Sich lรถsende Bilder Ein Blick auf die Stilleben von Giorgio Morandi
Christoph Eisenring
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Reflexive Diplomarbeit Frühling / Sommer 2013 2
An der letzten Documenta, der dreizehnten Ausgabe, begegnete ich etwas unerwartet Malereien von Giorgio Morandi. Sie befanden sich im Zentrum der Ausstellung in einem kleinen, halbrunden Raum, der in gedimmter Beleuchtung gehalten war. Die Front des Raumes bildete eine schaufensterähnliche Glasscheibe, so dass er von aussen betrachtet einer riesigen Vitrine glich. In seinem stets gut besuchten Innern fanden sich Werke aus unterschiedlichen Zeiten der Kunstgeschichte. Zudem gab es Gegenstände zu sehen, die für normal nicht der Bildenden Kunst zugeschrieben werden. So zeigte die Ausstellungsmacherin beispielsweise ein Flacon von Adolf Hitlers Frau Eva Braun, welches die Kriegsfotografin Lee Miller während ihrer Berichterstattungen zu sich genommen und aufgehoben hatte. Zu dieser Art Exponate gehörten auch die teils bemalten Behälter, die Flaschen, Vasen und die Krüge die Giorgio Morandi als Vorlage für seine Stilleben dienten. Ebenfalls war ein Teil von Morandis Bibliothek aus seinem Atelier in Bologna ausgestellt, darunter Bücher über Paul Cézanne und Jean Siméon Chardin. Die Kuratorin bezeichnete diesen Raum im Mittelpunkt der Ausstellung auch als deren Gehirn. Die kurze Begegnung mit den Stilleben von Morandi im vollen Glasraum erinnerte mich an seine Gemälde in der Sammlung des Museums meiner Heimatstadt Winterthur. Diese mir eigentlich vertrauten Bilder erschienen mir in Gedanken nur noch sehr diffus. Wohl auch deshalb wollte ich sie mir sehr gerne wieder vor Augen führen und ihnen mehr Zeit widmen als den soeben betrachteten. Morandis Malereien waren schon vor dem Besuch der Documenta in der Lage meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch bis jetzt, wo ich mir den Vorsatz genommen habe mich intensiver mit ihnen auseinanderzusetzen, besitze ich nur eine vage Vermutung worin ihr Zauber liegen könnte. Giorgio Morandi lebte in Bologna. Er kam dort 1890 auf die Welt und starb 1964 ebenda. Sein ganzes Leben verbrachte er mit seinen zwei Schwestern im Haus an der Via Fondazza 36, wo er auch sein Atelier hatte. Zwischen den Jahren 1914 und 1930 arbeitete er als Zeichenlehrer in Bologna. Von seinen Zeitgenossen wurde 3
Giorgio Morandi als eine äusserst höfliche Person beschrieben, deren Manieren noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Reisen ins Ausland unternahm der Maler in seinem Leben genau drei. Eine davon führte ihn, was mich persönlich ein wenig stolz macht und mich vielleicht seinen Bildern auf einfache Weise näher bringt, nach Winterthur. Dort besuchte er die Eröffnung seiner Ausstellung im Jahr 1956. Alles in allem verbrachte Giorgio Morandi ein von aussen betrachtet ereignisloses, kleinbürgerliches Leben. Aus diesem ging jedoch eine Malerei hervor, die in ihrer stillen Einfachheit eine unglaubliche Radikalität entwickelt, der ich gerne mit diesem Text etwas nachspüren möchte. In Abwesenheit der Bilder Im Kunstmuseum Winterthur befinden sich Giorgio Morandis Gemälde im hintersten Raum der Sammlung, an der Schwelle zum neuen Erweiterungsbau für zeitgenössische Kunst. Sie hängen wie an der Documenta an einem eher stillen, intimen Ort. In Winterthur teilen sie sich diesen mit wenigen Arbeiten von Lucio Fontana und Alberto Giacometti. Ebenfalls zu sehen ist ein kleinformatiges Bild von Pablo Picasso. Nach einem ersten Besuch dieses Raumes will ich zu Hause das soeben Betrachtete beschreiben. Dabei stosse ich schnell auf einen eigenartigen Gegensatz: Noch vor Ort schienen mir die ausgestellten Malereien wie neu, als hätte ich sie nie gesehen. In ihrer Gegenwart wollte ich