pharma:ch 1/2010: Bewertung von Gesundheitsleistungen

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1/10 Markt und Politik

pharma:ch Bewertung von Gesundheitsleistungen Mit den Fortschritten der Medizin und der Diskussion über die Mittelknappheit im Gesundheitswesen sind Evaluationen über den Zusatznutzen von Gesundheitsleistungen gefragter denn je. Bei der Bewertung von Nutzen und Kosten braucht es umfassende Betrachtungen aus einem medizinischen, sozialen, ökonomischen und ethischen Blickwinkel. Erfahren Sie hier, was unter Health Technology Assessment (HTA) zu verstehen ist und wo die Schweiz heute steht.

Wie in allen entwickelten Ländern sind in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten sowohl die Lebenserwartung und die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten wie auch die Ausgaben für das Gesundheitswesen stetig gestiegen. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Gründe dafür sind der technologische Fortschritt, höhere gesellschaftliche Ansprüche und demografische Faktoren. Insbesondere altersbedingte und chronische Krankheiten werden stark zunehmen. Allein die Zahl Diabeteskranker wird in zwanzig Jahren doppelt so hoch sein wie heute.1 Vor diesem Hintergrund werden im Gesundheitswesen die Fragen nach der Wirksamkeit von Gesund-

Diabetes-Patienten demonstrieren gegen Leistungskürzungen (Berlin, 19. Juni 2010)

heitsleistungen und dem effizienten Einsatz der Mittel wichtiger denn je. Bei der Bewertung von Gesund-

Prozent chronisch Kranke gegen 80 Prozent der Kos-

heitsleistungen geht es nicht nur um die Frage, ob

ten verursachen. Weltweit sind grosse Anstrengun-

eine neue Analyse, eine neue chirurgische Technik

gen zu beobachten, Prävention, Diagnostik, Behand-

oder ein neues Medikament wirksam ist, sondern da-

lungen, Medikamente, Organisationsstrukturen und

rum, wie hoch der Mehrnutzen und die Kosten im

Versorgungsketten zu bewerten, um so den Behör-

Vergleich zu bisherigen Interventionen sind. Ziel der

den Grundlagen für gesundheitspolitische Entschei-

Nutzenbewertung muss es sein, das Gesundheits-

dungen zu schaffen, die von der Bevölkerung akzep-

wesen für Innovationen offen zu halten, um die Quali-

tiert sein müssen. In der Art und Weise, wie dies ge-

tät der Versorgung und die Behandlungsergebnisse

schieht, gibt es Unterschiede: Einige Staaten

zu verbessern. Medizinischer Fortschritt ist insbeson-

scheinen die Nutzenbewertung vor allem als kurzfris-

dere im Bereich chronischer Erkrankungen notwen-

tiges Instrument der Kostendämpfung anzuwenden,

dig. Allgemein geht man davon aus, dass rund 20

andere haben einen breiteren gesellschaftlichen An-

1

Gesundheitssystem im Vordergrund stehen.

satz, bei dem die Patienten und der Nutzen für das

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«Global Prevalence of Diabetes», Diabetes Care, 27:5, 2004.

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BEWERTUNG VON GESUNDHEITSLEISTUNGEN

Umfassende Nutzenbetrachtung nötig

Alzheimer oder Krebs darf der Zugang zu einer kost-

Hinter jeder gesundheitsökonomischen Analyseme-

spieligen Behandlung nicht verweigert werden, nur

thode steckt die Krux, den Nutzen von Gesundheits-

weil sie älter sind oder die Behandlung unter einem

leistungen fassbar zu machen, zu berechnen und zu

Rationierungsblickwinkel als zu teuer beurteilt wird.

vergleichen. Der Nutzen reicht oft weiter als der direk-

2

te, medizinische Erfolg und kann sich auch auf indi-

Hohe Anforderungen an Evaluationen

rekte Effekte ausserhalb des Gesundheitswesens be-

Viele Länder führen in der einen oder anderen Form

ziehen. Weniger Schlaganfälle durch eine Senkung

Bewertungen von Gesundheitsleistungen insbeson-

des Blutdrucks oder eine massiv verkürzte Dauer der

dere von Medikamenten durch. In Europa spricht

Spitalaufenthalte dank neuen Medikamenten für

man häufig von sogenannten HTAs oder Health Tech-

Patienten mit HIV und AIDS sind direkte Effekte von

nology Assessments. Hinter HTA steht die Idee einer

Therapien, die aus der Pharmaforschung hervorge-

ganzheitlichen Analyse der medizinischen, ökonomi-

gangen sind. Innovative Therapien ermöglichen es

schen, gesellschaftlichen und ethischen Auswirkun-

Betroffenen auch immer öfters, im Arbeitsleben zu

gen von Leistungen im Gesundheitswesen. Trotz un-

bleiben, was einen indirekten, volkswirtschaftlichen

terschiedlicher Praxis in zahlreichen Ländern existie-

Nutzen schafft.

ren bereits international beachtete wissenschaftliche Standards für HTA.

Schliesslich hat der medizinische Fortschritt auch eine soziale und eine ethische Dimension: Neue Tech-

Eine Gruppe renommierter Gesundheitsökonomen

nologien können die Lebensqualität für das soziale

hat beispielsweise 15 Prinzipien für die Durchführung

und familiäre Umfeld kranker Menschen erhalten –

von HTA aufgestellt.2 Demnach muss die angewand-

gerade wenn es um ihre Betreuung und Pflege geht.

te Methode wissenschaftlich fundiert sein und trans-

Moderne Medikamente beispielsweise verzögern das

parent gemacht werden. Alle relevanten Behand-

Fortschreiten der Alzheimererkrankung und verbes-

lungsalternativen sind in der Kosten-Nutzen-Bewer-

sern die Motorik, Kognition und Alltagskompetenz

tung zu erfassen. Ferner sollten alle relevanten

der Betroffenen. Damit bleiben sie länger selbständig

Stakeholder wie Patienten, Ärzte, Industrie und Kran-

und der Zeitpunkt der Pflegebedürftigkeit schiebt

kenkassen aktiv involviert und eine breite soziale und

sich hinaus – nebst den Kosteneinsparungen eine

ethische Perspektive eingenommen werden.

grosse Entlastung für Patienten und ihr soziales Umfeld. Zudem stösst das Effizienzdenken an ethische

Zu beachten ist, dass diese Bewertungen Moment-

Grenzen: Patienten mit einer schweren Krankheit wie

aufnahmen für ein bestimmtes Gesundheitssystem darstellen und keine endgültigen Antworten liefern können. Bei welchem Kenntnisstand eine Leistung

