich eingegangen wird. 21 Andrzej Kwilecki: Z badań nad przemianami społeczno-politycznymi na pograniczu Polski i NRD [Untersuchungen zu den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Grenzregion zwischen Polen und der DDR]. In: Przegląd Zachodni 4 (1972), S. 313–322, hier S. 318–319.
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haben sich erstmals selbst als Gastgeber in ihrem Land wahrgenommen.22 Die Einwohner der kleinen Stadt Słubice empfanden ihre Stadt durch die Verbindung zum größeren Frankfurt (Oder) als bedeutender und „größer“23, und die beiden Städte wurden aufgrund ihrer Grenzlage zu einem wichtigen Ort des Tourismus, z. B. als Zwischenstation und Übernachtungsort auf der Reise nach Berlin. Die Öffnung der Grenze führte sowohl auf institutioneller als auch auf privater Ebene zu einer Intensivierung der Kontakte zwischen den beiden Gesellschaften.24 Im privaten Bereich kam es zu zahlreichen Besuchen, insbesondere in den Grenzgebieten und den dort angesiedelten Städten. So begaben sich die Einwohner von Frankfurt (Oder) und Słubice beispielsweise zum Einkaufen, zum Café- oder Kinobesuch oder für einen Spaziergang auf die jeweils andere Seite der Oder.25 Auf institutioneller Ebene wurden Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten und Betrieben geknüpft. So kooperierte der Bezirk Frankfurt (Oder) beispielsweise mit der Woiwodschaft Zielona Góra,26 da Słubice aufgrund seiner Größe und administrativen Bedeutung kein gleichberechtigter Partner für die Bezirksstadt an der Oder war. Auch für das Verhältnis zwischen den beiden Städten waren die 1970er Jahre von besonderer Bedeutung. Zwischen 1972 und 1980 ermöglichte der visafreie Grenzverkehr persönliche Begegnungen zwischen Frankfurtern und Słubicern, die oftmals den Ausgangspunkt für einen Prozess kritischer Reflexion und teilweiser Revision der offiziellen, politisch geformten Geschichts- und Propagandabilder sowie der Stereotypen über den Nachbarn bildeten.27 Die Möglichkeit des Grenzübertritts haben Deutsche und Polen vielfach genutzt: Insgesamt zählte man in den Jahren 1972 bis 1979 über 100 Millionen Grenzübertritte.28 Für die Bürger und Bürgerinnen der DDR bedeutete dies oft die erste Möglichkeit, die von ihnen im Osten zurückge22 Kwilecki: Z badań nad przemianami (wie Anm. 21), S. 317. 23 Kwilecki: Z badań nad przemianami (wie Anm. 21), S. 318. Zusammen kamen beide Städte auf eine Einwohnerzahl von 80.000 Personen. 24 Andrzej Kwilecki: From studies on the stereotype of the „German“ in Poland and a „Pole“ in the GDR and FRG [Studien zu Stereotypen von „Deutschen“ in Polen und „Polen“ in der DDR und der BRD]. In: Polish Western Affairs 1–2 (1978), S. 287–305, hier S. 293. 25 Andrzej Kwilecki: Problematyka socjologiczna ruchu granicznego i kontaktów ludnościowych Polska-NRD [Der Grenzverkehr und die Kontakte zwischen Polen und DDR-Bürgern als soziologisches Problem]. In: Przegląd Zachodni 4 (1974), S. 399–404, hier S. 399. 26 Andrzej Kwilecki: Problematyka socjologiczna (wie Anm. 25), S. 401; Hieronim Szczegóła: Współpraca województwa zielonogórskiego z okręgiem Frankfurt [Die Zusammenarbeit der Woiwodschaft Zielona Góra mit dem Regierungsbezirk Frankfurt (Oder)]. In: Przegląd Zachodni 4 (1974), S. 427–440. 27 Vergleichbares hat Elżbieta Opiłowska für die Grenzstädte Görlitz und Zgorzelec herausarbeiten können. Vgl. Opiłowska: Kontinuitäten und Brüche (wie Anm. 14), S. 220–228. 28 Opiłowska: Kontinuitäten und Brüche (wie Anm. 14), S. 220–228, zitiert nach Hieronim Szczegóła: Polsko-niemiecka współpraca przygraniczna w latach 1945–1990 [Die deutsch-polnische grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Jahren 1945–1990]. In: Rocznik Lubuski 17 (2002), S. 190.
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lassenen Städte, Dörfer, Häuser und Friedhöfe wieder aufzusuchen. Mehrheitlich wurde die offene Grenze aber aus ökonomischen Gründen überschritten, insbesondere in Richtung Westen.29 Ein Ende fanden die begonnenen Kooperationen sowie die täglichen Kontakte zwischen den Einwohnern von Frankfurt (Oder) und Słubice mit der erneuten Schließung der Grenze durch die DDR-Regierung im Herbst 1980 aus Angst vor der sich formierenden Solidarność-Bewegung in Polen. Nachdem die DDR den visafreien Grenzverkehr einseitig aufgekündigt hatte, war die Grenze im Verlauf der 1980er Jahre bis zur politischen Wende im Jahr 1989 für die Einwohner und Einwohnerinnen beider Städte erneut nur schwer passierbar. Ein ganz besonderes Phänomen der Kooperation im deutsch-polnischen Grenzraum begann bereits in den 1960er Jahren und hat sich in relativer Unabhängigkeit von den Visabestimmungen an der Grenze entwickelt. Die Rede ist vom Einsatz polnischer Arbeitskräfte in den grenznahen Betrieben der DDR, der auf politischer, deklarativer Ebene unter den Parolen von „Völkerfreundschaft“ und „proletarischem Internationalismus“ stand. Durch den Arbeitskräftetransfer sollten sich „freundschaftliche Kontakte anbahnen, und die betreffenden Länder sollten darüber fester in die sog. Sozialistische Gesellschaft“ eingebunden werden.30 Rita Röhr weist jedoch in ihrer Studie nach, dass diese ideologischen Motive nur eine untergeordnete Rolle bei den Entscheidungen über Anzahl und Ort der Einstellung polnischer Arbeitskräfte in den Betrieben der DDR spielten – ausschlaggebend waren vielmehr ökonomische Notwendigkeiten.31 Der DDR-Wirtschaft fehlte es an Arbeitskräften, während in den polnischen westlichen Woiwodschaften insbesondere viele Frauen ohne Arbeit blieben.32 Die Gesamtzahl polnischer Vertragsarbeiter und -arbeiterinnen in den Betrieben des Bezirkes Frankfurt (Oder) bewegte sich seit Anfang der 1970er Jahre bis zur politischen Wende 1989/90 relativ konstant zwischen 3.000 und 4.000 Personen.33 Die polnischen Arbeitskräfte arbeiteten in gemischten Brigaden zusammen mit den deutschen Kollegen und Kolleginnen, was sich als erfolgreiches Modell erwies und die soziale Integration steigerte. Da aber die Wohnungen der polnischen Arbeitskräfte von denen der deutschen weit entfernt waren, ergab sich in der Regel keine gemeinsame Freizeitgestaltung. Eheschließungen und somit eine dauerhafte Übersiedlung der polnischen Arbeitskräfte in die DDR blieben daher eher die Ausnahme.34 29 Vgl. Jajeśniak-Quast, Stokłosa: Geteilte Städte (wie Anm. 2), S. 195. 30 Rita Röhr: Hoffnung – Hilfe – Heuchelei: Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirks Frankfurt/Oder. 1966–1991. Berlin 1998, S. 200. 31 Röhr: Hoffnung (wie Anm. 30), S. 200. 32 Röhr: Hoffnung (wie Anm. 30), S. 202. Die erste vertragliche Regelung des Pendlerverkehrs erfolgte am 17. März 1966 mit der sog. Pendlervereinbarung zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, weitere Regelungen: Regierungsabkommen vom 25.5.1971, der Vertrag vom September 1988 und diverse Gewerkschaftsabkommen (vgl. dazu Röhr: Hoffnung [wie Anm. 30], S. 218–260). 33 Röhr: Hoffnung (wie Anm. 30), S. 203. 34 Röhr: Hoffnung (wie Anm. 30), S. 204.
