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- dictators’ best friend: deutsche Waffenhilfe für diktatoren - tschernobyl: Wie viele Menschen sind ums leben gekommen? - 6 Fragen an Jürgen todenhöfer
Hiroshima – Fukushima: Das Ende des Atomzeitalters?
das magazin der ippnw nr126 juni11 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
I PPNW IPPNW steht für “International Physicians for the Prevention of Nuclear War”. Wir engagieren uns für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg, wurden 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und sind in über 60 Ländern aktiv.
In der IPPNW engagieren sich Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Medizinstudierende für eine menschenwürdige Welt frei von atomarer Bedrohung. Frieden ist unser zentrales Anliegen. Daraus entwickeln wir unser vielfältiges Engagement. Wir setzen uns ein für die Ächtung jeglicher Kriege, für gewaltfreie, zivile Formen der Konfliktbearbeitung, für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Verteilung der Ressourcen sowie für ein soziales und humanes Gesundheitswesen. Dabei leiten uns unser ärztliches Berufsethos und unser Verständnis von Medizin als einer sozialen Wissenschaft. Für eine Welt frei von atomarer Bedrohung Für eine Welt frei von Krieg Für eine Medizin in sozialer Verantwortung
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Editorial Ursula Völker ist Ärztin und Vorstandsmitglied der IPPNW.
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ut als erneuerbare Energiequelle: Wenn ich über die Ereignisse in Fukushima nachdenke, scheint meine Machtlosigkeit gegenüber den Folgen für die Menschen in Japan beinahe lähmend. Gleichzeitig werden mir die Bedeutung von öffentlicher Aufklärung und unermüdlicher politischer Überzeugungsarbeit bewusst. Aufgaben, für die wir als Ärzte und Medizinstudierende in besonderem Maße verantwortlich sind.
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ie zivile und militärische Nutzung der Atomenergie setzt unsere Patienten einem untragbaren Risiko aus. Von der Wiege bis zur Bahre des radioaktiven Materials stehen Menschenleben auf dem Spiel. Die Tragödie beginnt mit dem verleugneten Leiden der Bevölkerung in Uranabbaugebieten in Kanada, Australien, Niger, Namibia, Indien oder den Vereinigten Staaten. Im Namen unserer Gier nach mehr und mehr Energie erkranken Bergarbeiter und ihre Angehörigen. Ganze Landstriche werden unbewohnbar. Sie geht weiter mit den Kindern, die in der Nähe eines der vielen Atomkraftwerke leben und deren Risiko, an Leukämie zu erkranken, bereits unter Normalbetrieb stark erhöht ist. Im Übrigen, was tun mit dem Atommüll? Eine Lösung steht bis heute in den Sternen. Forschung im Bereich der Kerntechnik, und sei es für medizinische Zwecke, birgt immer die Gefahr, dass die Ergebnisse zur Entwicklung und Proliferation von Massenvernichtungswaffen beitragen. Wir können diesem nuklearen Teufelskreis nicht entkommen, wenn wir die Verbindung zwischen der zivilen Nutzung der Atomenergie und ihren militärischen Geschwistern übersehen. Dieses IPPNWforum wird einen Teil dazu beitragen, dass sachliche Informationen in den Debatten über den Atomausstieg die Oberhand gewinnen und Betroffene zu Wort kommen, deren Stimme wir nicht überhören dürfen.
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ütend zu sein ist besser, als vor lauter Verzweiflung zu resignieren. Vielleicht sollten wir uns etwas von dieser Wut aufbewahren und sie als eine Quelle erneuerbarer Energie nutzen. Wir müssen sie weise und nachhaltig einsetzen, um sicher zu stellen, dass die Atomlobby nicht das letzte Wort haben wird. Ihre Ursula Völker 3
INhAlt dictators’ best friend deutsche Waffenhilfe für diktatoren
THEMEN
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IPPNW-Kongress „25 Jahre Tschernobyl“.................................................8 Von Neckarwestheim nach Genf .......................................................................9 Tschernobyl: Wie viele Menschen sind ums Leben gekommen?
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Das Fließband der Leiden................................................................................... 12 Nuclear Free Future Award 2011 ................................................................ 14 Die Türkei vor den Wahlen ................................................................................. 15 Konzentrische Weltkrisen ................................................................................... 16 Den Opfern eine Stimme geben .................................................................... 17 Dictators’ best friend – Deutsche Rüstungsexporte ...................... 18
hiroshima – Fukushima: das Ende des Atomzeitalters?
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SchWErPUNKt Proteste in Tokio: Fotos von Matthias Lambrecht .......................... 20 Die Geschichte von Tschernobyl nicht wiederholen...................... 22 Interview „Jeder Reaktor ist eine Atombombe“................................ 24 Lost in Radiation? Leben nach der Katastrophe in Tokio......... 26 Interview mit dem Atomkraftgegner Tomoyuki Takada ............... 27
WElt Europäisches Regionaltreffen ......................................................................... 28 Bernard Lown wurde 90 Jahre alt ............................................................... 29 Den Blick auf 2012 richten, Peace Boat 2011............................... 30
Never whisper in the presence of wrong: Bernard lown wurde 90 Jahre alt
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rUBrIKEN Editorial .................................................................................................................................3 Meinung ................................................................................................................................5 Nachrichten .......................................................................................................................6 Aktion .................................................................................................................................. 31 gelesen, gesehen...................................................................................................... 32 gedruckt, geplant, termine.............................................................................. 33 gefragt................................................................................................................................ 34 Impressum/Bildnachweis .................................................................................... 33
Meinung
Christoph Krämer ist Chirurg im Krankenhaus und stellvertretender Vorsitzender der IPPNW Deutschland. Kontakt: kraemer. ak-sn@ippnw.de
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Libyen: Krieg für Menschenrechte? – Der Krieg in Libyen hat viele Menschenrechtsund Friedensfreunde in ein Dilemma gestürzt.
uf immer mehr Schreckensmeldungen folgten immer mehr Rufe nach Schutz der Zivilbevölkerung und Hilfe für die Aufständischen. Sind diese nicht Teil der pan-arabischen Aufstandsbewegung? Ja, auch in Libyen gibt es eine Emanzipations- und Demokratiebewegung. Aber auch wichtige Unterschiede. Auffällig z.B. wie gut organisiert und bewaffnet die Opposition dort von Anfang an war. Und das Bomben wurde begonnen, ohne uns die Rebellen und ihre Ziele vorzustellen. Z.B. Mahmud Dschibril, Chef des „Übergangsrates“. Oder sein Superminister Ali Tarhuni, libyschstämmiger US-Wirtschaftsprofessor: seit 2011 in Bengasi, um Libyen für die Marktwirtschaft zu öffnen ... Apropos: Worum geht der Konflikt? Primär um Partizipation, Bürgerrechte und Weltoffenheit, gegen Autokratie, Willkür und Nepotismus. Bei denen, die dafür Flugzeugträger, Bomber und Raketen sowie Milliarden Dollar einsetzen, dürften freilich eigene Interessen dominieren: Z. B. Libyens Ölreichtum. Bisher kaum erwähnt indes der im Vergleich mit seinen Nachbarn riesige Wasservorrat. Und die großen NATO-Basen, die Dschibril-Obama-Sarkozys Sieg wohl nach Nordafrika bringen wird. Zu den Menschenrechten: Die UN-Resolution 1973 wurde explizit dazu beschlossen, die Flugverbotszone durchzusetzen und die Zivilbevölkerung zu schützen. Benutzt wird sie aber zur Eskalation des Bürgerkriegs und zum „Regime Change“: Obama hat alle Waffenstillstandsangebote Gaddafis abgelehnt – erst müsse er zurücktreten und das Land verlassen. Zum Flugverbot, mit dem die westlichen Medien wochenlang den Luftkrieg rechtfertigten: Es war praktisch vom ersten Tag an durchgesetzt (ein vom Westen abgeschossenes Flugzeug gehörte den Rebellen). Die Zahl der Flüchtlinge, zu Beginn der Intervention mit ~300.000 angegeben, hat sich nach über 3.000 Bomber- und Raketenangriffen in 10 Wochen nicht verringert, sondern auf über 1 Million mehr als verdreifacht … Mein Fazit: Waffenstillstand sofort! Krieg schafft weder Frieden noch Menschenrechte! Weiterführende Informationen unter: http://ippnw.blogspot. com/2011/06/libyen-krieg-fur-menschenrechte.html 5
N achrichten
Abschied von Juliano Mer-Khamis
Poesie ohne Uranstaub – BürgerInnen fördern Literaturfest
Tod im Mittelmeer
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er israelische Schauspieler und Friedensaktivist Juliano Mer-Khamis wurde am 4. April in Jenin ermordet. Sein Tod hat bei Friedens-, Menschenrechtsund Solidaritätsgruppen große Trauer ausgelöst. Mer-Khamis hatte dazu beigetragen, dass palästinensische Jugendliche im Flüchtlingslager Jenin nach den gewaltigen Zerstörungen durch die israelische Besatzungsarmee 2002 wieder Mut fassten. Der 53-jährige Sohn eines palästinensischen Vaters und einer jüdischen Mutter gründete dort vor fünf Jahren das „Freiheitstheater“ mit einer Schauspielschule, einem Filmworkshop sowie einem Kulturzentrum. Auch in Deutschland – wo Mer-Khamis ein anerkannter Künstler und geschätzter Gesprächspartner war – tourte das „Freiheitstheater“ und war vielen Organisationen und Gruppen der Szene bekannt. Die tödlichen Schüsse auf Mer-Khamis gaben unbekannte, maskierte Männer ab. Angeblich hatte es schon länger Morddrohungen gegeben. Die Kooperation für den Frieden (KoPI) sowie der Deutsche Koordinationskreis Palästina forderten mit Nachdruck eine Aufklärung des Verbrechens. Freiheit ist im „Freiheitstheater“ der Leitgedanke. Neben Freiheit von Besatzung geht es auch um Freiheit von sonstigen Zwängen. Es ist eine allgemeine Herausforderung, die Hoffnung für eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit für alle Palästinenser und Israelis, nicht aufzugeben.
m letzten Augustwochenende trifft man auf dem Erlanger Poetenfest neben literarischen Newcomern auch die Crème de la Crème des Literaturbetriebs. Die Eröffnung des Bücherherbstes im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse lässt sich keiner entgehen. Auch Areva nicht. Der französische Atomkonzern, der in Erlangen ca. 3.500 Mitarbeiter beschäftigt, tritt seit einigen Jahren als Hauptsponsor des Poetenfestes auf. Ein Griff in die Konzern-Portokasse genügt, um auf Flyern, Programmheften und der Internetseite das Areva-Logo zu platzieren. Gerade mal 15.000 Euro reichen aus, um die Seele der Poesie mit Uranstaub und gelbem Tod zu beflecken? Kaum zu glauben. Doch auch das Poetenfest wird erwachsen. In seinem 30. Jahr macht sich eine „Bürgerinitiative“ daran, das Poetenfest von seinen „Jugendsünden“ zu befreien und der Stadt Erlangen ein hoch moralisches Angebot zu unterbreiten: Ab 2012 über drei Jahre hinweg wollen Bürgerinnen und Bürger das Poetenfest jährlich mit 20.000 Euro unterstützen. Dafür bleibt die Kunst frei von atomaren Belastungen und anderen Hässlichkeiten. Im Herbst 2011 soll der Stadt das Sponsoring-Angebot unterbreitet werden. Damit es gelingt, schmutziges Geld nicht mehr durch Kultursponsoring reinwaschen zu lassen, braucht es nicht mehr als 400 BürgerInnen, die sich verpflichten über drei Jahre eine Summe zwischen 20 und 200 Euro zu spenden. 400 bis Oktober! Helfen Sie mit: www.erlanger-poetenfest-atomfrei.de
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achdem 72 afrikanische Bootsflüchtlinge im März 16 Tage ohne Treibstoff auf dem Meer trieben, sind 63 von ihnen an Hunger und Durst gestorben. Zwei französische Düsenjäger hatten das Boot in niedriger Höhe überflogen, sorgten aber nicht für Hilfe. Das Drama wurde von den westlichen Medien weitestgehend ignoriert. Im Mai sank vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsschiff. 600 Menschen ertranken. Am 1. Juni kamen wieder über 150 Bootsflüchtlinge ums Leben. Obwohl alle Möglichkeiten bestehen, Bootsflüchtlinge zu retten, werden die Menschen auf dem Meer häufig gnadenlos ihrem Schicksal überlassen. Nach Angaben der Organisation „Pro Asyl“ sind seit Anfang des Jahres über 1.600 Schutzsuchende im Mittelmeer gestorben. Flüchtlinge, die die gefährlichen Überfahrten überleben, sitzen danach oft ohne Lebensperspektive in Flüchtlingslagern fest. Für über 11.000 Flüchtlinge sucht die UNHCR derzeit händeringend ein Aufnahmeland. Meist vergeblich: Statt den Flüchtlingen zu helfen, schottet sich Europa ab. Deutschland hatte Malta aus humanitären Gründen die Übernahme von 100 nordafrikanischen Flüchtlingen angeboten, die sich auf der Insel aufhalten. Angesichts der oben genannten Zahlen ein Hohn und nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Unterstützen Sie mit Ihrer E-Mail den Appell der Organisation „Pro Asyl“ an den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman von Rompuy: www.proasyl.de/?id=1568
N achrichten
Stoppt die Gewalt gegen Ärzte und Patienten in Bahrain
Super-GAU-Risiko für weitere elf Jahre
Ein Meilenstein: Costa Rica verbietet Uranmunition
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ie Organisation Physicians for Human Rights (PHR) ruft die Regierung von Bahrain auf, ihre systematischen Attacken gegen Ärzte, medizinisches Personal und Patienten zu stoppen. Im Inselstaat Bahrain im Persischen Golf gingen im Februar und März dieses Jahres Tausende Menschen auf die Straße, um für Demokratie und Regierungsreformen zu demonstrieren. Die Antwort der Regierung war brutale Gewalt: Unbewaffnete Demonstranten wurden aus nächster Nähe beschossen, verhaftet und gefoltert. Ärzte, die verwundete Zivilisten versorgen und somit Details über die Art der Verletzungen sowie Zahl der Verwundeten und Toten mitbekamen, wurden für die Regierung selbst zu unbequemen Zeugen ihrer Gräueltaten. In ihrem Report beschreibt die PHR eklatante Menschenrechtsverletzungen seitens der Regierung. Ihre Ermittler untersuchten Betroffene und sprachen mit Zeugen, die von Entführungen, Festnahmen, Morddrohungen und Folter durch Sicherheitskräfte berichteten. Die Untersuchung ergab auch, dass die Regierung von Bahrain systematisch gegen Ärzte, medizinisches Personal und Patienten vorging. Krankenwagen wurden attackiert, Mediziner davon abgehalten Verletzte zu versorgen, Gesundheitseinrichtungen blockiert, Krankenakten vernichtet. Ärzte wurden mitten in der Nacht aus ihren Häusern entführt – viele von ihnen werden immer noch vermisst. Mehr Informationen unter: physiciansforhumanrights.org
ie IPPNW hält den Beschluss der Regierungskoalition, die Bevölkerung weitere elf Jahre der Gefahr eines SuperGAU im dicht besiedelten Deutschland auszusetzen, für verantwortungslos. „Bei einer ernst zu nehmenden Sicherheitsüberprüfung wären gerade auch die zuletzt in Deutschland errichteten Konvoianlagen durchgefallen“, so IPPNWAtomenergieexperte Henrik Paulitz. Die Bundesregierung will ausgerechnet die Atommeiler am längsten weiterbetreiben, denen die Gutachterorganisation der Bundesatomaufsicht bescheinigt hat, dass die Notfallmaßnahmen bei Störfällen durch Kühlmittelverlust nicht funktionieren. Nach den Plänen der Bundesregierung sollen neun Atommeiler noch weiterbetrieben werden. Es handelt sich dabei um die beiden Siedewasserreaktoren der Baulinie 72 (Gundremmingen B/C), die vier Vorkonvoi-Anlagen (Brokdorf, Grafenrheinfeld, Grohnde, Philippsburg-2), und die drei Konvoianlagen (Isar-2, Emsland, Neckarwestheim-2). Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) hat in gutachterlichen Stellungnahmen und in ihrer Risikostudie für die Konvoianlagen gravierende Sicherheitslücken festgestellt. Das betrifft die Störfallbeherrschung, die Notfallmaßnahmen als auch die Kernschmelzfestigkeit. Die IPPNW kritisiert zudem den Beschluss zur drastischen Kürzung der Solarförderung. Medienberichten zufolge sollen die Vergütungssätze für die Photovoltaik noch stärker abgesenkt werden als von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) ohnehin schon geplant war. 7
m 27. April 2011 hat der Kongress in Costa Rica ein Gesetz verabschiedet, das die Verwendung von Uranmunition auf ihrem Territorium verbietet, Handel, Transit, Produktion, Vertrieb und Lagerung eingeschlossen. Damit ist Costa Rica nach Belgien das zweite Land weltweit, das ein Verbot dieser Munition durchgesetzt hat. Abgereichertes Uran (engl. Depleted Uranium - DU), ein Abfallprodukt, das bei der Anreicherung von Kernbrennstoff und Uran für Atombomben entsteht, wird zur Herstellung von panzer- und bunkerbrechender Munition verwendet, da es aufgrund seiner hohen Dichte eine größere Durchschlagskraft als konventionelle Munition entfaltet. Beim Einsatz entsteht toxischer Feinstaub, der durch Wind verbreitet, immer wieder aufgewirbelt und durch Inhalation, Nahrungsaufnahme und über die Haut in den Körper gelangt. Studien zeigen, dass inkorporiertes DU eine Vielzahl von ernsthaften Gesundheitsschäden verursacht. Da Uranmunition somit auch die Zivilbevölkerung langfristigen Risiken aussetzt, verstößt ihr Gebrauch gegen die Prinzipien internationaler Menschenrechte. Kampagnen gegen Minen und Cluster-Munition haben gezeigt, dass die Gesetzgebung einzelner Länder normativen Effekt auf die Wahrnehmung umstrittener Waffen haben kann. Es ist zu hoffen, dass das Verbot in Costa Rica die aktuellen Anstrengungen für einen internationalen Vertrag zum Verbot von Uranmunition vorantreiben wird. www.bandepleteduranium.org
ATOMENERGIE
Helen Caldicott
Strahlenerkrankungen nehmen erschreckende Ausmaße an IPPNW-Kongress „25 Jahre Tschernobyl“ drüsenkrebs bei Kindern, einer Krebsart, die vorher bei Kindern äußerst selten war. Auch weitere Krebskrankheiten, kindliche Leukämie, Brustkrebs, Magen- und Darmkrebs sowie Tumore des Zentralnervensystems treten signifikant, oft um ein Mehrfaches häufiger und viel früher auf, als vor Tschernobyl. In der Ukraine und in Weißrussland haben Herz-Kreislaufkrankheiten noch massiver zugenommen als Krebserkrankungen, außerdem Schädigungen des Zentralnervensystems, z.T. mit der Folge verminderter Intelligenz oder psychiatrischer Störungen. Als Ursache werden u.a. strahleninduzierte Durchblutungs- und Gefäßveränderungen diskutiert.