mir keine klaren Gedanken machen – ich hatte nur das Bedürfnis mich an ihnen satt zu sehen. An meinem Arbeitstisch bemerke ich jetzt aber, dass das Beschreiben dieser Bilder in ihrer Abwesenheit eine nicht ganz leichte Aufgabe werden könnte. Obwohl ich mich vor den Gemälden ob ihrer Schönheit freute und langsam in ihnen versank, ist in meinem Kopf nicht viel mehr übrig geblieben als die stumpfen Begriffe, die ich nun krampfhaft mit einem Morandi-Stilleben in Verbindung zu bringen versuche: Kanne, Krug, Schachtel, Vase, Dose, Glas, Becher. Um mich liegen zwar Publikationen über Morandi bereit, doch obschon die Gemälde aus dem Museum in meinem Gedächtnis am Auslöschen sind, ist mir nicht 4
entgangen, dass zwischen den Bildern in meinen Gedanken und den Reproduktionen im Buch eine grosse Differenz bleibt. Ich probiere darum die gedruckten Abbildungen am Anfang meiner schreibenden Tätigkeit nur sparsam bei zu ziehen. Erstmal versuche ich mit geschlossenen Augen die Stilleben zu rekonstruieren – das aus einem fast schon sportlichen Interesse. Die Stilleben, denen ich im Museum gegenüber stand, sind alle in einem ähnlichen Querformat gemalt und entstanden ungefähr zwischen 1950 und 1960. Sie sind von ziemlich kleiner Grösse. Ich schätze ihre Länge zwischen dreissig und vierzig Zentimeter. Ihre leicht geringere Höhe beträgt vielleicht fünfundzwanzig oder dreissig Zentimeter. Daraus spannt sich ein relativ kompaktes Format auf. Ich meine auch noch zu wissen, dass die bespannten Keilrahmen, obwohl sie sich gleichen, in ihrer Grösse alle leicht variieren. Einzelne von ihnen befinden sich in schlichten weiss-matten, übereck bemalten Reliefrahmen. (Ich muss hier erwähnen, dass das Kunstmuseum Winterthur auch ein sehr interessantes Landschaftsgemäldes von Morandi besitzt. Auf dieses gehe ich aber nur am Rande dieses Textes ein). Die scheinbar simple Frage nach der Anzahl der ausgestellten Bilder, die ich an mich selber richte, lässt mich kurz erröten. Ich versuche mit Anstrengung die einzelnen Gemälde gedanklich im Raum zu platzieren. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich nun fünf oder sechs Stilleben gegenüber stand. Nach etlichen vergebenen Anläufen, Klarheit in dieser Sache zu schaffen, muss ich befürchten, dass die Abbilder der einzelnen Gemälde in meinem Kopf miteinander verflossen sind. Zwar meine ich, je länger ich über meinen Museumsbesuch nachdenke, mich an mehr und mehr Einzelheiten erinnern zu können. Mir schweben auch erste Ansätze vor, die mir schlüsselhaft helfen könnten, Morandis Arbeit besser zu verstehen. In meinen Gedanken überlagern sich jedoch transparente Bilder, denen der jeweilige Träger nur schwer zuweisbar ist – wie bei einem Stapel beschriebener Folien für den Hellraumprojektor. Ich versuche diese Begebenheit ernst zu nehmen und entscheide mich dafür, von nun an die sich überlagernden Bilder wie ein Einzelnes zu behandeln und zu beschreiben. 5
Wie schon zu Beginn dieses Textes erwähnt, liegen den Stilleben von Morandi alltägliche Gefässe zu Grunde – auf der Documenta wurden sie mir eins zu eins vorgeführt. Deren Abbilder sind auf den einzelnen Leinwänden zu einer kompakten Gruppe von drei bis fünf oder sechs Objekten angeordnet. Diese Gruppe ist auf einer Fläche, wohl auf einem einfachen Tisch, meist mittig gesetzt. Sie nimmt etwa ein Viertel bis ein Fünftel der gesamten Leinwand ein. Die Tisch-Fläche endet in einem Horizont, der hinteren Tischkante, die sich manchmal oberhalb der Gruppe befindet aber auch hinter dieser verlaufen kann. Sie teilt die Bilder vorwiegend oberhalb der Bildmitte. Im unteren Teil der Bilder kann sich das Bild durch die vordere sichtbare Tischkante ein zweites Mal abtrennen. Die Gruppe der Behälter steht dann im mittleren Drittel der