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Grundlegend änderte sich die Situation in Słubice erst mit der Grenzöffnung im Zuge des Systemwandels in den frühen 1990er Jahren, in deren Folge sich die Stadt dezidiert als grenzüberschreitendes Dienstleistungszentrum und gen Westen orientiert neu positionieren konnte.35 Nicht weniger komplex ist die Identitätsfrage westlich der Oder. Auch Frankfurt erlebte nach 1945 einen beinahe vollständigen Bevölkerungsaustausch, der die Bevölkerungsstruktur im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg nachhaltig veränderte: Ein Großteil der Einwohner verließ Frankfurt im Zuge der kriegsbedingten Evakuierung im Januar 1945 und kam in die ausgebrannte Stadt nie zurück.36 Die Frankfurter Nachkriegsgesellschaft bildete sich nach und nach aus Flüchtlingen und Vertriebenen, zugezogenen Bewohnern der umliegenden Landgemeinden, aber auch mit der industriellen und administrativen Aufwertung der nunmehrigen Bezirkshauptstadt aus Arbeitnehmern und Bediensteten, die aus dem gesamten Gebiet der DDR an die Oder zogen.37 Parallel zu den Entwicklungen in Słubice wurde auch in Frankfurt zwischen 1945 und 1989 die Vergangenheit der Stadt, entsprechend der DDR-Geschichtspolitik, selektiv behandelt. Zu den unliebsamen Teilen der Vergangenheit gehörten etwa die Rolle des preußischen Militärs in der Stadt, insbesondere aber auch das Flüchtlingsthema und die Geschichte der östlich der Oder gelegenen, früher deutschen Gebiete.38 Frankfurt verlor seine östliche Stadthälfte und seine regionale Rolle als Hauptstadt des halb Brandenburg umfassenden, nun größtenteils in Polen liegenden Regierungsbezirks Frankfurt (Oder). Nach der weit reichenden Zerstörung der Innenstadt am Ende des Zweiten Weltkrieges sowie dem Abriss noch intakter Gebäude nach dem Krieg wurde Frankfurt mit einer breit angelegten Aufmarschmagistrale, einheitlichen Wohnblöcken und städtebaulich dominierenden Hochhausbauten zum großen Teil neu gebaut.39 Diese beachtliche Aufbauleistung schrieb sich in eine Vision der Oderstadt als sozialistische Vorzeigestadt ein, wobei auch ein ehrgeiziges quantitatives Ziel verfolgt wurde: das Erreichen einer Einwohnerzahl von 100.000 und des Status einer Großstadt.40 Entscheidend 35 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Auf der offiziellen Internetseite der Stadt wird Słubice als Grenzstadt und Verkehrsknoten dargestellt: URL: http://www.slubice.pl/?a=temat&id=62 (abgerufen 22.5.2011). 36 Etwa 65 % der Frankfurter Gebäude waren nach den circa sechs Wochen andauernden Bränden und Plünderungen bei Kriegsende zerstört. Vgl. Jajeśniak-Quast, Stokłosa: Geteilte Städte (wie Anm. 2), S. 19. Circa 12 % der Stadtfläche beanspruchte die sowjetische Armee für sich. Vgl. Ralf Loock: Zum Abschied Parade vor dem Rathaus. In: Märkische Oderzeitung, 21.2.2007. 37 Vgl. Wolfgang Wüstefeld: Ein gläubiger Kommunist. In: Kotterba, Kriszun: „Hör mal zu, Fritze!“ (wie Anm. 1), S. 28. 38 Vgl. Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945. Göttingen 1998. 39 Zur städtischen Bauentwicklung in Frankfurt (Oder) in den 1960er Jahren vgl. Henry-Martin Klemt: Poesie der Befreiung. Warum die Kirche St. Marien noch steht: URL: http://www.hmklemt.de/000 0009b6f0c92604/0000009b6f0ca982c/0000009b700052366/index.html (abgerufen 10.12.2011). 40 Vgl. Reinhard Kusch: Die finale Krise der DDR und die demokratische Herbstrevolution in Frankfurt 1989/90. In: Kilian, Knefelkamp: Frankfurt Oder Słubice (wie Anm. 1), S. 282.
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für die Umsetzung dieser Ziele war die Eröffnung des VEB Halbleiterwerks im Jahr 1959, das zum größten Produzenten von Mikroelektronik in der DDR avancierte und im Jahr 1989 8.100 Mitarbeiter beschäftigte.41 Nach politischer Wende und Wiedervereinigung war das Werk nicht mehr konkurrenzfähig und seine Schließung mit dem Verlust einer großen Zahl von Arbeitsstellen verbunden – ein Schicksal, das die Frankfurter Wirtschaft in nahezu allen Bereichen qualifizierter Beschäftigung nach 1989 ereilte.42
Umdeuten – Aushandeln – neu erleben: zum Umgang mit Vergangenheit und Geschichte in der Doppelstadt nach 1989 Nach der politischen Wende und der Grenzöffnung im Jahr 1989 standen sich Frankfurt (Oder) und Słubice als zwei in großen Teilen durch ihre Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen staatlichen Gesamtzusammenhängen sehr unterschiedlich geprägte sowie in ihrer Größe und Intensität ungleich strukturierte Gedächtniskollektive gegenüber. Während Słubice bis 1989 stets eine kleine, wenig industrialisierte und provinziell geprägte Stadt blieb, genoss das 1952 zur Bezirkshauptstadt ernannte Frankfurt (Oder) bis 1989 einen privilegierteren Stellenwert innerhalb des wirtschaftlichen und politischen Gefüges der DDR. Frankfurt und Słubice sind seither auf der Suche nach tragfähigen, zukunftsgerichteten, aber auch die Vergangenheit adäquat adressierenden Identifikationsangeboten für ihre Bürgerinnen und Bürger. In Słubice bleiben die Versuche, neue „historisch grundierte“ Identifikationsangebote zu bilden, zaghaft.43 Erschwert wird eine konsequente und tragfähige Hinwendung zur Geschichte Słubices respektive der Dammvorstadt auch durch das Fehlen eines Słubicer Stadtarchives sowie einer kompetent aufgearbeiteten musealen Darstellung der Stadtgeschichte.44 Auch die historisch ge41 Vgl. Anna Schwarz, Gabriele Valerius: „Wir Halbleiterwerker sind doch alle Bastler“ – Frankfurter Erwerbsbiografien im Umbruch (1960–2000). In: Kilian, Knefelkamp: Frankfurt Oder Słubice (wie Anm.1), S. 264–266. Eine Besonderheit der Belegschaft, auf die weiter oben bereits eingegangen wurde, bestand in der Beschäftigung von polnischen Mitarbeiterinnen, die besondere Grenzübertrittsrechte hatten und damit einen Vorläufer der nach 1989 gängigen Praxis der arbeitsbedingten Grenzmigration darstellten. Vgl. Projekt deutsch-polnische Geschichte e.V. (Hg.): Lebenserinnerungen polnischer und deutscher Arbeiterinnen aus der Zeit ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder). O. O. und o. J. [Frankfurt (Oder) ca. 2000] sowie Röhr: Hoffnung (wie Anm. 30). 42 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Kusch: Die finale Krise der DDR (wie Anm. 40), S. 289, sowie Schwarz, Valerius: „Wir Halbleiterwerker sind doch alle Bastler“ (wie Anm. 41), S. 276. 43 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Dazu gehört etwa die Positionierung Słubices als historische „Hansestadt“ im Zuge der Mitgliedschaft im eher als touristischen Zusammenschluss zu wertenden „Hansebund der Neuzeit“, der seit 1980 besteht: URL: http://www.hanse.org (abgerufen 1.6.2011). 44 Zwar gibt es Ansätze einer Sammlung von Dokumenten zu Stadt und Region in der Słubicer Stadtbibliothek, diese weist allerdings keinen systematischen Charakter auf.