Health Technology Assessment (HTA) leistet gemäss EUnetHTA einen Beitrag zur Umsetzung gesundheitspolitischer Zielsetzungen, die den Patienten ins Zen-

evaluiert wird, ist deshalb insbesondere bei Innovationen eine zentralen Frage. Bei der Zulassung durch

trum stellen und den bestmöglichen Nutzen anstreben.

die Arzneimittelbehörde können erst Daten aus kli-

Dafür stellt HTA Informationen über medizinische, soziale,

nischen Studien vorliegen, die Wirksamkeit und Si-

ökonomische und ethische Aspekte im Zusammenhang

cherheit einer Innovation belegen. Darauf aufbauend

mit der Anwendung von Gesundheitstechnologien zu-

müssen der Nutzen und beispielsweise die Kosten-

sammen. HTA ist ein multidisziplinärer Prozess, der sich in systematischer, transparenter und unvoreingenommener Weise auf wissenschaftlich fundierte Forschungsmetho-

folgen in Modellrechnungen prognostiziert werden. HTA-Resultate sind deshalb oft mit grossen Unsicherheiten behaftet. Eine Behandlung kann aufgrund

den abstützt.

der Daten, die erst nach der Zulassung erhoben werTrotz der gesundheitspolitischer Zielsetzung muss HTA in

den konnten, wirksamer sein, als in den ursprüngli-

erster Linie in der Forschung verankert sein und sich an

chen klinischen Studien erwartet wurde. Es können

wissenschaftlichen Methoden ausrichten. Als Beispiele für Anwendungsgebiete von HTA gelten Diagnostik, medizinische Einrichtungen, Medikamente, Rehabilitation und Prävention sowie organisatorische und unterstützende Gesundheitssysteme.

aber auch Hoffnungen enttäuscht werden. Erst mit der breiten Anwendung im medizinischen Alltag können Innovationen verlässlich bewertet werden.

1 2

1

Quelle: www.eunethta.net/en/Public/HTA/

«Key principles for the improved conduct of health technology assessment for resource allocation decisions», Journal of Technology Assessment in Health Care, 24:3, 2008.

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Endgültige Entscheidungen für oder gegen den Ein-

reits vergüteten Behandlung verglichen. So wird bei-

satz neuer Methoden bei der Markteinführung sind

spielsweise ein blutdrucksenkendes Präparat mit

deshalb weder möglich noch hilfreich. Vielmehr gilt es,

dem Nutzen und den Tagestherapiekosten eines an-

Entscheidungen über den Zugang neuen Erkenntnis-

deren blutdrucksenkenden Medikaments verglichen.

sen über Sicherheit, Wirksamkeit, Nutzen und Kosten

Wenn ein neues Arzneimittel hinsichtlich Sicherheit

anzupassen.

oder Wirksamkeit klare Vorteile aufweist, kann ein Innovationszuschlag gewährt werden. Zur Preiser-

Bewertung von Medikamenten

mittlung wird zusätzlich immer ein Auslandpreisver-

in der Schweiz etabliert und bewährt

gleich mit sechs Ländern durchgeführt. Damit dür-

In der Schweiz übernimmt die obligatorische Kran-

fen Medikamente ungeachtet ihres Nutzen-Kosten-

kenpflegeversicherung nur Leistungen, die wirksam,

Verhältnisses in der Regel nicht teurer sein als der

zweckmässig und wirtschaftlich sind. Diesen soge-

Durchschnitt dieser Länder. In der Praxis bedeutet

nannten WZW-Kriterien müssen auch Medikamente

der Auslandpreisvergleich, dass neue Medikamen-

auf der Spezialitätenliste (SL) genügen, um von der

te in der Schweiz sogar immer billiger sein müssen

Grundversicherung erstattet zu werden.

als in einigen Vergleichsländern. Seit 2009 werden

3

die Preise aller Medikamente alle drei Jahre wieder Insbesondere mit dem Kriterium der Zweckmässig-

überprüft. Liegen neue Erkenntnisse über das Me-

keit kennt die Schweiz seit 1994 eine systematische,

dikament vor, soll ein umfassender therapeutischer

relativ breit angelegte aber auch pragmatisch ange-

Quervergleich durchgeführt werden. Obwohl das

wandte Bewertung von neuen Medikamenten. Das

KVG eine periodische Überprüfung der WZW-Kri-

Bundesamt für Gesundheit entscheidet über die Er-

terien für alle Leistungen in der Grundversicherung

stattungsfähigkeit und den Preis auf Empfehlung

vorschreibt, gibt es eine solche periodische Über-

der Eidgenössischen Arzneimittelkommission (EAK).

prüfung nur für Medikamente. Dies ist erstaunlich,

Wenn Behandlungsalternativen für dieselbe Indika-

denn Medikamente machen einschliesslich der im

tion bestehen, wird in einem sogenannten therapeu-

Spital eingesetzten Arzneimittel nur zwölf Prozent

tischen Quervergleich das Medikament mit der be-

der Gesundheitskosten aus. ■

Basisdaten, womit sich föderalistische kantonale Lösungen zum Vornherein ausschliessen. Health Technology Assessment gehört in die Zuständigkeit des Bundes. Das vermeidet Rechtsunsicherheit und bedarf weder eines neuen Institutes noch neuer Institutionen. Wir müssen bestehende Infrastrukturen – das BAG – nutzen. Urs Stoffel, Präsident Kantonale

Die internationale Vergleichbarkeit medizinischer Kri-

Ärztegesellschaften KKA

terien ist dabei ein Muss. Die wirtschaftlichen Aspekte berücksichtigen die nationalen Bezugsgrössen und

■ Als Arzt bin ich dem Wohl der Patienten verpflich-

eine Betrachtung mit einem volkswirtschaftlichen Ge-

tet. Doch wie bringe ich Verpflichtung und Ressour-

samtansatz. Vor allem aber dürfen wir uns nicht in

cen in Einklang? Innovation ist der Schlüssel. Ste-

kurzfristigen Kostenbetrachtungen verlieren, sondern

te Verbesserung der Qualität, mit mehr Nutzen («ad-

müssen uns an den grossen Kostenblöcken und der

ded value») für die Patienten. Dazu braucht es einen

Effizienz des Systems orientieren. Unser Ziel muss

Bewertungsansatz, bei welchem nicht die isoliert be-

eine (immer) bessere Gesundheitsversorgung mit effi-

trachteten Kosten eines einzelnen Leistungselemen-

zienter Leistungserbringung sein. Rationierung kann

tes im Zentrum stehen, sondern eine umfassende

und darf nicht der Lösungsansatz sein. Der Zugang

Input-Outcome-Betrachtung. Dafür wiederum be-

zu notwendiger medizinischer Leistung muss allen of-

nötigen wir allgemein anerkannte wissenschaftliche

fenstehen. Deshalb sind wir Ärzte geworden.