Wir Ärzte müssen informieren, denn nur informierte Menschen können verantwortungsvoll handeln!“ – dazu forderte die australische Ärztin Helen Caldicott, die für ihr langjähriges Anti-Atom-Engagement mit dem Nuclear Free Future Award geehrt wurde, die mehr als 600 TeilnehmerInnen des IPPNW-Kongresses „25 Jahre Tschernobyl“ auf. Schon die Kongress-Eröffnung war sehr bewegend: Katsumi Furitsu, eine japanische IPPNW-Ärztin, die seit über 20 Jahren regelmäßig nach Tschernobyl fährt, um der dortigen Bevölkerung zu helfen, trat ans Mikrofon, rang fassungslos nach Worten und sagte dann weinend, dass sie aus ihrer Erfahrung mit Tschernobyl wisse, wie viel Leid auf ihre Landsleute noch zukomme. Sie mache sich bittere Vorwürfe, dass sie und ihre Kollegen nicht aktiver gewarnt und so die furchtbare Katastrophe von Fukushima verhindert hätten.
Die von der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP angenommene Schwellendosis für teratogene Schäden wird durch zahlreiche Untersuchungen widerlegt: Obwohl der überwiegende Anteil genetischer Veränderungen erst noch Generationen später auftreten wird, sind in belasteten Gebieten eine Zunahme an Frühaborten und bereits ab Ende 1986 ein deutlicher Rückgang an Lebendgeborenen und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit, eine deutliche Erhöhung von teilweise schweren Fehlbildungen, aber auch Chromosomenanomalien nachweisbar.
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issenschaftler aus den am stärksten vom TschernobylFallout betroffenen Ländern Weißrussland, Russland und der Ukraine sowie aus Europa sprachen über aufrüttelnde Untersuchungsergebnisse. Die IPPNW und die Gesellschaft für Strahlenschutz haben diese Erkenntnisse in der aktualisierten Studie „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl“ zusammengefasst, die pünktlich zum Kongress erschien. Von den 600.000 bis eine Million Liquidatoren, die als junge Männer in Tschernobyl eingesetzt waren, sind inzwischen mindestens 50.000 – 125.000 verstorben. Über 90% leiden an mehreren verschiedenen Krankheiten, insbesondere auch des Herz-Kreislaufsystems, an Krebserkrankungen der Atemwege, der Lunge, des MagenDarmtrakts sowie an Leukämie. Viele sind invalidisiert und haben Symptome einer um 10 – 15 Jahre vorzeitigen strahleninduzierten Alterung.
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ie vielen erschütternden Berichte auf dem Kongress wurden aushaltbar durch Beiträge, die Hoffnung machten, so z.B. Informationen über die Möglichkeiten alternativer und dezentraler Energieversorgung. Wir alle können etwas tun; den Stromanbieter wechseln, im Kleinen Wärmedämmung und Energiesparmaßnahmen durchführen und vor allem: Informieren! Gerade Ärzte, die täglich konfrontiert sind mit schlimmen menschlichen Schicksalen, sollten präventiv tätig werden und aufklären! * Der Bericht wurde stark gekürzt. Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel ist aktiv in der Kieler IPPNW-Gruppe.
Bekannt, aber kaum in vollem Umfang bewusst, ist die Zunahme von – äußerst aggressivem, schnell metastasierendem – Schild8
ATOMENERGIE
Dr. Margaret Chan
Von Neckarwestheim nach Genf Ein Reisebericht von Dörte Siedentopf
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kam, bestritt die Kollegin Neira vehement, dass dieser Vertrag die WHO in irgendeiner Weise einschränke. Angesprochen auf die Veröffentlichungen der „New York Academy of Science“ von wissenschaftlichen Arbeiten aus Russland, der Ukraine und Belarus, meinte sie, es handele sich dabei nicht um von der WHO „designed studies“, weswegen die Ergebnisse auch nicht von der WHO vertreten würden. Dennoch stimmte sie zu, dass Millionen von Menschen durch die Katastrophe von Tschernobyl betroffen seien und dass Tschernobyl noch nicht zu Ende sei.
uf der A6 nach Stuttgart sieht man hinter Heilbronn einen großen Kühlturm – der gehört zu einem Kohlekraftwerk und nicht zum AKW Neckarwestheim. Das liegt stromaufwärts und ist schwer zu finden, denn an der Autobahn gibt es keinen Hinweis, weder nach Neckarwestheim noch nach Kirchheim. Ich bin zu weit gefahren und orientiere mich auf einem Parkplatz. Es ist die Ausfahrt 12. In einer hügeligen, idyllischen Weinberglandschaft liegt das AKW zu Füßen des gleichnamigen Dorfes mit seinen zwei kugeligen Reaktoren, von denen einer zurzeit abgestellt ist. Vor dem Verwaltungsgebäude auf einem großen Parkplatz stehen der Lautsprecherwagen und Stände der Initiativen und man schaut hinunter nach Kirchheim, wo am Bahnhof die Protestierer ankommen. 8.000 Menschen wandern die 3 km lange Straße über den Neckar nach oben, ein bunter Zug mit vielen jungen Familien, Fahnen und Transparente schwenkend. Um 14 Uhr spricht Henrik Paulitz seine häufig durch Beifall unterbrochene Rede, eine Schweizer Band macht Musik und Lena aus Minsk und Jan aus Rottweil vertreten in ihren Redebeiträgen engagiert eine junge Generation, die mit Tschernobyl und den Folgen der Niedrigstrahlung leben muss. Beide nehme ich im Auto mit nach Zürich, wo wir den Bus mit den 25 Reisenden aus Minsk, zusammen mit Deutschen, Österreicher und Schweizer Freunden der Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ treffen, die sich am nächsten Morgen gemeinsam auf den Weg nach Genf machen. Burkhard Homeyer, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl“, hatte im Vorfeld einen Gesprächstermin bei der WHO erbeten und erhalten. Ich zitiere aus seinem Rundbrief:
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ie Bitte, empfangen zu werden, hatte Burkhard Homeyer an Dr. Margaret Chan gerichtet, Generaldirektorin der WHO. Mittlerweile scheint sich in der WHO etwas zu bewegen: Am 5. Mai 2011 berichtet Andreas Zumach in der taz von einem ersten Treffen der „Initiative für eine unabhängige WHO“ mit Dr. Chan, in dem sie erklärt, dass es keine ungefährlichen Niedrigwerte der radioaktiven Strahlung gäbe. Margaret Chan bezog sich dabei auf radioaktive Partikel, wie Jod 131, Strontium 90 und Cäsium 137, die über die Nahrungskette, Wasser oder Atemluft in den Organismus gelangen. Von den bisherigen Aussagen der WHO, vorgegeben von der IAEO, distanzierte sich Chan laut taz. „Ich persönlich glaube nicht, dass der Nuklearunfall von Tschernobyl nur 50 Todesopfer gefordert hat.“ 25 Jahre nach Tschernobyl können wir nun erstmals darauf hoffen, dass die WHO wahrheitsgemäß informieren wird, und sich nicht der IAEO, sondern der Gesundheit der Menschen verpflichtet fühlt.
„Zweifellos bildeten ... der Empfang in der UNO und das Gespräch mit Alessandra Vellucci, Leiterin der Presseabteilung der UN und Dr. Maria Neira, Direktorin des Department „Gesundheit und Umwelt“ bei der WHO einen Höhepunkt der Friedensfahrt von Minsk nach Genf zum 25. Jahrestag der Tschernobylkatastrophe.“ Die IPPNW hatte diese Fahrt finanziell unterstützt. Als der „Knebelvertrag“ zwischen IAEO und WHO zur Sprache
Dörte Siedentopf ist Vorsitzende des Freundeskreis Kostjukovitschi e.V.. 9
ATOMENERGIE
Tschernobyl: Wie viele Menschen sind ums Leben gekommen?
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Dr. Alexey Yablokov (Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau) Sie besteht darin, die Daten des Gesundheitszustands der Bevölkerung aus den radioaktiv hoch kontaminierten Gebieten mit den Daten des Gesundheitszustands der Bevölkerung aus den nicht kontaminierten Gebieten zu vergleichen. Die grundlegenden Quelldaten bestehen aus Messungen der radioaktiven Kontamination eines Gebiets und der Erkrankungshäufigkeit sowie der Sterblichkeitsrate in diesem Gebiet. Auf diese Weise kann das gesamte Niveau der zusätzlichen „Tschernobyl“-Sterblichkeitsrate im Zeitraum der ersten 25 Jahre nach der Katastrophe abgeschätzt werden: 1.444.000 Opfer.
as Komitee für die wissenschaftliche Untersuchung der Folgen radioaktiver Strahlung der Vereinten Nationen erklärte Ende Februar 2011: „Das Komitee hat entschieden, die Auswirkungen von Niedrigstrahlung des Tschernobylunfalls auf die Bevölkerung nicht auf der Basis von Modellen in absoluten Zahlen hochzurechnen, weil diese Vorhersagen mit inakzeptablen Unzuverlässigkeiten behaftet sind.“ (UNSCEAR, 2011; 98, S.18).
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iese „Unzuverlässigkeiten“ hängen sowohl mit den methodischen Fehlern des offiziell anerkannten Systems zur Bestimmung des Strahlungsrisikos als auch mit der Unterbewertung der Auswirkungen der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki zusammen.
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och zeigt auch diese Zahl die gesamte „Tschernobyl“Sterblichkeit nicht vollständig. Denn es ist bekannt, dass die Katastrophe zu einer sprunghaften Steigerung der vorgeburtlichen Sterblichkeit geführt hat. Im Zeitraum 1987-88 lässt sich eine genau dokumentierte Steigerung der Säuglingssterblichkeit in den radioaktiv kontaminierten Gebieten der Ukraine, Russlands und Deutschlands feststellen.
Der methodische Fehler des epidemiologischen Ansatzes zur Bestimmung der Zahl der Opfer auf Basis der Berechnung des Strahlungsrisikos besteht darin, dass die Einschätzung der Opferzahl auf dem Vergleich der relativ genau dokumentierten Sterblichkeits- und Erkrankungsraten basiert, während der Umfang der radioaktiven Belastung nicht genau bestimmt werden kann. Außerdem ist dieser Ansatz zur Bestimmung der Zahl der Opfer nicht in der Lage, die Folgen der niedrigen Strahlungsdosis genau zu erfassen. „Die momentan verfügbaren epidemiologischen Daten bieten keine Grundlage dafür, mit hinreichender Sicherheit die auf radioaktive Belastung zurückzuführende Morbidität und Mortalität bei Testgruppen aus der Bevölkerung der drei Republiken und anderer europäischer Staaten zu prognostizieren, die mit einer durchschnittlichen Dosis von weniger als 30 mSv in den letzten 20 Jahren belastet wurden. Jeglicher Anstieg [der Morbidität und Mortalität innerhalb dieser Gruppen] läge unterhalb der Schwelle wissenschaftlicher Messbarkeit.“ (UNSCEAR, 2011, (97), S. 18).
Bei der Situationsanalyse der Sterblichkeit in den durch Tschernobyl-Radionuklide auf einem Niveau von ≥ 40 kBq/m² kontaminierten Gebieten in Russland, Weißrussland und der Ukraine hat man herausgefunden, dass die Gesamtsterblichkeitsrate hier um ca. 4% höher ist als in den relativ „sauberen“ Nachbargebieten. In den übrigen, riesigen Abschnitten der nördlichen Hemisphäre, die vom Fallout Tschernobyls schwächer betroffen waren, ist die Zahl der zusätzlichen Sterblichkeit zweifellos niedriger, aber angesichts der großen Menge der betroffenen Menschen dennoch wesentlich. Unter Berücksichtigung auch der vorgeburtlichen Todesfälle ergeben sich für die letzten 25 Jahre ca. 1.600.000 Tschernobyltote. Das bestätigt die bekannte Aussage: Der Tschernobylunfall ist die größte technologische Katastrophe der Menschheitsgeschichte.
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ie Streubreite der auf der „Dosis“-Risiko-Betrachtung basierenden Prognosen ist mehr als 400-mal höher als die übliche wissenschaftliche Uneinigkeit. Man kann also mit UNSCEAR übereinstimmen, dass eine Prognose der Gesamtopferzahl nicht funktioniert, allerdings mit einer Einschränkung: Sie funktioniert nur dann nicht, wenn die traditionelle „Dosis“-Risiko-Betrachtung angewendet wird.
Dr. Alexey Yablokov ist promovierter Biologe und der unangefochtene Nestor der russischen Umweltbewegung. Er ist Gründer und Präsident des Zentrums für Russische Umweltpolitik.
Bei der Einschätzung der gesamten Zahl der Opfer ist eine andere Methode (die sogenannte „Balance“-Methode) zuverlässiger. 10
Flashmob am 9. April 2011 anlässlich des Tschernobyl-Kongress
Einige Prognosen der zusätzlichen, durch „Tschernobyl“ verursachten Sterblichkeit durch Krebserkrankungen, die mit dem epidemiologischen Ansatz („Dosis“-Methode) gemacht wurden. Opferzahl
Autor
Bemerkungen
4.000
IAEA/WHO, Pressemitteilung zum Vortrag „Tschernobyl Forum“, 2005
90 Jahre. Weißrussland, Ukraine, europäischer Teil von Russland
8.930
„Tschernobyl Forum“, 2005
90 Jahre. Weißrussland, Ukraine, europäischer Teil von Russland
17.400
Anspaugh et al., 1988
Ganze Welt, für 50 Jahre
30.000
Goldman, 1987
Ganze Welt, für 50 Jahre
18.000 (8.000 – 32.000)
Cardis et al., 2006
Europa, 1986 – 2065. Ohne Schilddrüsenkrebs
30.000 – 60.000
Fairlie, Sumner, 2006
Ganze Welt. Über den gesamten Zeitraum.
117.000 (37.000 -181.000)
Malko, 2010
Ganze Welt. Im Zeitraum 1986 – 2056.
317.000 – 475.000 (495.000 mit Leukämie)
Hofman, 1994
Ganze Welt. Über den gesamten Zeitraum. Nur Radiocäsium.
899.000 – 1.786.000
Bertell, 2006
Ganze Welt. Über den gesamten Zeitraum. Nur Radionuklide.
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Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl Eine ausführliche Darstellung finden Sie in der Studie „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl“.
Herausgegeber: IPPNW und Gesellschaft für Strahlenschutz, April 2011, 88 Seiten DIN A4. Bestellnummer: 320 Preis (inkl. 7.00% USt): 7,00 €
ATOMENERGIE
Das Fließband der Leiden Auszug eines Vortrages von Valentina Smolnikowa (Kinderärztin aus Buda-Koscheljowo, Weißrussland)
„Es ist schwer, sich zu erinnern und über die Ereignisse aus der 25-jährigen Vergangenheit zu erzählen. Aber es gibt Momente, die Du nie vergessen kannst.“
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ATOMENERGIE
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blauen Augen, mit einem Lächeln zur Begrüßung, war er schüchtern, hatte aber viele Freunde. Das Lernen in der Schule fiel ihm schwer. Die Freuden der Jugend konnte er nicht mehr kennenlernen. Im Alter von 20 Jahren entwickelte sich nach einer Grippe eine schwere Lungenentzündung und die Nieren erwiesen sich als überfordert. Es folgten zwei Jahre schmerzerfülltes Leben mit der Hämodialyse (3 Mal pro Woche in Gomel). Im Alter von 22 Jahren, am 12. November 2009, starb er.
