Antonia Hersche
Die Bilder sind in mich hineingesickert
Masterreflexion Master of Fine Arts, 2013 Institut Kunst HGK FHNW www.antoniahersche.ch
Die Bilder sind in mich hineingesickert Es gibt Bilder, die uns vielleicht ein Leben lang begleiten. Woher kommen sie? Sind sie Eindrücke aus des Alltags oder emotionale Erlebnisse, die sich zu Vorstellungen und Bilder geformt haben? In der Masterreflexion versuche ich dem Ursprung meiner Bilder näher zu kommen.
Jetzt weiss ich es wieder – während der Zugfahrt las ich Die Vorzüge der Dunkelheit, von Ror Wolf: Dabei ist mir in den Sinn gekommen, dass die Vorstellung …Nicht vom Fleck zu kommen… aus meinem Traum stammt. Die Vorstellung hat sich zu einem Bild geformt und ist langsam in mich hineingesickert. Es ist dieser Albtraum, der schon lange zurückliegt und mich damals sehr beschäftigt hat. Es war ein Verfolgungstraum: Ein Mann folgte mir auf Schritt und Tritt. Zuerst dachte ich, ich bilde mir das nur ein. Doch als ich schneller lief, um ihn abzuschütteln, lief auch er schneller. Jetzt war klar, er verfolgte mich. Ich schaute immer wieder kurz zurück, doch die Gestalt verschwand nicht. Der Abstand war noch gross genug zwischen mir und ihm, aber allmählich wurde die Situation unangenehm. Ich wollte ihn loswerden und fing an zu rennen. Ich rannte und überprüfte mit einem kurzen Blick, ob er noch da war. Er war noch da, wie ein Schatten folgte er mir. Ich rannte und rannte, doch ab einem gewissen Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, nicht mehr vorwärts zu kommen. Meine Kraft liess nach. Und ich musste feststellen, dass er immer näher kam und ich nichts daran ändern konnte. Ich war einfach zu langsam. Die Distanz verkleinerte sich zwischen uns, obwohl ich rannte, was ich konnte. Das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht überwältigte mich. Ich konnte an der näher kommenden Bedrohung nichts ändern, er würde mich kriegen. Ich war gefangen in dieser ausweglosen Situation. Eine panische Angst überfiel mich. Der Hintergrund wurde hell und verschwommen, es gab keine klaren Konturen mehr. Es war, als würde ich mich von aussen beobachten. Ich schaute mir zu, wie ich verzweifelt rannte und er mich gleich
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erwischen würde. Dann wachte ich abrupt aus dem Traum auf. Doch das unangenehme, beklemmende Gefühl des Traumes blieb eine Zeitlang an mir haften. Ich wollte dieses Gefühl abstreifen wie die Wassertropfen auf meiner Jacke, bevor sie in den Stoff hineinsickern konnten. Doch dies nützte nichts, der Traum wurde zur Erinnerung und zur Imagination. Das Bild …Nicht vom Fleck zu kommen… sickerte trotzdem tröpfchenweise in mich hinein. Und führte so zu einer kaum wahrnehmbaren Veränderung in meinem Bewusstsein. Unwissend wie eine Blinde hatte ich angefangen, das Traumbild …Nicht vom Fleck zu kommen… als reale Begebenheit eines Zustandes zu akzeptieren. Die Grenze zwischen Traumbild und Realität verwischte sich und wurde zu meiner realen Wahrnehmung und Sichtweise. Wenn ich nicht weiter kam bei meiner künstlerischen Arbeit, dann tauchte sehr schnell dieses Bild auf: …Nicht vom Fleck zu kommen… Es wurde zu einem Stellvertreter, zu einer Sichtweise, die alles in den Schatten stellte. Die kleinen Schritte der Veränderung wurden nicht mehr wahrgenommen, sondern einfach ausgeblendet. Diese unpräzise Wahrnehmung lief als eine perfide, reale Selbstverständlichkeit ab, die ich nicht hinterfragte. Doch genau betrachtet, gibt es keinen Stillstand, alles ist immer in Bewegung und verändert sich. Natürlich kann die Bewegung unscheinbar sein, als hätte sie nicht stattgefunden. Doch im Grunde genommen erzählt das Traumbild etwas über meine Ängste. Die Angst, ausgeliefert zu sein und die Kontrolle zu verlieren. Ich kann das Bild in der Imagination zerstören, es in Teile zerlegen, doch lieber löse ich die Bedeutung des Bildes mit einer neuen assoziativen Verknüpfung auf. …Nicht vom Fleck zu kommen… bedeutet nicht totale Stagnation, sondern kaum wahrnehmbare Veränderung, die mitschwingt und sich auf eine andere Art und Weise zeigt. Nicht in der