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BEWERTUNG VON GESUNDHEITSLEISTUNGEN

Blick über die Grenzen Die Vielfalt an Ansätzen und Methoden in der Bewertung von Gesundheitsleistungen ist gross. Sie reicht von wenig formalisierten Verfahren über breite Health Technology Assessments (HTA) bis zu hoch komplexen mathematischen Verfahren, die zur systematischen Rationierung von Gesundheitsleistungen genutzt werden.

4

Harte Rationierung in England

doch auch das vom IQWiG propagierte Effizienzgren-

In England wird die medizinische Versorgung vom

zenkonzept ist unter Experten sehr umstritten. Zu-

staatlichen Gesundheitsdienst National Health Ser-

dem gilt es wegen seiner methodischen Komplexität

vice (NHS) geregelt. Er verfügt über ein fixes Budget,

als kaum praktikabel.

wobei die vorhandenen Mittel auf die therapeutischen Leistungen verteilt werden. Der NHS erstattet in der

Gesellschaftliche und soziale Werte in

Regel nur medizinische Therapien, deren Kosten pro

Schweden

Quality Adjusted Life Years (QALY) den Schwellen-

Seit 2002 entscheidet in Schweden das Pharmaceu-

wert von 30 000 Pfund nicht übersteigen (siehe Box

tical Benefits Board (LFN) über die Vergütung ver-

Seite 5). Die Bewertungen der medizinischen Leistun-

schreibungspflichtiger Medikamente. Seine Entschei-

gen, die der NHS zum Entscheid über eine Kosten-

de basieren auf drei Prinzipien: Erstattungsentschei-

übernahme heranzieht, werden vom National Institu-

de dürfen nicht zu Diskriminierung aufgrund von Alter,

te for Clinical Excellence (NICE) vorgenommen. NICE

Geschlecht oder Herkunft führen; Patienten mit dem

steht in der Kritik, weil neue Medikamente und Thera-

grössten Bedarf haben Priorität gegenüber Men-

pien gegen schwere Krankheiten – unter anderem für

schen mit weniger schweren Erkrankungen und die

Alzheimer- und Krebspatienten – im NHS nicht ver-

Kosten sollen aus medizinischer, humanitärer und

fügbar sind. NICE konnte diese Kritik nicht länger ig-

ökonomischer Sicht sowie aus einer gesellschaftli-

norieren und sah sich gezwungen, das Konzept eines

chen Perspektive vernünftig sein. Zur Kosten-Nut-

fixen Schwellenwertes für lebensverlängernde Inter-

zen-Bewertung werden deshalb neben den direkten

ventionen zumindest für Patienten mit kurzer Rest-

Medikamentenkosten auch die indirekten Kosten –

lebenserwartung zugunsten einer noch nicht näher

beispielsweise der Verlust des Einkommens durch

definierten Alternativmethodik aufzugeben. Zurzeit

die Krankheit – berücksichtigt. Die Kosten werden

nimmt in England der politische Druck für weitere

dabei unter sozialen Gesichtspunkten bewertet, un-

Reformen von NICE zu. So soll das Institut in seinen

abhängig davon, wer für die Behandlungskosten auf-

Empfehlungen künftig auch die soziale Perspektive

kommt. Auch der Nutzen wird auf zwei Ebenen ana-

berücksichtigen, beispielsweise wenn ein Medika-

lysiert: auf der direkten gesundheitlichen Ebene und

ment den Wiedereintritt ins Arbeitsleben ermöglicht

im Hinblick auf mögliche indirekte Kosteneinsparun-

oder die Betreuung vereinfacht. Ferner sollen be-

gen. Zur Nutzenmessung wird die Verlängerung der

stimmte innovative Produkte nach ihrer Zulassung für

Lebenserwartung oder die höhere Lebensqualität he-

eine gewisse Zeit von NICE nicht bewertet werden.

rangezogen. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen

Damit wird versucht, die Verfügbarkeit neuer Thera-

in anderen Ländern wurde jedoch kein Grenzwert pro

pien zu verbessern und Innovationen im Gesund-

QALY etabliert. Ebenfalls berücksichtigt wird, ob Pa-

heitswesen nicht zu behindern.

tienten mit einem Medikament arbeitsfähig bleiben, für sich selber sorgen können und sich deshalb nicht

Methodenstreit in Deutschland

krankschreiben oder gar frühzeitig pensionieren las-

In Deutschland hat das 2004 gegründete Institut für

sen müssen.

Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) den gesetzlichen Auftrag, wissenschaftliche Gutachten über den

Breite Bewertung in Frankreich

Nutzen von Arzneimitteln vorzunehmen. Aufgrund

In Frankreich wird der Nutzen medizinischer Leistun-

der vielseitigen Kritik wurden die ersten Methoden-

gen im Rahmen der standardisierten Preisfestset-

entwürfe grundlegend überarbeitet. In Deutschland

zung über die Vergütung durch die Krankenversiche-

hat man sich nun strikt gegen eine Verwendung von

rung bewertet. 2005 wurde zudem die Haute Autorité

indikationsübergreifenden

de Santé (HAS) gegründet. Die formell und finanziell

QALYs

ausgesprochen,

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unabhängige Institution hat den Auftrag, Nutzen-

Das europäische HTA-Netzwerk

Bewertungen im Rahmen von HTA-Verfahren vorzu-

«Joint Action on HTA»

nehmen. Die HAS soll die Verbesserung der Qualität

Im Rahmen des gemeinsam von der Europäischen

in der Gesundheitsversorgung sowohl auf individuel-

Kommission und verschiedenen EU/EFTA-Staaten

ler als auch auf gesellschaftlicher Ebene sicherstellen,

getragenen und finanzierten HTA-Projekts «Joint Ac-

so dass alle Patienten einen gleichwertigen und kon-

tion on HTA» (vormals EUnetHTA) wird versucht, Leit-

tinuierlichen Zugang zur wirksamsten, sichersten und

prinzipien für die Anwendung von HTA auf europäi-

effizientesten Versorgung haben. Neue Arzneimit-

scher Ebene zu formulieren. Da HTA-Studien sehr

tel werden einerseits hinsichtlich des medizinischen

aufwendig und kostspielig sind, soll dieser Verbund

Bedürfnisses nach neuen Therapien und anderer-

vor allem die Zusammenarbeit von Institutionen und

seits bezogen auf den therapeutischen Mehrnutzen

Behörden fördern. Weiteres Ziel ist die Publikation

beurteilt, wobei die Einteilung nach Grad der Innova-

der Ergebnisse zur Vermeidung von Doppelspurigkei-

tion eine Basis für die Erstattungsverhandlungen mit

ten. Dabei wird der Übertragbarkeit bzw. Nichtüber-

dem CEPS (Comité Economique des Produits de

tragbarkeit der Daten Aufmerksamkeit geschenkt.