Leinwand. Die einzelnen Objekte einer solchen Gruppe sind unterschiedlich stark als Gefässe identifizierbar. Bei den eindeutig flaschenförmigen liegt diese Vermutung natürlich sehr nahe. Zum grössten Teil sind aber Gestalten zu erkennen, die stärker an unreine geometrische Volumen erinnern, an Kuben, Zylinder oder Kegel, die kombiniert ineinander enden. Solche Körper erscheinen oft erst dank einer Nachbarschaft zu gegenständlicheren Bildelementen im Licht einer Dose oder einer Schachtel. Wirklich aufgenommen und verinnerlicht habe ich höchstens die zwei oder drei Objekte, die mir am eigenartigsten schienen. Es waren wohl jene, die mir ein wenig Griff boten und an denen vielleicht der Ansatz einer Geschichte haftete: ein trichterförmiges Gefäss, über dessen Nutzen ich kurz sinierte, eine gedrehte Vase, die mir neben den einfachen Formen geradezu barock vorkam, und vielleicht noch ein Krug, der sich mit seinem geschwungenen Henkel besonders stark als Gegenstand des Alltags zu erkennen gab. Die meisten der gemalten Objekte bieten aber kaum Fläche für Projektionen. Ihre genaue Gestalt löste sich mir auf. Das Rekonstruieren der genauen Anordnung innerhalb einer solchen Gruppe ist mir unmöglich, geschweige denn diese einem einzelnen Gemälde zu zuweisen. Ich kann mich nur noch an einzelne Begebenheiten erinnern, die wohl auf 6
verschiedenen Leinwänden passiert sein müssen. Zum Beispiel solche, die den Horizont betreffen, der sich aus dem Zusammenfallen der hinteren Tischkante und dem Hintergrund ergibt. Abgelagert hat sich bei mir, dass diese Grenzlinie oft genau mit den Umrissen der Oberkante der einzelnen Behälter zusammenfällt. Vielmals macht es den Anschein, dass gewisse Becher und Kannen an dieser Linie hängen, wie Wäsche an einer Leine. Das erzeugt auch den Eindruck, als ob der Horizont willentlich in diese Position gerückt wurde und nicht etwa die Gefässe auf der Fläche, die viel einfacher verschiebbar wären. Weiter gibt es Horizontlinien, die hinter einer Objektgruppe verschwinden und wider Erwarten auf der anderen Seite nicht auf derselben Höhe austreten, sondern sich minim versetzt zum Bildrand ziehen. Es ergibt sich eine ganz subtile Irritierung des Verständnisses eines Tischs. Man beginnt dessen Ebene zu misstrauen. Verstärkt wird diese Unsicherheit, wenn der Horizont in Morandis Stilleben plötzlich seine gewohnte Bahn verlässt und sich unverhofft an eine Fläche eines Objekts anschmiegt. Das kann auch in einer Verdickung der Horizontlinie enden, die sich dann zu einem schattenhaften Wesen auf der Tischfläche wandelt. Ähnliche Verhältnisse gelten für die Gefässe untereinander. Die eng beieinander stehenden Objekte machen den Eindruck, als ob sie sich frierend aneinander drücken um sich gegenseitig zu wärmen. In dieser Nähe zueinander scheinen gewisse Formen die Ausmasse anderer aufzunehmen. Zum Beispiel sind zwei unterschiedliche Gegenstände in ihrer räumlichen Anordnung auf einmal gleich gross: Ein vermeintliches Trinkglas und eine Schale mit Fuss, die scheinbar direkt hinter dem Glas platziert ist, gehen ohne Unterbruch ineinander über. Das kann wiederum den Eindruck erzeugen, als ob die Schale nicht räumlich versetzt nach hinten, sondern auf derselben Höhe deckend auf dem Glas steht. Auch können Umrisse von Gestalten andere so ergänzen, dass die feinen Silhouetten der Formen miteinander verschmelzen und man sich nicht sicher sein kann, ob diese nun trennen oder verbinden. Unterschiedliche Körper sind an gewissen Stellen deckungsgleich, oder der Umriss einer ganzen Gruppe schliesst sich zu einer rechteckigen Form, die einem einzelnen der Gefässe auf dem Bild sehr nahe steht. Weiter lehnen sich die Flächen der einzelnen Objekte und der Tischebene fast Ton in Ton 7
