HELSINKI IM WINTER. ODER: WIE DER FINNE WIRKLICH IST
Foto: Flickr, Harritimonen.
Finnland: im Winter ist es immer dunkel, im Sommer immer hell. Getrunken wird ständig, und das unabhängig von den Lichtverhältnissen. Der Finne sitzt in der Sauna oder im Pub, trinkt teures Bier und spricht nicht. VON MIRA KNAUF
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ls das Flugzeug am zweiten Weihnachtstag in Helsinki landet, ist es bereits dämmrig. Es ist zwei Uhr nachmittags. Silvester verbringe ich dieses Jahr bei Freunden im hohen Norden. Kaum bei Joonas (finnisch für Jonas) angekommen, steht auch schon das erste Bier auf dem Tisch. Zwei Klischees bestätigen sich also sofort. „Eigentlich trinkt der Finne statistisch gesehen gar nicht mehr als der Deutsche“, erklärt Michael Szurawitzki, Finnlandexperte der Ludwig-Maximilian-Universität in München, später in einem Interview. Viel mehr sei es so, dass er zu bestimmten Anlässen sehr viel trinke und dann „leicht das Maß verliere“. Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester scheint definitiv in die Kategorie der „bestimmten Anlässe“ zu fallen. Denn die Menschen sitzen tatsächlich viel in den Pubs der Stadt. Man bemerkt schnell, dass der Finne zwar höflich zurückhaltend ist, aber dennoch äußerst kommunikativ. Interessiert, offen und gar nicht introvertiert und zurückgezogen. So erzählt einer völlig unvermittelt von einer seiner prägendsten Kindheitserinerungen, die darin besteht, seinem Vater zuzuhören, der auf dem Klo sitzt und laut aus der deutschen „Autobild“ vorliest. Ist der Finne vielleicht anders als erwartet? Fest steht: der Finne mag Eishockey. Am 28. Dezember treffen HIFK und Jokerit aufeinander, das bedeutendste Hauptstadtderby: überschäumende Emotionen, Gerangel, Anfeindungen, aufgeheizte Stimmung. Die Plakate über den Eingängen des Stadions, die dem Zuschauern verbieten „Waffen, Alkohol oder Feuerwerk“ mit zum Spiel zu bringen, verstärken diese Erwartungen noch. Irritierenderweise wünscht der Security am Eingang aber lediglich viel Spaß beim Spiel,
eine Taschenkontrolle gibt es nicht. „Die Finnen sind sehr ehrlich“, so Joonas. Für den Eishockey-Laien ist es schwierig dem sehr schnellen Spiel zu folgen. Das kulturelle Drum-herum ist umso spannender. Schon in den letzten Minuten vor den Pausen verlassen die Zuschauer hektisch die Ränge, um sich einen Platz an der Bar zu sichern. Getrunken werden darf in der Arena selber nämlich nicht. Umso erstaunlicher ist, dass
„Spricht hier denn jeder Englisch?“ unsere Sitznachbarn es offensichtlich geschafft haben, ihre Bierbecher ins Stadion zu schmuggeln. „Hey, fucking foreigners“ ruft uns einer strahlend entgegen. Die drei Männer sehen allesamt aus wie frisch aus dem Knast entlassen und sprechen einwandfreies Englisch. Eine ganze Weile unterhalten wir uns mit dem riesengroßen Mann, der von Tatt-oos übersäht ist und dem vorne einige Zähne fehlen. Kann das sein? Spricht in diesem Land der Pisa-Gewinner wirklich jeder Englisch? Der Finne spricht also perfektes Englisch, ist freundlich, ehrlich. Und er liebt Musik. „Die Dichte der Bands ist sehr hoch in Finnland“, erzählt mir Finnlandexperte Szurawitzki, „Musik ist den Finnen sehr wichtig, denn sie bietet Raum, um Gefühle zu zeigen.“ Etwas, das den Finnen eher schwer fällt, bestätigt auch Joonas. Deshalb boomen wohl auch die Karaokebars in Helsinki. Zurückhaltend sitzen die Leute vor ihrem Getränk und tun fast so, als würden sie die Sänger vorne nicht bemerken. Schwierig, wenn eine junge Frau gerade voller Inbrunst Illustration: Ville Ranta
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und völlig schief „Can you feel the love tonight“ ins Mikro quakt. Beschämt versuche ich mich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Nur damit du Bescheid weißt, das hier ist eine urteilsfreie Zone“, warnt mich Joonas als er meinen skeptischen Blick sieht. Nett, denke ich und tue nun ebenfalls so, als würde ich nicht merken, wenn einer alle Töne verfehlt. „Natürlich Vor allem finnische Popsongs sind in den bilden sich Karaokebars beliebt. die Finnen hier auch eine Meinung, aber man räumt dem anderen seine persönliche Freiheit ein – das ist wichtig in dieser Kultur“, weiß Szurawitzki. Der Schüchternste der Runde verausgabt sich am meisten. Am Ende ist er heiser, wirkt zufrieden und entspannt. Fast scheint das Karaoke-Singen eine Art Catharsis-Effekt zu haben. Da befreit sich die Seele von den dunklen Gedanken, die der Winter mit sich bringt.