86 wurden 1.082 Menschen aus den Kreisen Bragin, Choiniki und anderen betroffenen Gebieten umgesiedelt. In das Dorf Buda-Ljuschevo kamen Menschen, die in der 20-KilometerZone von Tschernobyl lebten. Sie waren unterschiedlich hohen Strahlendosen ausgesetzt.
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m Juni 1987 kamen zwei junge zwanzigjährige Frauen in die Entbindungsstation, die aus Sperizhe, innerhalb der 20-km-Zone, umgesiedelt worden waren: Alla und Olga.
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as Mädchen mit der geschlossenen RückenmarkDiskushernie wurde in den neurochirurgischen Kliniken des Gomeler Gebietes und in Minsk untersucht. Eine chirurgische Behandlung erfolgte nicht. Sie wuchs zu einer Schönheit heran. Sie absolvierte in häuslichem Studium die Schule. Sie kann nicht laufen, bewegt sich in einem Rollstuhl. Seit Geburt ist die Funktion der Beckenorgane gestört. Das Mädchen hat Talent zum Zeichnen, Nähen, Sticken. In der letzten Zeit hat sie gelernt, den Computer zu nutzen.
Alla gebar nach neun Monaten Schwangerschaft einen Jungen mit beidseitigen Klumpfüßen (IV Stufe) und mit Veränderungen am Herzen. Von Olga wird ein schönes dunkelhaariges Mädchen geboren. Es hatte eine tumorähnliche Formation im Kreuzbereich von der Größe eines Eies. Auf die Beine konnte es sich nicht stellen, ein verdeckter Bandscheibenvorfall, wie man der Mutter sagte. Die Mutter hatte von der Geburt ihres ersten Kindes geträumt. Sie hatte den Stress von Tschernobyl und die Umsiedlung überlebt, um nun die Nachricht verwinden zu müssen, dass dieses Kind als Invalide geboren wurde. Ich nahm alle Kraft zusammen und ging zur Mutter, zeigte ihr das Kind und bemühte mich, beruhigend und sanft zu fragen, ob sie vielleicht das Kind in ein Heim für Behinderte abgeben wolle. Die Mutter weinte und legte das Kind an die Brust. Das Kind begann an der Brust zu saugen und die Mutter drückte das Kind noch näher an sich heran.
Heute spreche ich nur von ein paar Kindern. Wie viele Kinder gingen durch das schreckliche Fließband der Leiden von Tschernobyl? Wie viele neue Opfer nahm Tschernobyl in all diesen 25 Jahren? Es ist kein Ende zu sehen. Nach 25 Jahren bleibt das Gebiet extrem kontaminiert. Praktisch alle Menschen leben unter Bedingungen der externen und der internen Strahlenexposition durch die Verwendung der auf diesem Boden gewachsenen landwirtschaftlichen Produkte.
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n der folgenden Zeit wurden viele Kinder mit Missbildungen und Krankheiten geboren: mit Amputationsstümpfen der Glieder, mit fehlenden oder zusammengewachsenen Fingern, mit Hydrocephalus (Hirnödemen), mit Spalten des harten oder weichen Gaumens, der Lippen, mit Blindheit, Zerebralparese, mit Rückenmark-Hernien und mit angeborenen Herzfehlern. Aber von nicht einem einzigen Kind haben sich die Mütter getrennt. Tschernobyl hat den Kindern die Freude der Kindheit, das Glück der Jugend geraubt, hat das Leben der Eltern und der anderen Nahestehenden erschwert. Herausgebildet hat sich aber die große Herzensgüte der Menschen, vor allem der Mütter.
Es ist eine Zunahme aller Arten von Erkrankungen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen festzustellen. In der Epoche vor Tschernobyl waren 78 – 80% der Jungen zum Wehrdienst tauglich. Bei der Einberufung im Herbst 2010 wurden von 358 Wehrpflichtigen nur 139 Personen (38,8%) einberufen. Unter diesen jungen Männern haben noch einmal 34,6% einen Grad der Beschränkung für den Dienst.
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Die Sterblichkeit wächst weiter, wohingegen die Geburtenzahl sinkt. Erwartet wird ein drastischer Rückgang bei der Zahl potenzieller Eltern, 14 – 15% der jungen Paare sind unfruchtbar.
ie Schicksale der beiden Kinder haben sich unterschiedlich entwickelt. Der Junge mit dem Klumpfuß musste sofort nach der Entlassung aus der Geburtsstation des Krankenhauses Gipsstiefelchen tragen und sie regelmäßig wechseln, wodurch der Grad der Verformung der Fußknochen verringert wurde. Als er heranwuchs, hat er eine Serie schwerer Operationen unter Vollnarkose, Gips und Krankenhausaufenthalte erduldet. Er konnte nicht wie andere Kinder laufen, seine Beine waren nicht sehr folgsam und das Herz erlaubte keine hohen Belastungen. Zur Schule ging er ab dem 7. Lebensjahr. Er blieb von kleinem Wuchs, kränkelte oft. Er trug immer orthopädische Schuhe. Blond mit großen
it großem Schmerz im Herzen nahmen wir die Nachricht von den tragischen Ereignissen in Japan, in Fukushima, auf. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass im Herzen des wunderschönen dicht bevölkerten Japan eine „Zone der Entfremdung und Aussiedlung“ entsteht. Es ist die Hilfe der ganzen Menschheit nötig, um die Folgen zu minimieren. Wie viel Geld wird benötigt, wie viele Menschenleben gingen verloren? Und die Verluste werden zunehmen. Kann man nach all dem über die Zulässigkeit und Attraktivität der „friedlichen“ Kernenergie sprechen?
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AtOMENErgIE
Sonnenspiegel für den Ausstieg Rückblickend und vorausschauend: Wieder ehrte der „Nuclear-Free Future Award“ Vorbilder für eine atomfreie Zukunft
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ochende Elektronik, wütende Poesie – die Bühne der Urania in Berlin erinnerte am Samstag und Sonntag nicht an einen Ärztekongress. Die beiden indigenen Sänger Matthew Iserhof und Pakesso Mukash – bekannt als Gruppe „CerAmony“ – waren aus dem Land der Cree im Norden von Quebec gekommen, wo sie gerade Kanadas höchste Musikauszeichnung, den Juno-Award, in der Kategorie „Aboriginal Album of the Year“ erhalten hatten. In ihrer Heimat kämpfen sie gegen den geplanten Uranabbau und waren beim TschernobylKongress auch in zwei Workshops tätig. Die finnische Ärztin Vappu Taipale, Präsidentin von IPPNW International und Alexey Yablokov, Russlands prominenter Umweltminister a. D. und Preisträger des NuclearFree Future Award 2002, eröffneten die Matinee. Moderator war Claus Biegert.
Die Preisträger (je 10.000 Dollar): Kategorie WIDERSTAND: Nadezhda Lvovna Kutepova und Natalia Manzurova (Laudatio: Mark Dubrulle, Club of Rome) Nadezhda, die Juristin, hat mit der Organisation „Hoffnungsplanet“ ein Parlament der Betroffenen gegründet und damit die Mauer des Schweigens um den Unfall in der geheimen Atomwaffenfabrik Majak (1957) für immer durchbrochen. An ihrer Seite ist die Radiologin Natalia, eine der wenigen Liquidatorinnen von Tschernobyl, die noch am Leben sind. Beide Frauen kämpfen heute gegen den Export von deutschem Atommüll nach Majak. Sie sind Boten der Hoffnung und treten auf wie Kriegerinnen eines fremden Planeten.
Kategorie AUFKLÄRUNG: Angelica Fell und Barbara Dickmann (Laudatio: Monika Griefahn, Ministerin a. D.). Als Reporterinnen des ZDF recherchierten sie in Geesthacht, wo das AKW Krümmel steht und das Gerücht ging, dass Kinder in der Nähe des AKW schneller an Leukämie erkranken als anderswo. Sie gingen der Sache nach und konnten zeigen, dass es kein Gerücht war. Angelica Fell wird für ihre bohrende Hartnäckigkeit bei der Recherche in der Redaktion „Trüffelschwein“ genannt. Zwei Journalistinnen, die Selbstverständliches tun und damit außergewöhnlich sind. Kategorie LÖSUNGEN: Hans Grassmann (Laudatio: Fioralba Ajazi). Es gibt Wissenschaftler, die haben den Mut, oben auf der Karriereleiter laut zu sagen, dass sie in einer Sackgasse gelandet sind, und die dann umkehren. Der Physiker Hans Grassmann war bei CERN in Grenoble und im Fermilab in Chicago, er entdeckte das Topquark und – verabschiedete sich. Heute entwickelt er Linearspiegel, um den Ausstieg aus der Atomkraft zu erleichtern. Grassmanns Linearspiegel bündeln Sonnenstrahlen und können ein Haus mühelos beheizen. „Sie entlasten die Erde, und sie sind erschwinglich“, sagt er.
Die Ehrenpreise für das Lebenswerk: Heinz Stockinger (Laudatio: Mathilda Halla, Preisträgerin des Nuclear-Free Future Award 2005), Hochschullehrer für Französisch und Frankreichkunde, gehört in seiner Heimat Österreich zum Rück-
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grat der Anti-Atom-Bewegung und als zuverlässiger Frontkämpfer, der auch vor Papierkrieg nicht zurückschreckt (jedes Blatt wird doppelt benutzt). 1977 reihte er sich ein in den landesweiten Widerstand gegen das geplante AKW Zwentendorf, gründete die „Überparteiliche Salzburger Plattform gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf“, 1989 – nach dem Aus für die WAA – umbenannt in „Plattform gegen Atomgefahren“, kurz PLAGE. 2007 initiierte er die Konferenz „Updating International Nuclear Law“, die international Beachtung fand. Derzeit gilt seine ganze Energie dem Euratom-Vertrag, der einem atomfreien Europa im Wege steht. Helen Caldicott (Laudatio: Xanthe Hall, IPPNW Deutschland). Im Jahr 1971 alarmierte die junge Ärztin Helen Caldicott Australiens Presse: Die Franzosen führten – auch acht Jahre nach einem weltweiten Verbot – Atomwaffentests im Pazifik durch; Fall-out inklusive. Nach Beendigung der Tests wollte sie sich ihren Kindern und ihrer neu gegründeten MukoviscidoseKlinik widmen. Aber der nächste Vergifter lauerte schon: Uranabbau. „Als Mutter von drei Kindern konnte ich gar nicht anders“, sagte sie und schrieb als griffiges Werkzeug für ihre Kampagnen das Buch „Atomarer Wahnsinn“, ein Weckruf zum Widerstand – heute ein Klassiker. Helen gehörte zu den Gründern von IPPNW und ist heute eine Stimme, die weltweit nachhalt. Weltweit hat sie deshalb ihre Freunde und Feinde. Claus Biegert
FRIEden
Die Türkei vor den Wahlen
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Reformsignale Richtung Europa – Repression und Demütigung gegen Kurden und Minderheiten tät aber vernichtet sie durch die fahrlässige Öffnung der Gräber mit schwerem Gerät die Spuren und macht eine Identifizierung der Toten unmöglich. Menschenrechtsgruppen, vor allem IHD (Menschenrechtsverein) und TIHV (Türkische Menschenrechtsstiftung) fordern, dass unabhängige Experten vor Ort anwesend sein müssen und dass eine Gendatenbank aufgebaut wird. Internationale Erfahrungen, wie man mit solchen Massengräbern verfahren sollte, um Aufklärung zu betreiben, gibt es ja reichlich.
it zehn Frauen musste sich unser langjähriger Dolmetscher Mehmet Bayval in diesem Jahr auf die Reise begeben. Einzige männliche Unterstützung war Mehmet Desde, Deutscher mit kurdischen Wurzeln, der von 2002 bis 2008 in der Türkei festgehalten, gefoltert, verurteilt und ins Gefängnis gesperrt wurde. Er war in Behandlung bei der türkischen Menschenrechtsstiftung in Izmir, nach seiner Rückkehr beim Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. Sein Buch über seine Erfahrungen ist im Oktober 2010 auf Türkisch in der Türkei und wenige Tage vor unserer Abreise auf Deutsch erschienen. (Mehmet Desde, Folter und Haft in der Türkei, Ein Deutscher in den Mühlen der Willkürjustiz, von Loeper Literaturverlag, ISBN 978-3-86059-334-9). Beide Mehmets waren uns wertvolle Reisebegleiter. Mehmet Desde eröffnete uns manche neue Perspektive und Mehmet Bayval übersetzte unermüdlich von morgens bis abends und versuchte geduldig, all die unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen.
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ir haben an einer sehr eindrücklichen Versammlung der „Samstagsmütter“ in Diyarbakir teilgenommen, die seit vielen Jahren nach dem Verbleib ihrer verschwundenen Angehörigen fragen. Auf ihre Initiative wurden in zahlreichen kurdischen Städten sogenannte Friedens- und Demokratiezelte aufgebaut, in denen die Menschen zur Diskussion über die Zukunft des Landes und der Gesellschaft eingeladen werden. Nach dem Newrozfest wurden viele Zelte auf Befehl der Gouverneure, der Vertreter der Zentralregierung, von der Polizei gewaltsam geräumt und zerstört. Dabei sind die Forderungen der Kurden bescheiden und klar:
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ie Reise führte von Istanbul über Kars an der armenischen Grenze, Van und Hakkari nach Diyarbakir, wo wir das Newrozfest feierten, dann nach Mardin, Midyat, Silopi und Hasankeyf. Unsere Gesprächspartner waren Bürgermeister, ÄrztInnen, Gewerkschafter, Menschenrechtler, VertreterInnen der kurdischen Partei BDP und der Frauenorganisation KAMER.
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Zentrales Thema bei allen Gesprächspartnern war das Verhalten der AKP-Regierung vor den Wahlen. Nach der Wahlschlappe für die AKP in den kurdischen Gebieten bei der Kommunalwahl 2009, wurde nicht nur die Vorgängerpartei der BDP, die DTP verboten. Viele der gewählten Bürgermeister wurden verhaftet und sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Der Prozess wurde erst nach mehr als einem Jahr eröffnet und dümpelt vor sich hin, weil die Angeklagten darauf bestehen, sich in ihrer kurdischen Muttersprache zu verteidigen, das Gericht aber den Gebrauch einer unbekannten Sprache, die kurdisch sein soll, ablehnt und die Verhandlungen vertagt.
Das Recht auf Erziehung und Bildung in der Muttersprache Die Freilassung aller politischen Häftlinge Die Beendigung des bewaffneten Kampfes Die Abschaffung der 10%-Hürde bei den Parlamentswahlen Regionale Autonomie in einer demokratischen Republik
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m Vergleich zum letzten Jahr war die Stimmung angespannt. Es herrschte Wut und Entschlossenheit, das Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können. Der Ton war deutlich kämpferischer, leider auch oft militanter. Weitere Themen waren die Probleme der syrisch-orthodoxen Christen, die Zerstörung wertvoller Kulturgüter z.B. in Hasankeyf, der stockende Versöhnungsprozess mit den Armeniern, die Auswirkungen der Privatisierung im Gesundheitswesen und die Situation der Frauen. Der ausführliche Delegationsbericht kann ab Ende Juni in der Geschäftsstelle angefordert oder im Internet eingesehen werden.
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n diesem Stil werden auch andere Probleme angegangen. So werden seit einiger Zeit Massengräber gefunden, in denen die Verschwundenen des Bürgerkriegs liegen. Die Regierung Erdogan verkauft das als ein Zeichen ihrer Bereitschaft, sich mit der traurigen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In der Reali-
Dr. Gisela Penteker ist Koordinatorin des AK Flüchtlinge/Asyl und Türkeibeauftragte der IPPNW. 15
FRIEDEN
Konzentrische Weltkrisen There’s enough for everybody’s need, but not for everybody’s greed*
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Und schließlich ist auch die Wachstumsmaschine des weltweiten Kapitalismus in Kernländern der Weltwirtschaft erheblich ins Stocken geraten, sodass bereits Reminiszenzen an die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts aufgetaucht sind. Wir leben immer noch und schon wieder in sehr gefährlichen Zeiten, und müssen die fortbestehende Wahrheit von Thomas Manns Diktum konstatieren: dass die Kriege aus Feigheit begonnen werden, sich den wirklichen Problemen der Menschheit ernsthaft zu stellen.
007 hatte unsere Spezialistin für nukleare Abrüstung, Xanthe Hall, bei der Mitgliederversammlung einen besonders spannenden Programmpunkt vorbereitet: den Vortrag eines Mitstreiters der Oxford Research Group (ORG), einer britischen Nichtregierungsorganisation, die sich mit den zivilisatorischen Risiken der verschiedenen Ebenen befasst. Es geht der Gruppe um eine neue Definition von Sicherheit, um eine nachhaltige menschliche Sicherheit, die durch Militarisierung eben nicht gefördert, sondern vielmehr immer tödlicheren Gefahren ausgesetzt ist. Die Wissenschaftler der ORG hatten vier große Themenbereiche für ihre Gefahrenanalysen identifiziert – den Klimawandel, dessen bedrohliche Folgen heute schon 46 Länder mit 2,7 Milliarden Bewohnern konkret betreffen; die Konkurrenz um Ressourcen, die nicht zuletzt zu einer Krise der Ernährungssicherheit für wachsende Teile der Weltbevölkerung führen; wachsende Armut und Marginalisierung insbesondere der Länder des Südens; und schließlich als Ergebnis der eskalierenden Spannungen eine zunehmende Militarisierung der internationalen Beziehungen, wie wir sie aktuell gerade in der Nahost/ Mittelost-Region und nun auch in Nordafrika erleben.