aneinander. Die gemalten Behälter scheinen keine Wände zu haben. Ihr Inneres kann sich austauschen, es fliesst an gewissen Stellen aus und vermischt sich mit dem Darumliegenden. Das hat zur Folge, dass auch die einzelnen Flächen um die zentralen Behälter in diese Kommunikation mit eingreifen. Ihre Umrisse, die von den Silhouetten der Kannen-, Vasen- und Dosenformen geprägt sind, bemühen sich gleichwertige Verhältnisse zu der zentralen Gefäss-Gruppe herzustellen. Über Giorgio Morandis Bilder habe ich oft gehört, dass bloss das Licht zu sehen wäre, welches auf seine Vorbilder im Atelier fiel. Dieses streift teilweise die mittige Gruppierung von der Seite, so dass es zu Schattenwürfen kommt, die als solche von den einzelnen Objekten nur schwer zu unterscheiden sind. Andere Arrangements zeigen sich so ausgeleuchtet, dass bloss in den engen, lichtschluckenden Gassen zwischen den einzelnen Gestalten ein trennendes Dunkel entsteht. Auf allen Bildern meine ich jedoch festgestellt zu haben, dass die Körper, vor allem die ganz hellen, den Anschein machen als seien sie völlig immateriell oder bestünden höchstens aus einem Hauch feinsten Staubs – Aus solchem, der gerade noch nötig ist, um einen Sonnenstrahl in einem düsteren Raum in der Luft zu zeigen, der aber nichts über eine Oberflächenstruktur oder ein Material verrät. Die einzige sichtbare Oberfläche findet sich in der Struktur des Pinselstrichs, der teilweise grob, fast hörbar Flächen mit dünner Farbe füllt, manchmal aber auch eine Form feinfühlig wie ein Seismograf abtastet. Bei meinem Vorhaben, mir die Bilder aus dem Museum so deutlich wie möglich wieder vor Augen zu führen, bereitet mir das Schreiben über Morandis Farbpalette wohl die grösste Mühe. Wahrscheinlich leidet denn auch sie am meisten in der fotografischen Reproduktion. Die hellen, dunstigen, staubigen und sandigen Farbtöne, die Morandi verwendete, verschwinden sofort, wenn ich mich in ihrer Abwesenheit befinde. Ich muss immer wieder Bücher beiziehen, die mir wenigstens eine vage Vorstellung von der Farbigkeit der Bilder vermitteln. Eine Erklärung für die Flüchtigkeit der Farben in meinen Gedanken ist vielleicht, dass diese milchigen, fast transparenten Töne das rasche Verschwinden der Bilder begünstigen. Bei ihrem Anblick mache ich schnell Verbindungen zu real existierenden 8
Prozessen des Verschwindens (aber auch des Erscheinens). So zum Beispiel denke ich beim Betrachten von Morandis Bilder auch an das Verbleichen und Vergilben von Farbe in der Sonne. Es erinnert mich an das geisterhafte Hervortreten einer Fotografie im chemischen Entwicklerbad oder an das sich in Nichts auflösen des kondensierten Atems an einer kalten Glasscheibe. Die hellen, leuchtenden Körper auf den Bildern machen den Anschein, als ob sie weder Licht absorbieren noch streuen, sondern selber eine Art Quelle für Licht sind. Es ergibt sich mir aber auch das Gefühl, dass sie diesen Zauber jederzeit in einer sanften Ausblendung verlieren könnten. Die dunkleren, trockenen, erdigen, beigen und manchmal auch rostigen Töne auf den Leinwänden versuche ich stets mit der Landschaft in Verbindung zu bringen, in welcher der Maler lebte. Ich selber war zwar noch nie in Bologna und in der Region der Emilia-Romagna. Die natürlichen, gedämpften Farben erwecken bei mir aber stark den Eindruck, als entsprängen sie direkt der dortigen Natur. Ich stelle mir vor, dass ein Ocker aus dem Schlamm einer austrocknenden sommerlichen Pfütze stammt. Im warmen Grau sehe ich den Mörtel einer groben Steinmauer, die den ganzen Tag in der Sonne gestanden hat. Die braunen Töne könnten auf einen harten, staubigen Acker zurückgehen oder auf das feine Geäst eines Haselbuschs. Für einen Moment ergebe ich mich gerne diesen Vorstellungen, auch wenn sie vielleicht ein