Santé) bildet. Die gesundheitsökonomischen Evalua-

Die Messwerte klinischer Daten sind gut vergleich-

tionen der HAS werden für ganze Produktklassen in

bar, da Krankheitsverläufe in der Regel keine Lan-

Multi Technology Assessments (MTA) unabhängig

desgrenzen kennen. Daten hingegen, die auf spezifi-

vom Verfahren der Preisfestsetzung vorgenommen.

schen Eigenschaften nationaler Gesundheitssysteme

Bis heute liegt der Fokus der MTA vor allem bei nicht-

und speziellen Versorgungsbedürfnissen der lokalen

pharmazeutischen Technologien. 2008 hat die fran-

Bevölkerung basieren, sind nur eingeschränkt ver-

zösische Regierung die Zuständigkeit der HAS für

gleichbar. Darunter fallen ökonomische Daten und

gesundheitsökonomische Evaluationen ausgeweitet

Bewertungen des Nutzens. Der Wert für neue phar-

und die Commission Evaluation Economique et de

mazeutische Produkte variiert auch aufgrund der Ein-

Santé Publique (CEESP) ins Leben gerufen. Im Rah-

kommensunterschiede sowie unterschiedlicher Prio-

men des «Projet 2009–2011» sind weitere Reformen

ritätensetzungen zwischen verschiedenen Ländern.

zur Stärkung gesundheitsökonomischer Evaluationen

Somit sind die HTA-Resultate eines Landes nur mit

geplant.

Vorbehalten auf ein anderes Land anwendbar. Es ist

5

daher auch nicht geplant, Erstattungen oder Preisfestsetzungsentscheide auf europäischer Ebene zu

QALY und fixe Schwellenwerte QALYs (Quality Adjusted Life Years) sind zu einer häufig zi-

Kostenschwelle angewendet und zur Rationierung medizi-

tierten gesundheitsökonomischen Kenngrösse beim Vergleich

nischer Leistungen genutzt. Der fixe monetäre Schwellenwert,

medizinischer Leistungen geworden. Mit dem QALY-Ansatz

der QALYs oft gegenübergesetzt wird, kann dazu verleiten,

wird versucht, sowohl die Lebensqualität als auch die Län-

die Entscheidungen über medizinische Massnahmen vereinfa-

ge des Lebens abzubilden. Hinter dem Konzept steht die An-

chend nur noch von diesem Schwellenwert abhängig zu ma-

nahme, dass allen Menschen ein kürzeres Leben bei besse-

chen. Ein häufig zitierter Schwellenwert beträgt 50 000 US-

rer Gesundheit gleich viel wert ist, wie ein längeres Leben bei

Dollar pro QALY. Die historische Anwendung dieses Wertes

schlechterer Gesundheit.

führt bis ins Jahr 1992 zurück. Damals wäre der Wert etwa bei 90 000 CHF gelegen. Die Idee, Gesundheitsleistungen mittels

Der QALY-Ansatz ist wissenschaftlich nicht unbestritten, da

eines fixen Schwellenwertes als kosteneffektiv oder als nicht

kranke und behinderte Menschen ihre eigene gesundheitliche

kosteneffektiv zu qualifizieren, gilt nicht nur in der Fachlitera-

Beeinträchtigung oftmals ganz anders beurteilen als Gesunde.

tur als überholt und veraltet. Er drückt weder eine fundierte Ef-

Kritisiert wird auch, dass der QALY-Ansatz Behinderte und alte

fizienzgrenze noch eine maximale Zahlungsbereitschaft aus,

Patienten systematisch diskriminiert. Ausserdem ist die Erhe-

die sich nicht nur von Land zu Land stark unterscheidet, son-

bung der Lebensqualität sehr stark von der zugrunde liegen-

dern auch von der Art der Gesundheitsintervention sowie an-

den Methode abhängig, so dass QALYs kein wirklich zuverläs-

deren Faktoren. Weil es nicht möglich ist, solche Schwellen-

siges Mass für die tatsächliche Lebensqualität darstellen.

werte empirisch abzustützen und unmittelbar in einen Entscheidungsprozess einzusetzen, hat das Interesse an einer

Kosten-Nutzen-Bewertungen auf der Basis von QALYs werden

weiteren Verbreitung des Konzeptes in den vergangenen Jah-

insbesondere in England im Zusammenhang mit einer fixen

ren eher nachgelassen.

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BEWERTUNG VON GESUNDHEITSLEISTUNGEN

zentralisieren. In den nächsten drei Jahren (2010 bis

dazu verwendet werden, über den Einsatz medizini-

2012) widmet sich das Projekt vor allem der Etablie-

scher Leistungen aufgrund von Kostenüberlegungen

rung von Standards und der Durchführung von Pilot-

ohne Berücksichtung der Wirksamkeit, der Sicher-

projekten. In jungen Mitgliedstaaten soll zudem der

heit und des Komforts für einzelne Patienten zu ent-

Aufbau von HTA-Institutionen unterstützt werden. Die

scheiden. Dem neuen CER-Institut ist es sogar per

Schweiz ist bei EUnetHTA als Partner mit dem Netz-

Gesetz explizit verboten, QALY oder ähnliche Para-

werk Swiss Network for Health Technology (SNHTA)

meter zum Entscheid über die Kosteneffizienz und als

beteiligt.