„70% der Besucher über einen höheren Bildungsabschluss verfügen“, und Joonas ergänzt: „Britney Spears würden wir niemals auftreten lassen – nicht mal umsonst.“ Dafür gibt es Jazz, Folk, Indie-Rock und Electro, neben den Top-Acts, viele Newcomer und noch unbekannte Bands. Im Sommer sei Finnland ein ganz anderes Land, sagt Szurawitzki, viele Finnen ziehen sich in den Wintermonaten ein bisschen zurück. „Im Sommer begegnet man Leuten, die man im Winter nie treffen würde“. Das erklärt auch, warum Helsinki ein bisschen wie eine Geisterstadt wirkt. An meinem letzten Tag laufe ich stundenlang alleine durch die Stadt, bis zum Meer und spaziere über – so scheint es – von Menschen verlassene Halbinseln. „Wenn du bis zum Wasser läufst, kommst du an einen Platz, der wunderschön ist“, hat Joonas mir vorher geraten, „im Sommer“. Das sagen die Finnen häufig. Im Sommer ist wohl alles schöner. Dann ist es immer hell, die Finnen sitzen um Lagerfeuer an ihren unzähligen Seen, angeln, trinken und quatschen.
Mehr Eindrücke aus Finnland auch auf meinem Blog: www.miraknauf.wordpress.de
Musik bieten den Finnen Raum, um ihre Gefühle zu zeigen. In den Sommermonaten gibt es über 50 Musikfestivals. Joonas arbeitet für das „Flow Festival“ in Helsinki. Man kann mit Bus und Bahn anreisen, nachts schläft man im eigenen Bett, gecampt wird hier nicht. Es geht um Musik, Filme, Design und gutes Essen. Damit hebt sich „Flow“ von den gängigen Festivals ab. Statt Dosenravioli haute-cuisine. „Eigentlich ist es ein Festival für Menschen, die keine Festivals mögen“, erklärt Joonas. Im letzten Jahr kamen 60.000 Besucher, in der Broschüre wirbt der Veranstalter damit, dass
Knapp 40.000 Studenten besuchen die Uni Helsinki.
Fotos: Mira Knauf
Ewige Dunkelheit: Anfang Dezember geht die Sonne bereits um 14.30 unter.
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Zahlreiche Buchten und Halbinseln prägen das Stadtbild.