wenig überzeichnet sein mögen und auf einem persönlichen, allzu romantischen Gefühl aus den eigenen Italienferien beruhen. Nähere Beobachtungen Nach dem Versuch, die Bilder von Giorgio Morandi in ihrer Abwesenheit zu beschreiben, sind die darauf folgenden Besuche im Kunstmuseum etwas gezielter und gerichteter. Ein völlig klares Denken vor seinen Gemälden fällt mir aber weiterhin schwer. Es gelingt mir nur, wenn ich mich aus ihrer sanften Hypnose zu lösen vermag, in der ich mich wohl fühle und eigentlich gerne versinken möchte. Meistens schreibe ich mir deshalb nur wenige Worte vor Ort auf und greife wie im ersten Teil dieses Textes erst zu Hause auf die eingemachten Bilder zurück. 9
Als eine Art Nachtrag zu den ersten Bildbeschreibungen möchte ich noch einmal die grosse Differenz zwischen den Reproduktionen von Morandis Stilleben und den Originalen erwähnen. Wie schon im ersten Abschnitt vermutet, leidet die zarte Farbigkeit der Malereien im Druck. So zeigen sich die Gemälde im Museum unter verschiedenen Lichteinflüssen in einer grösseren Vielfältigkeit als die Fotografien im Katalog. Die Malereien wirken lebendig und unmittelbar, was den stumpfen, oft von einem Schleier überzogenen, zu einfachen Farbwerten zusammenlaufenden Abbildungen verwehrt bleibt. Im Zusammenhang mit der Farbigkeit der Bilder schenkte ich wohl bei meinen ersten Beobachtungen dem feinen Pinselstrich zu wenig Beachtung. Die Spur des Pinsels, die in dünne Farbe gezogen ist, verliert auf Fotografien einen grossen Teil ihrer feinen Taktilität. Im Original scheint es teilweise, als ob sie die Oberfläche der abgebildeten Objekte bildete. Zu dieser Beobachtung möchte ich gerne eine Überlegung anstellen, die auf einer einfachen Seh-Erfahrung aus dem Alltag beruht. Wenn die Augen am frühen Morgen kurz nach dem Aufwachen noch sehr empfindlich auf Licht sind und man die Welt durch schmale Schlitze betrachtet, sieht man seine Umgebung bekanntlich in unscharfen Bildern. Bei einer näheren Untersuchung dieser verschwommenen Aufnahmen kann man feststellen, dass sich die Oberflächenbeschaffenheit von Dingen auflöst. Informationen über eine Materialität versinken in einem Grund aus Farbe. Das glänzende, kühle Chrom eines Tischbeins verliert seine spiegelnd glatte Oberfläche und teilt sich auf in grauweisse Farbfelder. Eine grob verputzte, raue Fassade wird zu einer monochromen Fläche und eine weisse, weiche Daunendecke könnte geradezu auch aus hartem Marmor sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass Morandis Augen genau in dieser Manier auf die vor ihm aufgebauten Gefässe blickten, sodass sie nur für Farbe, Form und Raum empfänglich waren. Das Merkwürdige und Interessante an den Stilleben, die ich betrachtete, ist nun aber, dass Morandi diese verloren gegangene Oberfläche mit einem sichtbaren, feinen Pinselstrich auf einer neuen Ebene wieder hinzufügt. Die abgebildeten Behälter machen nicht den Anschein aus Glas, Blech oder Porzellan zu sein, und 10
ihre Oberflächen wecken weder den Eindruck sich rau oder glatt beziehungsweise sich hart oder weich anzufühlen – ihre Existenz ist aus blosser Farbe aufgebaut, die ein Pinsel modellierte und in die Gefässformen füllte. Die Farbe verbindet sich so im wahrsten Sinne des Wortes inhaltlich mit den Kannen, Bechern und Vasen. Es findet eine eigenartige Verschiebung statt. Die Abbildungen auf der Leinwand entfernen sich schleichend von der geläufigen Realität der Dinge und bewegen sich in Richtung einer Welt der Bilder, wo Regeln der Malerei gelten. Morandi tastet mit seinem Pinsel die Behälterformen auf dem Malgrund ab. Er umkreist sie in suchenden Bewegungen. Er füllt ihre Flächen schnell und grob, sodass man jede Borste seines Arbeitsgeräts spüren kann, bevor der teils fast gestische