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wachsene Bausubstanz, die von der Geschichte der Stadt vor 1945 Zeugnis ablegt, ist zunehmend in Gefahr. Ihre Geringschätzung schreibt sich dabei in eine essenziell geschichtslose Selbstdarstellung der Stadt ein,45 die sich, in Abkehr von einer uneindeutigen und konflikthaften Vergangenheit, einer offenen und antizipiert erfolgreichen Zukunft als Dienstleistungszentrum zwischen Ost und West zuwendet. Während Słubice seit der Grenzöffnung nicht zuletzt dank des kleinen Grenzverkehrs und einem der größten Basare an der deutsch-polnischen Grenze beständig wuchs, bedeuteten die politische Wende von 1989 und die darauf folgende deutsche Wiedervereinigung für Frankfurt einen Statusverlust wie auch einen allgemeinen Rückgang der Einwohnerzahl – von 87.126 zum Jahresende 1989 zu 60.625 Einwohnern im Jahr 2009.46 Eine Stadt, die ihre Identität bis 1989 vor allem über ihre Größe und wirtschaftliche Bedeutung zu definieren suchte, trifft das in besonderem Maße. Wie schwierig es ist, aus dieser Position heraus neue Identitätsangebote zu schaffen, zeigt die Vielfalt der Versuche, Frankfurt ein neues Label zu geben: Die wechselnden Selbstetikettierungen als „Kleiststadt“, „Sportstadt“ oder „Solarstadt“ zeugen deutlich von den Schwierigkeiten, eine einheitliche Zukunftsvision in der ostdeutschen Provinz zu gestalten. Bezeichnenderweise geht von diesen Identifikationsangeboten nur eines auf die Geschichte Frankfurts ein: Hier wird mit einem biographisch-individualistischen Ansatz der Dichter Heinrich von Kleist zum Namenspatron erhoben, der ironischerweise mit seiner Geburtsstadt kaum inhaltlichsinnhaft in Verbindung gebracht werden kann und werden wollte – und der als dezidiert deutscher Dichter und Schriftsteller auch kaum eine tragfähige identifikatorische Brücke zum östlichen Nachbarn zu schlagen vermag. Der seit 1989 wieder freie Weg über die Stadtbrücke brachte eine wiedererwachte gegenseitige Neugier der Frankfurter und Słubicer Einwohner sowie die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild des Gegenübers machen zu können. In diesem Prozess gegenseitiger Wiederannäherung kamen auch Fragen nach der Vergangenheit der Doppelstadt in neuer Qualität auf die Tagesordnung. Die veränderten politischen Rahmenbedingungen und das von gesellschaftlichem Aufbruch geprägte soziale Klima begünstigten die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Initiativen47, die sich 45 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Nur zwei Gebäude Słubices, die vor 1945 erbaut wurden, stehen unter Denkmalschutz: das Schulgebäude in der Wojska Polskiego Straße 1 und die Fassade des ehemaligen Kinos „Piast“ in der Jedności Robotniczej Straße 10. Vgl. Andreas Billert, Soeren Bollmann: Lokalny Plan Rewitalizacji Miasta Słubice na lata 2010–2013 [Der lokale Revitalisierungsplan für Słubice 2010–2013]. Słubice 2010, S. 22: URL: http://www.slubice.pl/projekty/101109/625_z.pdf (abgerufen 30.5.2011). 46 Vgl. Kusch: Die finale Krise der DDR (wie Anm. 40), S. 282. 47 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Dabei ist festzustellen, dass die meisten Initiativen, auch wenn sie einen dezidiert deutsch-polnischen Charakter besaßen, von deutscher Seite aus gestartet wurden. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass die Europa-Universität Viadrina als intellektuelles Zentrum der Stadt Frankfurt bereits im Jahr 1991 wiedergegründet wurde, während das polnische Pendant Collegium Polonicum in Słubice erst einige Jahre später eröffnet werden konnte. Auf die Initiativen wird weiter unten ausführlich eingegangen.