Gastronom für einen Tag Wer schon immer mal wissen wollte, wie es ist, ein eigenes Restaurant zu besitzen, kann das am 16. Februar ausprobieren. Zum elften Mal findet dann weltweit der Restaurant Day statt. Cupcakes an der Straßenecke, Sushi in fremden Wohnzimmern oder Pasta am Rhein – es braucht nur ein ausgefallenes Konzept und ein bisschen Organisationstalent. Kirsti Tuominen war dabei als die Idee in Helsinki entstand. INTERVIEW: MIRA KNAUF Im Internet schreibt ihr, der Restaurant Day sei „ein Karneval des Essens“ - was kann ich mir darunter vorstellen, Kirsti? Der Restaurant Day ist ein Eintages-Festival, bei dem es darum geht, leckeres Essen zu genießen und mit neuen Menschen ins Gespräch zu kommen. Er findet vier Mal im Jahr statt und wir wollen jeden, der Lust hat, dazu animieren, sein eigenes Café oder Restaurant zu eröffnen und für einen Tag Restaurantbesitzer zu spielen. Wie entstand denn die Idee dazu? Wir haben das hier in Helsinki angefangen, im Frühling vor drei Jahren. Die Idee stammt von einem unserer vier Gründungsmitglieder. Der wollte damals sein eigenes Restaurant eröffnen und stellte fest, dass man sich dafür durch ein enges Dickicht aus Bürokratie kämpfen muss. Hier in Finnland gibt es so viele Regeln und Gesetze, manche davon machen nicht einmal mehr Sinn. Da wollten wir den Menschen die Möglichkeit bieten, ihre eigenen Ideen auszuprobieren, und das ganz ohne Bürokratie. Also ist der Restaurant Day eine Protestaktion? Nein, genau das soll es nicht sein. Wir wollten einfach ein interessantes Projekt schaffen, etwas, das den Leuten Spaß macht. Zwar ist es gut, wenn so auch die öffentliche Diskussion anregt wird, aber das ist auf keinen Fall der Kern des Ganzen. Eher wollten wir die Leute dazu animieren, aktiv zu werden und sich auszuprobieren. Wichtig war uns auch, dass es ganz simpel ist, bei uns mitzumachen. Und wer macht da mit? Alle! Und das meine ich wirklich. Es gibt 5-jährige Kinder, die Säfte und Cupcakes anbieten, Studenten, Familien, auch ältere Leute. Wie in den meisten Städten, gibt es hier in Helsinki auch die typischen Reichenviertel mit riesigen Villen. Normalerweise würde man diese Häuser nie betreten. Aber zum Restaurant Day haben einige Bewohner tatsächlich ihre Türen geöffnet und Kaffee und Tee in ihren Wohnzimmern angeboten. Besonders schön finde ich, dass so viele Menschen aus verschiedenen Kulturen mitmachen. Man lernt ganz neue Geschmacksrichtungen kennen, neue Menschen.
Ich kann mir kaum eine bessere Möglichkeit des kulturellen Austausches vorstellen, als gemeinsam am Abendbrottisch zu sitzen. Ein ungewöhnliches Konzept, wo man doch denkt, der Finne lebt so zurückgezogen und redet ungern mit Fremden.
Kirsti Tuominen: „Helsinki hat sich sehr verändert.“
Ja total. In den letzten Jahren hat sich Helsinki sehr verändert. Und die Finnen sind offener geworden. Wir sind sehr aktiv und kreativ. Vielleicht ist der Finne von Natur aus gar nicht so schüchtern, wie man immer denkt, sondern es fehlte vorher einfach die richtige Umgebung, um ein bisschen aus sich heraus zu kommen. Essen ist natürlich auch eine tolle Möglichkeit, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Das ist so unverfänglich. Jeder hat eine Meinung zu diesem Thema. Der Restaurant Day ist ja mittlerweile ziemlich erfolgreich, nicht nur in Finnland. Welche Nationen stehen denn noch auf das Konzept? Ganz vorne dabei sind Dänemark, Island, Japan und seit neuestem sogar Russland. Das ist überraschend. Noch vor zwei Jahren habe ich mit ein paar russischen Journalisten gesprochen, die sagten, der Russe sei Fremden gegenüber viel zu mißtrauisch und würde nie einfach die Türen zu seinem Zuhause öffnen. Wir freuen uns total, dass so viele Leute mitmachen und Spaß daran haben. So soll es weitergehen. Ich bin der Überzeugung, dass wir uns unsere Umgebung selbst so gestalten können, wie wir sie uns wünschen.
DU MÖCHTEST MITMACHEN? Mehr Informationen gibt es unter: www.restaurantday.org
Fotos: Lassi Häkkinen
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