Strich wieder in eine zarte Spur mündet, die wie von einer Schnecke gezogen daher kommt. Vermeintliche Leerräume auf den Bildern behandelt Morandi mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die zentrale Behältergruppe. Aus der Fläche des Tischs löst er nur mit Hilfe der Struktur des Pinselstrichs eigenständige Formen heraus. Indem er der Farbe Richtungen gibt und diese wieder wechselt, schälen sich geisterhafte Gestalten aus dem Tischblatt, die sich mit den angrenzenden Gefässen zu behaupten beginnen, aber auf ein dinghaftes Gegenüber verzichten. Dieses langsame Verlassen einer Gegenständlichkeit findet sich sogar in der Signatur des Künstlers. Morandis einfache, klar lesbare Unterschrift ist auf den kleinen Formaten unterschiedlich positioniert. Sie befindet sich meistens im untersten Teil der Leinwand. Dort ist sie aber in ihrer horizontalen Ausrichtung so sorgfältig platziert, dass sie sich aktiv am Bild beteiligt. In ihrer Verlängerung gibt es Flächen, welche dieselbe Breite wie der Schriftzug aufweisen oder sie fällt genau mit der verlängerten Linie eines Gefässes zusammen. Ich habe sogar Bilder gesehen, die den Eindruck erwecken, als ob ein Rechteck, ein Becher zurückgeschoben sei, nur damit die freie Stelle Platz für Morandis Signatur bietet. Sie, die absolut gegenstandslos ist und aus dem selben Strich und Material besteht wie die Flächen und Formen über ihr, kann vielleicht wie ein Indikator als das Element des Bildes gelesen werden, welches sich am meisten gegen die Gegenstände stellt, aus denen die Malerei hervorgegangen ist.
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Morandis Gemälde drängen leise darauf hin sich von ihren Vorbildern zu lösen. Das konnte ich nicht nur daran erkennen wie die Oberflächen der abgebildeten Gegenstände behandelt ist, sondern dieses Bestreben ist auch in den Gefässformen und in ihrer Anordnung angelegt. Bei einem ersten flüchtigen Blick auf Morandis Stilleben gewinnt man zwar schnell den Eindruck, man habe es mit dem Abbild eines einfachen Aufbaus von Trinkbehältern zu tun. Wie im ersten Teil dieses Textes schon beschrieben, kann man aber bei genauerem Hinsehen feststellen, dass die Behälter auf den Gemälden unterschiedlich stark als solche identifizierbar sind. Gewisse Formen könnten auch abstraktester Malerei entlehnt worden sein. Bloss deren Nähe zu gegenständlicheren Stellen des Bildes lässt sie in den Augen des Betrachters zu Behältern werden. Beim Hinterfragen dieser Verhältnisse und der eigenen Reflexe merkt man plötzlich wie wenig an Bildinformation wegfallen müsste, dass die Malereien ihren figürlichen Grund verlieren und in die Abstraktion zu gleiten drohen. Nur eine eindeutig geschwungene Form eines Griffs vermag dann noch den Umriss eines Krugs als Gegenstand fest zu halten und das Geschehen auf dem Bild als eine Anordnung von Objekten auf einem Tisch zu verorten. In Morandis Malereien scheinen alle Partien eines Bildes gleichberechtigt zu sein. Seine Stilleben bestehen nicht aus einzelnen Darstellern. So wäre es meiner Meinung nach nicht richtig den Behälterformen mehr Beachtung zu schenken als den Randpartien des Bildes, den Tischflächen und dem Hintergrund. Morandi komponierte aus den einzelnen Elementen, die er vor sich sah, einen einzigen Hauptdarsteller. Dazu zeigt er die Formen der Schachteln und Dosen so, dass sie in einer sehr dichten Anordnung miteinander und den umliegenden Flächen in Kommunikation treten. Die Objekte haben auf dem Tisch keinen festen Stand, vielmehr scheinen sie leicht zu schweben. Sie ergänzen untereinander ihre Formen oder sie übernehmen gegenseitig ihre Grössen. Auf diese Weise wachsen sie zu einer Gruppe zusammen und büssen einen grossen Teil ihrer jeweiligen Eigenständigkeit ein.