Schwellenwert für Vergütungsentscheide zu nutzen. Die Ergebnisse dürfen auch nicht für Entscheide über

6

Rationierungsentscheide auf Basis von

die Versicherungsdeckung von lebensverlängern-

QALY-Schwellenwerten in den USA abgelehnt

den Massnahmen bei älteren Personen, Behinder-

2009 wurden im Rahmen der Obama-Reform mehr

ten oder schwer kranken Personen verwendet wer-

als 1,1 Milliarden Dollar für den Aufbau und die För-

den. Der grösste Handlungsbedarf für vergleichende

derung von Comparative Effectiveness Research

Wirksamkeitsstudien wurde für Versorgungssysteme

(CER) gesprochen. CER fasst wissenschaftliche Evi-

und umfassende Behandlungsprogramme bedeuten-

denz zusammen, die den Nutzen unterschiedlicher

der Krankheiten ausgewiesen. Von den 25 Top-Prio-

Methoden zu Prävention, Diagnose, Behandlung

ritäten haben nur rund fünf einen direkten Bezug zu

und Monitoring von Krankheiten sowie zur Verbes-

Medikamenten. Darunter fällt beispielweise der Wirk-

serung der Gesundheitsversorgung vergleicht. Mit

samkeits- und Kostenvergleich verschiedener Strate-

der Entscheidung zur Gesundheitsreform haben sich

gien zur Erkennung und Versorgung bei Demenz, wo

die USA zugleich gegen bürokratisch administrier-

neben der medikamentösen Behandlung unter ande-

te Rationierungsentscheidungen im Gesundheitswe-

rem auch die Wirkung der familiären Unterstützung

sen ausgesprochen. So soll auch CER explizit nicht

evaluiert werden soll. ■

Positiv zu bewerten sind Kosten-Nutzen-Ansätze wie diejenigen des staatlichen deutschen IQWiG-Instituts, die in ihrer heutigen Form auf der Basis der evidenzbasierten Medizin Grundlagen für neue Disease-Management-Programme und damit qualitätsfördernde, strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch Kranke ermöglichen. Jean-François Steiert, Nationalrat, Vizepräsident

Zum eingangs erwähnten Ziel in krassem Wider-

des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen

spruch und damit nicht akzeptierbar sind hingegen Kosten-Nutzen-Analysen, die bezwecken, Menschen aufgrund ihres Alters oder Krankheitszustandes Leis-

■ Aus Patientensicht steht ein Prinzip im Vorder-

tungen vorzuenthalten. Mit solchen Studien würden

grund: der Zugang aller Patientinnen und Patienten

die bestehenden Ansätze einer Mehrklassenmedizin

zu allen anerkannterweise therapeutisch nutzbrin-

wohl massiv verstärkt.

genden medizinischen oder pflegerischen Massnahmen und Leistungen. Kosten-/Nutzenanalysen,

Da das Vertrauen in die zuständigen Akteure eine we-

wie sie den englischen NICE-Empfehlungen für die

sentliche Bedeutung für den Erfolg von Kosten-Nut-

Herausgabe von «Best Practice»-Empfehlungen

zen-Analysen erlangt, ist zudem davon auszugehen,

zugrunde liegen, scheinen in dieser Hinsicht die Effi-

dass der Nutzen der Kosten-Nutzenanalysen in einem

zienz zu steigern – Insbesondere im Medikamenten-

Gesundheitssystem mit verstärkter gemeinnütziger

bereich sowie als Grundlage für Preisverhandlun-

Orientierung des Versicherungswesens (z.B. mittels

gen. Doch zeigen erste wissenschaftliche Auswer-

einer zentral oder föderal organisierten Gesundheits-

tungen zumindest fürs Erstere kaum nennenswerte

kasse) deutlich grösser sein könnte als im rein wettbe-

Resultate.

werbsorientierten Schweizer Versicherungssystem.

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Schweizer Bevölkerung erwartet Qualität Wie im vorherigen Kapitel ersichtlich wird, ist die Nutzenbewertung geprägt durch länder typische gesellschaftliche Werte und spezifische Erwartungen der jeweiligen Bevölkerung.

Für die Schweizer Bevölkerung ist Rationierung me-

Eine noch geringere Zustimmung erhält der Vor-

dizinischer Leistungen keine Option. Wie der gfs-

schlag, dass Krankenkassen, die Spitalleitung oder

Gesundheitsmonitor zeigt, ist es für 97 Prozent der

das BAG den Entscheid über eine Vergütung fällen

Bevölkerung beispielsweise undenkbar, dass eine

sollen. Die Umfrage zeigt die Erwartungen der Bevöl-

teure Behandlung bei Krebs wegen eines ungünsti-

kerung deutlich: Ärzteschaft und Patienten müssen

gen Kosten-Nutzen-Verhältnises nicht mehr von den

bei umstrittenen Entscheiden mitbestimmen können.

7

Krankenkassen bezahlt würde.13 Beinahe ebenso undenkbar wäre die Streichung der Vergütung bei der

Keine Einschränkung beim Zugang zu neuen

Behandlung chronischer Krankheiten oder in der

Medikamenten

Spitzenmedizin (je 95 Prozent).

Um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, würde ungefähr die Hälfte der Bevölkerung am ehes-

68 Prozent der Befragten sind ferner der Meinung,

ten eine Einschränkung bei der Therapiefreiheit in

dass alle Patienten mit einer schweren Krankheit in

Kauf nehmen oder die freie Spital- oder Arztwahl auf-

jedem Fall ein Anrecht auf eine Behandlung haben,

geben. Nur 28 Prozent der Bevölkerung wären bereit,

auch wenn diese das normale Budget eines Kranken-

den Zugang zu neuen Medikamenten einzuschrän-

hauses bei weitem übersteigt. Nur 24 Prozent wür-

ken. 65 Prozent hingegen wären dazu auf keinen Fall

den die Behandlung und medizinische Überlegungen

bereit (siehe Grafik I). Insbesondere bei Medikamen-

von den Überlebenschancen abhängig machen.

ten aus der Krebsforschung wollen 69 Prozent der befragten Personen, dass sie allen Menschen in der

Hohe Zahlungsbereitschaft für chronisch

Schweiz unabhängig vom Einkommen zugänglich

Kranke, Krebspatienten und Kinder

sind.