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ir haben als Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen eine besondere Chance: Wir wissen viel über die elementaren körperlichen und seelischen Bedürfnisse, die alle Menschen miteinander teilen, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen, kulturellen und nationalen Herkunft. Aus diesem Wissen heraus können wir nicht nur gültige Empfehlungen für den Erhalt der physischen Gesundheit, sondern auch für wesentliche Bedingungen des sozialen Zusammenlebens geben, die dem Einzelnen und der Gesellschaft Gesundheit ermöglichen.
Wirkliche Demokratie, d. h. Selbstbestimmung von Individuen und Kollektiven, gehört zu diesen Grundbedingungen einer humanen und nachhaltig friedensfähigen Gesellschaft. Nur gemeinsam, in einer globalen Anstrengung kann die Menschheit die schwierigen Fragen ihrer weiteren Entwicklung sinnvoll beantworten – auf der Basis von Kooperation, nicht von überwiegender Konkurrenz, Gier oder gar Ausbeutung und Unterwerfung.
Als sei dies ein Naturgesetz, reagiert eben auch die Bundesrepublik Deutschland, obwohl von keinem militärischen Kontrahenten bedrängt, mit dem Ausbau militärischer Interventionspotenziale, z. B. mit der unverhohlenen Begründung des ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg, dies sei zur Sicherung von Handelswegen und Rohstoffquellen erforderlich.
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„Das Ende der Egomanie“ – dieser schöne Titel eines Buchs von Horst-Eberhard Richter muss uns auch weiter ein wesentliches Motto sein, nicht nur in der IPPNW. Nur so werden wir die akkumulierten Weltkrisen überwinden können.
eit 2007 hat die globale Krise zusätzliche Dimensionen angenommen: die Nuklearkatastrophe von Fukushima mit ihren noch ganz unabsehbaren Folgen weit über die japanische Bevölkerung hinaus macht uns Angst. Nicht nur wegen der physischen Konsequenzen für so viele Menschen, sondern auch wegen der Hartnäckigkeit mächtiger gesellschaftlicher Institutionen, auf engstirnigen Profitinteressen zu bestehen, selbst wenn solche Desaster heraufbeschworen werden, und selbst wenn kein Mensch weiß, wie mit den strahlenden Abfällen dieser Industrie zu verfahren ist. Der möglicherweise höhere finanzielle Preis für ökologisch unschädliche Energieerzeugung und sinnvolle Einsparungsmöglichkeiten dagegen werden weiterhin abgewehrt.
*Es ist genug für die Bedürfnisse aller da, aber nicht für die Gier aller.
Matthias Jochheim ist Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und Vorsitzender der IPPNW. 16
FRIEDEN
Den Opfern eine Stimme geben
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Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!
leinwaffen, einer der Exportschlager der deutschen Wandel bis hin zu Gesetzesänderungen. Über die Kampagne Rüstungsindustrie, fordern weltweit den größten Teil „Aiming for Prevention“ setzen vor allem die IPPNW-Mitglieder der Todesopfer in Kriegen und Bürgerkriegen. Sie erhö- in Ländern wie Nigeria, Kenia, Nepal oder Ecuador diese Public hen die Zahl der Toten bei Raubüberfällen und die der Health-Ansätze seit Jahren in die Tat um. Die deutsche IPPNW vollendeten Suizidversuche. Die Verletzungen durch Kleinwaffen sieht die „Aktion Aufschrei“ als eine Chance, das Problem an sind häufig schwer, erfordern Amputationen, abdominal- oder der Wurzel zu packen und sich solidarisch mit den Kollegen des neurochirurgische Eingriffe. Diese medizinischen Leistungen globalen Südens zu zeigen. Die deutschen Rüstungsexporte sind beanspruchen die in Entwicklungs- oder Schwellenländern und ein Gesundheitsrisiko, das wir nicht in Kauf nehmen dürfen. Uns Krisenregionen ohnehin schon belasteten Gesundheitssysteme als Ärzte für den Stopp des Waffenhandels einzusetzen, ist eine zusätzlich. In den Notaufnahmen fehlt es an Personal, und jede moralische Verpflichtung. zu versorgende Schussverletzung verbraucht Ressourcen, die etwa zur Prävenum Schluss möchte ich den IPPNWtion von Infektionskrankheiten oder Man- A ktion A ufschrei – S toppt den Arzt Ogebe Onazi aus Nigeria zu Wort Waffenhandel ! gelernährung dringend benötigt werden. kommen lassen: „Ich bin einer der Men… heißt eine Kampagne gegen deut- schen, die sich um die durch Waffengeie langfristigen Konsequenzen geraten sche Rüstungsexporte, die die IPPNW walt verursachten körperlichen und seeoft in den Hintergrund, sind aber nicht zusammen mit neun weiteren Nicht- lischen Wunden kümmern. Wenn jemand weniger dramatisch: Aufwendige Folgebe- regierungsorganisationen aus der Frie- mit einer Schussverletzung in meine Nothandlungen, Behinderung, Arbeitsunfä- dens- und Entwicklungszusammenar- aufnahme kommt, habe ich keine Ahnung, higkeit. Ein Kind, das durch eine Landmine beit ins Leben gerufen hat. Ziel ist mit ob die Kugel legal oder illegal gewesen ist. ein Bein verliert, bekommt durchschnitt- einer Klarstellung des Grundgesetzes Der Patient verliert Blut und ich versuche, lich fünf neue Prothesen angepasst, bis ein allgemeines Verbot deutscher Rü- sein Leben zu retten. Einige Patienten es ausgewachsen ist, und braucht Physio- stungsexporte zu erreichen. Als erster sind für den Rest ihres Lebens behindert. therapie. Wer mit einer amputierten Extre- Schritt soll bis zur Bundestagswahl Einige verlieren das Leben. Einige verliemität in einer landwirtschaftlich geprägten 2013 die Aufnahme unserer Forde- ren ihren Lebensunterhalt. Lasst mich von Region lebt, wird möglicherweise zu einer rung in die Wahlprogramme der Bun- einer ganz persönlichen Erfahrung berichLast für die Familie, wenn er keine Feld- destagsparteien erreicht werden. Mehr ten: Es ist schon vier Jahre her, dass ich auf dem Heimweg mit vorgehaltener Waffe arbeit mehr leisten kann. Er sieht sich ge- unter: ausgeraubt wurde, doch die psychische zwungen, in der Großstadt als Bettler sei- www.aufschrei-waffenhandel.de Narbe bleibt. Ich benutze die Straße nicht nen Lebensunterhalt zu verdienen. mehr, auf der es geschehen ist, ich fühle affengewalt hat auch Auswirkungen auf die psychische Ge- mich nicht mehr sicher. Ich kann mich gut in die Lage meiner sundheit. Wer selbst zum Opfer geworden ist, den Einsatz Patienten versetzen, die an den psychischen Langzeitfolgen von Waffen beobachtet, Familienmitglieder, Freunde, vielleicht von Waffengewalt leiden. Wir als Ärzte sind diejenigen, die Versein ganzes soziales Netzwerk verloren hat, wer in ständiger letzungen behandeln und Totenscheine ausstellen. Wir wissen, Angst vor bewaffneten Auseinandersetzungen lebt und seine dass jeder Verstorbene jemanden zurücklässt, der unter diesem Kinder davor nicht beschützen kann, der hat ein erhöhtes Risiko Verlust leiden wird. Wir müssen die Welt daran erinnern, dass für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Trauma- wir hier nicht über kalte Statistiken, sondern Menschen sprechen. Weil Zahlen nur Bedeutung erlangen, wenn wir sie mit Gefolgestörungen. sichtern in Verbindung bringen.“ ls Ärzte ist einer unserer wichtigsten Beiträge für das Wohlergehen der Patienten, vermeidbaren Gefahren für deren Gesundheit vorzubeugen. Die gewissenhafte Dokumentation des willkürlichen Leidens, das durch Waffengewalt verursacht wird, ist der erste Schritt. Mit den gesammelten Daten können wir den Opfern eine Stimme geben: Wir informieren ÖffentlichUrsula Völker ist Ärztin und Vorstandsmitglied der IPPNW. keit und Entscheidungsträger und unterstützen den politischen
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FRIEDEN
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Eine Politik, die die weltweite Wahrung von Menschenrechten einfordert und zugleich menschenrechtsverletzende Staaten in aller Welt mit Waffen und Rüstungsgütern ausund hochrüstet, verspielt jede Glaubwürdigkeit und handelt moralisch verwerflich.“
Dictators’ best friend Deutsche Waffenhilfe für die Diktatoren
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as Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) und das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) setzen einen engen Handlungsrahmen für deutsche Waffentransfers. In den „Politischen Grundsätzen zum Rüstungsexport“ der Bundesregierung spielt die Menschenrechtsklausel eine gewichtige Rolle. Tatsächlich kritisieren Regierungsvertreter Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea oder dem Iran, die der „Achse des Bösen“ zugeordnet werden, vehement. Beide Staaten stehen, wie 21 weitere, auf der vom Bundesausfuhramt (BAFA) aktuell publizierten Embargoliste. Und auch die Diktatoren in Ägypten und Libyen mussten sich in den vergangenen Wochen massive Kritik seitens der Kanzlerin und ihres Außenministers gefallen lassen. Guido Westerwelle mahnte in diesen Tagen eindringlich: „Der Weg zur Stabilität führt über die Wahrung der Menschenund Bürgerrechte“. Medienträchtig rettete die deutsche Marine einige Hundert Flüchtlinge aus Libyen – weitaus weniger als geplant.
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iese Medaille besitzt zwei Seiten: die der menschenrechtsorientierten Verbalpolitik und die der interessengesteuerten Realpolitik. So wurden und werden weiterhin dem Westen wohl gesonnene Scheindemokraten und Diktatoren mit Waffenlieferungen belohnt, vor allem dann, wenn sie uns wirtschaftspolitisch oder militärpolitisch nahe stehen. Die Profite der deutschen Rüstungsindustrie – allen voran der European Aeronautic Defence and Space Company N.V. (EADS) – mit dem maßgeblichen Anteilseigner Daimler
AG und der Heckler & Koch GmbH stiegen in den vergangenen Jahren. Moralische Hemmnisse existieren in derlei Fällen offenbar nicht. Wie doppelbödig und damit heuchlerisch die deutsche Regierungspolitik ist, zeigt folgendes Beispiel:
Tatort Libyen Die Menschenrechtssituation des Jahres 2009 lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass Libyen weiterhin zu den Staaten gezählt werden muss, in denen Menschenund Bürgerrechte massiv verletzt wurden: „Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt“, stellte amnesty international (ai) fest. Menschen, die verdächtigt wurden, „sich illegal im Land aufzuhalten, wurden festgenommen und misshandelt“. Hunderte von Fällen des Verschwindenlassens sowie weiterer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen vergangener Jahrzehnte „wurden weiterhin nicht aufgeklärt“. Auch im Jahr 2009 hielt Libyen an der Todesstrafe fest, mindestens vier Männer wurden im Berichtsjahr hingerichtet – die tatsächlich erfolgte Zahl von Hinrichtungen dürfte laut amnesty international höher liegen. Begründet wurde Todesstrafe „für eine große Anzahl von Vergehen“, zu denen auch „die friedliche Ausübung der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit“ zählten. Während dieser Artikel verfasst wird, befinden sich mehr als 150.000 Menschen auf der Flucht vor der Gewalt von Gadda18
fis Soldaten und Söldnern. Libyens Hauptwaffenlieferant war und ist Russland. Allerdings zählte auch Deutschland zu den Geschäftspartnern des diktatorischen Regimes Muammar al-Gaddafi.
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ereits im Jahr nach der Aufhebung des Waffenembargos von 2004 genehmigte der Bund den Export militärischer Geländewagen. In den Jahren danach erteilte die jeweilige Bundesregierung die Genehmigungen zum Transfer von Hubschraubern und Hubschrauberteilen, Kommunikationsausrüstung, Splitterschutzanzügen und Störsendern nach Libyen. Leider sind diese Störsender optimal dazu geeignet, die Kommunikation der Widerstandsbewegung per Handy, Twitter oder Facebook zu unterbinden und sind damit äußerst effizient in den Händen des diktatorischen Regimes Gaddafi.
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er weltweit größte Hersteller militärischer Hubschrauber ist das EADSTochterunternehmen Eurocopter. In Ulm produziert die EADS-Militärelektronik und Radare, in verschiedenen Werken Bayerns Kampfhubschrauber. Bekanntlich zählen diese zu den Waffensystemen, mit denen Militärs die eigene Bevölkerung massiv unterdrücken kann. In Tripolis, der Hauptstadt Libyens, unterhält die EADS eigens eine Repräsentanz (erreichbar über Tel.: +218 21 335-1026, Fax: -1275). Bereits im August 2007 bestätigte die EADS auf ihrer Homepage, dass Verhandlungen für einen Vertrag über die Lieferung des Panzerabwehrsystems Milan durch MBDA „heute nach 18-monatiger Diskussions- und Ver-
FRIEDEN
Aachener Friedenspreis 2011 für Jürgen Grässlin Der Aachener Friedenspreis würdigt Einzelpersonen oder Gruppen, die oft alleine – manchmal ohne jegliche Unterstützung – mit Mut und hohem Risiko engagiert gegen Ungerechtigkeit vorgehen und sich für Frieden einsetzen. Jürgen Grässlin arbeitet seit den 80er Jahren mit beeindruckender Energie und Unermüdlichkeit für den Frieden, vor allem für Verbote von Rüstungsproduktion und Rüstungsexporten. Dies nicht nur durch unzählige Reden, Vorträge
und Ansprachen, durch aufklärende und sachkundige Zeitungs-, Zeitschriftenartikel, Bücher, Aktionen vor und in Rüstungsbetrieben, Tätigkeit in friedenspolitisch aktiven Organisationen, sondern auch durch Reisen, Interviews mit und Hilfsaktionen für Opfer deutscher Waffen. Er ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) und
handlungsdauer abgeschlossen“ worden seien. Bei der MBDA handelt es sich um Rüstungsunternehmen, bei dem die EADS und BAE Systems mit je 37,5% die führenden Anteilseigner stellen. Damals stand auch der „Vertrag über die Lieferung eines sicheren Tetra-Kommunikationssystems … kurz vor dem Abschluss“. Um eine Image schädigende Diskussion in Deutschland zu vermeiden, sollte der Export der Panzerabwehrraketen Milan – geschätzter Wert dieses Waffendeals 168 Millionen Euro – seitens der EADS-Tochter MBDA über Frankreich erfolgen. Desgleichen sollte der Deal der EADS-Kommunikationssysteme für 128 Millionen Euro über den Vertragspartner Frankreich abgewickelt werden. Geschickt gemacht, denn das vermeintliche SaubermannImage konnte die EADS hierzulande wahren.
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on 2008 auf 2009 verdreizehnfachte die Bundesregierung das Genehmigungsvolumen deutscher Waffentransfers auf 53 Millionen Euro. Wenn die Demokratiebewegung vor allem in Tripolis und anderen Städten unterdrückt wird und Menschen zu Abertausenden aus Libyen fliehen müssen, dann trifft auch die Verantwortlichen in Berlin Mitschuld. Die Frage, inwiefern von Deutschland aus auch illegal Waffen an das Regime Gaddafi geliefert worden sind, ist vakant. Anfang März 2011 tauchte ein erster Kurzfilm auf YouTube auf, der augenscheinlich den Einsatz von G36-Gewehren in den Händen der Familie Gaddafi belegt. Die Sturmgewehre, entwickelt von Europas
Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.), sowie Autor kritischer Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik. Er ist Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ Im September 2011 wird er für sein Engagement zusammen mit der Informationsstelle Militarisierung (kurz IMI) mit dem Aachener Friedenspreis 2011 ausgezeichnet. Wir gratulieren!
tödlichstem Unternehmen Heckler & Koch, zählen zu den treffsichersten Waffen weltweit. Ihre Fertigung erfolgt derzeit im Stammwerk in Oberndorf und in Santa Bárbara Sistemas in Galizien (Spanien) – und alsbald auch in Saudi-Arabien. Schon heute ist ihr Einsatz in mehr als 25 Staaten nachweisbar. Vieles spricht dafür, dass die Gewehrlieferungen nicht immer auf legalem Wege erfolgen. Das Auftauchen offenbar illegal gelieferter G36 in Georgien, in vier mexikanischen Unruheprovinzen und topaktuell in Libyen muss seitens der Bundesregierung aufgeklärt werden. Sie muss klarstellen, ob sie der Heckler & Koch GmbH oder dem Lizenznehmer Santa Bárbara Sistemas eine G36-Ausfuhrgenehmigung für Libyen erteilt hat. Falls nicht, muss sie der Öffentlichkeit mitteilen, über welche widerrechtlichen Kanäle die Sturmgewehre in die Konfliktregion Libyen gelangt sind und welche strafrechtlichen Schritte sie gegen den oder die Verantwortlichen eingeleitet hat.
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uch an die Adresse der Münchener Staatsanwaltschaft sind Fragen zu richten: Aus welchem Grund wurde das Verfahren gegen Saif Gaddafi, zweitältester Sohn des Diktators Muammar al-Gaddafi, trotz offensichtlichen Waffenhandels Anfang 2011 eingestellt? Handelt es sich bei dem in einem YouTube-Video gezeigten G36-Gewehr um die Waffe, die nach Paris und dann möglicherweise nach Libyen geschmuggelt wurde?