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Um dieses Selbstverständnis der einzelnen Dinge zu lockern, glaube ich, dass sich Morandi die Freiheit nahm, sich von der ihm vorliegenden Aufbauordnung zu lösen. Nur so kann ich mir erklären, wie er mit minimen Versetzungen des Horizonts, der hinter einer Objektgruppe verläuft, aus einem in die Tiefe laufenden Tischblatt zwei voneinander unabhängige vertikale Flächen entstehen lässt. Diese beziehen sich sofort auf die dem Betrachter zugewandten Seiten von rechteckigen Gefäss-Formen in der Bildmitte und spiegeln sich wiederum auch im Hintergrund, der nun plötzlich in derselben Fläche wie das Tischblatt steht. Ähnlich hält es sich mit dem Innenraum eines geschlossenen Krughenkels. Dessen Farbton ist ein merklich anderer wie der Hintergrund, vor welchem der Krug steht. Für einen kurzen Augenblick frage ich mich, ob genau an dieser Stelle, wo man durch den geschwungenen Griff blicken kann, ein weiteres Objekt steht, welches die Sicht auf das Dahinter verdeckt. Nichts deutet aber auf die Existenz eines bislang unentdeckten Behälters hin, was unter realen Umständen und mit herkömmlichen Gefässen auch nicht möglich wäre. So beginnt diese Aussparung, ein Leerraum, der eigentlich Platz für die hebende Hand bietet, sich von seiner Ursprungsform abzulösen. Er verselbstständigt sich und beginnt mit zündender Wirkung den Rest der Komposition in Zweifel zu ziehen. An erster Stelle den zurück gelassenen Krug, der sich scheinbar selber fragt, ob er denn einer ist. Morandi malte seine Bilder nicht in abstrakten Formen, er hätte ja auf eine Gegenständlichkeit komplett verzichten können. Es wäre auch falsch, wenn man behaupten würde, der Künstler balanciere seine Gemälde auf einem Grat zwischen Abstraktion und Figuration aus. Morandis Vereinfachungen gehen immer aus einer Realität der Dinge hervor und nie umgekehrt. So bilden nicht einfache geometrische Formen Gefässe, sondern die Behälter lösen sich allenfalls in diesen auf. Fassungsversuch Ein Stilleben ist die Darstellung einer Anordnung von reglosen Objekten. In dem Moment, wo diese Anordnung mit dem Pinsel in Farbe auf einer Fläche festgehalten ist, grenzt sie sich von ihrem Vorbild ab, auch wenn sie noch so illusionistisch ist. Es entsteht etwas Neues, Unverrückbares – ein Bild, das ein Eigenleben hat, 13
wie jeder der einzelnen reglosen Körper, aus denen es hervorging. Was bei einem illusionistischen Stilleben des Barock kaum ersichtlich ist, zeigt Morandi in seiner Malerei. Während zum Beispiel ein Stilleben von Pieter Claesz von 1640 fast danach verlangt, dass man nach dem Glas auf seinem Gemälde greift, zeigt Morandi mit seinen Bildern den Prozess des sich langsamen Loslösens von seinen Vorbildern. Ich meine, dass praktisch alle Umschreibungen, die im vorliegenden Text angestellt wurden, einen solchen Vorgang enthalten: Sei es nun das überraschenden Kippen von Raum zu Fläche, der eigenartige formale Austausch der Gefässe untereinander, die immaterielle Oberfläche der gemalten Gegenstände oder der dunstige Farbton, der an eine sanfte Ausblendung erinnert. Natürlich treffen meine Beschreibungen nie auf alle Arbeiten von Morandi zu, und auf längst nicht allen Malereien ist alles vorzufinden, was ich in diesem Text erwähnt habe. Ich meine auch, dass es Gelungenere und weniger bemerkenswerte Malereien von ihm gibt (, die vielleicht wiederum zu Interessanteren geführt haben). Beim Betrachten von Giorgio Morandis Gemälden entstehen an meiner Netzhaut Abdrücke – wie vom ganzen Rest der beleuchteten Welt. Reize gelangen über eine Leitung in mein Gehirn, wo sie zu Bildern verarbeitet werden. In diesem Raum angekommen, sträuben sich die gesehenen Stilleben dagegen, platziert und eingereiht zu werden. Leise aber eindringlich flüstern sie mir hier ihre Eigenständigkeit zu. Das tun sie nicht, indem sie sich in eine Abstraktion begeben, um komplett eigenartig zu werden. Sie befragen sich mit Hilfe alltäglicher, beleuchteter hohler Körper im Raum, mit Formen und mit Farbe, und scheinen genau dort erstarrt zu sein, wo sie sich über ihr eigenes Wesen als Bilder die grössten Gedanken machen. Manchmal scheint es mir, als ob sie das auch in meiner Abwesenheit tun, und mein Blick gar nicht notwendig ist, um sie zu erwecken.
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