Schweizerinnen und Schweizer sind bereit, für gewisse Patientengruppen mehr zu zahlen. Gerechtfertigt

Ziele für die Schweiz

finden sie höhere Kosten insbesondere für Patienten

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die zentrale

mit chronischen Krankheiten, Krebspatienten, Kinder

Aufgabe für die Bewertung von Gesundheitsleistun-

und Patienten in lebensbedrohlichen Situationen (alle

gen in der Schweiz die Ausrichtung auf eine qualitativ

zwischen 62 und 67 Prozent). Für weniger gerecht-

hochstehende und effiziente Gesundheitsversorgung

fertigt halten die Befragten höhere Kosten für Betag-

sein sollte. HTA kann wichtige Informationen zur rela-

te (48 Prozent) und übergewichtigen Patienten (41

tiven Effizienz von therapeutischen Alternativen bie-

Prozent).

ten und ist damit eine nützliche Entscheidungshilfe. HTA mit dem kurzfristigen Ziel, vordergründige Kosten-

Der Entscheid, ob eine sehr teure Behandlung auf-

senkungen vorzunehmen oder im Sinne einer Ratio-

grund eines ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis-

nierung notwendige Leistungen abzubauen, wider-

es nicht von den Krankenkassen bezahlt werden soll,

spricht den Erwartungen und Werten der Schweizer

ist nach Meinung von 75 Prozent der Befragten von

Stimmbevölkerung.

den Ärzten gemeinsam mit den Patienten zu fällen. Weniger einverstanden sind Schweizerinnen und

Wie in den vorderen Kapiteln dargestellt, stellt der

Schweizer hingegen mit Vorschlägen, dass der Ent-

Aufbau von Nutzen-Bewertungen, wie sie HTA bein-

scheid von einem unabhängigen Institut mit Experten

halten, hohe Anforderungen. Sie sind kostenintensiv

(43 Prozent) oder von einer Kommission mit Vertre-

und benötigen deshalb einen klaren Fokus. Da die

tern aller Beteiligten (33 Prozent) getroffen würde.

Zunahme chronischer Krankheiten zu einer der gröss-

1

sollten die Prioritäten in diesem Bereich liegen, wobei

ten Herausforderung im Gesundheitswesen wird, gfs-Gesundheitsmonitor 2010.

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BEWERTUNG VON GESUNDHEITSLEISTUNGEN

vermehrt ganze Behandlungspfade und Organisati-

8

Bewertungen – eines davon war die Evaluation der

onsstrukturen und nicht nur einzelne Interventionen

Behandlung des metastasierten Dickdarmkarzinoms

Gegenstand von HTA sein sollten.

mit Bevacizumab (Avastin®).

Eine Bewertung von Gesundheitsleistungen muss zu-

In Stellungnahmen zum Medical Board begrüssten

dem auf fundierten, wissenschaftlichen Methoden

Krankenkassen, Ärzte und die Pharmaindustrie das

basieren und transparent, zeitgerecht, ausgewogen

grundsätzliche Anliegen, die systematische Bewer-

und fair eingesetzt werden. Nicht abgestimmte Aktivi-

tung von Gesundheitsleistungen zu verbessern, kriti-

täten können zu Doppelspurigkeiten und unnötiger

sierten aber die Ausgestaltung, Methodik und Durch-

Bürokratie führen. Um die knappen Mittel deshalb

führung der Pilotprojekte und damit auch die auf Ra-

möglichst effizient einzusetzen, ist es wichtig, Über-

tionierung hinauslaufenden Schlussfolgerungen der

schneidungen zu vermeiden.

Analyse. Zudem würden Zuständigkeiten von Bund und Kantonen verwischt und Entscheidungsprozes-

Pilotprojekt Medical Board

se und -kriterien des Bundes über die Wirtschaftlich-

2008 hat die Gesundheitsdirektion des Kantons Zü-

keit medizinischer Leistungen und die Kassenpflicht

rich das Medical Board gegründet. Es soll diagnosti-

untergraben. Eine Bundeslösung hingegen vermeide

sche Verfahren und therapeutische Interventionen

Rechtsunsicherheiten und gewährleiste, dass die im

aus der Sicht der Medizin, der Ökonomie, der Ethik

KVG festgelegten Vorgaben für die Grundversicher-

und des Rechts überprüfen. Im Herbst 2009 infor-

ten landesweit umgesetzt werden. ■

mierte es über zwei als Pilotprojekt durchgeführte

Haltung der Bevölkerung zu Kostensenkungsmassnahmen In % der Stimmberechtigten «Welche der folgenden Massnahmen wären Sie selber bereit, für sich in Kauf zu nehmen, wenn dadurch die Kosten im Gesundheitswesen sinken würden?»

7

42

50

1

Keine freie Spitalwahl 7

25

63

5

Kürzung des Leistungskatalogs 6

41

51

2

Keine freie Arztwahl 6

50

41

3

Keine Therapiefreiheit 4

24

65

7

Eingeschränkter Zugang zu neuen Medikamenten

auf jeden Fall je nach Höhe der Kostensenkung

auf keinen Fall weiss nicht / keine Antwort

Quelle: Forschungsinstitut gfs.bern, Gesundheitsmonitor 2010 (n = 1200).

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Value for money Alle fordern dringend eine bessere Kosten-Nutzen-Beurteilung. Für Prof. Thomas Szucs genügen die Analysen des Zürcher Medical Board allerdings nicht.

Liegt die Schweiz da gegenüber dem Ausland im Rückstand?

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Methodologisch und in der Umsetzung auf jeden Fall. Aber mit dem Zürcher Medical Board gibt es einen Pilotversuch. Das ist doch schon ein Anfang? Dass ein Kanton die eine oder andere Leistung evaluiert haben möchte, ist verständlich. Es stellt sich alThomas Szucs, Verwaltungsratspräsident

lerdings die Frage der Ausgestaltung. Und da man-

der Helsana-Gruppe*

gelte es bei den ersten Projekten des Medical Board. Die doch immerhin steuerfinanzierten Projekte wurden nicht breit in der Fachwelt ausgeschrieben. Die

Gibt es im Schweizer Gesundheitswesen einen Hand-

Analysen des Medical Board hielten den anerkannten

lungsbedarf bei der Kosten-Nutzen-Beurteilung?

Standards der «guten ökonomischen Praxis» in wei-

Ganz klar ja. «Value for money» ist ein legitimes The-

ten Teilen leider nicht stand. Zudem halte ich solche

ma, insbesondere in der obligatorischen Krankenver-

Evaluationen eher für eine Aufgabe des Bundes.

sicherung, wo eine Zwangssolidarität herrscht und haushälterisch mit den Mitteln umzugehen ist. Wir

Woran fehlt es denn?

müssen unbedingt ein neues Bewusstsein schaffen,

Methodisch wurde vieles in einer Art und Weise auf-

dass man für eine qualitativ gute Versorgung Geld

gearbeitet, die nicht dem aktuellen Wissensstand

ausgeben muss. Aber ebenso müssen wir aufzeigen,

entspricht. Da wurden nicht einmal alle Erkenntnisse

was man für dieses Geld bekommt.

angewendet, die anderswo schon seit Jahren selbstverständlich sind. Die Ergebnisse der beiden Studien

Das gilt es nun anzupacken?