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och Libyen ist kein Einzelfall. Vielmehr genehmigten die Bundesregie19
rungen in den vergangenen Jahrzehnten in einer stillschweigend geschlossenen Allparteienkoalition von CDU/CSU/SPD/ FDP/GRÜNEN vielzählig den Export von Waffen und Rüstungsgütern an Scheindemokraten und Diktatoren in aller Welt. Wer als Oppositionspartei Waffenhandel kritisierte, legalisierte und legitimierte diesen in Regierungsverantwortung – eine Situation, die bis heute trägt. Vakant bleibt die Frage fortwährender Waffentransfers an menschenrechtsverletzende Staaten wie Brasilien, Indonesien, Israel, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Nigeria, Oman, Pakistan, Singapur, Thailand, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und weitere.
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ie Umstürze in Ägypten und Tunesien und die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Libyen führen uns in bedrückender Weise vor Augen, dass die Zeit zur Umkehr gekommen ist. Deutschland darf nicht länger mit seinen Waffenlieferungen zur weltweiten Gewalteskalation beitragen. Eine Politik, die die weltweite Wahrung von Menschenrechten einfordert und zugleich menschenrechtsverletzende Staaten in aller Welt mit Waffen und Rüstungsgütern aus- und hochrüstet, verspielt jede Glaubwürdigkeit und handelt moralisch verwerflich.
Jürgen Grässlin Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“
HIROSHIMA – FUKUSHIMA
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m 10. April 2011 – einen Monat nach der verheerenden Katastrophe in Japan – demonstrierten in Koenji, einem Viertel Tokios, nach verschiedenen Schätzungen bis zu 15.000 Menschen gegen Atomkraft. Ihre Forderungen: sofortiger Atomausstieg und die Wahrheit über die Auswirkungen der Havarie im AKW Fukushima.
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Der Fotograf, Matthias Lambrecht kommt ursprünglich aus dem Saarland (geboren 1982) und hat Japanologie, Anglistik und Sinologie studiert. Seit 2009 lebt er in Tokio und arbeitet an der Tokyo Kasei University. Mit dem Fotografieren begann er ursprünglich, um seinen Freunden in Deutschland Eindrücke von seinem Leben in Japan zu vermitteln.
Bye bye Genpatsu!* No more Fukushimas! Anti-Atomkraft-Proteste in Tokio
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rstaunlich: Diese beachtliche Zahl an Demonstranten wurde fast ausschließlich über Internetblogs und soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook mobilisiert. Gleichzeitig versammelten sich im Shibuya Park in Tokio weitere 2.500 Menschen, die dort für die sofortige Stilllegung des besonders von Erdbeben bedrohten AKW Hamaoka demonstrierten. Hamaoka wurde inzwischen vorläufig abgeschaltet. Zwei Wochen später, am 24. April 2011, fanden in Tokio erneut große Demonstrationen statt: Die „Energy Shift Parade“ anlässlich des Earth Days, bei der circa 5.000 Demonstranten gegen Atomkraft und für eine Energiewende protestierten. Parallel dazu versammelten sich im Shibuya Park wieder ca. 2.500 Menschen zu einer Anti-Tepco-Demonstration. Weitere Fotos der Anti-Atomkraft-Proteste in Tokio bei flickr: www.flickr.com/photos/sandocap/sets/72157626467512122/ * Genpatsu ist das japanische Wort für Atomenergie
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Foto: Matthias Lambrecht
HIROSHIMA – FUKUSHIMA
Es war ein bewegender Moment, als die japanische IPPNW-Ärztin Katsumi Furitsu auf der Auftaktveranstaltung des IPPNW-Tschernobyl-Kongresses Ende April in Berlin sprach. Die Katastrophe von Fukushima war plötzlich nicht mehr nur eine Nachricht – unfassbar, erschreckend, verstörend, aber weit weg in Japan. Sie war mit einem Mal ganz nah und hatte ein menschliches Gesicht, das vor rund 500 Kongressgästen um Fassung rang.
Die Geschichte von Tschernobyl nicht wiederholen Die japanische IPPNW-Ärztin Katsumi Furitsu warnt davor, die Gefahren durch die Havarie zu unterschätzen
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ls Ärztin und Wissenschaftlerin hat Katsumi Furitsu über die genetischen Folgen von Tschernobyl geforscht. Sie war im Rahmen ihrer Forschung selbst mehrfach in die kontaminierten Gebiete Weißrusslands gereist. Anlässlich des 25. Jahrestags jener atomaren Katastrophe, die sich vor einem Vierteljahrhundert ereignete und deren Folgen noch heute für Tausende Menschen bittere Realität sind, war sie nach Berlin gekommen – um zu diesem traurigen Jahrestag über eine neue Katastrophe zu berichten, von der nur sechs Wochen vorher niemand etwas ahnte.
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ls Medizinstudentin in den 80er Jahren las Katsumi Furitsu zum ersten Mal von Arbeitern in Atomkraftwerken, die durch die Strahlenbelastung krank wurden, ohne irgendeine Art von Wiedergutmachung zu erhalten. Sie war schockiert. „Ich wollte nicht erst warten, bis Men-
schen ins Krankenhaus kamen, verletzt durch eine unbeherrschbare Technologie.“ Sie begann, sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung zu engagieren. Nach und nach lernte sie das ganze Ausmaß des Leids kennen, das die Atomindustrie hervorbrachte – von den Arbeitern in Uranminen über die Opfer von Atomtests, Atombomben und Uranmunition, Arbeitern in AKWs bis hin zu den Liquidatoren von Tschernobyl. 2004 engagierte sie sich für eine internationale Kampagne gegen die Nutzung von Uranwaffen und entschied sich, Mitglied der japanischen IPPNW zu werden, um dort ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. „In Japan sind fast alle Menschen aufgrund der Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki gegen Atomwaffen. Doch alle Probleme, die sich aus der Atomenergie ergeben, sind verbunden“, erklärt sie.
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m April reiste sie in die Präfektur Fukushima. Sie besuchte dort auch die 25-45 km nordwestlich des havarierten AKW liegende Gemeinde Iitate, die – obwohl außerhalb der offiziellen Evakuierungszone gelegen – besonders hohe Kontaminierungswerte aufweist. Es wird angenommen, dass am 15. März, nach der Zerstörung des zweiten Reaktor-Containments und einem Feuer im vierten Abklingbecken, eine Wolke mit radioaktivem Material in Richtung Nordwesten zog und über der Region niederging. In Gebäuden wurden Strahlenwerte von 2-3, draußen von 5-8 Mikrosievert pro Stunde und einen Meter über dem Boden teilweise Werte über 10 Mikrosievert pro Stunde gemessen (zum Vergleich: Die natürliche Erd-Strahlung beträgt rund 0,1 Mikrosievert pro Stunde). Vor der Katastrophe lebten hier 6.000 Menschen. Ein Teil der örtlichen Bevölkerung hatte die Gemeinde bereits freiwillig verlassen. Doch noch im
HIROSHIMA – FUKUSHIMA
Katsumi Furitsu April traf sie dort viele Menschen, darunter auch Schwangere und Kleinkinder. Katsumi Furitsu sprach mit dem Bürgermeister der Gemeinde, Mitarbeitern und Einwohnergruppen, gab ihnen konkreten medizinischen Rat und klärte sie darüber auf, wie dringlich eine Evakuierung sei. Sie hörte die Geschichten vieler betroffener Menschen. „Es ist wirklich eine sensible Situation in vielerlei Hinsicht. Politisch, sozial und psychologisch“, beschreibt sie. Viele Menschen wollen ihre Heimat und ihr Leben nicht einfach für immer hinter sich lassen. „Es war wirklich traurig und schrecklich für mich, dass noch so viele Menschen, und besonders auch Kleinkinder, in einem Gebiet lebten, in dem sie einem so hohen Strahlungslevel ausgesetzt waren.“ Hilfe erhielten die Menschen vor Ort v.a. von NGOs und engagierten Einzelpersonen, die ihnen zumindest unkontaminierte, frische Nahrung zu Verfügung stellten, während die Regierung an ihren Evakuierungsplänen arbeitete. Die von der japanischen Regierung initiierte vollständige Evakuierung der Gemeinde Iitate zog sich noch bis Ende Mai hin. Im Mai war Katsumi Furitsu erneut in der Präfektur Fukushima. Auch außerhalb der evakuierten Zone sind viele Menschen erhöhten Strahlungswerten ausgesetzt und leben in „leicht“ kontaminierten Gebieten. „Auch wenn die Verseuchung noch geringer ist, als in vielen Gebieten nach Tschernobyl, ist die Situation doch vergleichbar“, berichtet Katsumi Furitsu. Die Menschen haben Angst und sind verunsichert. Können sie ihre Wäsche draußen aufhängen, die Fenster öffnen? Was können sie essen? Können sie noch Nahrung anbauen? Ihre Kinder draußen spielen lassen? Sie brauchen bei allen Dingen des täglichen Lebens Hilfe und Rat.
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icht alle, so meint sie, hätten den Ernst der Lage erkannt – auch wegen
der unzureichenden Informationspolitik der Regierung und der Einstellung vieler Wissenschaftler, auch von Ärzten, die immer noch der Meinung sind, dass Niedrigstrahlung nicht gefährlich sei. Immerhin hat die JMA (Japanese Medical Association) kürzlich ein Statement veröffentlicht, das die Heraufsetzung der Strahlengrenzwerte für Schulkinder durch die japanische Regierung kritisiert und eine Senkung fordert. Das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technik hatte die maximale Strahlenbelastung für Schulkinder in den kontaminierten Gebieten auf 20 Millisievert pro Jahr heraufgesetzt, was der durchschnittlichen jährlichen Strahlenexposition von erwachsenen Arbeitern in AKWs entspricht. Damit folgt es den Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (International Commission on Radiological Protection, ICRP) von 2007, erklärt Katsumi Furitsu. Diese hat in ihren Richtlinien für atomare Notfallsituationen Strahlengrenzwerte von 20-100 Millisievert pro Jahr festgelegt – allerdings ohne gesondert auf Richtwerte für Kinder einzugehen, die um ein Vielfaches strahlensensibler als Erwachsene sind. „Ich denke, dass es wichtig ist, die Empfehlungen der ICRP im Rahmen einer internationalen Kampagne zu kritisieren. Die IPPNW als internationale Autorität in Gesundheitsfragen könnte und sollte hierbei eine führende Rolle übernehmen.“
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och jetzt heißt es für Katsumi Furitsu und ihre Kollegen zunächst den Menschen vor Ort zu helfen. Die japanische IPPNW unterstützt die Betroffenen auf verschiedenen Wegen durch ihre Ärzte und deren zugehörige Einrichtungen. Einige – wie Katsumi Furitsu – fahren in die kontaminierten Gebiete, informieren die Menschen dort über die gesundheitlichen Auswirkungen von Strahlung und erklären ihnen, wie sie sich bestmöglich schützen können. Andere beraten die Evakuierten zu allen Fragen der Strahlenbelastung und möglichen gesundheitlichen Folgen.
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„Ich bin Ärztin und als Ärztin sage ich: Wir dürfen die Geschichte von Tschernobyl nicht wiederholen. Was bedeutet das? Dass man nicht zu spät reagiert. Dass man die Gefahr nicht unterschätzt. Wir sollten handeln, besonders in Bezug auf die Kinder. Warnen, versuchen, Gefahren schon jetzt zu minimieren. Wichtig ist auch, dass die Gesundheit der Betroffenen langfristig beobachtet wird und dass sie umfassend medizinisch betreut werden, um gesundheitliche Schäden wenigstens so gering wie möglich zu halten. Ich halte es für wichtig, dass die Menschen die Situation verstehen und einschätzen können – auch um ihren Forderungen nach einer adäquaten Unterstützung Gewicht zu verleihen, und die Regierung aufzufordern, ihre Pro-Atom-Politik endlich zu beenden.“
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ausende Menschen in Japan sind Opfer dieser Politik geworden. Sie mussten ihr bisheriges Leben für immer aufgeben, haben ihre Existenzgrundlage mit einem Schlag verloren, oder müssen auf Dauer mit der Kontamination leben. Notfallarbeiter setzen im havarierten Atomkraftwerk noch immer ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel, so wie einst die Liquidatoren von Tschernobyl. Sie alle werden noch lange unter den gesundheitlichen, sozialen und psychologischen Spätfolgen leiden. Und die Situation im AKW Fukushima ist noch längst nicht stabil – während hier das Medieninteresse langsam nachlässt, geht die Katastrophe in Japan weiter. Für Jahrzehnte. Engagierte Menschen, wie Katsumi Furitsu und ihre Kollegen, werden weiterhin versuchen, den Betroffenen so gut wie eben möglich zu helfen. In diesem Fall ist das tatsächlich alles, was Ärzte noch tun können. Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Katastrophe endlich das längst überfällige Ende des Atomzeitalters einleitet. Nicht nur in Japan – weltweit. Samantha Staudte Redakteurin beim IPPNWforum
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„Es gibt keine friedliche Nutzung von Atomkraft. Das Wort Frieden ist in diesem Zusammenhang ein völlig falscher Begriff. Jeder Reaktor ist eine Atombombe.“
„Jeder reaktor ist eine Atombombe“ Interview mit dem Hiroshima-Überlebenden Prof. Dr. Hideto Sotobayashi Jörg Schindler: Wenn Sie die Bilder sehen, die nun schon seit Wochen aus Japan zu uns kommen – was geht Ihnen dabei durch den Kopf? Hideto Sotobayashi: Ich bin sehr traurig. Sehr, sehr traurig. Es sind ja zwei Katastrophen passiert – eine Naturkatastrophe und eine von Menschen gemachte. Die Letztere beschäftigt mich besonders. Gegen Tsunami und Erdbeben kann man nichts machen, das ist wie eine Plage, so etwas passiert. Aber die menschliche Katastrophe, das war Fukushima. Man hätte sie verhindern können.
in Hiroshima 1945 die Bombe explodierte, wurde binnen weniger Sekundenbruchteile eine unglaubliche Strahlung freigesetzt. Nach kurzer Zeit war sie weg, aber sie hat natürlich Langzeitfolgen, die wir bis heute noch nicht endgültig überblicken. Fukushima dagegen ist eine Dauerbestrahlung, im Umkreis von 20 Kilometern oder 30. Schindler: Als Hiroshima am 6. August 1945 zerstört wurde, hatten Sie da jemals von so etwas wie einer Atombombe gehört?
Sotobayashi: Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet. Aber sehen Sie, es gibt keine friedliche Nutzung von Atomkraft. Das Wort Frieden ist in diesem Zusammenhang ein völlig falscher Begriff. Jeder Reaktor ist eine Atombombe. Deshalb hätte man in Japan, ausgerechnet in Japan, niemals auf diese Technologie setzen dürfen. Seltsamerweise denken viele meiner Landsleute nicht so. Fast alle sind gegen Atombomben, aber die meisten sind gleichzeitig für die Atomkraft. Man erzählt den Menschen nicht die Wahrheit. Man spricht von sauberer Energie. Das ist total falsch. Ich bin Chemiker, ich weiß, wovon ich rede. Man erzählt uns seit Jahrzehnten Lügen. Es ist eine unglaubliche Schweinerei.
Sotobayashi: Nein. Das ist der große Unterschied zu heute. Heute wissen wir genau, wie gefährlich Uran und Plutonium sind. Damals wussten wir nichts. Am 6. August fiel die Bombe auf Hiroshima, am 9. auf Nagasaki, am 15. hat Japan kapituliert, danach kamen wir lange Zeit unter USamerikanische Besatzung. Es war damals verboten, darüber zu sprechen. Wir hatten nur von einer „Bombe neuen Typs“ gehört, die im Umkreis von Kilometern alles zerstört. Aber was für eine Bombe das war, wussten wir nicht. Wir konnten auch niemanden fragen. Die Zeitungen haben auch nur von diesem „neuen Typ“ geschrieben. Und als eine internationale Delegation des Roten Kreuzes nach Hiroshima und Nagasaki wollte, hat man sie nicht reingelassen. Man hat uns nur regelmäßig Blut abgenommen, was damit gemacht wurde, welche Ergebnisse dabei herauskamen, hat man uns nicht verraten. Das war alles geheim.
Schindler: Für Sie sind Atombomben und Atomkraftwerke das Gleiche?
Schindler: Wo waren Sie am Morgen des 6. August?
Sotobayashi: Strahlenopfer sind Strahlenopfer – es ist dasselbe Prinzip. Wobei es natürlich erhebliche Unterschiede gibt. Als
Sotobayashi: In der Schule. Zusammen mit 24 Klassenkameraden. Wir waren auf einer Eliteschule, deswegen hatten wir an dem
Schindler: Wie?