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mit der getrennten Vergangenheit und den beiderseits der Oder weitgehend unabhängig voneinander etablierten Sichten und Perspektiven auf Vergangenheit und Geschichte kritisch auseinandersetzten. Dass diese neuen Gestaltungsmöglichkeiten nur von einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe erkannt und genutzt wurden, dass die Sprachbarriere zwischen Deutschen und Polen leicht zu einem handfesten Hindernis werden konnte und dass der Großteil der Menschen in Frankfurt und Słubice intensiv mit der Bewältigung seines neu zu organisierenden Lebensalltages beschäftigt war, gehört als Kehrseite des gesellschaftlichen Aufbruches zur Vollständigkeit des Bildes.48 Die erste Initiative mit deutlicher Ausrichtung auf die Auseinandersetzung mit der – zumindest Frankfurter, wenn auch nicht mit der jüngsten Słubicer – Vergangenheit war der im März 1990 wieder gegründete „Historische Verein zu Frankfurt (Oder) e.V.“.49 Dieser knüpfte an die Tradition des zwischen 1860 und 1939 bestehenden Historischen Vereins für Heimatkunde zu Frankfurt an der Oder an und setzte sich die „Erforschung der Geschichte von Frankfurt (Oder) und Umgebung in ihrer gesamten historischen Breite, [die] Verbreitung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und [die] Förderung des geschichtlichen Interesses in der Öffentlichkeit“50 zum Ziel. Der Verein, der bis heute besteht, befasste sich ab dem Jahr 2000 auch mit der Geschichte der ehemaligen Dammvorstadt. Das Interessensgebiet des Vereines beschränkte sich allerdings auf die Geschichte der Stadt Frankfurt (Oder), weshalb die Nachkriegszeit der Dammvorstadt als Słubice keine Beachtung fand. Eine weitere Initiative entstand unter dem Titel „Projekt deutsch-polnische Geschichte e.V.“. Wissenschaftler der Europa-Universität Viadrina51 engagierten sich 48 �������������������������������������������������������������������������������������������� Wie weit einige der Einwohner Frankfurts und Słubices zu Beginn der 1990er Jahre mental voneinander entfernt und wie stark sie mit der Bewältigung ihrer jeweils eigenen Lebenswelt beschäftigt waren, zeigt unter anderem die mediale Berichterstattung von der deutsch-polnischen Grenze. Ilka Piepgras geht beispielsweise in ihrem Artikel für DIE ZEIT aus dem Jahr 1990 auf die „zerrüttete deutsch-polnische Nachbarschaft“ ein, die die Atmosphäre kurz nach der Wende 1989 in den deutsch-polnischen Grenzstädten geprägt und die sich in Frankfurt und Słubice zum Teil in gewaltsamen Akten gegen die Nachbarn niedergeschlagen habe. Vgl. Ilka Piepgras: Die Mauer an Oder und Neiße. In: DIE ZEIT, Nr. 44, 26.10.1990. Zitiert nach ZEIT-Archiv: URL: http://www.zeit.de/1990/44/die-mauer-an-oder-und-neisse/seite-1 (abgerufen 12.3.2012). Den hier beschriebenen Initiativen kommt also ein besonderer Stellenwert in der schwierigen Zeit der Wiederannäherung der Bürgerinnen und Bürger von Frankfurt und Słubice zu. 49 Vgl. Ralf-Rüdiger Targiel: Zur Geschichte des „Historischen Vereins zu Frankfurt (Oder) e.V.“. In: Hefte des Historischen Vereins zu Frankfurt (Oder) e.V. (1990), S. 10–12. 50 URL: http://www.historischer-verein-ffo.de/org/gruendung.htm (abgerufen 12.6.2011). 51 ������������������������������������������������������������������������������������������� Die Viadrina ist auf vielfältige Art und Weise am Kommunikations- und Austauschprozess zwischen Deutschen und Polen und im Besonderen zwischen den Städten Frankfurt und Słubice beteiligt. Eine Übersicht über die Initiativen und Projekte mit speziell deutsch-polnischer Ausrichtung an der Viadrina und in ihrem Umfeld findet sich in folgender Broschüre der Pressestelle der Viadrina: Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) (Hg.): Polsko-niemiecki profil Euro-
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unter diesem Dach ebenso wie polnische Laienhistoriker, um sich mit der Geschichte von Stadt und Region in transnationaler Perspektive zu beschäftigten. Ausgangspunkt dafür war eine im Februar 2000 veranstaltete Geschichtskonferenz am Collegium Polonicum, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Region begründete.52 Auch die Geschichte des ehemaligen Gestapo-Lagers „Oderblick“ in Schwetig/ Świecko brachte der Verein erstmals in eine breitere deutsche Öffentlichkeit. Obwohl das Dorf nur wenige Kilometer entfernt von Frankfurt (Oder) und Słubice unmittelbar am Autobahnübergang auf polnischer Seite liegt, ist die Geschichte des Lagers kaum im öffentlichen Bewusstsein beider Städte präsent. Die Mitglieder des Vereins bemühten sich darum, die an dem Ort bereits bestehende kleine Gedenkstätte auszubauen und durch Informationstafeln zu ergänzen. Diese Initiative zählte allerdings zu den letzten des Vereins, der sich selbst auflöste und dessen Mitglieder im Juni 2000 gemeinsam mit dem Frankfurter Seniorenrat eine Deutsch-Polnische Seniorenakademie gründeten. Die Seniorenakademie versteht sich als „Brücke der Verständigung“ beider Völker und „Gesprächsforum und Treffpunkt der Bewohner beiderseits der Oder“.53 Jeden zweiten Dienstag im Monat finden Lehrveranstaltungen zur Geschichte und zu aktuellen Zeitfragen in Deutschland und Polen statt. Die Räumlichkeiten stellen die Europa-Universität Viadrina und das Collegium Polonicum abwechselnd zur Verfügung. Die Deutsch-Polnische Seniorenakademie ist inzwischen im 11. Jahr tätig, ohne irgendeine rechtliche Form angenommen zu haben. Sie wird paritätisch von Senioren aus Frankfurt und Słubice organisiert und ist eine Kommunikationsplattform der älteren Generation beider Städte. Eine andere Art des Umgangs mit der Vergangenheit und der Identitätssuche beider Städte und ihrer Einwohner wählte der aus Westdeutschland stammende, über Polen nach Frankfurt zugezogene Künstler Michael Kurzwelly. 1999 entstanden, präsentiert sich seine Kreation Słubfurt als „die erste Stadt, die je zur Hälfte in Deutschland und in Polen liegt.“54 Nach einer Reihe von Aktionen, zu denen unter anderem das sog. „Słubfurter Parlament“ und der Bau der „Słubfurter Stadtmauer“ zählten – eine Mauer, die die Stadtgrenze der imaginären Stadt Słubfurt bilden sollte –, wandte sich der Künstler der Vermittlung zwischen Akteuren der Kulturszene beiderseits der Oder zu. Das Projekt „Deutsch-polnische Mediathek“ greift die Frage einer transnationalen Identität der Einwohner des deutsch-polnischen Grenzlandes auf und sammelt Medien, Objekte und „Geschichten“ der Einwohner entlang der pejskiego Uniwersytetu Viadriny we Frankfurcie nad Odrą od A do Z [Polnisch-Deutsches Profil der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) von A bis Z]. Frankfurt (Oder) 2009. Die Durchsicht verdeutlicht allerdings, dass erst in den letzten Jahren einige Initiativen wie die sog. Oder-Akademie einen dezidiert historisch orientierten Fokus aufweisen. 52 URL: http://www.wsws.org/de/2000/mar2000/swie-m01.shtml (abgerufen 26.5.2011). 53 URL: http://www.senior.ovh.org/index.php?option=com_content&task=view&id=3&Itemid=5 (abgerufen 26.5.2011). 54 URL: http://www.slubfurt.net/d_start.html (abgerufen 26.5.2011).
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Grenze. Aktuell wird die Słubfurter Idee unter dem Titel „nowa amerika“ (Neues Amerika) erweitert und das ehrgeizige Ziel verfolgt, eine ganze Region neu zu kreieren.55 Słubfurt soll von der Peripherie zum Zentrum aufsteigen: „Słubfurt ist die Kulturhauptstadt der grenzüberschreitenden Region ‚Lebuser Ziemia‘56, die sich von der Warthe bis zur Spree zwischen Gorzów, Zielona Góra, Gubien, Fürstenwalde und Küstrzyn erstreckt. Das periphere Einzugsgebiet von Słubfurt, ‚nowa amerika‘, reicht allerdings von Poznań im Osten bis nach Berlin im Westen, Szczettin im Norden und Dresden im Süden.“57 Kurzwelly provoziert als Künstler und schaut in die Zukunft. Auf die komplexe Identitätsfrage in der Grenzregion hat er eine scheinbar simple Antwort: „Wir sind Słubfurter“ oder „Wir sind Nowoamerikaner“.
Zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: das Institut für angewandte Geschichte als Akteur in Frankfurt (Oder) und Słubice Auch eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die an der Oder lebten, arbeiteten oder studierten, reagierte ihrerseits auf die wahrnehmbaren Identitätsfindungs- und Redefinierungsprozesse der beiden Städte. Das Bedürfnis, sich die offenen Fragen des Lebensumfeldes an der deutsch-polnischen Grenze nicht allein aus dem universitären Kontext heraus zu beantworten, sondern sie mit der aktiven Veränderung des Ortes zu verbinden, führte zur Gründung einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Auf diese Weise entstand im Jahr 2001 das Institut für angewandte Geschichte58 als Initiative deutscher und polnischer Studierender und Absolventen der Europa-Universität Viadrina. Das Institut ist – anders als der Name 55 URL: http://www.nowamerika.slubfurt.net/nowamerika/de/d_index.htm (abgerufen 26.5.2011). 56 Das Wortspiel verbindet Begriffe von beiden Seiten der Oder: In Polen spricht man von Ziemia Lubuska (Lebuser Land) als historische Region um das Bistum Lebus, heutzutage beschreibt man so das Gebiet der Woiwodschaft Lubuskie; in Deutschland existiert die Bezeichnung „Lebuser Land“ ebenfalls für die mittelalterliche Region und heute für die Umgebung von Lebus auf deutscher Seite. 57 Wie Anm. 55. 58 Die Vorläuferorganisation des Instituts für angewandte Geschichte war die Projektplattform TransKultura, die ihren Schwerpunkt unter dem Motto „Europa weiter denken“ auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Kulturvermittlung hatte. Seit 2001 wurden unter diesem Label neben deutsch-polnischen Theateraufführungen und Lesungen beispielsweise auch ein Teil des bekannten Filmfestivals für Osteuropäischen Film aus Cottbus nach Frankfurt und Słubice geholt. Da die Zahl der mit Geschichte verbundenen Projekte bald die der auf interkulturellen Dialog ausgerichteten überstieg, trafen die Aktiven von TransKultura 2007 die Entscheidung, den Verein in Institut für angewandte Geschichte umzubenennen. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Institut für angewandte Geschichte ein Unterprojekt der Plattform TransKultura.
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es nahe legt – eine zivilgesellschaftliche Initiative, die als Verein nach bürgerlichem deutschem Recht funktioniert. Seine Nähe zur Universität bei einem gleichzeitigen Agieren in der lokalen Öffentlichkeit bestimmt den Charakter des Instituts als Akteur an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Zu Beginn waren die Aktivitäten des Vereins darauf ausgelegt, das gegenseitige Interesse der Bevölkerung von Frankfurt und Słubice auf breiter Ebene zu wecken, die Einwohner zusammenzuführen und für das Geschehen in der Nachbarstadt zu sensibilisieren. Die anfänglich auf interkulturellen Dialog und Kulturvermittlung abzielenden Formate stießen jedoch bald an ihre Grenzen: Es wurde deutlich, dass nur ein unvoreingenommener Blick in die geteilte Vergangenheit der beiden Stadthälften und damit eine vertiefte Auseinandersetzung mit den stark divergierenden und in ihrer Intensität und Wirkung auf die lokale Bevölkerung sehr unterschiedlichen historischen Interpretationen der Vergangenheit59 dies- und jenseits der Oder ein Verständnis des Gegenübers und den gewünschten Dialog zwischen den Bürgerinnen und Bürgern beider Städte ermöglichen konnte. Auf der Suche nach Formaten für eine angemessene Beschäftigung mit dem unterschiedlich intensiv ausgeprägten Geschichtsbewusstsein, den divergenten Deutungen und Aneignungsprozessen von Geschichte in Frankfurt und Słubice führte das Institut über zwei Jahre hinweg zwischen 2004 und 2006 eine Reihe von öffentlichen Veranstaltungen unter dem Titel „Terra Transoderana“60 durch. Auf der Suche nach dem Verbindenden und Trennenden in der Gegenwart fanden neben klassischen Podiumsdiskussionen und Filmpräsentationen öffentliche Zeitzeugengespräche mit Akteuren der Nachkriegszeit aus beiden Städten statt. Deutsche und polnische Zeitzeugen berichteten öffentlich über die Umstände ihrer Ankunft in Frankfurt und Słubice nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie erläuterten, wie Frankfurt 59 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Auf Grundlage des für diesen Aufsatz zur Verfügung stehenden empirischen Materials ist die Ausbildung eines eindeutigen, gleichsam den gesellschaftlichen Mainstream abbildenden historischen Narratives für Słubice nicht eindeutig nachweisbar. Es liegt für die Stadt kein empirisches Material vor, das Auskunft darüber geben würde, inwiefern beispielsweise die polnische Geschichtskonstruktion des „Piastenmythos“ und die mit der Integration der Westgebiete verbundenen Deutungen der Geschichte sich im Bewusstsein und Denken der lokalen Bevölkerung nach 1945 verankern konnten. Für Rückschlüsse auf das kommunikative oder soziale Gedächtnis der Stadt wäre beispielsweise eine Untersuchung von tradierten Familienerinnerungen und -geschichten der Bevölkerung von Słubice wünschenswert. 60 „Terra Transoderana“ (bzw. „marchia transoderana“) ist eine mittelalterliche Bezeichnung der Neumark, die im 13. Jahrhundert das von den brandenburgischen Markgrafen erworbene „Land über die Oder“ bezeichnete. Um 1400 setzte sich der Name Neumark durch. Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 15. Mannheim 1991; Ingo Materna, Wolfgang Ribbe, Kurt Adamy (Hg.): Brandenburgische Geschichte. Berlin 1995, S. 29–31; Gerard Labuda: Ziemia Lubuska w dziejach Polski [Das Lebuser Land in der polnischen Geschichte]. In: Ziemie Staropolskie, Bd. 3: Ziemia Lubuska, bearb. von Zdzisław Kaczmarek und Zygmunt Wojciechowski. Poznań 1950, S. 71–136, hier S. 72.