des Medical Board würden einer Überprüfung auf-

Das ist natürlich nicht von heute auf morgen zu rea-

grund der gängigen internationalen Standards nicht

lisieren. Wir haben in der Schweiz noch keine ent-

standhalten. Es gab denn auch keinen Peer-Review-

sprechende Kultur, denn der Patient bezahlt seine

Prozess, also keine Begutachtung durch ebenbür-

Rechnung nur ganz selten selbst. In der Regel be-

tige Wissenschafter. Natürlich hat jede Studie ihre

zahlt die Krankenkasse. Neben der entsprechenden

Schwachstellen. Aber die beiden Studien des Medi-

Kultur sind in der Schweiz das Know-how, die Stan-

cal Board über Knieoperationen und das Krebsmittel

dards und die Erfahrung für Kosten-Nutzen-Analysen

Avastin® haben zu viele Schwächen, enthalten Simp-

schlecht entwickelt, obwohl man das Thema stets

lifizierungen und unkorrekte Annahmen.

als wichtig bezeichnet. Heute basieren Medikamentenpreise zu stark auf einem einfachen Länderver-

Es gibt ja viele ausländische Modelle. Taugt davon

gleich, es gibt kaum Nutzenüberlegungen. Der volks-

eines für die Schweiz?

wirtschaftliche Nutzen eines Medikaments etwa wird

Viele Staaten orientieren sich heute am britischen

ausgeblendet.

NICE, das nach anfänglichen Problemen über die Jahre hinweg tatsächlich Standards gesetzt hat. Es gibt allerdings im Ausland eine Vielfalt von Ansätzen

* Prof. Dr. Thomas Szucs, Verwaltungsratspräsident der Helsana-Gruppe, ist Leiter der Arbeitsgruppe Medizinische Ökonomie am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich sowie Kodirektor des Europäischen Zentrums für Pharmazeutische Medizin (ECPM) der Universitätskliniken Basel.

und Methoden. Einig ist man sich, dass eine wissenschaftlich fundierte Methodik unverzichtbar ist, dass die Stakeholder einbezogen werden müssen und der Prozess transparent sein muss.

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BEWERTUNG VON GESUNDHEITSLEISTUNGEN

NICE ist aber in der Kritik, weil es ein Rationierungs-

dass das System die Werte der Schweizer Bevölke-

ansatz ist.

rung berücksichtigt.

Rationierung ist, was damit gemacht wird, und hat nichts mit dem methodischen Ansatz zu tun.

Die Schweiz kennt bereits die WZW-Kriterien und wendet diese auch an. Genügt das nicht?

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Sie argumentieren sehr stark ökonomisch. Anderseits

Die Prüfung der WZW-Kriterien wird nur bei Medika-

geht es doch darum, die Qualität der Gesundheits-

menten systematisch durchgeführt, nicht aber bei

versorgung nicht nur zu erhalten, sondern wenn im-

den andern medizinischen Leistungen. Zudem ist

mer möglich noch zu verbessern. Widerspricht sich

die Prüfung stark verbesserungswürdig. Die WZW-

das nicht?

Kriterien können nur mit vernünftiger Evaluationsfor-

Qualität gibt es nicht zum Nulltarif. Auch Qualität er-

schung umgesetzt werden. Gemäss Gesetz muss

fordert Investitionen, gute Qualität senkt aber auch

aber interessanterweise nur die Wirksamkeit mit wis-

Kosten. Und die ökonomische Evaluation ist kein Ins-

senschaftlichen Methoden nachgewiesen werden,

trument, um Qualität zu beurteilen. Aber jede Regie-

die Wirtschaftlichkeit hingegen nicht. Nochmals: Wir

rung, alle Verantwortlichen für ein Gesundheitswesen

brauchen dringend bessere Kosten-Nutzen-Beurtei-

müssen entscheiden, wie viel sie für Qualität ausge-

lungen, aber wir können uns an dem orientieren,

ben wollen. Die Ökonomie liefert dafür die Entschei-

was vorhanden ist. Aber es braucht eine zeitgemäs-

dungsgrundlagen.

se Qualität und einen Peer-Review-Prozess. ■

Wo muss die Schweiz den Hebel ansetzen? Wir sollten zunächst die Anforderungen für ökonomische Evaluationen festlegen. Dafür können wir uns an anderen Ländern orientieren. Zwar dürfte kein Modell auf die Schweiz passen, aber wir können überall jene Elemente herausnehmen, die für unser Land geeignet sind. Entscheidend für die Akzeptanz wird sein,

gen, ist hochkarätiges Fachwissen aus verschiedensten medizinischen Bereichen gefragt. Wichtig wird auch die Zusammenarbeit mit weltweit bereits existierenden Expertengruppen. Diesen vielfältigen Anforderungen kann am besten ein verwaltungsunabhängiges, national tätiges Expertengremium gerecht werden. Eine nationale Lösung Stefan Kaufmann, Direktor santésuisse

verhindert Doppelspurigkeiten, fördert eine einheitliche Arbeitsweise nach internationalem Standard und verleiht dem Gremium die nötige Bedeutung. Die

■ Das Bundesgesetz über die Krankenversicherung

Vorteile für den Markt liegen auf der Hand: Unwirk-

(KVG) verlangt, dass Wirksamkeit, Zweckmässigkeit

same Therapien und Diagnosen verschwinden, die

und Wirtschaftlichkeit medizinischer Leistungen wis-

Behandlungsqualität wird verbessert und die Kosten

senschaftlich erwiesen sein und periodisch über-

werden stabilisiert. Indem die Experten eine Über-

prüft werden müssen. Dabei muss verschiedenen

sicht über die medizinische Forschung etablieren,

Herausforderungen Rechnung getragen werden: Mit

verbessern sie die Transparenz und stellen Entschei-

der rasanten, technologischen Entwicklung im Medi-

dungsgrundlagen für die Leistungserbringer bereit.

zinalbereich – etwa in der Chirurgie – steigt die Kom-

Parallel dazu schaffen sie auch Klarheit für Patientin-

plexität der möglichen Behandlungen. Um deren

nen und Patienten.

Wirksamkeit wissenschaftlich zu prüfen und den Nutzen neuer Methoden gegen die Kosten abzuwä-

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Innovation zahlt sich aus Interpharma begrüsst die Bewertung von Gesundheitsleistungen zur Steigerung der Qualität und der Effizienz im Gesundheitswesen. Neue Ansätze wie beispielweise HTA sollten mit Beteiligung von Patienten, Leistungserbringern und Herstellern auf Bundesebene verfolgt werden.