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Tag überhaupt Unterricht. Die meisten anderen Jugendlichen waren da schon längst zu Arbeitsdiensten in Kriegsfabriken abkommandiert worden. Wir durften trotz des Krieges lernen. Wir waren im ersten Stock eines Holzgebäudes, als ich plötzlich den Eindruck hatte, dass draußen jemand eine riesige Lampe eingeschaltet hat. Es war ein Blitz und fast gleichzeitig Donner. „PikaDon“ haben wir später immer dazu gesagt. Pika heißt Blitz, Don steht im Japanischen für Donner. Mehr habe ich erst einmal nicht mitbekommen, weil ich bewusstlos wurde. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Trümmerhaufen, war erstaunlicherweise aber unverletzt. Schindler: Waren die anderen Schüler tot? Sotobayashi: Nein, die meisten haben überlebt. Wir hatten unglaubliches Glück. Unsere Schule lag nur etwa eineinhalb Kilometer vom Detonationszentrum entfernt, das heißt in der Theorie hätten wir zu 99 Prozent alle tot sein müssen. Die Wucht der Bombe hat sich aber in andere Richtungen ausgebreitet. Ein paar Meter weiter lag einer meiner Freunde, er war eingeklemmt. Ich habe ihn ausgegraben, er war verletzt, sein Ohr baumelte nur noch am Kopf, er konnte aber laufen. Schindler: Wohin sind Sie gelaufen? Sotobayashi: Wir haben versucht, nach Hause zu kommen. Aber das war nicht so einfach. Wissen Sie, Hiroshima ist wie Venedig von etlichen Flüssen und Kanälen durchzogen. Die Brücken waren aber alle aus Holz. Die waren weg. Also habe ich ein kleines Boot gesucht und meinen Freund durchs Wasser gezogen. Nachdem ich ihn
in einem provisorischen Lazarett abgeliefert hatte, bin ich nach Hause gegangen und habe festgestellt, dass wir wieder Glück hatten. Unser Haus war anders als viele andere nicht abgebrannt. Mein Vater war da und hatte das Feuer löschen können. Wir sind dann losgezogen, um meine Mutter zu suchen. Das heißt, vorher mussten wir Okimasu finden, das war der Sohn von Freunden meiner Eltern, der gerade zu Besuch war. In Japan heißt es immer: der Gast zuerst. Also haben wir zunächst nach ihm gesucht. Wir wussten, wo er arbeitet. Seine Fabrik lag nur etwa 100 Meter vom Epizentrum der Bombe entfernt. Ich bin losgelaufen – und dann habe ich alles gesehen. Schindler: Was alles? Sotobayashi: Durch die Hitzewelle der Bombe hatte sich bei ganz vielen Menschen die Haut abgelöst und hing schwarz und verkohlt von ihren Fingern. Das war furchtbar. Ich erinnere mich an eine Mutter, die ihr totes Kind an sich presste und wie verrückt geschrien hat. Ich habe dann an einer Uferböschung einen Körper liegen sehen, von dem ich glaubte, es sei Okimasu. Um zu ihm zu gelangen, musste ich an unzähligen Leichen vorbei. Aber als ich mich durchgeschlängelt habe, habe ich gemerkt, dass das gar keine Leichen waren, sondern dass die meisten noch lebten. Manche haben meinen Fuß umklammert und gerufen: „Bitte Wasser, Wasser, Wasser!“ Andere haben nur gesagt, wer sie sind und mich gebeten, ihre Verwandten zu benachrichtigen. Aber ich konnte ja gar nichts machen. Ich bin zu dem Körper gegangen, den ich für Okimasu hielt. Er war es, aber er war tot. Schindler: Was war mit Ihrer Mutter? Sotobayashi: Wir haben sie später am Nachmittag in einem Krankenhaus gefunden. Sie schien äußerlich unverletzt zu sein, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Sie ist drei Tage später im Alter von 35 Jahren gestorben. Wir hatten Glück. Wir hatten sowohl unseren Gast Okimasu als auch meine Mutter gefunden. Wir konnten sie angemessen bestatten. Viele tausend andere Opfer sind bei dem Bombenabwurf innerhalb einer Sekunde verschwunden – so als hätte es sie nie gegeben. Schindler: Konnten Sie sich erklären, wieso Ihre Mutter so plötzlich verstarb? Sie wussten ja nichts von einer Atombombe.
Sotobayashi: Nein, das war alles sehr seltsam. Wir wussten nicht, was los ist. In den Tagen nach dem Bombenabwurf haben viele Verwandte und Bekannte in unserem Haus Zuflucht gesucht. Nach wenigen Tagen sind fast allen die Haare ausgefallen, das Zahnfleisch fing an zu bluten. Bei mir auch. Ende August waren fast alle tot. Schindler: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Opfer eines Atombomben-Abwurfs geworden waren? Sotobayashi: So richtig habe ich es im Grunde genommen erst zehn Jahre später begriffen, als die Amerikaner auf dem Bikini-Atoll ihren nächsten atomaren Menschenversuch gestartet haben. Damals sind ja auch japanische Fischer gestorben. Schindler: Bis dahin wurden Sie im Unklaren gelassen? Sotobayashi: Ja. Man wollte alles so vage wie möglich belassen. Es gab natürlich medizinische Untersuchungen, aber ich hatte immer das Gefühl, es geht den Amerikanern mehr darum, die Veränderungen in unseren Körpern zu studieren, als uns wirklich zu helfen. Wir waren Teil eines großen Experiments. Bis heute hat sich dafür übrigens niemand entschuldigt. Schindler: Wie wurde das Thema in der japanischen Öffentlichkeit diskutiert? Sotobayashi: Lange Zeit überhaupt nicht. Auch deshalb, weil die Opfer geschwiegen haben. Sie hatten Angst. Viele Japaner denken, wer einmal radioaktiv verstrahlt wurde, strahlt sozusagen weiter. Man glaubt, von uns geht eine Gefahr aus. Man hält Abstand von uns, will uns am besten gar nicht berühren. Das war damals so. Es ist heute, nach der Katastrophe von Fukushima, wieder so. Ich habe von einer jungen Frau gehört, die aus der Unglückszone rund um Fukushima stammt und mit einem Mann aus Tokio verlobt war. Kurz vor der Hochzeit haben die Eltern des Bräutigams jedoch ihr Veto eingelegt, sie hatten Angst vor missgebildeten Enkelkindern. Also wurde die Hochzeit abgesagt. Es ist furchtbar. Aber in gewisser Weise auch verständlich. Man weiß ja nie, was mit Überlebenden passiert, die hohen Strahlendosen ausgesetzt waren. Schindler: Sie selbst haben auch jahrzehntelang geschwiegen. Warum?
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Sotobayashi: Nicht nur ich, wir alle haben unsere Erfahrungen lieber für uns behalten. Wieso hätten wir darüber sprechen sollen? Was ist der Vorteil dabei? Es gibt keine Vorteile. Außer vielleicht den, dass man den staatlichen Ausweis für Atombomben-Opfer bekommt. Darüber gibt es aber bis heute, mehr als 60 Jahre später, immer wieder Streitereien. Wer damals innerhalb einer Zwei-Kilometer-Zone um das Detonationszentrum der Bombe lebte, bekam anstandslos den Ausweis für Atombomben-Opfer. Dabei hat die Bombe in manche Richtungen aber nur einen Kilometer gewirkt, in andere Richtungen fünf Kilometer oder mehr. Menschen aus Nagasaki und Hiroshima, die viel später krank wurden, mussten erst mühsam beweisen, dass die Atombombe der Auslöser dafür war. Aber wie beweist man das, 40, 50 Jahre danach? Es ist unwürdig. Es geht für den Staat eben um viel Geld. Ich prophezeihe Ihnen: Dasselbe wird jetzt in Fukushima wieder passieren. Die Regierung hat sicher ihre Gründe, die Evakuierungszone um die Reaktoren nicht allzu groß werden zu lassen. Schindler: Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht? Sotobayashi: Nun, was Atombomben betrifft, freue ich mich, dass US-Präsident Barack Obama in diesem Punkt ein bisschen auf die Bremse getreten ist. Was die Nuklearenergie betrifft, bin ich, wie gesagt, kein Fachmann. Aber ich hoffe, dass viele Menschen nun endlich begriffen haben, dass menschliche Fehler immer passieren. Japan muss jetzt lernen. Und schauen Sie sich die Endlagerfrage an. Schindler: Es gibt auf der ganzen Welt keines. Sotobayashi: Wenn es zu Jesus’ Zeiten schon Atomkraft gegeben hätte, würden die damaligen Brennstäbe heute noch strahlen. Wer kann das verantworten? Und wer weiß, was in hundert Millionen Jahren ist? Ich vermisse in der ganzen Diskussion immer Ethik und Moral.
Autor: Jörg Schindler Erscheinungsdatum: 15.04.2011 Quelle: Frankfurter Rundschau Ungekürzte Fassung unter: http://bitly.com/eZ4Doj
HIROSHIMA – FUKUSHIMA
Lost in Radiation?
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bensmittel kam es – zumindest verglichen mit dem allzeitigen Überfluss, der vor der Katastrophe herrschte – zu gewissen Engpässen bei der Versorgung der Großstadt. Wirkliche Einschränkungen mussten aber nur dort hingenommen werden, wo verunsicherte Menschen Hamsterkäufe machten. Da der beengte und kostspielige Wohnraum in Tokio kaum Raum und Möglichkeit bietet, „echte“ Vorräte anzulegen und aufgrund kaum verbreiteter Erfahrung mit der Lagerhaltung, erstreckten sich die Hamsterkäufe oft auf auffallend verderbliche Waren. Natürlich ist verständlich, dass die meisten Verbraucher verunsichert sind – selbst einwandfreie Lebensmittel verrotten auch schon mal in den Regalen, weil nur wenige den Versicherungen der offiziellen Stellen uneingeschränkten Glauben schenken. In dieser Situation ist es für alle Betroffenen schwer, wirklich sachgerecht zu entscheiden – im Zweifelsfall entscheidet man sich eben für den Verzicht.
Leben in Tokio nach der Katastrophe
ie Berichterstattung während der „heißen“ Phase der Katastrophe war gerade in den ausländischen Medien gekennzeichnet von Verzerrung und Panikmache. In den Köpfen vieler Deutscher hat sich so ein Zerrbild dessen, was sich in Japan abgespielt hat, festgesetzt. Während Ausländer immer die Ruhe und Beherrschtheit der japanischen Bevölkerung priesen, hat selbstverständlich ein Großteil der Bevölkerung die Ungewissheit um die weitere Entwicklung in den Atomanlagen mit Angst und Schrecken erfüllt. Dennoch gehen die meisten Japaner überaus souverän, gut informiert und nüchtern mit den Bedrohungen um, die sich durch die nukleare Katastrophe in Fukushima ergeben.
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usländische Medien fragen nun, ob sich die Einstellung der Japaner gegenüber der Atomenergie verändert habe – sie verkennen dabei, dass es auch in Japan schon seit vielen Jahren eine überaus lebendige Anti-Atomkraft-Bewegung gibt. In der Krise hat sich aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als überaus pragmatisch erwiesen: Es ging zunächst darum, die Krise zu überwinden, die in Not Geratenen zu unterstützen und die Aufrechterhaltung des Lebens zu gewährleisten. Trotzdem war der Unmut über die Schlampereien des Kraftwerksbetreibers ebenso ausgeprägt wie die Erkenntnis, dass jeder Einzelne eine Mitschuld an dem Geschehen trägt, weil eine menschenverachtende Technologie hingenommen worden ist. Immerhin gibt es seitens der Anteilseigentümer Bestrebungen, den Betreiber der havarierten Atomanlagen in Fukushima dazu zu bewegen, künftig komplett aus der Stromgewinnung durch Kernspaltung auszusteigen. Welche Entwicklung die Anti-Atom-Bewegung in Japan künftig nehmen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Die kritischen Berichte im Fernsehen und in den Printmedien des Landes haben schon seit der ersten Offenlegung der Atomkatastrophe für eine veränderte Wahrnehmung in der Bevölkerung gesorgt.
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ie Atomkatastrophe von Fukushima hat in der Bevölkerung Tokios ganz unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Während viele Ausländer das Land verlassen haben, sind andere lediglich für kurze Zeit in die westlichen Landesteile ausgewichen. Auch Einheimische – besonders die mit kleinen Kindern – haben versucht, sich der Bedrohung aus der Luft, dem Wasser und durch Nahrungsmittel zumindest vorübergehend durch einen Aufenthalt im Westen des Landes zu entziehen. Hierbei hat die individuelle Wahrnehmung der Bedrohung natürlich eine entscheidende Rolle gespielt. Die große Mehrheit hat aber wohl in der Überzeugung, dass dem Land am besten gedient ist, indem man versucht, den bisherigen Lebensstil – soweit möglich – beizubehalten, gehandelt. Für nicht wenige wird der Mangel an praktischen Alternativen einen Verbleib in Tokio natürlich begünstigt haben.
Dass es zumindest bisher nicht zu einem Sturmlauf gegen die Atomkraft gekommen ist, mag dem Fakt zu „verdanken“ sein, dass Massenproteste in Japan einer anderen Dynamik unterliegen als in Deutschland – das Aufdrängen der eigenen Überzeugung anderen gegenüber wird grundsätzlich nicht als Tugend angesehen, folglich auch vermieden. Für mich persönlich ist die vielleicht überraschendste Erfahrung die, dass wirklich ein ganz wesentlicher Teil des täglichen Energiebedarfs eingespart werden kann, ohne dass dies notwendigerweise eine spürbare Einschränkung des persönlichen Komforts mit sich bringen muss. Auf diesem Gebiet hat Japan ein ungeheures Einsparungspotenzial. Es wäre zu wünschen, dass diese Erkenntnis ein neues Verhältnis jedes Einzelnen zum Umgang mit den Ressourcen nach sich zieht.
Für die Bevölkerung Tokios gab und gibt es ja auch lediglich Einschränkungen in der Bequemlichkeit. Die Stromeinsparungserfordernisse haben dazu geführt, dass zumindest die äußeren Teile der Präfektur Tokio reihum für drei Stunden am Tag ohne Strom auskommen mussten. Inzwischen gibt es einen neuen „Trend“ in der Stadt der bisher meist völlig übertriebenen Beleuchtung: Der Charme von Abendessen bei Kerzenlicht wird neu entdeckt.
Den ungekürzten Bericht finden Sie unter ippnw.de/presse/fukushima.html
Die Fahrpläne der Bahnen des öffentlichen Nahverkehrs wurden vorübergehend zusammengestrichen. Im Zuge der Dringlichkeit der Versorgung der Menschen in den verwüsteten Landesteilen und aufgrund Einschränkungen durch radioaktiv verstrahlte Le-
Thomas Gittel ist selbständiger Unternehmensberater und lebt in Japan. Die Auswirkungen des großen Erdbebens hat er in Tokio miterlebt. 26
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Eine Frage der Demokratie Interview mit dem in Deutschland lebenden Anti-Atomkraft-Aktivisten Tomoyuki Takada Helga Montag: Herr Takada, warum informiert die japanische Regierung eigentlich so schlecht? Ich verstehe das nicht ... Tomoyuki Takada: Viele verstehen das nicht, aber es wurde vonseiten der Regierung, von hochgestellten Politikern und auch von den Betreibergesellschaften mehrfach öffentlich gesagt, dass sie an der Atomenergie festhalten wollen. Sie werden keinen Kurswechsel vornehmen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie Informationen, die gegen Atomkraftwerke sprechen, nicht so deutlich darstellen. Montag: Nach Ihrer Aussage ist Fukushima-Daiichi nicht das gefährlichste Atomkraftwerk in Japan. Es gibt in Japan andere Atomkraftwerke, die noch gefährlicher sind? Takada: Ja, wir sind DAS Erdbebenland in der ganzen Welt. Auf 0,2% der Weltoberfläche geschehen jährlich 20% aller Erdbeben der Magnitude 5 und höher. Alle Atomkraftwerke in Japan sind hoch erdbebengefährdet, aber zwei stehen dabei an vorderster Stelle: Das eine ist Hamaoka, das zweite Niigata.
Takada: Es gibt sogar massiven Druck. Ganz normale fachliche Meinungen oder kritische Meinungen, die man in Deutschland überall hören konnte, kommen nie in die traditionellen Medien. In Japan haben wir private Sender und öffentliche Sender der Regierung. Private Sender in Japan sind aber abhängig von Geldgebern und die größten Geldgeber sind die Stromkonzerne. Es gibt ein Beispiel aus der letzten Zeit: Ein Fernsehsender hatte in einer Spätnachtsendung versucht, kritische Meinungen kundzutun. Nach dieser Sendung hat die Vereinigung der Stromkonzerne ihr Sponsoring sofort zurückgezogen. Die Atomenergie ist für japanische Medien ein Tabubereich. Und wir haben schon seit Langem keine Pressefreiheit mehr. Nach Fukushima ist diese Pressefreiheit noch weiter beschnitten worden. Das Internet war nach der atomaren Katastrophe von Fukushima für kritische Journalisten und Bürger zu einem Zweitmedium geworden. Die Regierung hat die Gefahr jetzt erkannt: Seit einer Weile stellen wir fest, dass kritische Videos und Bilder nach und nach verschwinden. Zurzeit läuft in Japan, ohne dass das Ausland es merkt, ein Kampf von Bürgerinitiativen, die ohnehin schwach sind, gegen die teilweise schon totalitäre Politik der japanischen Regierung. Wir erscheinen nach außen demokratisch, aber Meinungs- und Pressefreiheit, sowie Demonstrationsfreiheit, diese drei Grundfreiheiten sind eingeschränkt. Für uns ist daher Atomenergie nicht nur eine energiepolitische Frage, sondern eine Frage der Demokratie.