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versuchte, sich als sozialistische Halbleiterstadt neu zu erfinden, während Słubice über lange Jahre im Dämmerschlaf der westpolnischen Peripherie versank. Alte Fotografien, Dokumente und Literatur wurden als Illustrationen für die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen genutzt, die immer zweisprachig – deutsch und polnisch – gedolmetscht wurden. Neben den Einwohnern Frankfurts und Słubices wurden die lokalen Medien ebenso in die Formate einbezogen wie Kulturinstitutionen und interessierte Lehrende der Europa-Universität Viadrina. Die zahlreichen Einzelveranstaltungen unter dem Dach „Terra Transoderana“ fanden auf beiden Seiten der Oder statt und schufen einen öffentlichen, kommunikativen Raum für die gemeinsame Auseinandersetzung mit Themen, die sonst vornehmlich im Rahmen von Familienerzählungen behandelt wurden. Die Geschichtsbilder von Einwohnern und Akteuren aus Frankfurt und Słubice wurden auf diese Weise öffentlich zur Disposition gestellt, widersprüchliche Wahrnehmungen thematisiert, aber auch gemeinsamen Erinnerungen an die Zeit der Kooperation während der 1970er Jahre wurde Raum gegeben. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des jüdischen Friedhofes Frankfurt brachte einen weiteren Aspekt in die bürgerlichen und akademischen Diskussionen vor Ort, der bislang vollkommen unbeachtet geblieben war. Der jüdische Friedhof Frankfurts zählt aufgrund seiner gut 600-jährigen Geschichte zu einer der ältesten Begräbnisstätten Mitteleuropas. Er liegt heute kaum wahrnehmbar am Rande von Słubice. Bis 1944 wurde der Friedhof als Ruhestätte der Frankfurter jüdischen Gemeinde genutzt. Im Jahre 1399 erstmalig urkundlich erwähnt,61 bestand der Friedhof vermutlich bereits seit dem frühen 13. Jahrhundert. Nach 1945 lag das Gelände zunächst brach, und Mitte der 1970er Jahre fiel die Substanz des jüdischen Friedhofs einer breit angelegten Politik der polnischen Regierung zum Opfer, die insbesondere in den polnischen Westgebieten die Beseitigung der deutschen Hinterlassenschaften und jeglicher sogenannter „postdeutscher“ Spuren betrieb.62 Ein im Jahr 1978 auf dem Friedhofsgelände erbautes Hotel63 ging zehn Jahre nach der politischen Wende in Privatbesitz über und wurde anschließend zu einem der vielen in den 1990er Jahren an der deutsch-polnischen Grenze neu eröffneten Bordelle. Parallel dazu gab es Bemühungen, das Gelände als Friedhof zu erhalten. Bereits 1988 wurde ein großer Teil des verwüsteten Friedhofs durch die Warschauer Nissenbaum-Stiftung eingezäunt. 1999 besuchten mit den Rabbinern Polatsek aus den USA und Schmidl aus Israel erstmals ausländische Rabbiner den Friedhof. Rabbi Polatsek bemühte sich, zumindest der drei wichtigsten dort begrabenen Frankfurter 61 Die Urkunde ist verschollen. Eine Abschrift befindet sich in: Christian Wilhelm Spiecker: Der Judenkirchhof. In: Frankfurter Patriotisches Wochenblatt 24 (1835), S. 473. 62 Die Auflösung von Friedhöfen wurde auf Grundlage des Gesetzes „O cmentarzach i chowaniu zmarłych“ [Über Friedhöfe und die Bestattung der Toten] durchgeführt. In: Dziennik Ustaw z 1959 roku, nr 11, poz. 62, art. 6. 63 Vgl. dazu den Artikel Słubicki Zajazd [Słubicer Gasthof ]. In: Gazeta Lubuska, 6.8.1978.
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2. Die wieder aufgestellten Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Słubice im Jahre 2008
Rabbiner64 mit neuen Grabsteinen zu gedenken. Als er 2001 einen Nachtclub auf dem Gelände vorfand, war er fassungslos. Nach einer anschließenden Intervention von ihm, der bei einem Empfang in New York den polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller auf den Zustand des Słubicer Friedhofes angesprochen hatte, kaufte die Gemeinde Słubice das Gelände 2004 im Auftrag des polnischen Staates dem Besitzer wieder ab und übergab es anschließend der jüdischen Gemeinde in Szczecin.65 2007 ging das Friedhofsgelände in den Besitz der Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes in Warschau über, die allerdings vor Ort selbst keinerlei Aktivitäten entfaltete. Stattdessen engagiert sich seit 1999 die ultraorthodoxe jüdische Organisation „Athra Kadisha“, die sich aus religiösen Motiven weltweit für die Erhaltung und Pflege jüdischer Friedhöfe einsetzt.66 64 Diese waren Joseph ben Meir (1727–1792), Sacharia Mendel von Podheitz (gest. 1791), Jehuda Löb Margaliot (gest. 1811). 65 Vgl. den Artikel Akt podpisany [Der Akt ist unterzeichnet]. In: Gazeta Słubicka, 9.4.2004. Die kleine jüdische Gemeinde von Szczecin, die mit wenigen Mitgliedern dennoch jahrelang die Verantwortung für sehr viele jüdische historische Hinterlassenschaften in Westpolen übertragen bekam, mehrere hundert Kilometer entfernt ihren Sitz hatte und praktisch über keine Kapazitäten verfügte, konnte diesen Aufgaben nicht nachkommen. 66 �������������������������������������������������������������������������������������������� Unter den Auspizien von „Athra Kadisha“ wurden beispielsweise 2004 die drei wichtigsten Rabbiner mit symbolischen Grabsteinen gewürdigt sowie 2007 Suchgrabungen zur Feststellung der Friedhofsgrenze als ältester Beerdigungsabschnitt ausgeführt. Ferner wurde im Jahr 2008 die 1976 aus dem Friedhofsgelände geschobene, mit Knochensplittern durchsetzte Erde in eine eigens ange-
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3. Der älteste erhaltene Stein der zwei Schwestern Chogla Katz, gestorben 1769, und Taube Segal, gestorben 1772
Von dem regional wie international wertvollem Kulturdenkmal zeugen heute nur noch wenige Überreste.67 Zur Zeit sind keine Bauten mehr auf dem Friedhof vorhanden. Ein Zaun umfasst seit 2007 die gesamte Fläche, der Friedhof ist infolgedessen nicht öffentlich zugänglich. Noch im Jahr 1999 engagierten sich die politischen Eliten beider Städte gemeinsam für den Erhalt des jüdischen Friedhofs, und ein Gedenkstein konnte auf dem Gelände errichtet werden. Während der Einweihungsfeierlichkeiten hielten Vertreter aus Frankfurt und Słubice Ansprachen und betonten die Verantwortung für das gemeinsame Kulturerbe. Zusätzlich erschienen beiderseits der Oder kurze, teilweise deutsch-polnische Publikationen zur Geschichte des Friedhofes.68 Dieses politische und publizistische Engagement kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es seit dem Ende der alten jüdischen Gemeinde in Frankfurt keine
legte Gemeinschaftsgrabstätte auf das geweihte Friedhofsgelände zurückgebracht. Dabei wurden auch die zerstörte historische Topographie, unter anderem ein planierter Hang, weitgehend wieder hergestellt sowie circa 20 Grabsteine aufgefunden und provisorisch aufgestellt. „Athra Kadisha“ führt außerdem alljährlich eine chassidische Pilgerveranstaltung auf dem Friedhof durch, die sich zwar eines regen regionalen Medien-, aber nicht Bevölkerungsinteresses beiderseits der Oder erfreut. Eines der Beispiele für die Medienberichterstattung auf polnischer Seite findet sich unter URL: http://www.zachod.pl/2011/05/rocznica-smierci-rabina-slubice/ (abgerufen 9.1.2012). 67 Den einst zahlreichen prächtigen Denkmälern, Familiengrabstätten sowie der neoromanischen Trauerhalle mit weithin sichtbarem Davidsstern auf dem kupfergedeckten Dach sind heute im günstigsten Falle noch unscheinbare Schutthaufen zuzuordnen. Der Besucher findet jedoch das Fundament des polnischen Hotels und die 2007 freigelegten Grundmauern des Hauses des christlichen Friedhofsgärtners Otto Billerbeck sowie die erneuerte Grabanlage der drei Rabbiner. Die Betonmauer des genannten neuen Gemeinschaftsgrabes und das 1999 errichtete Denkmal sind ebenso gut zu erkennen und leicht zu finden. 68 Es handelt sich dabei um die folgenden Publikationen: Eckard Reiß: Der jüdische Friedhof im Frankfurter Stadtteil Dammvorstadt, heute Słubice. In: Mitteilungen des Historischen Vereins Frankfurt (Oder). Frankfurt (Oder) 1995, S. 9–33; Horst Joachim: Der jüdische Friedhof von Frankfurt (Oder). In: Frankfurter Jahrbuch 1999. Frankfurt (Oder) 1999; Ralf-Rüdiger Targiel, Henryka Hejduk-Szamlicka: Krótka historia cmentarza żydowskiego Frankfurt nad Odrą–Słubice. [Kurze Geschichte des jüdischen Friedhofes Frankfurt (Oder)–Słubice]. Zielona Góra 1999.