Versorgung ist heute – gerade in der Schweiz – zu stark fragmentiert und zeigt im internationalen Ver-

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gleich teilweise weniger gute Resultate, als wir selbst meinen. Oft fehlt es am Wissen, welcher Behandlungspfad und welche Versorgungsstruktur mittelund längerfristig die besten Resultate bringt und gleichzeitig kostengünstig ist. Thomas Cueni, Generalsekretär Interpharma

Die forschende pharmazeutische Industrie befürwortet eine Verbesserung der heute in der Schweiz angewandten Methoden und Verfahren zur Nutzen-Be-

Die medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehn-

wertung. Bei Medikamenten gibt es bereits heute eine

te sind gewaltig. Unsere Lebenserwartung ist alle 10

Art «Mini-HTA» im Rahmen der WZW-Beurteilung auf

Jahre um zwei bis drei Jahre gestiegen, und wir wer-

Bundesebene. Seit Oktober 2009 können kassen-

den in aller Regel nicht nur älter als vor fünfzig Jahren,

pflichtige Medikamente sogar alle drei Jahre auf die

sondern können das Alter auch bei besserer Gesund-

WZW-Kriterien hin überprüft werden. Eine solche sys-

heit und höherer Lebensqualität geniessen. Mit der

tematische Evaluation kennen andere Leistungsberei-

wachsenden Bedeutung der chronischen Krankhei-

che im Gesundheitswesen noch nicht. Trotzdem sind

ten – eine Folge dieses Fortschritts und der demogra-

wir der Meinung, dass nicht nur dort Handlungsbe-

fischen Entwicklung – steht das Gesundheitswesen

darf besteht, sondern dass auch die Nutzenbewer-

aber vor grossen Herausforderungen. Für Krankhei-

tung von Medikamenten verbessert werden kann und

ten wie bspw. Diabetes, koronare Herzerkrankun-

sollte.

gen oder Krebs sind wirksamere Prävention, Früherkennung und Behandlungen notwendig. Chronische Krankheiten richtig zu erkennen und zu behandeln ist nicht nur für die Patienten von höchster Bedeutung sondern wirkt sich auch günstig auf die Kostenent-

«Über die Akzeptanz von HTA-Verfahren entscheidet letztlich die Meinung der Bevölkerung.»

wicklung im Gesundheitswesen aus. Dies kann durch HTA-Methoden erfolgen, die es Be-

«Oft fehlt es am Wissen, welcher Behandlungspfad die besten Resultate bringt und gleichzeitig kostengünstig ist.»

hörden, Leistungserbringern und Versicherungen unter Berücksichtigung von ethischen Gesichtspunkten ermöglichen, den klinischen, sozialen und ökonomischen Wert von Gesundheitstechnologien zu evaluieren. HTA kann und soll dazu beitragen, Patienten den Zugang zu denjenigen Gesundheitsleistungen zu schaffen, die den grössten Nutzen aufweisen. Ent-

Der Schlüssel für die Verbesserung der Behandlungs-

scheidend für die Akzeptanz von HTA-Verfahren ist

resultate und ein qualitativ hoch stehendes, effizien-

ihre rechtliche und politische Abstützung und die Re-

tes Gesundheitswesen sind mehr denn je Innovatio-

spektierung der Werthaltung der Bevölkerung. In die-

nen. Wir benötigen nicht nur neue und verbesserte

sem Sinne sind der Einsatz und die Erkenntnisse von

Medikamente, sondern auch innovative Modelle für

HTA auch in der Schweiz weiterzuentwickeln.

die Versorgung von chronisch Kranken, die rund 80 Prozent der Gesundheitskosten beanspruchen. Die

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Impressum Herausgeber: Thomas B. Cueni, Roland Schlumpf Redaktion: Interpharma Layout: Continue AG, Basel

Interpharma Postfach, 4003 Basel Telefon 061 264 34 00 Telefax 061 264 34 01 info@interpharma.ch www.interpharma.ch

Pharma:ch ist der Newsletter der Interpharma, des Verbandes der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, Novartis, Roche, Merck Serono, Actelion, Bayer Schering, Vifor Pharma und Cilag Schweiz. Diese Plattform will durch differenzierte Information Verständnis für die medizinisch-pharmazeutische Forschung und Entwicklung in der Schweiz schaffen. Hintergrundinformationen und Stellungnahmen finden Sie unter www.interpharma.ch.

Innovation zahlt sich aus Fortsetzung von Seite 11

Bei dieser aufwendigen und anspruchsvollen Aufga-

• Der Einsatz von HTA muss patienten- und innova-

be gilt es klare Prioritäten zu setzen:

tionsfreundlich sein. So darf es nicht sein, dass es

• Vorrangiges Ziel muss die Steigerung von Qualität

in der Schweiz oft länger dauert als im Ausland, bis

und Effizienz der Versorgung sein. Dazu sind gan-

neue Medikamente den Patienten zur Verfügung

ze Behandlungsketten zu evaluieren, denn mit ei-

stehen. Es fehlt bisher an einer Überprüfung der

ner isolierten Betrachtung einzelner Leistungs-

Abläufe auf der Zeitachse. Die Unsicherheit über

kompenenten ist das Ziel nicht zu erreichen.

den effektiven Nutzen neuer Produkte oder Verfahren zum Zeitpunkt der Zulassung ruft nach ei-

• Der Fokus ist auf die grössten Kostenblöcke in der

nem offenen Verfahren, das der Tatsache Rech-

Versorgung von chronisch Kranken zu richten. Sie

nung trägt, dass wir gesicherte Erkenntnisse über

machen bereits heute den Löwenanteil der Ge-

Nutzen und Kosten nur dank einer breiten Anwen-

sundheitskosten aus und werden in Zukunft noch

dung gewinnen können.

gewichtiger. HTA ist aber letztendlich immer nur Entscheidungshil• Internationale Standards müssen beachtet wer-

fe für den Arzt oder die Ärztin, die unter Einbezug der

den: Bewertungen müssen fair und balanciert ein-

Patienten den richtigen Therapieansatz wählen. HTA

gesetzt werden und auf einer wissenschaftlich fun-

im Sinne eines Rationierungsansatzes, wie wir ihn aus

diert angewandten Methodik beruhen. Verfahren,

England kennen, wo Lebensjahre mit fixen Schwel-

Methoden und Themenwahl müssen transparent

lenwerten ökonomisch begrenzt werden, kann kein

ausgestaltet sein und Stakeholder, insbesondere

Modell für die Schweiz sein. ■

Patienten, Ärzte und Industrie, sind in das Verfahren einzubeziehen.

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