Montag: Hamaoka liegt direkt über der Kreuzung zweier Erdplatten? Takada: Ja, da ist eine sehr erdbebengefährdete Zone, da sich hier eine Erdplatte unter eine andere schiebt. Daher gab es bereits vor der Katastrophe von Fukushima massive Proteste der Bürger vor Ort, das Atomkraftwerk Hamaoka abzuschalten. Montag: Warum gibt es in Japan nicht viel mehr Proteste gegen die Atomkraft? Ist das auch eine Mentalitätsfrage? Takada: Ich denke nicht, dass wir so zurückhaltend sind. Aber die Meinungsbildung über Atomenergie wurde über Jahrzehnte bereits ab dem Grundschulalter manipuliert. Und es ist der Regierungsseite leider gelungen, die angebliche Notwendigkeit der Atomenergie für das Inselland Japan so zu propagieren, dass die meisten Menschen daran glauben. Sie meinen wir hätten keine andere Wahl, was überhaupt nicht stimmt. Wir haben genügend Erdwärme aufgrund der vulkanischen Eigenschaften unseres Landes, wir haben eine lange Küste und wir haben verschiedene andere alternative Energiemöglichkeiten. Montag: Können Atomkraftgegner ohne Druck gegen die Atomenergie protestieren?
Interview: Dr. Helga Montag, Bayerischen Rundfunk. Tomoyuki Takada kam 1983 nach Deutschland und arbeitet hier als freiberuflicher Übersetzer. Von Deutschland aus unterstützt er eine japanische Bürgerinitiative, die seit mehr als 20 Jahren für die Abschaltung eines der gefährlichsten Atomkraftwerke Japans protestiert. Das AKW Hamaoka liegt in einem seismisch hochgefährlichen Gebiet, wo sich Erdplatten direkt untereinander schieben. Mitte Mai wurde der Atommeiler wegen Erdbeben- und Tsunamigefahr vorerst vorsorglich abgeschaltet. Mehr zu Takadas Initiative unter: www.atomfree-eastwest.com 27
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We can! Die IPPNW in Europa Treffen europäischer IPPNW-Vertreter in Berlin
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Die norwegische IPPNW hat es geschafft, in 6-stelliger Höhe Gelder einzuwerben für die finanzielle Ausstattung der ICAN-Büros in Genf und Oslo und betreibt eine engere Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz, das sich jüngst öffentlich für die Abschaffung der Atomwaffen starkgemacht hat. Hier liegt Potenzial für die Arbeit der europäischen IPPNW-Sektionen, auch die nationalen Rote-Kreuz-Sektionen zu öffentlichen Aktivitäten und Stellungnahmen im „IPPNW-Sinne“ zu bewegen.
m Schatten des erfolgreichen Berliner Tschernobyl-Kongresses trafen sich auch eine Reihe europäischer IPPNWDelegierter zu einer kleinen europäischen IPPNW-Konferenz. Mit dabei war u. a. Arielle Denis, die Geschäftsführerin des neuen IPPNW-ICAN-Büros in Genf. ICAN ist die internationale Kampagne der IPPNW zur Abschaffung der Atomwaffen. Mit dem neuen Büro in Genf versucht die IPPNW, Friedensaktivitäten zur atomaren Abrüstung über die Ärzteorganisation hinaus zu bündeln und auch kleine Gruppen außerhalb der Ärzteorganisation zu unterstützen. So wird ICAN zukünftig zugleich IPPNW-interner Schwerpunkt, aber auch ein IPPNW-unabhängiges Projekt sein, zu dem sich weitere Gruppen engagieren. Ein erstes Kampagnen-Treffen ist Mitte September 2011 in Genf geplant.
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nter dem Eindruck der Ereignisse in Japan hat es eine deutliche Veränderung auch innerhalb der europäischen IPPNW-Sektionen im Hinblick auf die Bedeutung der Arbeit gegen die Atomenergienutzung gegeben. Die traditionelle Zurückhaltung vor allem der skandinavischen IPPNW-Sektionen ist einer neuen Debatte um die Atomkraft gewichen. Eine der Interventionsmöglichkeiten ist die Weltgesundheitsorganisation. Diese steht bereits seit Langem im Zentrum der Kritik wegen der fehlenden Transparenz in der Forschung über Strahlenfolgen der Atomenergienutzung und der Abhängigkeit in der Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA), die als Aufgabe die Förderung der Atomenergienutzung hat. Hier wurde bereits Kontakt mit den entsprechenden WHO-Gremien aufgenommen, um Einfluss zu nehmen auf die WHO-interne Debatte in den UN-Gremien.
Andreas Nidecker von der IPPNW Schweiz berichtete über Aktivitäten des Mittelmeer-Komitees der IPPNW. Einige Ärztinnen und Ärzte haben an der Mittelmeerfahrt des „Peace Boats“ (www.peaceboat.org) teilgenommen, einer japanischen Initiative, die auf einem reisenden Passagierschiff weltweit öffentlichkeitswirksam Möglichkeit zur Begegnung von Friedensaktivisten bietet und nach einer Middle-East-Voyage 2011 im nächsten Jahr eine erneute Friedensfahrt in den Nahen Osten plant. Hier soll es eine größere IPPNW-Beteiligung geben. Zunächst aber ist eine Mittelmeer-Anrainer-Friedens-Konferenz für die Zeit vom 18. bis 20. November 2011 in Istanbul geplant. (Kontakt in der Türkei Dr. Derman Boztok: dboztok@superonline.com). Hier ist auch ein eigenes studentisches Programm avisiert.
Mit der Zeitschrift „Medicine conflict and survival“, die in England publiziert wird, gibt es für die IPPNW die Möglichkeit, auch wissenschaftliche Ergebnisse zu veröffentlichen und zu verbreiten. Die Zeitschrift wird sich nach krankheitsbedingten Umstrukturierungen den IPPNW-Sektionen nun neu präsentieren.
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ktuell sind die europäischen Sektionen in vielfältigen Projekten engagiert. Ebenso wie die deutsche IPPWN unterhält die finnische Sektion weiter regelmäßige Kontakte nach Nordkorea und hat jüngst Buchsendungen nach Pjöngjang organisiert, um die ärztliche Ausbildung zu unterstützen. Ebenso gibt es einen Austausch von Studenten und Ärzten.
Wenn Sie mehr erfahren wollen oder per Newsletter informiert werden wollen, gibt es hier die Möglichkeit: www.ippnw-europe.org
Die britische Sektion organisiert die ICAN-Kampagne und ist Anlaufstelle für IPPNW-externe Gruppen. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge in Flüchtlingslagern.
Lars Pohlmeier ist IPPNWVize-Präsident für Europa. 28
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„Never whisper in the presence of wrong“ IPPNW-Gründer Prof. Dr. Bernard Lown wurde am 7. Juni 2011 90 Jahre alt.
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ie Stunde ist spät, wir dürfen nicht zaudern. Die Nachwelt hat bei den Politikern keine Lobby. Wir Ärzte müssen auch für die noch ungeborenen Generationen sprechen. Wir werden unser Ziel nur erreichen, wenn wir Millionen Menschen mit unserer Vision stärken, nämlich einer Welt frei von dem Schreckgespenst der Nuklearwaffen. Nur diejenigen, die das Unsichtbare sehen, können das Unmögliche tun.“ (B. Lown, 2009)
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ls Bernard Lown, Kardiologe am Peter Bent Brigham Hospital in Boston, später Professor der Kardiologie der Harvard Universität, 1961 zunächst den Gleichstromdefibrillator zur Lebensrettung bei Kammertachykardie und Kammerflimmern und ein Jahr später die erfolgreiche Kardioversion bei Vorhofflimmern publizierte, war dies für uns Ärzte eine Sensation. Heute werden sich nur noch wenige vorstellen können, dass man vor dieser epochalen Erfindung hilflos vor Patienten mit „akutem Herzstillstand“ stand, und dass Chirurgen, bei einem Herzstillstand während einer Operation, sogar den Thorax öffneten, um mit manueller Herzmassage das Leben zu retten – meist jedoch ohne Erfolg. Nach Meinung vieler Kliniker hätte Lown für seine Erfindungen den Medizin-Nobelpreis verdient.
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ur allgemeinen Enttäuschung bewahrheitete sich die Hoffnung nicht, das nukleare Wettrüsten werde aufhören. Deswegen beschloss Prof. Lown 1980 eine internationale, blockübergreifende Ärzteorganisation zu schaffen, um weltweit aufzuklären und die Erde vor einem atomaren Holocaust zu retten. Gemeinsam mit seinem sowjetischen Kollegen, Prof. Evgeny Chazow, Direktor des Moskauer Instituts für Herzforschung, riefen sie zur Gründung der „International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW)“ auf. Lown und Chazow wurden zu Co-Präsidenten gewählt. In vielen Ländern wurden nationale Sektionen der IPPNW gegründet, so auch 1981 in der BRD und bald darauf in der DDR. Jedes Jahr fanden zahlreiche internationale Kongresse der IPPNW statt, sowohl im Westen als auch in den Ländern des Warschauer Pakts. Weltweite Aufklärung wurde intensiv betrieben. Dabei gab es jahrelang erheblichen politischen Widerstand, insbesondere in NATO-Ländern, aber auch unterstützende Sympathie durch das Internationale Rote Kreuz, die WHO, den Weltärztebund, den Papst, den Weltkirchenrat sowie durch visionäre, couragierte Politiker, zu denen u. a. Willy Brandt, Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher, Rita Süssmuth und Hildegard Hamm-Brücher zählten. International war die Zustimmung durch Präsident Gorbatschow, der ein häufiger Gesprächspartner Lowns war, am wertvollsten.
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ur vier Jahre nach der Gründung, am 11. Oktober 1985, nahmen Prof. Bernard Lown und Prof. Evgeny Chazow für die IPPNW in Oslo den Friedens-Nobelpreis entgegen. In der Laudatio heißt es: „ … dass diese Organisation der Menschheit einen wichtigen Dienst dadurch geleistet hat, dass sie autoritative Informationen verbreitet hat, wodurch die Erkenntnis der katastrophalen Konsequenzen eines Atomkriegs offenbar wurden. In diesem Zusammenhang hält es das Komitee für besonders wichtig, dass die Organisation aus gemeinsamen Initiativen von sowjetischen und amerikanischen Ärzten gebildet wurde, und dass sie nun Unterstützung von Ärzten aus über 40 Nationen weltweit erhält.“
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n den Jahren intensivster klinisch-wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit begann für Lown ein zweiter, wohl sein wichtigster Lebensabschnitt: sein Kampf für die Verhütung eines Atomkriegs. Sein ärztliches Gewissen wurde durch die Kenntnis der Atombombenversuche, die in der Wüste von Nevada und in Kasachstan alle 8-10 Tage stattfanden, aufgeschreckt. Die ungeheure Vernichtungskraft, die Verstrahlung und der Fallout hatten in Hiroshima und Nagasaki gezeigt, dass ärztliche Hilfe in einem Atomkrieg nicht möglich ist. Zusammen mit US-Kollegen gründete er in Boston 1962 die „Physicians for Social Responsibility (PSR)“, um mit wissenschaftlichen Publikationen vor den ärztlich nicht beherrschbaren Folgen eines Atomkriegs und überirdischer Atomtests zu warnen. Bis 1962 hatten bereits, vorwiegend in den USA und der UdSSR, 500 Atombombentests stattgefunden, deren riesige radioaktive Staubwolken den Erdball umkreisten. Nachdem in den Milchzähnen amerikanischer Kinder radioaktives Strontium nachgewiesen worden war und eine entsprechende Empörung unter der Elternschaft eingesetzt hatte, einigten sich die Präsidenten Kennedy und Chruschtschow 1965 auf ein überirdisches Testverbot („partial test ban treaty“).
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is heute mahnt Lown, bei aller Konzentration auf die Verhütung eines Atomkriegs, die Zusammenhänge von Krieg, Armut und Unrecht in der Dritten Welt klar auszusprechen. Milliarden Dollar werden für die Militarisierung jährlich ausgegeben, statt sie für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschheit zu verwenden. „Never whisper in the presence of wrong“ – nicht Flüstern angesichts von Unrecht und nationalen Egoismen, sondern laut und deutlich die Wahrheit aussprechen: Die Menschheit kann auf Dauer nicht mit den Risiken der Atomwaffen und – wie Lown heute auch ergänzt – der Kernkraftwerke leben.
Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein Initiator und Mitbegründer der Deutschen Sektion der IPPNW und Chefarzt für innere Medizin im Ruhestand. 29
welt
Den Blick auf 2012 richten Das japanische Friedensboot, Konferenz 2012 ist nicht bereit ist, ihre Politik der bewussten Uneindeutigkeit im Bezug auf Atomwaffen aufzugeben, den Atomwaffensperrvertrag zu unterschreiben oder seine atomaren Anlagen für internationale Inspektoren zu öffnen.
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och es gibt inzwischen ein Werkzeug, das zur Zeit der damaligen Gespräche noch nicht existierte – die Arabische Friedensinitiative (API), die von 22 arabischen Staaten unterzeichnet wurde und von 57 muslimischen Staaten, u. a. auch dem Iran, unterstützt wird. Sie drückt die allgemeine Bereitschaft der Araber und des Islam aus, normale diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen und anzuerkennen, sofern ein unabhängiger Staat Palästina gegründet wird.
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ei der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag im letzten Mai wurde beschlossen, eine internationale Konferenz einzuberufen, die „die Etablierung einer Zone frei von Atom- und allen anderen Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten auf der Basis von freiwilligen Übereinkünften der einzelnen Staaten in der Region und mit der vollen Unterstützung der Atomwaffenstaaten“ diskutieren soll.
Obwohl diese Initiative die Frage der Atom- oder Massenvernichtungswaffen nicht erwähnt, könnte sie den Rahmen für einen zweispurigen Diskussionsprozess bilden. Zum einen wäre zu besprechen, wie ein Frieden zwischen Israel und Palästina sowie Israel und den arabischen Staaten erreicht werden und zum anderen müsste es darum gehen, wie die Sicherheit im Mittleren Osten verbessert werden kann. Dieser zweite Diskussionsstrang müsste auch die Themen einer Zone frei von Atom- und Massenvernichtungswaffen beinhalten. Auf diese Weise könnte man den Streit zwischen Ägypten und Israel beilegen, der sich im Prinzip darum dreht, was zuerst da war: die Henne oder das Ei.
Diese Konferenz 2012 war das Thema eines dreitägigen Treffens auf dem „Peace Boat“ – einer japanischen Nichtregierungsorganisation, deren Hauptquartier sich auf einem hochseetüchtigen Schiff befindet. Die Japaner waren in Gedanken noch beim Atomkraftwerk von Fukushima und ihren Familien daheim, als sie im Mittelmeer ankamen, um an Bord die Konferenz mit Vertretern der Zivilgesellschaft aus Israel, Palästina, Ägypten, Jordanien, dem Libanon und Indien sowie Mitgliedern der griechischen und schweizerischen Sektionen der IPPNW und Vertretern der UN abzuhalten. Von besonderem Interesse war die Teilnahme des langjährigen Diplomaten und heutigen Vorsitzenden des ägyptischen Rates für Außenpolitik, Dr. Mohamed Shaker, des ehemaligen ägyptischen Botschafters in den USA und Verhandlungsführers in Abrüstungsfragen, Dr. Nabil Fahmy, des ehemaligen indischen Marinechefs Admiral Ramu Ramdras und von Dr. Randy Rydell, einem langjährigen Mitarbeiter im Büro des hohen UN-Beauftragten für Abrüstungsfragen.
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ch war besonders von der Tatsache beeindruckt, dass eine der ägyptischen Vertreterinnen an Bord des japanischen Friedensschiffes erklärte, ihr sei Israels Sorge um die eigene Sicherheit bewusst und dass jeder Lösungsansatz diese Sorge berücksichtigen müsse. Alle stimmten darin überein, dass ein Weg gefunden werden muss, sowohl Israel als auch Iran dazu zu überreden, an der Konferenz 2012 teilzunehmen. Sonst hätte die Konferenz keine Chance auf Erfolg. Ein Iraner, der am Treffen auf See teilnehmen wollte, konnte aufgrund bürokratischer Probleme nicht erscheinen.
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ie Konferenz 2012 wird nicht das unrealistische Ziel haben, einen bindenden Vertrag auszuhandeln, sondern vielmehr die Möglichkeiten diskutieren, wie man auf dem Weg zu einer Zone frei von Atom- und Massenvernichtungswaffen vorankommen kann, und gleichzeitig die Notwendigkeit berücksichtigen, Frieden in der Region zu erreichen.
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in Versuch, eine Opposition gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten zu bilden, fand zwischen 1992 und 1995 statt, als 14 Staaten der Region in Folge der Madrider Friedenskonferenz an Gesprächen der Arbeitsgruppe für Abrüstung und regionale Sicherheit teilnahmen. Hauptgrund für das Scheitern dieser Gespräche war die grundlegende Uneinigkeit zwischen Ägyptern und Israelis. Während die Ägypter sagten, die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten sei das Wichtigste, beharrte die israelische Delegation darauf, dass ein umfassender Frieden zwischen Israel und den arabischen Staaten vorausgehen müsse. Das ist noch immer offizielle israelische Politik und die israelische Regierung
Da die israelische Regierung ihre Teilnahme weder zu- noch abgesagt hat, ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, innovative Konzepte zu entwickeln, die auf dem Weg zu einer erfolgreichen Konferenz 2012 einen sinnvollen Input darstellen. Hillel Schenker, IPPNW Israel, (Übersetzung: Benjamin Paaßen) 30
aktion
Für ein Ende des Atomzeitalter Aktionen im März und April Die fürchterliche Nachricht vom Unglück im AKW Fukushima Daiichi veranlasste die TeilnehmerInnen der Mitgliederversammlung am 12. März 2011 zu einer spontanen Demonstration in der Frankfurter Innenstadt. Zwei Wochen später am 26. März forderten unzählige IPPNW-Mitglieder zusammen mit Hunderttausenden auf den Großdemos in Berlin, Hamburg, Köln und München, das endgültige Aus der Atomenergie. In Herford hatte die IPPNW-Regio-Gruppe vom 8.-28. April 2011 eine Plakatwand gemietet. Bildhauerin Anke Stratmann-Horn entwarf das Plakat, das auf die Langzeitfolgen und die Schrecken der Katastrophen von Majak bis Fukushima hinwies.