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Offensichtlichkeit, sondern im Versteckten. Die Zuordnung und Bedeutung meiner Bilder entstehen aufgrund meiner Erlebnisse, doch ich kann der Bedeutung eine andere Färbung, einen anderen Stellenwert geben. …Nicht vom Fleck zu kommen… Das Bild hat eine suggestive Kraft, und genau dieser Sog hat mich hineingezogen. Auch wenn immer noch für mich die Bedeutung des Bildes im Zusammenhang mit meinem Albtraum steht, verweist es abgesehen davon auf die Wiederholung. Die endlose Wiederholung, die dem Wunsch nach Fortschritt und Abwechslung zuwider läuft. Die pure Wiederholung manifestiert sich in dem Bild. …Nicht vom Fleck zu kommen… Die Bewegung, die sich an gleicher Stelle wiederholt, hebt das gewohnte Raum/Zeit-Kontinuum auf. Es kann kein Zeitraum festgestellt werden, da sich die Umgebung nicht verändert. Um Zeit erleben zu können, brauchen wir die Feststellung einer Veränderung, auch wenn sie noch so klein ist. Die Zeit schreitet linear voran, doch in der endlosen Wiederholung eines Ablaufs hebt sich die lineare Zeit auf und wirkt umso paradoxer. Doch manchmal scheint die Wiederholung wie eine kleine Pause zu sein. Wie die endlos kreisende Schallplatte, die einen Kratzer hat. Und immerzu die gleiche, schöne Melodie abspielt, dann erhält der Augenblick seinen eigenen Reiz. Wie ein Mäander setzt sich dann der Loop fort, als wären Raum und Zeit aufgelöst. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Doch irgendwann kann der Reiz der Wiederholung an den Nerven nagen. Der Kampf mit sich selbst beginnt, ein Aufbegehren, um sich zu spüren. Gegen die Routine des Alltags mit der Sehnsucht, sich in der Bewegung des Tanzes auflösen zu wollen. …Ich drehe mich im Kreis… um die eigene Achse in den nächsten Loop meiner Fantasien. Niemand ist da, doch der Himmel hat eine dunkelblaue Zeichnung. Ich schaue flanierend herum und will von neuen Eindrücken genährt werden. Das grelle Licht der Sonne hat mich geblendet und ein Nachbild von weissen, kreisförmigen Flecken verursacht. Die Gedanken nehmen ihren Lauf, ich zeichne
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durch meine Bewegungen eine Spur in die Luft. Ich zeichne meine Gedanken auf Papier – es entsteht ein labyrinthisches Gewebe, das sich wie von selbst formt. Die Zeichnung ist da und rotiert. Sie ist Teil von mir, sie ist Gestalt meiner Gedanken. In der Wiederholung, im Kreislauf der Bewegung fängt das Spiel der Behauptung an. Es formt sich aufs Neue, verändert sich, um sich neu zu definieren, neu zu verwandeln. Es ist die Auflösung der Verharrung, das Ausweichen in einen Übergang, der zu etwas Neuem führen kann. …sich im Kreise drehen… Das Bild ist in mich hineingesickert. Es ist die wiederholende Drehung im Kreis, der Sog zieht mich hinein. Der Tanz bringt mich in einen anderen Zustand. Den Zustand der Selbstvergessenheit und Leichtigkeit. Es ist der rotierende Kosmos meiner inneren, subjektiven Welt, die sich durch meine Drehung im Kreis auflöst. Alles dreht sich – die Drehung der Erde um die eigene Achse und um die Sonne. Obwohl wir normalerweise diese Rotation nicht spüren, können wir sie als Tageszeiten wahrnehmen. …sich im Kreise drehen… ist die gesuchte Wiederholung, um in den Zustand eines Rausches zu gelangen. Der Tanz um die eigene Achse lässt die Umgebung verschwimmen. Doch du selber musst im Zentrum bleiben, sonst fällst du aus der kreisenden, rhythmischen Schwingung raus. …sich im Kreise drehen… erinnert mich an den Tanz der Derwische. Ihre präzise und anmutende Drehung um ihre eigene Achse fasziniert mich. Ihre Röcke schwingen mit der Bewegung hoch und die Trommel begleitet sie. Die Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung im Kreis. Die Wiederholung nimmt ihren Lauf, und ich erinnere mich an den wunderschönen Satz im Buch von Ror Wolf: Ich legte mich einfach ins Leben hinein und blieb eine Weile liegen.
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