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gesellschaftliche Gruppe mehr gibt, die den jüdischen Friedhof als „ihr Eigen“ betrachtet und sich nachhaltig um ihn sorgen würde: Die Mitglieder der Frankfurter jüdischen Gemeinde fielen entweder dem Holocaust zum Opfer oder wurden aus Frankfurt vertrieben. Die heutigen Einwohner von Słubice, die erst nach 1945 und somit auch nach der letzten Beerdigung auf dem Friedhof in die Stadt kamen, haben sich die Hinterlassenschaft nicht zu Eigen gemacht. Die Słubicer Stadtverwaltung fühlt sich für das jüdische Kulturerbe auf dem Gebiet ihrer Stadt seit der Übergabe an die Gemeinde in Szczecin nicht mehr verantwortlich. Entsprechend gibt es in der Słubicer Stadtverwaltung keinen Ansprechpartner, aber auch außerhalb der Verwaltung finden sich keine interessierten Słubicer Bürger und Bürgerinnen, die sich mit dem Thema eingehender befassen. Ebenso wenig interessiert der Ort die Einwohner und Einwohnerinnen Frankfurts. Für sie liegt der Friedhof scheinbar nach wie vor „im Ausland“; eine Folge dessen, dass er ihnen aufgrund der geschlossenen Grenzen jahrzehntelang tatsächlich nicht zugänglich war. Eine Ausnahme stellt der Lokalhistoriker Eckard Reiß dar, der Słubice bereits in den 1960er Jahren besuchte und auch den jüdischen Friedhof besichtigte, der zu dieser Zeit verwildert, aber praktisch noch unzerstört war. Reiß fand damals vermutlich über tausend Grabsteine, eine geschlossene Friedhofsmauer und die imposante Ruine einer neoromanischen Trauerhalle vor. Er machte Fotos und drehte einen kurzen Film, den er nur dank seines Geschicks über die Grenze bringen konnte.69 In einer Kooperation des Lokalhistorikers mit dem Institut für angewandte Geschichte entstand auf der Grundlage des von Reiß gesammelten Materials eine deutsch-polnische Publikation zur Geschichte des Friedhofs.70 Die Ergebnisse des Projektes wurden während mehrerer Diskussionen über das jüdische Kulturerbe an der deutsch-polnischen Grenze und die Möglichkeiten seiner Bewahrung im März 2012 zusammengefasst und öffentlich präsentiert. Ziel war es dabei, die unterschiedlichen deutschen und polnischen Zuschreibungen und Bilder vom jüdischen Friedhof mit den Bürgerinnen und Bürgern von Frankfurt und Słubice zu diskutieren. Das Projekt zum jüdischen Friedhof ist dabei aber kein reines Forschungsvorhaben. Die von einem Lokalhistoriker verfasste Geschichte und das über die Jahre gesammelte Bildmaterial können vielmehr nur einen Anstoß für die weitergehende 69 Auch in den 1990er und 2000er Jahren erforschte Eckard Reiß die Geschichte des Friedhofs weiter und begleitete die archäologischen Ausgrabungen, die zur Suche nach den alten Friedhofsgrenzen und dem Grab des Rabbiners Joseph Theomim von „Athra Kadisha“ durchgeführt wurden. Hierzu nahm er Kontakte zu den wichtigsten Archiven des Judentums auf, um die 600-jährige Geschichte des Friedhofs und damit auch der Frankfurter Juden schreiben zu können. 70 Eckard Reiß, Magdalena Abraham-Diefenbach (Hg.): Makom tov – der gute Ort. Jüdischer Friedhof Frankfurt (Oder)/Słubice. Berlin 2012. Das Buch enthält Darstellungen von circa 30 während archäologischer Ausgrabungen aufgefundenen Grabsteinen der ersten Beerdigungsfläche (bis 1866) sowie im 20. Jahrhundert zerstörten Grabsteinen der Erweiterungsfläche (1868–1940). Hier begleitet jeweils ein Bild die Übersetzungen der hebräischen Inschriften in deutscher und polnischer Sprache. Außerdem werden Verweise auf Quellen zu den jeweiligen Personen angefügt.
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wissenschaftliche Auseinandersetzung, Archivrecherchen und eine spätere Kontextualisierung innerhalb der Geschichte der Juden in Brandenburg und der geteilten Stadtgeschichte und -identität von Frankfurt und Słubice bilden. Denn dass in Frankfurt einstmals eine große und für die städtische Identität bedeutende jüdische Gemeinde bestand, ist weder den heutigen Bewohnern und Bewohnerinnen von Frankfurt noch von Słubice im Bewusstsein. Die heutige jüdische Gemeinde von Frankfurt (Oder) besteht erst seit dem Jahr 1998 wieder, sie wurde größtenteils von Einwanderern aus den Gebieten der ehemaligen UdSSR gegründet. Dass sich zumindest die heutige Gemeinde der Bedeutung der jüdischen Gemeinde Frankfurts vor 1945 bewusst ist, bezeugen die Gestaltung des Gebetsraumes, der an das Innere der zerstörten Frankfurter Synagoge angelehnt ist, sowie Ausstellungen zur Geschichte der historischen Frankfurter jüdischen Gemeinde. Als Migranten und Migrantinnen konnten die meisten Mitglieder der neuen Frankfurter jüdischen Gemeinde bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union allerdings nur unter erheblichen Schwierigkeiten die deutsch-polnische Grenze in Richtung Słubice überqueren, um den alten jüdischen Friedhof überhaupt zu besichtigen������������������������� . Der neuen Gemeinde wurde im Jahr 2011 außerdem ein eigenes Gräberfeld in Frankfurt (Oder) zugewiesen, was den alten jüdischen Friedhof immer weiter aus ihrem Blickfeld rückt.71
Angewandte Geschichte: ein neuer Ansatz mit Geschichte umzugehen? Die angeführten Initiativen, Institutionen und Projektbeispiele zeugen davon, dass sich 20 Jahre nach der politischen Wende an der deutsch-polnischen Grenze langsam ein Umgang mit Vergangenheit und Geschichte zu etablieren beginnt, der die national geprägten Geschichtsdeutungen hinter sich zu lassen versucht und den lokalen Gegebenheiten vor Ort die nötige Aufmerksamkeit schenkt:72 die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen in beiden Grenzstädten in der Zeit nach 1945, die Prägungen und Einstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner zueinander durch die Grenze und ihre Durchlässigkeit sowie die Fragilität und Wandelbarkeit identitätsrelevanter historischer Deutungsangebote beiderseits der Oder. In einer Auseinandersetzung mit diesen bedeutsamen Geschichten vor Ort versucht das 71 Die neue jüdische Gemeinde in Frankfurt (Oder) kennt die Geschichte des Friedhofes in Słubice und ist durch persönliche Gespräche auch über den Verlauf des Projektes informiert worden. Eine intensive Zusammenarbeit kam allerdings aufgrund mangelnden Interesses seitens der jüdischen Gemeinde nicht zustande. 72 Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass die genannten Initiativen zu großen Teilen von Personen getragen werden, die zu Ausbildungs- oder Arbeitszwecken nach Frankfurt oder Słubice gekommen sind. Diesen Befund bestätigt die Evaluation verschiedener Projekte des Instituts vor Ort, die die Schwierigkeit offen legt, die lokale Bevölkerung – über einen bestimmten Zirkel kulturell und historisch interessierter Personen hinaus – dauerhaft für geschichtliche Themen in einem transnationalen Kontext zu gewinnen.