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g elesen
Gesehen
Kanonenfutter
Kontrollverlust
Wie konnte es Hitler und seinen Komplizen gelingen, das ganze deutsche Volk, abgesehen von wenigen, zu beherrschen und bereits drei Jahre nach der Machtergreifung mit den sichtbaren Kriegsvorbereitungen zu beginnen?
„Unter Kontrolle“ zeigt die Orte der deutschen und österreichischen Atomindustrie und Arbeit der Menschen, die den Betrieb oder auch die Abwicklung einer vermeintlich kontrollierbaren Risikotechnologie garantieren sollen.
ie konnte es geschehen, dass praktisch alle Deutschen und insbesondere die Jugend von der Nazi-Doktrin erfasst waren, und dass eine kollektive psychische Situation entstand, in der die Tapferkeit als Soldat, das Durchhalten im Kampf bis zur Selbstvernichtung, zur höchsten Ehre wurden. Der Tod für „Führer, Volk und Vaterland“ wurde von vielen Eltern „mit Stolz und Trauer“ auf die Gefallenenanzeigen gesetzt. Stolz einen Lieben verloren zu haben? Welch eine Entartung elterlicher Liebe!
egisseur Volker Sattel vermittelt in seinem Dokumentarfilm ungewohnte Einblicke in deren Arbeitsalltag – etwa wenn er den Wechsel der Brennstäbe oder das Simulieren einer Alarmsituation durch die Mitarbeiter oder die morgendlichen Besprechungen begleitet. Wir sehen Angestellte, die sich nach der Arbeit in einem Glaskasten auf Verstrahlung testen lassen müssen oder die AKW-eigene Wäscherei, die neben Arbeitskleidung und Kitteln auch die leuchtend gelbe Unterwäsche der Mitarbeiter von möglicher Kontamination reinigt.
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W
Der Autor beschreibt in allen Einzelheiten, wie die deutsche Jugend vom 10. Lebensjahr an indoktriniert, gedrillt, in Wehrertüchtigungslagern auf den Kampf trainiert und vorbereitet wurde. Diese Vorbereitung und antrainierte Härte wurde bei den FlakHelfern und dann bei der Wehrmacht fortgesetzt, sodass 17- und 18-Jährige ab 1944/45 als „ausgebildete“ Soldaten eingesetzt wurden und sehr viele ihr Leben lassen mussten. Wer nicht von einem kritischen Elternhaus, von christlichen Kirchen oder von couragierten Lehrern oder Freunden vorsichtig gewarnt oder aufgeklärt wurde, verfiel der Indoktrination. Das Buch erläutert allen Lesern, die erfolgreichen Propaganda- und Verführungsmethoden, die zur, wie wir heute sagen würden, „Gehirnwäsche“ führten. Neben der Darstellung der NS-Methoden schildert der Autor seine eigenen Erlebnisse als Schüler, Flak-Helfer, Arbeitsdienst-Mann und junger Soldat. Ich möchte das Buch von Prof. Ploeger besonders all denjenigen empfehlen, die sich Sorgen um die Militarisierung im Denken der deutschen Jugend und die jetzt angelaufene staatliche Werbung für den Soldatenberuf machen, der ja seit Kurzem offiziell nicht mehr der Heimatverteidigung dienen soll, sondern für Auslandseinsätze „nötig sei“. Ich möchte das Buch auch denjenigen empfehlen, die sich seit Jahren die Frage stellen: „Wie konnte das geschehen?“ Natürlich kann die Zeit im verbrecherischen NS-Staat nicht mit unserem freiheitlich-demokratischen Staat verglichen werden, aber manche „Erziehungsmethoden“ ähneln sich doch.
Der Film verzichtet auf jeglichen Kommentar. Die Menschen, die zu Wort kommen, sind Techniker und Ingenieure, Strahlenschützer und Schulungsleiter Pressesprecher und Behördenvertreter, Wissenschaftler und Risikoforscher. Alles dreht sich um Kontrolle – im Simulatorzentrum der Kraftwerksschule Essen, bei den Dekontaminationsschleusen im AKW Gundremmingen oder im Forschungszentrum Karlsruhe, wo hypothetische schwere Störfälle und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung untersucht werden. Doch wenn der Film am Ende die endlos langen grauen Stollengänge von Morsleben, den in einen Vergnügungspark umgebauten schnellen Brüter von Kalkar oder die beeindruckende Betonruine des unvollendet gebliebenen Atomkraftwerks Stendal zeigt, wird deutlich: Die Atomkraft ist am Ende. Treffend schreibt die deutsche Filmkritikerin Lida Bach über den Film: „Auf subtile Weise vermitteln die analytischen Szenen überzeugender als es belehrenden Kommentare könnten, dass der Filmtitel einen Wunschtraum widerspiegelt. Von ihm bleibt die Ruine einer Utopie, die zu spät als solche erkannt wurde. Volker Sattels Dokumentarfilm kreist um das Paradigma, welches unerreichbares Zukunftsdenken ist: eine friedliche Nutzung der Atomenergie. In einer vollkommenen Welt wäre es möglich – in unserer ist es das nicht.“ Angelika Wilmen
Ulrich Gottstein Volker Sattels Dokumentarfilm „Unter Kontrolle“ feierte seine Weltpremiere im Forum der Berlinale 2011 und ist ab 26. Mai 2011 in deutschen Kinos zu sehen.
Andreas Ploeger „Kanonenfutter – die Verführung der HitlerJugend in den Tod“. Pabst Science Publishers, 2011. 35 Euro 32
gEdrUcKt
tErMINE
Medizin für »Menschen ohne Papiere« Der Zugang zur medizinischen Versorgung in Deutschland ist für MigrantInnen ohne Papiere mit besonders hohen Hürden verbunden: Die rechtlichen Rahmenbedingungen machen ihnen eine adäquate gesundheitliche Versorgung de facto unmöglich. Um die humanitäre Not abzufedern, vermitteln in einigen Großstädten Hilfsorganisationen medizinische Versorgung oder bieten eine Grundversorgung vor Ort an. Die Beiträge dieses Buches untersuchen diese Problemfelder und skizzieren die prekären Lebensverhältnisse anhand von Praxisbeispielen. Sie zeigen aber auch Wege aus der systematischen Ungerechtigkeit und praktische Lösungsansätze in verschiedenen deutschen Städten auf. Unter den Beiträgen ist auch ein Artikel von Gisela Penteker zum Thema „Medizi-
JUNI 25.6. Nuclear Abolition Day, Infos: www.nuclearabolition.org
JUlI 1.-3.7. „Krieg – und was für ein Ende?“, tagung zum Konflikt um Afghanistan, Bad Boll
AUgUSt 6.8. 66. Hiroshima-Tag nische Versorgung Papierloser auf dem Land am Beispiel Niedersachsen“ sowie ein Aufsatz über das Medinetz Mainz. Maren Mylius / Wiebke Bornschlegl / Andreas Frewer (Hg.) Medizin für »Menschen ohne Papiere« ISBN 978-3-89971-844-7
6.8. Gedenken und Mahnung „Blumen für die Opfer von Hiroshima und Nagasaki“, Bonn-Beuel 6.8. Mahnung und Erinnerung zum Jahrestag des Atombomenabwurfs auf Hiroshima, Berlin, Volkspark Friedrichshain 9.8. 66. Nagasaki-Tag
gEPlANt Das nächste Heft erscheint Mitte September 2011. Im Schwerpunkt geht es dann um
Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten
26.8. Vortrag und Diskussion mit Andreas Zumach über deutsche Rüstungsexporte, hofheim a.t.
SEPtEMBEr
u. a. berichten wir über das IPPNW-Engagement zur Vorbereitung einer zivilgesellschaftlichen regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit sowie Delegationsreisen und die Rolle der arabischen Revolution.
17.-19.9. ICAN internationale Konferenz, genf
Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: wilmen@ippnw.de
18.-25.9. Summer School „Global health“, charité Berlin 17.9. 30 Jahre IPPNW – Rezepte fürs Überleben, Philharmonie Berlin
IMPrESSUM UNd BIldNAchWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-
Redaktionsschluss
tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwor-
1. August 2011
tung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland
Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:
Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika
Samantha Staudte; Druck: H&P Druck Berlin;
Wilmen, Samantha Staudte
Papier: PlanoArt, Recycling FSC. Bildnachweise:
Freie Mitarbeit: Ewald Feige, Frank Uhe, Pia
Umschlagseite, S.4 oben links, S.20-23, S.26-27
Heuer, Florian Philipps
Matthias Lambrecht; S.6 links oben: Hanay/Wiki-
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körtestra-
media Commons; S.6 Mitte: Erlanger Poetenfest/
ße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74 0,
Erich Malter, 2010; S.6 rechts: Sicila Today, Ora-
Fax 030 / 693 81 66
zio Esposito/flickr; S.7 rechts: Vardion/Wikimedia
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Jan Hemmer; S. 14: Nuclear Free Future Award;
22 22 210, BLZ 100 205 00
S. 15: Dr. Gisela Penteker; S.17 links oben: Libya_
Das Forum erscheint 4-mal im Jahr. Der Be-
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zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag
oben: Christian Schlicht; S. 31 unten: Ralf Bittner
enthalten. Sämtliche namentlich gezeichneten
S.32 links: Pabst Science Publishers; S.32 rechts:
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farbfilm verleih; S.35 unten links: Birgitta Kowsky
der Redaktion oder des Herausgebers. Nach-
Nicht gekennzeichnete: privat oder IPPNW
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drucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
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das
nächste
Heft:
18.9. Benefizkonzert, 30 IPPNW, Philharmonie Berlin
Jahre
OKtOBEr 4.-8.10. Aktionstage gegen den Krieg in Afghanistan 14.-15.10. Internationaler IPPNWKongress „Medizin & Gewissen“, Erlangen
Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
g efragt
6 Fragen an ...
Jürgen Todenhöfer Manager und Autor des Bestsellers „Teile Dein Glück“
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Herr Todenhöfer, Sie waren 18 Jahre lang Bundestagsabgeordneter und Sprecher der CDU/CSU für Entwicklungspolitik und Rüstungskontrolle. Warum lehnen Sie im Gegensatz zu Ihren ehemaligen Parteikollegen den Krieg in Afghanistan ab? Weil der NATO ihr angeblicher Kriegsgrund schon lange abhanden gekommen ist. Nicht erst seit dem Tod Bin Ladens. Al Qaida operiert seit Jahren nicht mehr aus Afghanistan heraus. Das hat General Petraeus schon im Mai 2009 bestätigt. Al Qaida hat sich weiter dezentralisiert. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum ihre Führung – wer immer das ist – nach Afghanistan zurückkehren sollte. Und selbst, wenn einige Al-Qaida-Führer dies wollten, ließe sich dieser Punkt durch Verhandlungen mit den afghanischen Taliban regeln.
Sie reisen Ihr Leben lang in Kriegsgebiete. In Libyen wurden Sie beschossen. Ihr Fahrer Abdul Latif kam ums Leben. Warum begeben Sie sich immer wieder in Lebensgefahr? Abdul Latif war nicht mein Fahrer, sondern unser Freund und Gastgeber. Wir haben die Lebensgefahr nicht gesucht, sie war plötzlich da. Wie in allen Kriegen. Wenn man Kriege vor Ort beobachten und verstehen will, kann man sich dem nicht völlig entziehen. Man muss es letztlich akzeptieren. Damit Kriegführen nicht zu leicht wird.
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Ist der NATO-Einsatz in Libyen Ihrer Meinung nach die richtige Antwort auf die Gewalt Gaddafis? Nein, es gibt kaum ein politisches Problem, das sich durch Luftschläge gerecht lösen lässt. Die strategische Fantasielosigkeit der NATO macht sprachlos. Es kann nicht sein, dass dem mächtigsten Militärbündnis aller Zeiten bei Konflikten, die seine Interessen gefährden, nichts Besseres einfällt, als Gegner mit Bomben zu bewerfen. Die vornehmste Aufgabe der NATO ist Kriegsverhinderung, nicht Krieg. Im Washingtoner NATO-Vertrag vom 04. April 1949 kommt das Wort „Krieg“ nicht ein einziges Mal vor, das Wort „Friede“ sechs Mal.
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Sie haben junge irakische Widerstandskämpfer für Ihr Buch „Warum tötest Du Zaid?“ befragt. Ist Terrorismus hauptsächlich ein muslimisches Phänomen? Nein, nach einem Bericht der Europäischen Union ist die deutliche Mehrheit der terroristischen Vereinigungen der Welt nicht muslimisch. 17 der dort genannten 29 Terrororganisationen sind hinduistisch, marxistisch, anti-imperialistisch, anti-kapitalistisch usw. Darüber hinaus gibt es auch grauenvolle christliche Terrororganisationen wie die „Lord’s Resistance Army“ im Kongo, deren Anführer einen Gottesstaat auf der Basis der Zehn Gebote gründen will. Die Menschen, die ich im Irak besucht habe, waren übrigens keine Terroristen, sondern echte Widerstandskämpfer.
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Sie haben kritisiert, dass der Westen im Irankonflikt ausschließlich auf die Strategie immer härterer Sanktionen gebe. Was wäre aus Ihrer Sicht die Alternative? Auch in der Auseinandersetzung mit dem Iran sind Verhandlungen der beste Weg zur Lösung der Konflikte mit dem Westen. Das gilt vor allem für das Verhältnis USA - Iran. Leider gibt es seit Jahren über die vielfältigen Streitpunkte dieser beiden Länder keine bilateralen Verhandlungen. Die USA verweigern jeden Dialog auf oberster Ebene. Das ist nicht klug, selbst wenn man – wie auch ich – der iranischen Regierung sehr kritisch gegenübersteht. Man muss gerade mit Gegnern und Feinden verhandeln. Das Nuklearproblem übrigens lässt sich nur lösen, wenn alle Staaten, auch die Großmächte, ausnahmslos auf alle Nuklearwaffen verzichten.
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Müssen George Bush und Tony Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof? Der Internationale Strafgerichtshof ist grundsätzlich eine gute Sache. Aber er kann seine volle Wirkung nur entfalten, wenn es keine Ausnahmeregeln für westliche Regierungschefs gibt. Nur wenn das Völkerstrafrecht für alle gilt – egal wie mächtig sie sind – ist der Internationale Strafgerichtshof tatsächlich ein Instrument der Gerechtigkeit. Gerichte, die mit zweierlei Maß messen, sind keine Gerichte, sondern Herrschaftsinstrumente.
Das Interview führte Angelika Wilmen.
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ANZEIgEN
30 JAHRE IPPNW
17. September 2011, 10 Uhr
Rezepte fürs Überleben – 30 Jahre IPPNW Berlin, Herbert-von Karajan-Str. 1, Hermann-Wolff-Saal der Philharmonie
musikfest berlin 2011
Benefizkonzert 18. September 2011, 11 Uhr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie lUdWIg VAN BEEthOVEN [1770-1827] SONAtE FÜr KlAVIEr Nr. 30 E-dUr OP. 109 [1820] BÉlA BArtÓK [1881-1945] SONAtE FÜr KlAVIEr SZ 80 [1926]
András Schiff © Birgitta Kowsky
lEOŠ JANÁcEK [1854-1928] SONAtE 1.X.1905 »VON dEr StrASSE« [1924] FrANZ SchUBErt [1797-1828] SONAtE FÜr KlAVIEr g-dUr d 894 OP. 78 [1826]
ANdrÁS SchIFF KlAVIEr www.ippnw-concerts.de
IV. Internationaler IPPNW-Kongress
Erlangen ber 2011 14. – 15. Okto
Medizin & Gewissen + Gesundheitswesen + Menschenrechte + Medizingeschichte
Mit nationalen und internationalen EXPERTEN, u. a.: Robin Coupland
der Chirurg und einflussreiche Experte für Anti-Personen-Waffen beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf.
Izzeldin Abbulaish
der palästinensische Arzt und Wissenschaftler und auch in Israel anerkannte Vermittler im Israel-Palästina-Konflikt.
Sebnem Fincanci
die erfahrene und mutige Gerichtsmedizinerin, Hochschullehrerin und Präsidentin der Türkischen Menschenrechtsstiftung.
Monika Hauser
die Gynäkologin und international engagierte Gründerin von medica mondiale für kriegstraumatisierte Frauen und Kinder.
Wolf-Dieter Ludwig
der renommierte Onkologe und unbequeme Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Bundesärztekammer.
Michael Grodin
www.medizinundgewissen.de Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
der Psychiater und international lehrende Experte für Medizin, Holocaust und Menschenrechte von der Boston University.