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Institut für angewandte Geschichte die lokalen Bedingungen der Entstehung von Vergangenheitsdeutungen einsichtig zu machen, um vorgefertigte Deutungen und Stereotype durch Partizipation und aus eigener Anschauung gewonnene Überzeugungen zu überwinden. Ein mündiger und selbstreflexiver Umgang mit Geschichte und Vergangenheit, der eigene Einstellungen und Zuschreibungen hinterfragt, steht am Ende dieser Bemühungen. Angewandte Geschichte,73 wie sie in Frankfurt verstanden und immer wieder praktisch erprobt wird, zielt darauf ab, eine Brückenfunktion zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit Vergangenheiten, der akademischen Auseinandersetzung mit Geschichte und der politisch-motivierten Verfestigung kollektiver Geschichten zu bilden. Angewandte Geschichte möchte einen partizipativen und pluralistischen Aushandlungsprozess zwischen Akteuren der Fachwissenschaft, der Geschichtskultur und der Zivilgesellschaft stimulieren und fördern. Ziel ist es, die verschiedenen, am historischen Wissensbildungs- und Vermittlungsprozess beteiligten Akteure sowie deren Rezipienten zu stärken und mit Kompetenzen im Umgang mit Vergangenheit und daraus gewonnener Geschichte auszustatten. Dies wird als Grundlage für eine reflektierte und selbstreflexive Teilhabe an der Erinnerungs- und Geschichtskultur angesehen. Theoretisch fußt diese Annahme auf der Einsicht in den Konstruktcharakter von Geschichte sowie deren narrative Struktur. Weiterhin greift angewandte Geschichte auf die moderne Geschichtsdidaktik und den dort etablierten flexiblen Wissensbegriff zurück. Wissen wird hier nicht über eine Anhäufung von Inhalten definiert, sondern über deren Kontextualisierung. In den Projekten des Instituts sollen deshalb auch keine festgelegten inhaltlichen „Lernziele“ erreicht werden. Angewandte Geschichte möchte einen Umgang mit Geschichte anregen, der Interaktion und Selbstreflexion der Bürgerinnen und Bürger stärkt und einen Prozess der Kontextualisierung geschichtlichen Wissens anregt. Auf die Doppelstadt an der Oder angewendet bedeutet dieses Postulat, dass historische Deutungen wie etwa die Darstellung der Geschichte Słubices als Teil einer 60-jährigen Hansestadt 73 Der Begriff angewandte Geschichte befindet sich in der Phase seiner Konzeptionalisierung und wird bislang in unterschiedlichen Kontexten und von verschiedenen Institutionen in unterschiedlicher Bedeutung genutzt. Einen Überblick über seine Verwendungen bietet Juliane Tomann, Jacqueline Nießer, Anna Littke, Jakob Ackermann, Felix Ackermann: Diskussion Angewandte Geschichte: Ein neuer Ansatz?, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.2.2011: URL: https://docupedia.de/zg/Diskussion_Angewandte_Geschichte?oldid=76782 (abgerufen 11.7. 2011). Auch in Polen findet der Begriff als historia stosowana Anwendung. Vgl. dazu Robert Traba: Pożyteczność uczenia się z historii. Historia stosowana: między „History sells“ a „Public History“ [Vom Nutzen, aus der Geschichte zu lernen. Angewandte Geschichte: Zwischen „History sells“ und „Public History“]. In: Ewa Domańska, Rafał Stobiecki, Tomasz Wiślicz: Historia – Dziś. Teoretyczne problemy wiedzy o przeszłości [Geschichte – Heute. Theoretische Probleme des Wissens über die Vergangenheit], im Druck, sowie Jacqueline Niesser, Juliane Tomann, Rafał Żytyniec: Angewandte Geschichte – Betrachtungen eines neues Ansatzes aus deutscher und polnischer Perspektive. In: Historie 4 (2010/2011), S. 268–284.
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hinterfragt werden müssen – Gespräche mit deutschen Einwohnern und Einwohnerinnen der Dammvorstadt vor 1945 bieten eine der Möglichkeiten, derartige Vergangenheitsdeutungen im Dialog vor Ort zu kontextualisieren. Angewandte Geschichte findet demnach nicht zwischen Buchdeckeln statt, sondern prozesshaft in der Auseinandersetzung mit Menschen, Orten, Artefakten und ihren jeweiligen Vergangenheiten. Methodisch eignen sich dafür Zeitzeugengespräche, die Einblicke in subjektiv verarbeitete Geschichten vermitteln, genauso wie das Lesen und Dechiffrieren von symbolisch aufgeladenen Landschaften und Städten.
4. Angewandte Geschichte: Raus aus der Bibliothek – persönliche Schicksale erfahren
Geschichtliche Repräsentationen können außerdem anhand von Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten oder Filmen analysiert und hinterfragt werden. In internationalen Kontexten sind das Wechseln von Perspektiven und das Verständnis für unterschiedliche Wahrnehmungen des Vergangenen und der daraus resultierenden divergierenden Kulturen von Erinnerung in unterschiedlichen Gesellschaften zentral. Multi- oder Polyperspektivität sowie ein Dialog auf Augenhöhe sind somit die vornehmsten Ziele angewandter Geschichte – in Frankfurt (Oder) und Słubice ebenso wie in anderen von Grenzen, Brüchen und Bevölkerungsaustausch geprägten Regionen Europas. Die hier vorgestellten Ansätze angewandter Geschichte sind das Resultat langjähriger historischer Projektarbeit in Frankfurt und Słubice – und gleichzeitig ein
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noch immer andauernder Prozess der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte in der spezifischen Konstellation einer Grenzregion. Sie sind zum einen Ergebnis, gleichzeitig aber auch ein (teilweise schwer erreichbares) Ziel. Viele dieser Ideen sind aus der Praxis und dem eigenen Erleben von Vergangenheit und Geschichte vor Ort an der Oder geboren und haben sich durch die Gründung des Vereins Institut für angewandte Geschichte in spezieller Weise kumuliert. Hier gehen sie eine Mischung mit theoretischen Überlegungen ein, die die meisten Vereinsmitglieder dem kulturwissenschaftlichen Studium an der Europa-Universität Viadrina verdanken. Als Labor und Experimentierfeld für unterschiedlich geprägte Narrationen, die im Grenzgebiet auf engstem Raum aufeinandertreffen, waren und sind Frankfurt und Słubice stets der Ausgangspunkt, um den Umgang mit Geschichte in der Gegenwart zu reflektieren und zu hinterfragen.